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ABCD

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Universität des Saarlandes.

Bildnachweis: Alle Bilder © Rimini Protokoll. Außer: S. 33 Anja Mayer (Cargo Sofia – Madrid),

Rimini Protokoll

Recherchen 100

© 2012 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Printed in Germany

ISBN 978-3-943881-03-5
eISBN: 978-3-943881-43-1

Rimini Protokoll

ABCD

Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld

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Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet, die für und mit uns gesucht, gedacht, gebastelt, geschrieben, produziert, geschuftet, gekämpft, gewagt, gezaubert, verloren und gehofft haben. Sie sind Rimini Protokoll.

A

ABCD– Versuch einer Bestandsaufnahme nach zwölf Jahren. Nicht alles. Dazu wird die → Erinnerung nicht reichen. Aber einige Maschen im Netz. Gebrauchsanweisung? Überflüssig. Oft, wenn wir in eine neue Stadt kommen, gehen → wir in drei verschiedene Richtungen los. Unterwegs kommen wir an vielen Abzweigungen und Wegweisern vorbei. Jeder → Parcours ist möglich. Also mutig → vorwärts. Vorbei an Gedanken, Projektbeschreibungen, Requisiten … Wer sich auf den Weg macht, wird schon einen Eindruck vom Gelände bekommen. → Perspektive

ABWESENHEIT → Funktionieren

ACTOR – Handelnder. Das bessere Wort als → Schauspieler. Aufführung nicht als Abbildung, sondern als Tätigkeit. → Best Before

AHA – Effekt. → Wiederholung

AIRPORT KIDS (Arias/Kaegi, 2008) – Zwischen internationalen Klosterschulen, der Nestlé-Zentrale und dem Olympischen Komitee finden sich in Lausanne Nomaden von heute: Kinder von Eltern, die in den Kadern multinationaler Konzerne arbeiten, heute Singapur, nächstes Jahr Lausanne; Kinder auf den Flughäfen der Welt; zwei- und dreisprachige Kinder, die nach einer eigenen Sprache suchen. „Third Culture Kids“ werden diese Kinder von Soziologen genannt: keine Migranten, aber immer bereit zum Aufbruch. Sie kommen aus Rumänien, Afrika, China, Brasilien. Sie lernen neue Sprachen und diplomatische Codes, damit sie weder Schweizer, Kanadier noch Japaner werden. Acht dieser jungen Nomaden sprechen auf der Bühne in einem Bühnenbild aus Umzugskartons und Containern über ihre Zukunft. Wie wird die Welt aussehen, wenn sie erwachsen sind? Wie viele werden Manager von internationalen Firmen? Wie viele Flüchtlinge, Obdachlose, Botschafter? → Genug

AMA – Schönstes Kürzel aus der Theatersprache von → Stadttheatern. Wörtlich: Alles mit Allem – das Theater probt den Ernstfall. Vor der ersten und zweiten Hauptprobe (HP1 und HP2) und der Generalprobe (GP) wird nicht mehr angedeutet. – Bei unseren Arbeiten müssen wir häufig vermitteln zwischen dem Apparat, der das so gewohnt ist, und unserem Prozess, bei dem auch von Aufführung zu Aufführung noch weitergearbeitet wird.

ANALYSE – In diesem Text kommt das Wort Text 74 Mal vor, Autor 13 Mal. Diejenigen, die einem entgegentreten, werden hier 15 Mal als Performer benannt, 46 Mal als Darsteller, 19 Mal als Protagonisten, 25 Mal als Experten und je ein Mal als → Helden des Alltags und → Realitätszombies.

ANDERE – Wir stehen selbst nie auf der Bühne, sondern suchen das → Versteck. Aber während der Proben spielen wir mit: Wir spielen Publikum. Wir sitzen zu dritt in einem Zuschauerraum und tun so, als wären wir andere, die das Stück noch nicht kennen und nichts ahnen. Vielleicht die größte → Fiktion.

ANGST → Anwesenheit

ANONYMITÄT – Die Aufhebung derselben geschieht, wenn im Zuschauerraum während der Inszenierung das Licht angeht. Zum Beispiel in → Wallenstein, → Karl Marx: Das Kapital, Erster Band oder → 100% Stadt. Plötzlich treffen sich die Blicke. Jetzt wird zurückgeschaut.

ANWALT – Als die Daimler AG davon erfährt, dass wir planen, Theaterzuschauer, zur → Hauptversammlung 2009 einzuladen, bekommen wir Besuch von zwei Anwälten, die versuchen zu verstehen, was wir vorhaben. Sie rechnen mit Politaktivismus und Agitprop. Doch wir versichern: Unser Theater besteht darin, zuzuschauen. → Eskapismus

ANWESENHEIT – Für wen ist es gefährlich, auf der Bühne zu stehen? (Zu diesem Stichwort fände unser Herausgeber mehr Erläuterung spannend: „Z. B. als Gegenkonzept zur Repräsentation etc.“, schreibt er in den Kommentar des Google-Dokuments, in dem dieser Text von mehreren → Autoren gleichzeitig online geschrieben wurde.) → Risiko

