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Eisblumen


Eisblumen


1. Auflage

von: Sonja Voß-Scharfenberg

6,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 02.08.2022
ISBN/EAN: 9783965217324
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 227

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Wieso Eisblumen? Die Erklärung findet sich in einer Erinnerung an ihre Kindheit:
Beim Verfolgen des Tanzes der Schattenbäume denkt Thea daran, wie sehr sie es früher genoss, wenn Mutter im Winter frühmorgens den Ofen im Kinderzimmer anheizte, während Thea noch im Bett lag. Wenn das Feuer prasselte und das trockene Holz knisterte und manchmal auch bedrohlich knackte, schaltete die Mutter das Licht wieder aus und hantierte in der Küche mit dem Frühstücksgeschirr. Das Feuer ließ dann durch die halboffen stehende Ofentür ein lebendiges Licht springen, warf ruhelose Silhouetten an die Wand gegenüber und gestaltete einen bezaubernden Reigen schemenhafter Figuren. Es roch nach kalter Asche, nach türkisch gebrühtem Kaffee und nach Gas, weil Mutter für ein paar Minuten alle Flammen des Gasherdes entzündet hatte, damit es in der Küche ein wenig „verschlagen“ wäre, wie sie es nannte. Wenn Thea fröstelnd in die Küche kam, um dort die Morgenwäsche zu verrichten, waren die Eisblumen am Fenster, die der Frost manchmal in sehr kalten Nächten dort gesät hatte, schon angetaut. Thea bedauerte das. Sie dachte darüber nach, wie man wohl das Bild der Eisblumen festhalten könnte. Vielleicht, indem man es aufschrieb? Malen konnte sie sie nicht.
„Mutter, wie schreibt man Eisblumen auf?“
Und die Mutter buchstabierte das Wort Eisblumen, und Thea antwortete: „Das meine ich nicht.“
Auch viel später, während des Fernstudiums am Leipziger Literaturinstitut, lernte sie nicht, wie man dieses Bild wohl aufschreiben könnte. Wenigstens aber war Thea in Leipzig schon auf Menschen gestoßen, die nicht davon ausgingen, dass sie das Wort buchstabiert wissen wollte.
Die Autorin, die mit Thea augenscheinlich mehr als nur den Jahrgang 1957 gemeinsam hat, berichtet über deren schlaflose Nächte, in denen sie über ihr Leben vor und nach der Wende nachdenkt, über ihre gescheiterte Ehe, über die Mutterschaft und über die Schwierigkeiten mit ihren beiden Kindern, über ihr Studium und über ihren Arbeitsplatz, über den Zwang gemeinsam Weihnachten zu feiern, über Glück und Unglück im Allgemeinen und im Besonderen, über ihre Liebe zu ihrer späten Lebensgefährtin Reida sowie natürlich über das Schreiben, ihren persönlichen Schutz vor Depressionen. Und noch etwas:
Aber beiläufig denkt sie, dass ihr das Aufschreiben der Eisblumen noch immer nicht geglückt ist.
Sie wird nicht ablassen davon. Auch davon nicht. Schon gar nicht jetzt, da sie eine immer deutlichere Vorstellung davon hat, wie es gehen könnte.
Geboren am 4. August 1957 in Schwerin, kommt aus der Bewegung der schreibenden Arbeiter, hat ihren literarischen Weg dort begonnen und später (1981-1984) am Institut für Literatur in Leipzig ein Fernstudium absolviert; hat in verschiedenen literarischen Gruppen, Zirkeln und Werkstätten mitgewirkt, Workshops und Seminare geleitet und Lesungen organisiert; lebt in Schwerin.
Veröffentlichungen
Erster Prosaband „Gegenwind“, erschienen 1990 beim Verlag Neues Leben Berlin.
Funkmonolog „Schickelkind“ DS Kultur, 1991. Der Funkmonolog war über längere Zeit auch Bestandteil des Theaterabends „Abwege, ganz normal nach rechts?“ in der Kulturfabrik auf Kampnagel.
„Neue Farm der alten Tiere. Ein Märchen?“ gewissermaßen eine Fortsetzung von Orwells „Farm der Tiere“, projiziert auf die Wende – erschienen 1994 beim Verlag „Stock & Stein“ Schwerin, Neuauflage 2015 Wieden-Verlag.
„…dies Land wär lauter Braut“. Lyrik und Fotografie aus Mecklenburg-Vorpommern, gemeinsam mit der Fotografin Angelika Lindenbeck. Erschienen 2000 bei NORA 5 Verlag und Werbe GmbH, Schwerin.
„Im Gelben“, Geschichten aus Mecklenburg-Vorpommern, Edition „M“ 2004, hrsg. vom Litraturhaus „Kuhtor“ Rostock.
„Max und Moritz im neuen Deutschland“, eine Adaption der Bildergeschichte von W. Busch, projiziert auf die heutige Zeit, Vorwort, sieben Teile und Schlusswort, gereimt. Mit Handzeichnungen von L. Meinke, Wieden Verlag, 2013.
Eisblumen, Erzählung freiraum-verlag Greifswald 2014.

