Cover Image

Karolin Park

Stilettoholic

Roman

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

 

 

 

 

 

 

 

 

Stilettoholic ist ein fiktionales Werk.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie tatsächlichen Ereignissen

ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Auch wenn reale Schauplätze, Lokale, Geschäfte und Ähnliches erwähnt werden,

so geschieht dies doch in einem rein fiktionalen Kontext.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

 

 

© 2011 –  Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © iStockphoto.com/stylishbutterfly

Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3690-1

 

 

 

Für Martin

 

 

 

 

If God had wanted us to wear flat shoes,

he wouldn’t have invented high heels.

 

Steuerberatungskanzlei

Höhne & Partner

Stubenring 2/1

1010 WIEN

 

 

Frau

Mag. Elisabeth Weitzman

Habsburgergasse 9/11

1010 Wien

 

Wien, am 8.1.2008

 

 

Betreff: Kündigung der Steuerberatungsleistung

 

 

Sehr geehrte Frau Mag. Weitzman,

 

 

wie Sie in Ihrem Brief vom 1.1.2008 mitteilen, benötigen Sie ab sofort keine weitere Beratung unseres Hauses in Ihren steuerlichen Angelegenheiten.

 

Wir danken für die gute Zusammenarbeit und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute.

 

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Dr. Richard Höhne

Steuerberater

 

Finanzamt Wien 1/23

Team 8/ Gruppe 4b

 

 

Frau

Mag. Elisabeth Weitzman

Habsburgergasse 9/11

1010 Wien

 

Wien, am 4.6.2008

 

 

Betreff: Einkommensteuerbescheid 2007 / Absetzbeträge

 

 

Sehr geehrte Frau Weitzman,

 

 

anbei finden Sie Ihren Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007. Bedauerlicherweise müssen wir Ihnen mitteilen, dass

 

die Strassspangenpumps von Ferragamo

die Riemchensandalen von Manolo Blahnik

sowie die Ballerinas der Schuhmanufaktur Reiter

 

nicht, wie Sie meinen, als Arbeitsschuhe steuerlich anerkannt werden. Wir sind uns durchaus darüber im Klaren, dass ein ›qualitativ hochwertiger Schuh‹, wie Sie es nennen, auch ›ein wenig mehr kostet‹. Auch freuen wir uns darüber, dass Sie durch den Kauf eines Paares der Wiener Schuhmanufaktur Reiter ›die heimische Wirtschaft so tatkräftig unterstützen‹. Dennoch müssen wir Ihnen mitteilen, dass die drei genannten Posten nicht als Absetzbetrag geltend gemacht werden können. In der Anlage 2/1 finden Sie daher den aktualisierten Absetzbetrag.

 

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Maria Molart

Finanzbeamtin

 

Beilage: 3 Rechnungen

1

Mit dem Hörer am Ohr lasse ich mich zurück aufs Sofa fallen. Es ist Sophie, meine beste Freundin, Model und Schuhfetischistin. Sie wechselt ihre Männer genauso oft wie ihre Designerpumps, aber die Freundschaft zu mir besteht mittlerweile bereits mit der ungebrochenen Beständigkeit von 25 Jahren, mal abgesehen von dem wirklich schlimmen Streit, den wir vor einigen Jahren im Ausverkauf wegen des letzten Paares strassfunkelnder Jimmy Choos in Größe 39 hatten.

»He Süße!«, erklingt Sophies Stimme am anderen Ende der Leitung. »Bist du für heute Abend startklar?«

Herrje, das Vogue-Dinner. Wie konnte ich das denn bloß vergessen? Dabei denke ich doch seit Sophies telefonischer Ankündigung vor ungefähr drei Monaten praktisch an nichts anderes mehr.

 

Sophie war gerade zum Bikini-Shooting für den neuen Victoria’s-Secret-Katalog auf den Bahamas, als sie Erik und mich gegen 2 Uhr morgens mit hartnäckigem Klingeln aus dem Schlaf holte. Erleichtert darüber, dass kein Familienmitglied todkrank, schwerverletzt oder womöglich bereits verstorben war – irgendwie erwartet man solche Nachrichten um diese Uhrzeit –, lauschte ich ihrer aufgekratzten Stimme, während Erik neben mir im Halbschlaf etwas wie »diese Wahnsinnige«, »Besitzstörungsklage« und Ähnliches vor sich hin murmelte.

