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Im Gelben


Im Gelben

Geschichten aus Mecklenburg
1. Auflage

von: Sonja Voß-Scharfenberg

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 09.08.2022
ISBN/EAN: 9783965217379
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 342

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

In seinem Nachwort macht der Literaturwissenschaftler Wolfgang Gabler der Schriftstellerin ein großes Kompliment: Ihre Geschichten seien eine gute Medizin als menschenfreundliche Geschichten. Mehr ist nicht zu sagen.
Was sind das für Geschichten? Sie handeln von ihren Landsleuten, den Mecklenburgern. Sie zeigen, wie sie sind: Weitschweifige Erklärungen gibt es, nach Landessitte, nicht. „Wenn man anderswo jemanden nach dem Weg fragt, wird man gebracht und bekommt die halbe Lebensgeschichte des freundlichen Bringers noch gleich dazu. Macht man denn so etwas? Man macht es nicht! Man gibt Auskunft, wünscht einen guten Tag und damit hat sich das.“
Die Autorin hat Auskünfte bekommen und gibt sie weiter. Lebensgeschichten. Menschenfreundliche Lebensgeschichten.
Das ist zum Beispiel „Im Gelben“, die dem Band den Titel gibt und die mit einem Herbstanfang beginnt:
Nun ist er also doch gekommen, der Herbst. Und vier Wochen früher sogar, als die Menschen es ihm in ihren Kalendern vorschreiben. Dennoch sehnlichst erwartet. Der Siebenschläfer hatte seinem Namen mehr als alle Ehre gemacht und seinen heißen trockenen Junitag weit über die siebente Woche hinausgezogen. Und hatte doch schon im Vorfeld vierzehn Tage. Elf Wochen wohl hat das Land keinen Tropfen Wasser gehabt. Die Menschen sind müde geworden und haben sich nach anfänglich gierigen Sonnenbädern die verbrannte Haut an schattigen Plätzen gekühlt. Die Erde war spatenstichtief Staub. Nur Staub. Als der erste Regen endlich kam, stieß der Boden ihn zurück, sodass die Platzregentropfen wie kleine Springbälle tanzten.
Jetzt ist es ausgestanden. Das Gelbe, denkt der alte Mann, ist wieder einmal ausgestanden.
Nach Ansicht einer jungen Schriftstellerin sieht er aus wie „Der der alte Mann und das Meer“. Allerdings hat er kein Meer und reisen würde er auch nicht, wenn er jünger wäre. Nur einmal war er weggewesen und in einem heißen Sommer in sein gelbes Land heimgekehrt. Das war nach dem Krieg, und er hat alles mitgemacht, was unausbleiblich ist und ansonsten sein Tagewerk verrichtet. Was gibt’s da groß zu reden?
Man sagt den Menschen nach, hier oben, sie seien stur, ein wenig unterkühlt und rückständig. Rückständig vor allem. Aber ob das so stimmt?
Der alte Mann jedenfalls wird sein Tagwerk tun und vielleicht hundert Jahre zum Sterben brauchen.
Braucht eben alles seine Zeit. Sie lässt sich nicht überrumpeln, wie die Jahreszeiten sich einen Dreck um den Kalender scheren.
Es ist, wie es ist, was gibt’s da groß zu reden?
Geschichten
Lebens Lauf I
Wäschetausch
Der Mantel
Kusserow
Pensioniert
Die Bewerbung
Letzter Dienstag
Eiertrunneln
Brechungen
Schickelkind
Alle fangt an …
Haken
VerBindungen
Schwarze Melasse
Das Unsagbare
Das Ende
An diesem Morgen
Lebens Lauf II
Ansichten
Im Gelben
Freunde
Und will sie nicht, die Welt
Nachwort
Medikament „Mecklenburg“
Bibliografische Nachweise
Geboren am 4. August 1957 in Schwerin, kommt aus der Bewegung der schreibenden Arbeiter, hat ihren literarischen Weg dort begonnen und später (1981-1984) am Institut für Literatur in Leipzig ein Fernstudium absolviert; hat in verschiedenen literarischen Gruppen, Zirkeln und Werkstätten mitgewirkt, Workshops und Seminare geleitet und Lesungen organisiert; lebt in Schwerin.
Veröffentlichungen
Erster Prosaband „Gegenwind“, erschienen 1990 beim Verlag Neues Leben Berlin.
Funkmonolog „Schickelkind“ DS Kultur, 1991. Der Funkmonolog war über längere Zeit auch Bestandteil des Theaterabends „Abwege, ganz normal nach rechts?“ in der Kulturfabrik auf Kampnagel.
„Neue Farm der alten Tiere. Ein Märchen?“ gewissermaßen eine Fortsetzung von Orwells „Farm der Tiere“, projiziert auf die Wende – erschienen 1994 beim Verlag „Stock & Stein“ Schwerin, Neuauflage 2015 Wieden-Verlag.
„…dies Land wär lauter Braut“. Lyrik und Fotografie aus Mecklenburg-Vorpommern, gemeinsam mit der Fotografin Angelika Lindenbeck. Erschienen 2000 bei NORA 5 Verlag und Werbe GmbH, Schwerin.
„Im Gelben“, Geschichten aus Mecklenburg-Vorpommern, Edition „M“ 2004, hrsg. vom Litraturhaus „Kuhtor“ Rostock.
„Max und Moritz im neuen Deutschland“, eine Adaption der Bildergeschichte von W. Busch, projiziert auf die heutige Zeit, Vorwort, sieben Teile und Schlusswort, gereimt. Mit Handzeichnungen von L. Meinke, Wieden Verlag, 2013.
Eisblumen, Erzählung freiraum-verlag Greifswald 2014.