APPARAT BERLIN (Haug/Wetzel, 2001) – Das erste Passierscheinabkommen zwischen West-Berlin und der DDR erlaubte West-Berliner Bürgern an einigen Tagen im Dezember 1963 und Januar 1964, ihre Verwandten im Ostteil der Stadt für einen Tag zu besuchen. Bis dahin war jeglicher Kontakt seit dem Mauerbau 1961 unmöglich gewesen. Wir fanden im Archiv von DeutschlandRadio Berlin eine unbeachtete Kiste Tonbänder mit Mitschnitten von Sondersendungen des Rundfunks im Amerikanischen Sektor (RIAS), bei denen Hörerfragen zum Verfahren im Mittelpunkt standen. Bis auf ein Statement eines der Moderatoren, Peter Herz, entstand das Hörstück ausschließlich aus Elementen der Bänder. Für Apparat Berlin wurden diese Archiv-Funde und Montagen erweitert um Szenen und Texte zu Massenmanagement, Panikforschung und dem Pekannuss-Phänomen. → Tourist des Tages → Spielregeln

APPLAUS – Lärm, der durch das wiederholte Zusammenschlagen von Händen am Ende von Aufführungen entsteht: in Südamerika zehn bis zwanzig Sekunden, in Frankreich bis zu zehn Minuten lang. In Indien inmitten der Aufführung, bei besonders schönen Lichteffekten, am Ende dagegen nicht, weil das Publikum den Saal schon verlässt, wenn sich das Ende der Handlung andeutet. Von ägyptischen Muezzins als unanständig empfunden. Von belgischem Flugpersonal auf unserer Bühne gerne durch persönliches Danke sagen am Ausgang des Theaters ergänzt (→ Sabenation). Am Ende von → Sonde Hannover stellen sich Passanten zu den Performern und verbeugen sich mit, obwohl sie weder das Publikum sehen, noch wissen, dass sie Teil eines Theaterstücks sind. Die Zuschauer wissen auch nicht mehr, wer dort unten Bescheid weiß und wer sich einfach nur verbeugt, weil es absurd genug erscheint, um mal gemacht zu werden.

AUFFALLEN – Von einhundert Menschen, die in 100% Stadt ihre Stadt auf der Bühne vertreten, sagen wenig mehr als fünfzig, dass sie sich gern bemerkbar machen (Braunschweig und Berlin: 55 Prozent, Wien 67 Prozent). → 100% Stadt. Das ist eine hohe Quote, verglichen mit den Stücken, bei denen weniger Menschen auf der Bühne stehen. Gerne mal auf der Bühne stehen zu wollen, ist häufig ein Hindernis auf dem Weg zum Experten-Theater-Darsteller. → Verstecken

AUFFÜHRUNG – Eine Stunde stillsitzen. Zwei Stunden Klappe halten. Neunzig Minuten Handy ausschalten und bei Menschen sein. Nicht zappen. Lange auf etwas gucken und damit fertigwerden, dass es da ist, dass es etwas Getrenntes von dir ist. Dass es etwas ist, was ohne dich nicht existiert, und was dir trotzdem nicht gehorcht. Etwas, das einmal tot sein wird, wenn du noch lebst. Oder umgekehrt. → Warum

AUFKLÄRUNG – Beim Wort Aufklärung mussten wir in der Grundschule immer kichern, weil wir das, was die uns erzählen wollten, schon wussten. Später haben wir Kant gelesen und uns über den kategorischen Imperativ geärgert. Dass einer nur tun können soll, was alle tun können, schien uns uniformierend. Auch bei Schiller hatte das einen säuerlich normierenden Ton. Wir sind froh über Menschen, die Meinungen haben. Wir hören ihnen gerne zu und merken, wie wir sie dabei verunsichern. Lustigerweise ist dabei der Begriff → Theater ein wunderbarer Katalysator. Die längste Zeit unserer Recherchen verbringen wir damit, Menschen in Büros, Operationssälen und an Ladentischen zu besuchen und mit ihnen zu überlegen, was für ein Stück Theater sie in ihrem Leben spielen. Da ist Schiller sehr weit weg. Jeder kennt das Gefühl, in der täglichen Erfindung seines Lebenswegs eine → Rolle zu spielen: eine soziale, eine selbst erfundene oder die eigene. Eine nie geprobte und doch eine sich irgendwie immer wiederholende. Man muss ja dauernd seine → Erinnerungen erfinden.

AUFLEGEN

AUFTRITT – Der eines Politikers, der eines Chefarztes, eines → Diplomaten, eines CEOs – Auftritte von denjenigen, die lange an ihrer Repräsentation gearbeitet und geprobt haben, aber auch der eines Ghostwriters, der aus der Unsichtbarkeit ins Helle tritt, eines Lokführers, der über seine Rolle in der Gesellschaft, über seine Perspektive, zu reflektieren beginnt. → Midnight Special Agency

AUFWACHEN – 1) Eine große Möglichkeit des Theaters. Oft fürs Große in Aussicht gestellt, allermeistens nur im Kleinen eine Chance (Andrzej Wirth: Der Unterschied zwischen einem guten und einem mittelmäßigen Theaterkritiker liegt darin, wann sie aufwachen). → Schlaf

2) Eine große Möglichkeit des Theaters, wenn es auf der Bühne selbst geschieht: Kreuzworträtsel Boxenstopp, unser erstes gemeinsames Stück, zeigte vier Frauen, die älter als achtzig Jahre alt waren. Es ging um die Formel-1-Saison, aber auch um das Leben im benachbarten Altenwohnstift.