»He Süße! Ich hab’ eine Spitzennachricht!«, kreischte sie in den Hörer. »Ich bin auf dem Cover der Augustausgabe und du begleitest mich zur VIP-Party!«

Durch diese Wahnsinnsnachricht schlagartig hellwach geworden, schrie ich wiederholt:

»Die Vogue, die Vogue, die Vogue!«, warf mich im Reitersitz auf mein halb bewusstloses Bettgegenüber und rüttelte Erik so lange, bis er sich ebenfalls ein

»Na gratuliere und jetzt lass uns weiterschlafen!«, abrang und entlockte ihr nebenbei die näheren Details darüber, dass sie laut Auskunft ihrer Agentur der Modefotograf Philipp Margold, um den sich im Moment alle angesagten Designer von Armani bis Zegna prügelten, unbedingt für den Job haben wollte, das Shooting in den Barockgärten von Schloss Schönbrunn stattfinden werde und man anscheinend plante, zu Ehren des Fotografen ein Dinner mit 300 geladenen Gästen in Wien zu geben.

Der Job als Sophies Begleitung fiel mir zu, weil ihr der mit Victoria’s Secret vor sechs Monaten unterzeichnete Vertrag nicht nur strenge Verschwiegenheitspflicht und tägliche Gewichtskontrolle vorschrieb, sondern ihr zudem jegliche Liaison oder gar Nachwuchs für das kommende Jahr untersagte, was sie im Falle eines Vertragsbruchs teuer zu stehen kommen würde, wie ihr Erik nach eingehender Prüfung des Fünfzigseitendokuments mit mitleidiger Miene erklärt hatte.

Inoffiziell war sie seither einen ganzen Monat lang verlobt, eine Woche drüber (was sich schlussendlich als Hormonschwankung herausstellte) und sieben Tage verheiratet. Zum Glück nur nach buddhistischem Ritus in Thailand, was ja dem Himmel sei dank im Rest der Welt keineswegs als Ehe gilt. Offiziell erscheint sie vertragsgemäß immer allein und bedauert medienwirksam Single, äußerst schüchtern und dem Richtigen unglücklicherweise bisher noch nicht begegnet zu sein.

Nach dem Shooting mit diesem Margold ging es Schlag auf Schlag. Der berühmte David Letterman wollte sie in Wolford-Strümpfen in seiner Show, HBO schlug ihr eine kleine Nebenrolle als verführerischer Vamp in einer dieser total angesagten Kultserien vor und jetzt halten Sie sich fest, Sophie soll das neue Gesicht von Maybelline werden. Im Moment prüft Eriks Kanzlei den Auf-4,2-Millionen-Dollar-dotierten-ist-das-nicht-der-Wahnsinn-Vertrag und die Unterzeichnung ist bereits für den kommenden Montag anberaumt.

In Anbetracht dieser unglaublich verführerischen siebenstelligen Zahl bereue ich zutiefst, dass ich immer dachte, nach dem Dinner käme Dessert und nicht Cancelling, dass ich so naiv war zu glauben, drei Erdbeeren wären keine Mittagsmahlzeit, Traumkörper entstünden aus zufällig entstandenen Spitzen-Genen ihrer Erzeuger, innere Schönheit sei sowieso überproportional bedeutender als äußere und dass man als Model keineswegs Schmerzen, Nässe und Kälte ertragen müsse. All diese Irrtümer und nebenbei bemerkt auch meine Körper- und Körbchengröße haben nämlich dazu geführt, dass ich über das Werbeshooting für die Wiener Linien nie hinausgekommen bin.