Seit 2012 wöchentliche Kolumne in der Schweriner Volkszeitung zu lokalen und auch übergreifenden aktuellen Geschehnissen: Bis 2018 „Neulich am Runden Tisch“ und seit 2018 als Straßenfeger „Vadder Felten“.
- Veröffentlichungen kurzer Prosa in regionalen und überregionalen Zeitschriften, u. a. in der ndl, im „Spiegel“ und im Rundfunk, mehrmals in RISSE, Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern.

- Anna-Seghers-Stipendium der Akademie der Künste Berlin 1990.
- Preisträgerin des 1. Landschreiber-Wettbewerbs (1. Preis) des ADW Verlags und der Gesellschaft für deutsche Sprache (Leipziger Buchmesse 2013)

- Mitglied im VS
Wenn Thea in ein paar Tagen nicht schon zweiundfünfzig, sondern vielleicht erst dreiundzwanzig werden würde, so wie Conny jetzt, sie bekäme nie und nimmer ein Kind. Das sind so die Überlegungen, die einen manchmal ereilen, wenn man sich wünscht, noch mal von vorn beginnen zu können. Was täte man, wenn man erst halb so alt wäre, aber die Erfahrungen und das Wissen von heute hätte. Müßig das, aber der Gedanke drängt sich immer wieder in die Grübeleien. Dreiundzwanzig — das muss so der Zeitpunkt der größtmöglichen Unabhängigkeit gewesen sein. Thea war in Lohn und Brot, hatte die erste eigene Wohnung, hatte die Zusage für ihren Wunschstudienplatz und war für niemanden verantwortlich als für sich selbst. Jetzt, da sie darüber nachdenkt, glaubt sie, sie hat den Zustand wohl doch wahrgenommen. Sie erinnert sich sehr genau an die Empfindung, dass alle Wege ihr offen standen. Alle. Obwohl ihr Land doch zu der Zeit verriegelt und verrammelt war. Freiheit hatte für Thea nie bedeutet, auf eine spanische Insel reisen zu können und deutsche Untugenden dorthin zu tragen. Freiheit war für Thea sowieso nie ein Gegenstand von lokaler Aufenthaltsbestimmung gewesen, sondern immer eine Sache der Verfügungsgewalt über die eigene Lebenszeit. Das hatte ihr keiner eingetrichtert, das war ihr Gefühl von Freiheit, und dem kam sie am nächsten, als sie sich in diesem Zustand von Autonomie befand. Und in den anderen Zustand, in den der totalen Abhängigkeit, hatte sie sich selbst und freiwillig hineinmanövriert. Diese Kirche musste sie wohl in ihrem Dorfe lassen. Da war nicht das alte Land schuld und nicht das neue, nicht Ben und nicht die Kinder. Die Kinder schon sowieso nicht, denn Thea hatte nur Conny und Henning, nur die Kinder geboren, die sie auch wollte. Da war kein passiertes und keines, das später laufend zu hören bekam, dass es nicht mehr hätte sein sollen. Thea hatte die beiden Kinder, die nicht hatten sein sollen, auch nicht werden lassen. Die Entscheidung trug sie allein. Die Verantwortung auch. Ben war einverstanden, weil ihm nichts anderes übrigblieb, wie er betonte. Er war traurig und fein raus.
Thea hatte sich nach Leibeskräften bemüht, vierundzwanzig Stunden täglich gern Mutter zu sein. Es machte ihr auch Spaß, den Kindern Neues zu zeigen, ihnen die Welt zu erklären, ihnen Wärme zu geben und zu essen und Lieder. Es war ein großes Gefühl, wenn man sich in ihrem Lächeln wiederfand oder wenn sie einem ganz und gar vertrauten. Und es war auch ganz wunderbar, mit ihnen etwas zu basteln oder einen Kuchen zu backen oder zu erkennen, dass sie etwas begriffen hatten, aber erfüllen konnte das einen erwachsenen Menschen nicht. Niemals.
Außerdem lächelten die Kinder einen natürlich nicht ständig an. Im Gegenteil, sie erbrachen nach dem Aufstoßen, sie schrien, wenn sie zahnten, sie hatten die Windeln voll, was auch für eine Mutter eine ekelhafte Angelegenheit ist, sie stritten und bockten, wenn sie größer waren, hauten mit ihrer Tollpatschigkeit Tassen und Teller vom Tisch, warfen mit Bauklötzen und experimentierten mit ihren eigenen Exkrementen, wenn man nicht sofort zur Stelle war. Sobald sie zu krabbeln begannen, lauerten nur noch Gefahren. Entweder es gab überhaupt keine Blumenvasen mehr in der Wohnung oder aber die waren so hoch gestellt, dass man sie nicht mehr sah und also vergaß, bis die Blüten eingestaubt und verwelkt waren und zum Zeichen, dass es an der Zeit wäre, sie zu entsorgen, traurig ihre Blätter auf den Boden fallen ließen, und wiederum eine Gefahr für Krabbelkinder darstellten, weil die alles in den Mund steckten, was sie zu fassen kriegten. Wenn sie nichts zu fassen kriegten, sabberten sie, wo sie gerade waren. Man durfte nicht pingelig sein, wenn man Kinder hatte. Man war ständig besudelt oder anderweitig eingeschmiert.