Meta Nicolai lebte dort und hatte die Rolle der Streckenphilosophin im Stück. Sie sprach über Wetterfühligkeit und Beweglichkeit, Bewegung und gefühlte Geschwindigkeit. Aber die vom Scheinwerferlicht warme Bühne machte sie dämmrig, sie schlief oft mitten auf der Bühne in ihrem Stuhl ein. Manchmal schreckte sie plötzlich auf. Man konnte ihrem Gesicht dabei zusehen, wie aus Verwunderung in mehreren Stufen Gewissheit darüber wurde, wo sie sich befand. Aufwachen ins Theater hinein, auf die Bühne. Erstaunte, fragende Blicke, nach links, rechts, ins Gegenlicht nach vorn, dann die Frage im Gesicht, ob sie schon gesprochen hatte, und was? In welchem Teil waren wir? Eine große und berechenbare Szene, bei der die Grenze überschritten war. Es machte ihr keinen Spaß. Zwei Tage vor der Premiere mussten wir sie ziehen lassen – und hatten zu Beginn einer bis heute anhaltenden Serie von Projekten mit dem Experten-Theater keine andere Wahl als den Gang zur Darstelleragentur. Frau Zerda wurde ermittelt, sie besuchte Frau Nicolai nebenan, besah die aus Raummangel abgesägte Kuckucksuhr und die anderen Requisiten aus Nicolais Text.

Aus Nicolais spontanen Erörterungen zu Geschwindigkeit und Bewegung wurde ein ausgefeilter Text, und Frau Zerda kriegte die meisten Zuschauer damit dran, dass sie eben Frau Nicolai sei, ganz im Gegensatz zur anderen Schauspielerin auf der Bühne, Martha Marbo, die den Frankfurtern als Boulevardgröße bekannt war und wegen ihres Niki- Lauda-Akzents die Rennkommentatorin geben durfte. Spaß ist übrigens nicht unbedingt der primäre Grund, weswegen Leute bei unseren Projekten mitmachen, sollte er aber ausbleiben, ein triftiger für uns, um einen Ausstieg, auch noch mittendrin, hinzunehmen. → Therapie → Aussteiger

AUFWÄRMEN – Hilft nichts im Fall der Proben, die wir machen. Bei Stücken mit Leuten, die auf der Bühne sich selbst spielen, kann es die Verkrampfungen lockern, den Missverständnissen vorbeugen. Aufgewärmte müffeln immer auch ein bisschen nach Schweiß. → Energie

AUSBILDUNG – Vor einigen Jahren zeigten und kommentierten wir in Krakau Videos von früheren Arbeiten: eine Audiotour (→ Kirchner), ein Bundestagsynchronsprechen (→ Deutschland 2), ein Stück, das über Feldstecher und Kopfhörer funktioniert (→ Sonde Hannover), und ein anderes, in dem argentinische Pförtner auf einer Straße einem Publikum hinter Glas ihren Arbeitsplatz vorführen (→ Torero Portero). Wir kamen gut voran. Trotz stockender Konsekutivübersetzung folgte das Publikum unserer Erzählung mit dieser großen Ernsthaftigkeit, die dem Theater in Polen allgemein entgegengebracht wird … Da meldete sich ein junger Mann in der drittletzten Reihe und sagte: „Das ist alles lustig und irgendwie packend, aber das ist kein Theater! Das ist keine Kunst!“

„Interessant“, fanden wir und fragten nach. Es stellte sich heraus, dass er als Schauspielschüler täglich acht bis zwölf Stunden daran arbeitete, gewisse Sprech- und Bewegungstechniken auf einen Punkt zu bringen, die seinen Lehrern als die Perfektion von Theater erschien. Davon konnte er in unseren Arbeiten nichts wiederfinden. „Das kann ja jeder“, schien er sagen zu wollen. Wir atmeten einmal tief durch.

Wir mussten nicht nur eingestehen, dass mindestens einer von uns keinerlei höheres Studium zu Ende gebracht hatte, sondern auch, dass unsere Arbeiten vor allem dadurch entstehen, dass wir telefonieren, Zug fahren, in ein Notizbuch kritzeln, Waffenfabriken oder Tierhandlungen besuchen, Zeitungsanzeigen aufgeben, E-Mails schreiben und vor allem zuhören. „Erst ganz am Ende gehen wir manchmal auf Theaterproben, in denen aber so gut wie nie daran gefeilt wird, wie genau etwas ausgesprochen oder wie überzeugend etwas gespielt wird. In vielem“, erklärten wir ihm, „ähnelt unser Beruf eher dem eines Redenschreibers, eines Journalisten, eines Politikers, eines Produzenten, eines Architekten oder eines Logistikers als dem eines → Autors oder Regisseurs, wie er ihn sich für seine Arbeit wünschte. Aber nicht trotz, sondern genau deswegen sind solche Projekte Kunst“, fuhren wir fort: „weil sie nicht recht einstudiert und erst recht nicht virtuos ausgeführt sind. Weil sie ihre Regeln selber suchen. Weil wir nichts gelernt haben und auch nichts können. Weil es keine Vorbilder gibt. Weil → Kunst nicht von Können kommt.“ Vielleicht hat der Schauspielschüler am nächsten Tag seine Lehrer beschimpft und seine Schule verlassen.

AUSGANGSFRAGE – Manchmal gibt es auch mehrere: Sie sind wie ein Rucksack, der umgeschnallt wird und die Notversorgung durch die Recherche sichert. → Behauptung

AUTHENTIZITÄT – Danach wird oft gefragt. Wenn darauf immer das Gleiche geantwortet wird, ist dann die Antwort nicht mehr authentisch? Fußball-Fachleute benutzen ,authentisch‘ zur Beschreibung herausragender Spieler. Zur Not kann man sich den Begriff leihen, wenn es gar nicht anders geht, um einen Mario-Basler-Moment beim Lavieren zwischen Spiel und Nicht-Spiel zu benennen. Es wird dann genickt und ein Moment der Klarheit genossen, so kurz und undurchsichtig, dass er eigentlich nichts gebracht hat, außer eine knappe Regung der Befriedigung, so wie ein Stück von einem Riegel Schokolade. Wer ein bisschen Theorie-Schokolade möchte: Die Nachricht bedarf ihrer Authentifizierung seit es Nachrichten gibt, des unverkennbaren Siegels, des Beweises, dass der Absender tatsächlich der Absender sei. Wenn Mario Basler ein Tor schießt, ist das dann authentisch ein Basler-Tor, wenn man’s ihm zuschreiben kann? (Nochmal nachfragen bei diesen anderen Theaterleuten, die Fußball mögen.) → Ich