Aber es war auch wirklich verdammt kalt an jenem Freitag im Februar. Nach den ersten zehn Minuten brannten meine Hände und lief meine Nase, nach weiteren zehn in der beißenden Kälte ohne Jacke, dafür in Riemchensandalen, war mein fröhlich-unbeschwertes Lächeln bereits gefroren, die Blasenentzündung ausgebrochen und mein Traum von der Modelkarriere geplatzt, während Sophie vom begeisterten »très bien«, »formidable« und »parfait« des französischen Fotografen gepusht, ihre schockierten Akademikereltern noch am selben Tag darüber informierte, dass sie die Schule hinschmiss, um Model zu werden und sie ihr Gepäck möglichst schnell in die Rue de rivoli 8 im dritten Pariser Arrondissement schicken sollten, die Wohnung von François, dem Fotografen.

Noch am selben Abend warfen sich mir meine überglücklich-erleichterten Eltern um den Hals, dankten Gott dafür, dass ich offensichtlich nicht ebenfalls vollkommen übergeschnappt war, wie Sophies verzweifelte Mutter in einem mehrere Stunden andauernden, von Weinkrämpfen unterbrochenem Telefonat mit meiner Mutter wiederkehrend erklärt hatte, und erlaubten mir zur Feier des Tages, dass mein bis dato im Hause tagsüber bei geöffneter Zimmertüre bloß geduldeter Freund von nun an bei mir übernachten durfte. So viel dazu! Ich bekam mein erstes Mal mit Pickel-Paul und Sophie einen Modelvertrag. Das Leben ist ja so ungerecht!

Und jetzt war sie nicht nur das Covergesicht der Vogue-Augustausgabe, sondern auch die auserkorene Muse dieses superangesagten Kamerakünstlers, was einer Art Ritterschlag im Modelbusiness gleichkam.

Ich hatte Sophie noch am Apparat, als ich angesichts des bevorstehenden Events höchst abspeckmotiviert auf direktem Weg in die Küche war, um sie und folglich auch mich modelmaßtauglich zu machen. Schwedenbomben, Mozartkugeln, Mannerschnitten etc. wanderten also direkt in den Müll – nachdem ich zur Feier des Tages und quasi als motivationalen Endorphinschub für die niederschmetternde Aussicht auf die bevorstehenden Magenknurrwochen den Packungsinhalt hingebungsvoll verzehrt hatte.

Als ich die Wohnung schließlich zucker-, salz- und fettfrei hatte, war ich beschäftigt mit dem Auffinden meiner Körperfettwaage, der Fitnessjahreskarte für den Holmes Place (ein paar Stunden Bauch-Bein-Po hatte meine untere Körperhälfte bitter nötig), der Internetrecherche über die GLYX-, TCM- und Atkinsdiät beziehungsweise der Information über die Fettwegspritze (nur für den Notfall), der Verdopplung meiner täglichen Ration Obst oder besser gesagt, der Ananas-Enzympillen und der Besorgung diverser chinesischer Schlankheitskräutertees, Entschlackungsbadesalze, körperstraffender Bodylotion sowie der momentan an erster Stelle in der Elle gereihten, besten Hautcreme für strahlend jugendlichen Teint. Von den make-up-, frisur-, und kleidungstechnischen oder noch schlimmer, den schuhtechnischen Überlegungen mal ganz abgesehen.

Bereits am zweiten Tag hatte mir mein Süßer verboten, ihn weiterhin über meinen täglich wechselnden aktuellen Stand des Outfits für den heutigen Abend zu informieren und mir ein allabendlich währendes, einstündiges vertragliches Sprechverbot zum Thema Vogue auferlegt, das mich im Falle des einmaligen Vertragsbruchs einen Blowjob, bei zweimaligem Vergehen die Begleitung zum juristischen Symposium mit dem wahnsinnig interessanten Thema »Schiedsverfahren und Vollstreckung im Wandel der Zeit« und bei mehrmaligem Fehlverhalten beides kostete.