Seit 2012 wöchentliche Kolumne in der Schweriner Volkszeitung zu lokalen und auch übergreifenden aktuellen Geschehnissen: Bis 2018 „Neulich am Runden Tisch“ und seit 2018 als Straßenfeger „Vadder Felten“.
- Veröffentlichungen kurzer Prosa in regionalen und überregionalen Zeitschriften, u. a. in der ndl, im „Spiegel“ und im Rundfunk, mehrmals in RISSE, Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern.

- Anna-Seghers-Stipendium der Akademie der Künste Berlin 1990.
- Preisträgerin des 1. Landschreiber-Wettbewerbs (1. Preis) des ADW Verlags und der Gesellschaft für deutsche Sprache (Leipziger Buchmesse 2013)

- Mitglied im VS
Letzter Dienstag
Sie schiebt vorsichtig die Zudecke beiseite, damit er nicht wach wird. Dann geht sie sich waschen.
Es ist früher Nachmittag. Wie immer ist er eingeschlafen, nachdem er mit ihr fertig war. Erfahrungsgemäß schläft er danach zwei Stunden. Es bleibt genug Zeit also.
Sie schneidet sich mit dem elektrischen Messer eine Scheibe Brot ab. Dienstags bekommt sie nie Mittag. Sie muss gleich nach der Schule kommen. Er wartet auf sie und gibt ihr zehn Minuten für den Weg. Immer dienstagnachmittags. Da nimmt er sich frei im Büro.
Wenn sie zu Hause ist, muss sie sich gleich ausziehen. Er steht schon da in seiner Jogginghose und bestimmt hat er sich in Vorfreude auf sie … Dieser alte Mann, zu dem sie, außer dienstagnachmittags, Vati sagt.
Dienstagnachmittags sagt sie nichts.
Sie müsste sich an die Hausaufgaben setzen, die Fünfte ist nicht so leicht.
Einige Mädchen aus ihrer Klasse behaupten, sie hätten schon mal … Wahrscheinlich spinnen sie. Sie wissen nichts.
Sie weiß so ziemlich alles. Seit drei Jahren liegt sie bei ihm im Bett. Zuerst hat es wehgetan. Jetzt ist es nur noch widerlich. Er ist schon so entsetzlich alt. Zweiundvierzig. Sie wird zwölf nächste Woche. Dienstag. Vielleicht, dass sie da Ruhe vor ihm hat.
Wenn sie es heute macht, wird sie immer Ruhe haben vor ihm. Verdient hat er es. Und es ist auch nicht schlimmer als das, was er mit ihr macht.
Wenn sie es nicht tut, weiß sie, bumst er sie reif fürn Psychoschuppen. Da landen sie alle. In jeder Reportage zeigen sie das.
Vielleicht ist es auch schon zu spät. Machen wird sie es trotzdem. Seit einem halben Jahr, weiß sie, dass sie es machen wird, eines Dienstags, wenn er fertig ist mit ihr und schläft.
Er liegt immer auf dem Rücken danach und schnarcht.
Sie kann ihm gut die Kehle durchschneiden.
Sie hat ihm nie gesagt, dass sie ihn umbringen wird. Er hat ihr oft damit gedroht, falls sie ein Wort sagen sollte.
Früher hat er sie beschenkt und bedroht. Heute droht er bloß noch. Er sagt, er wird doch nicht seine eigene Tochter bezahlen.
Er grunzt wie ein Schwein, wenn er auf Touren ist. Gott sei Dank sagt er nichts. Was sollte er auch sagen?
Beim ersten Mal geht es immer ziemlich schnell. Wahrscheinlich macht er sich, bevor sie aus der Schule kommt, schon total heiß. Beim zweiten Mal dauert es eine Weile bis er so weit ist.
Sie macht gar nichts, außer dass sie versucht, so entspannt wie möglich zu sein. Wenn sie es schafft, entspannt zu sein, tut es nicht weh. Das sind so Erfahrungen.