AUTOR – Bei der Registrierung im Hotel die schnellste und einfachste Antwort auf die Frage nach dem Beruf. In unserer Arbeitspraxis aber nur einer der Bereiche, die wir ausfüllen. Die Geschichten selbst müssen nicht erfunden werden, es gilt, sie einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, zu verbinden, sodass das Publikum sie selbst mit dem eigenen Hermeneutik-Mikroskop durchleuchten kann.

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BANANEN – Bonner Bananen-Monopol: Wenn ein zweiter Händler auf dem Wochenmarkt vor dem Bonner Rathaus glaubt, er könne auch Bananen anbieten, dann geht der Bananenstand mit dem Preis unter den Einkaufspreis runter, und wenn der Gegner hartnäckig ist, dann werden die Dinger eben ein paar Tage lang verschenkt. Aber auch dann, wenn er der einzige Bananenhändler auf dem Markt ist, müssen die Leute auf die Idee kommen, Bananen zu kaufen. Daher der simple Ruf „Bananen!“, weit greifend, über den ganzen Platz, sobald die letzte Stunde begonnen hat, in der das Ruf-Verbot nicht kontrolliert wird. Dann mischen sich die anderen Stimmen dazu: „Schöne Napoleonkirschenhier!“ – „Schnittfestetomatenkilo Eineurojetzt!“ – „Eineurohier!“ – „Schnittfestetomaten Kiloeineuro!“ – „Eineuro!“ – „Schnittfestetomaten Kiloeineurohier!“ – „Ananas Eineuro! Süßeaprikosen!“ Mutter Limbach ruft: „Schöne, feste Ware an Tomaten.“ Gegenüber der billige Jakob: „Preise wie vor hundert Jahren – Eineuro!“ Hassan Mohamed unter dem grünweiß gestreiften Baldachin: „Eineuro!“ Sein Sohn: „Zweikilopaprikazweieuro!“ Wie Vögel spornen sich die Rufer gegenseitig an. Hassan Mohamed: „Honigmelone! Zweistück Eineuro! Kilokirscheneineuro!“ Willi Hörnig: „Süße Kirschen! Süße Kirschen!“ Peter Deborée: „Kirschen! Kilokirschennurnochviereuro! Viereurodiekirschenhier!“ – „Schöne, feste Ware an Tomaten! Schnittfestetomaten Kiloeineuro!“ – „Dreikilobananeneineuro!“ Tagsüber verkauft Sven, der Bananennachwuchs. Zum Finale kommt der Alte dazu. Seine Rufe klingen oft wie Klagelaute: „Eineurojetzt! – Eineurohier! Eineurooo!“ → Markt der Märkte

BAUPROBE – 1) Was kann man Monate vor der Premiere simulieren und in einer Bauprobe technisch überprüfen, wenn so viel auf den Prozess und die gemeinsame Entwicklungs- und Erfindungskraft gesetzt wird? Am Düsseldorfer Schauspielhaus waren wir anlässlich einer solchen Bauprobe einmal in einer großen Zwangslage und hatten schlicht noch nichts aufzubauen oder auszuprobieren. Eine Bauprobe ist aber auch eine Versammlung der künftigen Mitarbeiter der Produktion aus allen Abteilungen des Hauses, die sich über das Bevorstehende informieren wollen. Also haben wir einen Zauberer angeheuert, der Tricks mit Karten und Bällchen vorführte. Die Behauptung des Unmöglichen hat uns dann veranlasst, das Stück → Der Zauberlehrling zu entwickeln. → Werkstattbesprechung

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2) In einer Seitenstraße entdecken wir bei den Recherchen für → Herr Dagaçar und die goldene Tektonik des Mülls das Drahtmodell einer Moschee.

BEHAUPTUNG → Ausgangsfrage

BESCHATTUNG – Insgesamt → 50 Aktenkilometer lagern im zentralen Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde in der Ruschestraße, Berlin-Lichtenberg. Weitere siebzig Kilometer verwalten die Außenstellen in den Neuen Bundesländern, unter anderem: Protokolle über Handlungen, Begegnungen, Besuche, Gespräche, verbunden mit bestimmten lokalisierbaren Orten. Ein Beispiel:

„16.07 Uhr wurde ,246816‘ nach Verlassen der GÜST Bahnhof Friedrichstraße zur Beobachtung aufgenommen. Die zu beobachtende Person begab sich zum Zeitungskiosk in der oberen Bahnhofshalle und kaufte eine Freie Welt, ein Neues Deutschland und eine Berliner Zeitung. Danach lief das Objekt im Bahnhof suchend umher.

16.15 Uhr begrüßt ,246816‘ in der oberen Bahnhofshalle eine weibliche Person mit Handschlag und Wangenkuss. Diese weibliche Person erhält den Decknamen ,Kappe‘.

,Kappe‘ trug eine dunkelbraune Umhängetasche. Beide verließen den Bahnhof und gingen, sich unterhaltend, zum Berliner Ensemble am Brechtplatz.

16.25 Uhr betraten beide die Gaststätte Ganymed Berlin-Mitte Am Schiffbauerdamm.

Nach circa zwei Minuten verließen die zu beobachtenden Personen die Gaststätte und gingen über die Friedrichstraße, Unter den Linden zum Operncafé.