Und wenn Ben abends von der Arbeit kam, dann hatte Thea zwar mit den Kindern schon dieses oder jenes vernünftige Wort gesprochen, aber sie selbst hatte noch kein einziges empfangen.
Es konnte einen erwachsenen Menschen nicht erfüllen. Niemals.
Thea war froh, als sie die Kinder tagsüber in die Krippe geben konnte. Und sie glaubt noch heute, dass die Kinder es auch waren. In jedem Falle war es eine Erleichterung für die Familie, als Thea wieder das Gefühl hatte, nicht mehr ausschließlich auf die Mutterschaft reduziert zu sein. Auf ihre Lebenszeit allerdings hatte sie keinen Zugriff mehr. Wenn sie am Abend etwas außer Haus unternehmen wollte, musste sie Ben fragen, ob das geht, ob er da wäre. Ben stand immer an erster Stelle. Das hatte der Status des Arbeitenden so für ihn eingerichtet. Wenn sie gar mit Ben etwas unternehmen wollte, mussten sie Freunde bitten, bei den Kindern zu bleiben. Und wenn sich einer fand, dann war das ein ungeheuerlicher Aufwand, diese paar Stunden Abwesenheit vorzubereiten und abzusichern. Der Babysitter musste eingewiesen werden in die Regeln und in die Gewohnheiten der Kinder. Er musste wissen, wer was trinken oder essen durfte oder besser nicht, wem welches Plüschtier gehörte und welchen Namen es trug, welches Kind die Toilette schon selbstständig benutzte, und wer welche Tricks bevorzugte.
Er musste informiert werden, was es auf sich hatte mit dem Abendgruß an den Mond und dass dafür das Kindertelefon benutzt wurde, und er musste wissen, dass kein Arzt zu rufen war, wenn Henning den sterbenden Power Ranger gab oder aber als Heroman mit geräuschvollem Leuchtschwert auf der oberen Etage des Doppelstockbetts herumturnte. Und wenn Conny eingeschlafen war, in Bens Pullover und in Theas Tücher gewickelt, in der Hand einen Griff vom abgeschnittenen Springseil, weil sie zuvor noch Kelly Familiy gespielt hatte, dann sollte er sie ruhig so schlafen lassen und bloß nicht dran rütteln.
Wenn beide Eltern weg wollten, war Thea schon vorher schweißgebadet, und der Babysitter war es hinterher. Überhaupt waren die Babysitter, wenn sie Freunde waren und bleiben sollten, Einwegkräfte. Dafür nicht wieder verwendbar.
Dabei handelte es sich um ganz normale Kinder. Jedenfalls dachte Thea das eine lange Zeit.
Conny hatte die ersten Schwierigkeiten, als sie sich mit der Einschulung ständig Forderungen gegenüber sah, die ihr nicht leicht von der Hand gingen. Nichts war mehr nur noch Spiel, alles war Anstrengung und unterlag einer Wertung. Thea erinnert sich mit Schrecken an die Zeit, da sie mit dem Mädchen halbe Nachmittage am Küchentisch verbrachte, um die Hausaufgaben wenigstens einigermaßen akzeptabel für den nächsten Tag parat zu haben. Conny tat ihr leid. Thea dachte oft, wie betrogen und belogen sich das Kind von den Erwachsenen fühlen musste, die ihm am ersten Schultag mit Zuckertüte, einem Familienfest und der gewünschten Puppe die Schule schmackhaft machten und dabei verheimlichten, dass die Kindheit nun eigentlich zu Ende war. Jedenfalls für die Kinder war sie zu Ende, die jahrelang durch die Tortur der Überforderung und -förderung mussten, die sich ständig Fragen ausgesetzt sahen und eigentlich immerzu Angst hatten.
Mit dem Eintritt in das Schulalter waren die Kinder endgültig aus dem Mutterschutz entlassen. Wenn man sie bis dahin nicht stark hatte — geistig, körperlich und sozial — dann waren sie hoffnungslos verloren.
Conny hatte noch obendrein das Pech, in die Schule zu kommen, als im Lande alles drunter und drüber ging, als alles Bisherige unbedingt in den Wind geschrieben und überhaupt alles ganz neu gemacht werden musste. Abgetakelte Westlehrer wurden im Osten Direktoren, eilfertige und rückgratlose Ostlehrer fegten beflissen die Lehrpläne vom Tisch und kopierten Tausende von Arbeitsblättern, weil sie das Kopieren noch nicht so lange kannten und weil man sich nicht einig war über die Auswahl der vielen schönen neuen Westschulbücher. Und als man sich dann einig war und im November die Bücher für das kommende Schuljahr bestellte, das im nächsten Sommer beginnen würde, kamen sie trotzdem nicht pünktlich, sondern oft wochenlang später.

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