Sie steckt sich eine von seinen Zigaretten an und überlegt, ob sie erst die Hausaufgaben machen soll.
Sie kapiert die Prozentrechnung nicht. Dienstags kapiert sie sowieso nie etwas. Zwar kann sie ausrechnen, wie viel 13,4% von 2480 sind, aber den umgekehrten Weg hat sie nicht drauf. Wie viel Prozent sind 168 von 2480?
Eigentlich ist es auch egal. Wenn sie ihm die Kehle durchgeschnitten hat, wird sie sowieso die Polizei anrufen. Die werden nicht fragen, wie viel Prozent 168 von 2480 sind. Er muss hier weg sein, bevor Mutti und Ines kommen. Den Anblick will sie ihnen ersparen. Mutti wird jammern, warum sie sich ihr nicht anvertraut hat. Am Ende kommt raus, sie hätten bestimmt eine andere Lösung gefunden.
Allein sie weiß, es gibt keine andere Lösung. Höchstens, Mutti hätte es erledigt in ihrer Verzweiflung. Da ist es schon besser, sie macht es selbst. Sie gilt noch als Kind und ist immerhin erwachsen genug, sich die unterschiedlichen Konsequenzen auszumalen.
Mutti hat einmal, als sie solch eine Reportage gesehen haben, gesagt, sie verstehe das nicht, eine Mutter müsse so etwas doch merken.
Es ist auch viel zu spät, sich Mutti anzuvertrauen. Dann hätte sie es gleich tun müssen. Aber vor drei Jahren hatte sie wirklich geglaubt, er würde sie umbringen. Davor hatte sie Angst. Da war sie ja auch noch ein Kind.
Heute ist sie fast zwölf, und die Drohung ist zur alltäglichen Floskel geworden. Sie unterscheidet sich nicht mehr von dem Auftrag „Wasch ab!“ oder „Geh einkaufen!“
Die Kehle durchzuschneiden scheint ihr das Sicherste zu sein. Ihn zu erstechen, vielleicht noch mehrmals zustechen zu müssen, das wird sie nicht schaffen. Sie hatte auch in Erwägung gezogen, ihm die schwere Bodenvase über den Kopf zu hauen. Aber es ist nicht sicher genug, dass er dann auch richtig tot ist. Er soll richtig tot sein.
Sie hat es oft genug durchgespielt in ihren Gedanken. Wenn sie das elektrische Messer nimmt, braucht sie wahrscheinlich kaum etwas zu tun. Nur ranzuhalten.
Zuerst, als sie es gedacht hatte, war sie aufgeregt und hatte Angst vor sich selbst. Aber jetzt schon lange nicht mehr. Sie denkt es ja schon seit einem halben Jahr und ekelt sich schon seit dreien.
Er hat es verdient. Er ist ein armes Schwein, aber er hat es verdient.
Ob sie sie gleich mitnehmen, wenn sie kommen? Sie wird nicht lügen und sagen, dass es heute besonders schlimm war. Sie wird sagen, es war wie immer, und es war lange geplant. Und sie wird auch bei der Polizei sagen, dass er es verdient hat.
Die Polizisten werden seufzen und das genauso sehen, aber nicht sagen.
Am Ende landet sie doch noch in solch einem Psychoschuppen für missbrauchte Kinder. Das kann denen helfen, die sich nicht wehren konnten. Aber wenn er tot ist, wäre es für sie besser, sie könnte mit Mutti und Ines irgendwohin ziehen und in Ruhe leben.
Wegen Ines macht sie es auch. Die ist jetzt fünf. Wenn sie es nicht tut, ist Ines in drei Jahren dran. Wenn er überhaupt so lange warten kann.

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