16.52 Uhr betraten ,246816‘ und ,Kappe‘ die Gaststätte Operncafé, Berlin-Mitte, Unter den Linden.

Sie nahmen im Café Platz und tranken Kaffee.

18.45 Uhr bis 20.40 Uhr sahen sich beide interessiert den Fackelzug zu Ehren des dreißigsten Jahrestages der DDR an. Anschließend gingen ,246816‘ und ,Kappe‘ über die Straße Unter den Linden, Friedrichstraße zur Straße Am Schiffbauerdamm.

21.10 Uhr betraten sie dort die Gaststätte Ganymed. In der Gaststätte standen sie nicht unter Kontrolle.

23.50 Uhr verließen beide die gastronomische Einrichtung und begaben sich auf direktem Weg zur Ausreisehalle der GÜST Bahnhof Friedrichstraße, die sie 23.55 Uhr betraten. ,Kappe‘ wurde an die HA VI zur Dokumentation übergeben. Die Beobachtung wurde beendet.“

BESCHIMPFUNG

BESETZUNGSZETTEL – Hauptversammlung der Daimler AG vom achten April 2009 (aus dem Rimini Protokoll-Programmheft zu → Hauptversammlung)

BEST BEFORE (Haug/Kaegi, 2010) – In Vancouver, der Hauptstadt der Spiele-Programmierer, entsteht unser Projekt als erstes Multi-Player-Videospiel für 200 Theaterzuschauer. Jeder Zuschauer wird ausgestattet mit einem → Game-Controller und beginnt, seine Avatare fernzusteuern. 200 Zuschauer fällen so Entscheidungen. Das Publikum spielt jeden Abend ein Spiel mit offenem Ausgang, in dem Bewohner aufwachsen, um über persönliche, gesellschaftliche und politische Fragen in ihrer neuen Welt – „Bestland“ – zu entscheiden. Sie prallen aufeinander, arbeiten zusammen und messen ihre Kräfte im Entstehen ihrer eigenen Realität. Auf der Bühne moderieren ein Gametester, eine Verkehrslotsin, ein Politiker und eine Programmiererin den Prozess, aber die eigentlichen Hauptdarsteller sind die Zuschauer. → Identifikation

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BETRIEBSSYSTEM → Choreographie

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BILD – Das erste Pressebild von uns: Februar 2002 im Techniklager des Frankfurter Mousonturms. → Wir

BLABLABLA – Vermeiden. → Diskussion

BLACK TIE (Haug/Wetzel, 2008) – Miriam Yung Min Stein erhielt von der Adoptionsvermittlungsstelle nur die mythische Information: „Du wurdest in Südkorea 1977 in einer Schachtel gefunden, umhüllt von Zeitungspapier.“ Für Black Tie spuckt sie in ein Röhrchen der Firma 23andMe, macht einen Backenabstrich mit dem „genom-collector“ der Firma DeCODEme und wartet auf die Teilsequenzierungen ihres Genoms durch die beiden Marktführer. Der eigene „Bauplan“ – eine Biografie? Wie erzählt man die eigene Geschichte, wenn ihre Aufzeichnung erst mit der Ankunft auf einem deutschen Flughafen beginnen kann? Black Tie kreist um die Suche nach der eigenen Identität, um das schwarze Loch der Herkunft und um die befremdlich-beredte Hilfsindustrie der jungen Humangenetik dieser Tage. → Text

BLACKOUT → Vergessen → Ohnmacht → Dunkelheit

BLAIBERG & SWEETHEART19 (Haug/Kaegi/Wetzel, 2006) – Theaterstück über die Suche nach dem „richtigen Herzen“ bei Herztransplantation und Partnervermittlung. Die Zuschauer sitzen auf Tribünen um die Spielfläche herum, über jeden der vier Blocks sind Projektionsflächen angebracht. Auf diesen Leinwänden nimmt das kardiologische Team des Universitätsspitals Zürich eine für das Stück simulierte Herztransplantation vor, während Heidi Mettler auf der Bühne noch einmal durchgeht, wie sie auf das neue Herz gewartet hat, es mit einem Hubschrauber einfliegen sah und seither damit lebt. Das Operationsteam auf der Bühne besteht aus Kardiotechnikerin Renate Behr an der Herz-Lungen-Maschine und der Russin Jeanne Epple am Handy, die zwischen heiratswilligen Russinnen und Schweizern vermittelt, denen sie auch dem Anlass gebührende günstige Gebisserneuerungen vermittelt. Sie brät eines der Schweineherzen, an denen Veterinärmediziner und Mikrobiologe Hansueli Bertschinger die Züchtung von Schweinen miterforscht hat, deren Herzen dem Menschen transplantiert werden könnten. Speedflirting-Veranstalter Nick Ganz und die ehemalige Kantonalrätin Christa D. Weisshaupt bewegen sich zusammen mit den anderen auf vier Leinwänden mit Avataren durch die damals noch unbekannte Online-Plattform → Second Life, wo am Schluss Heidis Avatar allabendlich ihr neues Herz eingepflanzt bekommt und das Überleben weitergeht.

BLANKO – Carte blanche zum Selberdenken.

BLAU BLÜHT DER ENZIAN (Haug, 2004) – Eine Soundinstallation auf der Basis von Zahlensendungen: Wurde der Musiktitel Blau, blau, blau blüht der Enzian zu Zeiten des Kalten Krieges im Radio gespielt, war das für westdeutsche Agenten das Signal, dass die auf diesen Titel folgende Nachricht verschlüsselt und für sie bestimmt war.

Neben den offiziellen Sendefrequenzen liegen auf dem Meterband der Kurzwelle eng an eng Sender, die nicht an eine große Hörerschar gerichtet sind, sondern oft nur an einzelne Personen verschlüsselt → Nachrichten übertragen. Heute werden vor allem die ,Zahlensendungen‘ genutzt: nach einer kurzen Zahlenfolge, die den betreffenden Agenten adressiert, folgen lose Zahlenreihen, die, mit entsprechendem Schlüssel, Buchstabe für Buchstabe Worte, Sätze, Meldungen ergeben.

BLICKRICHTUNG – Teil der Ausbildung für Blinde ist das Training darin, wie man für Sehende möglichst ,natürlich‘ aussieht: zum Beispiel, indem man das Gesicht beim Sprechen in ihre Richtung wendet – auch wenn man da nichts sieht. So ähnlich gehen Darsteller auf der Bühne mit blendendem Scheinwerferlicht um. → Wirklichkeit

BODENPROBE KASACHSTAN (Kaegi, 2011) – Im 20. Jahrhundert wurden Menschen wie Erdölbarrels von einem Kontinent zum anderen verschickt. Bodenprobe Kasachstan macht sich mit dokumentarischen Mitteln auf die Suche nach → Öl. Ein Jahr lang casteten wir ,Ich-Erzähler‘ von → Energie. Auf der Bühne steigen Russlanddeutsche und Ölbohrer aus Kasachstan über eine große Leinwand zurück in die beinahe vergessene kasachische Landschaft und begegnen ihren fernen Verwandten. So entsteht ein Theaterabend als Kasachstansimulation, in dem Menschen in russischer und deutscher Sprache die Routen der Steppe besingen: den Weg ihres Lebens, des Erdöls und der Macht. → Sabotage

BODENTUCH – Im Großen Haus des Mannheimer Nationaltheaters kann man aus höchster Höhe von den Umlaufgalerien im Schnürboden auf die Bühne schauen. Szene eins: Wir sehen, wie unten gerade das Bodentuch für den ersten Akt einer → Oper ausgebreitet wird: erdiger Boden mit wenig grasgrüner Hoffnung. Von oben gesehen ein enormes Rund, von vorn wahrscheinlich einfach ein unmerklicher Farbton, der signalisiert: draußen. Szene zwei: Eine Reinigungskraft hat die Bühne für sich. Der erdige Boden wird mit dem Staubsauger behandelt; ein Radio füllt die Saugpausen. Szene drei: Die Bühne ist leer, das Radio läuft noch. – Weiterdenken in ein Projekt: Die Zuschauer könnten zu mehreren auf den Umlaufgalerien stehen und nach unten schauen, Kopfhörer würden ihnen eine ganz andere Version des Geschehens unten liefern; die Frau, die wahrscheinlich im fünften Akt geopfert wird, würde sich unten nach ihrem Bühnentod, für die Zuschauer im Saal unsichtbar, zurechtzupfen und im Kran nach oben fliegen, um in dreißig Metern Höhe bei ihrem zweiten Publikum vorbeizuschauen. Nicht verwirklicht.

BOTSCHAFT – „Jetzt Schauspieler?“, wurde ein argentinischer Pförtner im Publikumsgespräch zu → Torero Portero in München gefragt. „Nein, ich bin hier nicht als Schauspieler, sondern als Botschafter. Ich vertrete hier die Situation von argentinischen Pförtnern an der Schnittstelle zwischen behüteter Mittelklasse und der Straße. Ich repräsentiere auf der Bühne die argentinische Krise in Europa.“ Wer Botschafter seiner selbst ist, hat etwas zu verlieren. → Risiko

BREAKING NEWS. EIN TAGESSCHAUSPIEL (Haug/Wetzel, 2008) – Simultan-Nachrichten-Theater. Die Bühne zeigt Fernsehnachrichten aus aller Welt vom gleichen Abend, live und synchron: Lateinamerikanische, isländische, englische, deutsche, arabische, syrische, kurdische, pakistanische, indische, russische, amerikanische Versionen des täglichen 15-minütigen Infotainment-Pakets über „die wichtigsten Ereignisse des Tages“. Die beteiligten Dolmetscher und Journalisten übertragen, filtern und kommentieren die Sendungen wie Korrespondenten aus jenen Wohnzimmern, in denen sie normalerweise durch Wände voneinander getrennt gesehen werden. Aischylos’ Die Perser steht als antikes Gegenstück den aktuellen Versionen der Berichterstattung zu Krieg, Diplomatie und Katastrophen gegenüber, die das große Nachrichten-Rauschen bilden, gegen das sich Ereignis um Ereignis und die eigene Erfahrung freischwimmen müssen. Mit Simon Birgisson (isländischer Journalist), Martina Englert (Dolmetscherin für Russisch und Englisch), Djengizkhan Hasso (Dolmetscher für Arabisch, Kurdisch und Türkisch), Carsten Hinz (Dolmetscher für Spanisch und Französisch), Hans Hübner (ehemaliger Theaterkritiker und Afrikakorrespondent), Marion Mahnecke (Newscutterin), Walter van Rossum (Nachrichtenanalyst), Andreas Osterhaus (Nachrichtenbroker, Agence France-Presse AFP), Sushila Sharma-Haque (Übersetzerin und Lehrerin für Hindi und Urdu).

BRUNSWICK AIRPORT (Haug/Kaegi/Wetzel, 2004) – Ortsspezifische Installation, Parcours im und um das Gebäude des Flughafens Braunschweig. Die Besucher werden anhand eines fotografischen Leitsystems paarweise durch das Gebäude gesteuert. Von der Sicherheitsschleuse für Flugzeuge über den hölzernen Dachboden, über ausrangierte Hotelzimmer und Bunkerräume auf eine Hollywood-schaukel mit Blick auf das Flugfeld. An zwölf Stationen hören sie akustische Inszenierungen mit Stimmen von Menschen, die am Flughafen bzw. in einer der zahlreichen benachbarten Forschungseinrichtungen beschäftigt sind. Mit den Stimmen von Wernher Baumbach (Geschäftsführer Flughafengesellschaft), Ulrich Frost (Bundesgrenzschutz), Thomas Okupnik (Feuerwehr), Herrn Riechweit (DB Sicherheitsdienst), Axel Thiel (Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen BFU), Volker Brandt und Carsten Seehof (Simtec Simulation Technology GmbH), Manfred Müller (Aerowest Flug Center GmbH), Frank Morlang und Sven Kaltenhäuser (Institut für Flugführung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt), Prof. Dr. Georg Rüppell (Ornithologe, Zoologisches Institut, TU Braunschweig), Silvia Ohrmann und Jörn Pfingstgräff (Studenten am Institut für Luft- und Raumfahrtsysteme, TU Braunschweig), Frau und Herr Eickenroth (Anwohner). → Panik

B-SEITE – Wie entscheiden wir uns für Protagonisten? Neben dem inhaltlichen Matching entscheidet auch der Blick auf das entstehende Ensemble: Welche Tonlage ist noch nicht besetzt, welchen Kontrast können wir herstellen, wo gibt es produktiven Widerspruch und den Sprung auf die nächste Ebene?

BÜHNE – Kann überall sein. → Ready Made Machine

BÜHNENBILDERSTREIT – Das Foto (Abb. S. 18) zeigt Männer inmitten der Wertstoffe, die sie in der vorangegangenen Nacht aus dem Müll in den Straßen Istanbuls gesammelt haben. Vier von zehntausenden von Sammlern – vier von hunderten Kurden aus dem gleichen Familienstamm, die aus Dörfern zwanzig Stunden östlich von Istanbul in die Stadt pendeln, wann immer es geht und die Schulden es erzwingen. Hinten rechts: Die aus Fundstücken zusammengesteckte Schlafhütte für bis zu 17 Männer. Vorn links schaut Apo auf einen Zettel. Das Bild täuscht. Die Männer schauen selten etwas an in dieser hektischen Arbeitsphase; sie greifen und werfen das Gegriffene zielsicher in Richtung des Haufens – Papier zu Papier, Dose zu Dosen, Plastik zu Plastik, Elektrogeräte in die eine Tonne, Röntgenbilder in eine andere …

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Das Bild entstand bei einem unserer Besuche im „Depot“ jener Gruppe, aus der drei Männer zu Protagonisten von → Herr Dagaçar und die goldene Tektonik des Mülls wurden, uraufgeführt sechs Monate später in der gleichen Stadt. Das Foto wurde gemacht, weil das, was wir dort sahen, auf der Bühne nicht gezeigt werden kann – und weil wir es vergessen hätten bei der Arbeit mit den Leuten, die darauf zu sehen sind: vergessen, weil sich die Begegnungen mit ihnen immer neu überschreiben zu einer Bekanntschaft, weil das Bild sich ständig erneuert in dieser Dauerbelichtungskamera, die die Black Box des Theaters ist.

Von einem der drei stellte sich später heraus, dass er der Einzige war, der den LKW des größeren Kollektivs fahren durfte. Das Kollektiv, das Objekt unserer Langzeit-Aufnahme, konnte nicht mehr so arbeiten, wie wir es dokumentieren wollten. So entstand eine Protokollebene des Stücks, auf der die drei Vertreter des Kollektivs auf der Bühne Momente der gegenseitigen Belichtung wieder und wieder festhalten: Sie erzählen von unserem Anflug von Todesangst vor unserem ersten Besuch auf ihrem Depot und von den Warnungen ihrer Kollegen, nicht nach Berlin zu fahren, denn dort könnten sie betäubt werden und Organe entnommen bekommen. Sie erzählen auch, dass einige Wochen nach Probenbeginn das Depot fast verlassen war und der Schlafverschlag so obsolet geworden war, dass wir ihn abbauen und zum Bühnenbild machen wollten. Im Gegenzug sollte das Kollektiv einen Container-Anhänger mit Dusche und Küche bekommen, den sie bei der nächsten Vertreibung durch die Polizei einfach an den nächsten Standort transportieren könnten, um dort sofort weiterzumachen, ohne erst aus Funden von der Straße einen neuen Unterschlupf für die Nacht zusammenbauen zu müssen.

Unser Interesse hatte seinen Gegenstand gefährlich infiziert. Das Foto dokumentierte bereits die absolute Vergangenheit (wie die gute alte Fototheorie es von jedem Foto sagt), und die jungen Männer, von denen wir erwartet hatten, dass sie auf der Bühne eines sogenannten Avantgarde-Theaters inmitten von Istanbuls Ausgehzone mit Stolz und Witz als Wertstoffsammler von ihrer Arbeit berichten würden, wollten nicht mehr als Müllsammler auf der Bühne stehen, sondern einfach als junge Männer mit ihrer Kultur, ihren Werten, ihren Hoffnungen. Sie wollten etwas anderes zeigen als das, weswegen sie in unseren Rahmen eingeladen worden waren. Sie hatten Angst, mit dem zum Bühnenbild gewordenen Wiederaufbau ihres Verschlags zusammen gesehen zu werden. „Wenn ihr darauf besteht, dann bauen wir das Ding ab und bringen euch seine Einzelteile“, sagten sie, „aber wir wollen es nicht als unser Bühnenbild. Wir mögen diese Arbeit nicht. Es gibt nur keine andere“.

Das Protokoll als Element des Aufführungstextes hält diesen Abbruch eines Projekts fest und mit ihm ereignet sich die Authentifizierung seiner Protagonisten.

Wir glauben nicht an die Authentizität des ersten Moments, des spontanen Auftritts, sondern an den Prozess des Theaters als einen der Authentifizierung. Die Akteure des Bildes sprechen zu dir, während du es entstehen lässt. Sie unterlaufen dein Bild. Wir zeigen Leute, die zeigen. Das Foto vom Zettel lesenden Apo kommt auch auf der Bühne vor, nebenbei, während für einen kurzen Moment von wenigen Minuten Müll auf der Bühne aussortiert wird. Es ist ein Blitzblick in eine Vergangenheit, die fotografisch ist (freilich, liebe alte Fototheorie, ewig performativ: Immerdar wird Apo auf diesen Zettel schauen, den er Sekunden später weitergeworfen hatte): Der Fotograf wollte den Müllsortierer, und der hielt ihm das Interesse für einen Zettel entgegen.

Eine Möglichkeit des Theaters ist es, diese ewig gegenläufigen Strategien des Operators und des Objekts möglichst zugleich zu zeigen: unsere Strategie, die ,Müllsammler‘ als solche zu zeigen, die zu ihrem ,Job‘ stehen, und ihre Strategie, auf sich zu verweisen als Menschen, mit denen wir auch hätten arbeiten können ohne all den Müll – weil sie etwas anderes sein wollen, als das, als was wir sie in einem Foto abgebildet hätten. → Spielen

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CALL CUTTA (Haug/Kaegi/Wetzel, 2005/2008) – 1) Aus einem indischen Callcenter ferngesteuerte Tour durch ein Viertel in Kalkutta – ein „mobile phone theatre“. Der Theatergänger erhält an der Theaterkasse ein Mobiltelefon und dann einen Anruf. Er geht allein, begibt sich durch die engen Gassen des Viertels Hatibagan, die den britischen Besatzungstruppen immer wieder zum Verhängnis geworden waren, und kommt der Stimme näher, die ihn leitet und mit ihm ein Gespräch führt. Störung. Die Stimme hat gewechselt. Die Mission ist eine andere. Die Untergrundwohnung einer Organisation, die die Callcenter umnutzen will, ist die Endstation der Strecke. → Panik → Shopping

2) Aus einem indischen Callcenter ferngesteuerte Tour durch Berlin. Diesmal ist den Callcenter-Performern die Gegend zwischen Kreuzberg und Potsdamer Platz, durch die sie die Theatergänger einzeln führen, nur durch Kartenmaterial und das Skript bekannt. Das Gespräch führt entlang an Indizien und Spuren, die belegen sollen, dass die Stimme am anderen Ende der Verbindung verwandt ist mit einem Mitstreiter von Subhas Chandra Bose („Netaji“), der in dieser Gegend in Kooperation mit dem Dritten Reich eine Indische Befreiungsarmee aufbaute, die nach Indien marschieren sollte. → Fiktion

3) Call Cutta in a Box – Telefontheaterstück. Ein Dialog von Büro zu Büro. Die Globalisierung wispert direkt in die Ohren der Gäste: Diesmal laufen die Besucher nicht durch die Stadt, sondern finden sich selbst als Kunde und/oder Mitarbeiter eines Callcenters wieder. → Telefon → Telefonseelsorge

CAMERIGA. EINE META-BÜROKRATIE (Haug/Kaegi/Wetzel, 2005) – Zwanzig Menschen, die mit dem ehemaligen Rathaus von Riga in Verbindung stehen, besetzen noch einmal zwanzig Büros eines leerstehenden Gebäudes. Es wurde oft „das schwarze Haus“ genannt, obwohl es immer einen hellen Anstrich hatte. 1913 als Bank gebaut, war das Haus an der K. Valdemara Iela 3 in den 1930er Jahren Außenministerium, dann die Residenz von Staatspräsident Kärlis Ulmanis, unter der deutschen Besatzung wichtigstes militärisches Befehlszentrum und in Sowjetzeiten unter anderem Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei.

Seit der Unabhängigkeit Lettlands diente es als Stadtverwaltung von Riga, die 2003 in ein neues Gebäude umzog. Bald begann die Renovierung des Hauses, um das Auswärtige Amt aufzunehmen. Doch vor unserer Aufführung 2005 steht das Gebäude leer. Wächter sichern in 24-Stunden-Schichten das entkernte Gehäuse staatlicher Repräsentation. Hier saßen sich Antragsteller und -nehmer gegenüber, hier wurden Aktenzeichen vergeben, Dokumentenberge angehäuft und abgestempelt. Hier wurde über Lebenswege entschieden. Die Räume sind verwaist, bis auf Lampen und Panzerschränke komplett geleert. Ihre Nutzung hat sich über Jahrzehnte eingraviert an Stellen, die nun zum Vorschein kommen wie Narben. Auf jedem Stockwerk zeigt die Uhr eine andere Zeit. In einer Ecke stehen aufgerollte Fahnen, an den Wänden haben sich Spuren von Bildern, Stadtplänen und Zimmerpflanzen abgezeichnet. Der Holzboden erzählt von sich wiederholenden Auftritten und Abgängen, zeigt Stakkato-Löcher von dreißig Jahren Vorzimmer-WC-Vorzimmer mit Stöckelschuhen.

Cameriga