Was soll ich sagen, die Konsequenz meiner zahlreichen Vertragsbrüche war nicht nur eine nicht in meine Diät einkalkulierte abendliche Eiweißmahlzeit, wobei Proteine ja angeblich die Fettverbrennung anregen sollen, sondern auch ein sonniges Wochenende im Mai, das ich in einem Plattenbauhotel irgendwo in der burgenländischen Pampa, mit etwa 300 staubtrockenen Juristen, dem Zivilprozessrecht und keinerlei Shoppingmöglichkeit verbrachte.

Also wie um alles in der Welt konnte ich tatsächlich darauf vergessen, dass heute die Nacht der Nächte war?

Na, wenn ich es mir recht überlege, war heute ein wirklich anstrengender Tag. Nachdem ich mich bereits am frühen Morgen mit meinen Haaren auf keine akzeptable Frisur einigen konnte, meine neuen D&G-Jeans über Nacht geschrumpft schienen, obwohl ich noch immer auf der »ultimativen New York Diät« bin und ich mein Mobiltelefon erst nach geschlagenen 20 Minuten in der Sockenlade wiederfand – und ich habe bisher keinen blassen Schimmer, wie es dahin kommen konnte –, schaffte ich es mit zehn Minuten Verspätung in meine Ordination, wo mich der 9-Uhr-Termin, ein neurotischer Fernsehmoderator mit addentalem Sigmatimus, bereits mit strafendem Blick erwartete.

Einen therapienintensiven Vormittag, drei mörderlangweilige Stunden im Dissertantenseminar an der Uni und 45 Minuten administrativer Tätigkeiten – wie Befunde schreiben, Sprachentwicklungstests auswerten und die Post durchsehen – später, ereilte mich dann zu allem Übel auch noch die wenig berauschende Information des Finanzamts in Briefform, dass die Rechnungen für meine Arbeitsschuhe steuerlich nicht absetzbar wären. Dabei hatte ich mich so über den Tipp meiner Patientin gefreut, einer Sopranistin an der Wiener Staatsoper mit Sängerknötchen. Tja, Hollywoodschauspieler müsste man sein, dann könnte man nicht nur Schuhe, Outfit und Make-up sondern auch noch Botoxinjektionen und Silikonimplantate absetzen.

 

»Also wie sieht’s aus?«, höre ich Sophies Stimme und lande in der Gegenwart. »Bist du bereit für Passion by P.M.?«

»Ja klar«, entgegne ich aufgeregt, krame meinen Kalender mit der generalstabsmäßigen Tagesplanung hervor und beginne laut vorzulesen: »Das Kleid wurde gestern geliefert. Heute Mittag habe ich mir entzückende Riemchenheels von Weitzman gekauft, in einer Stunde kommt Monsieur Martin um mir die Haare hochzustecken, den Schmuck bringt der Juwelier gegen sechs …«

»Sag’ mal, hast du gerade Weitzman gesagt?«, quietscht da auf einmal Sophie lautstark ins Telefon und ich schaffe es gerade noch den Hörer blitzartig von mir zu strecken, ehe mein Trommelfell vollends zu zerplatzen droht.

»Ja«, sage ich etwas kleinlaut und erinnere mich mit dem Gefühl stärkster Unbehaglichkeit an jenen verschneiten Dezembermorgen, an dem mir Sophie bei einem lauschigen englischen Frühstück im Innenstadtcafé Haas & Haas bei unserer Freundschaft schwören musste, niemals mehr Weitzmans zu kaufen.

»Sag’ mal, spinnst du?«, kreischt meine eigentlich beste Freundin weiter ins Telefon. »Du verbietest mir Weitzmans zu kaufen, weil du auf diesen Stuart so schlecht zu sprechen bist und dabei kaufst du sie selber! Weißt du eigentlich, wie viele süße Exemplare seine letzte Frühjahrskollektion hatte – von denen ich nebenbei bemerkt kein einziges Paar kaufen durfte, damit du mir deine Freundschaft nicht aufkündigst!«

Jetzt fühle ich mich wirklich schlecht. Warum muss ich auch immer so überreagieren? Und warum bin ich bloß immer so neugierig? Aber in gewisser Weise möchte doch jeder Mensch seine Wurzeln kennen, oder etwa nicht? Und so war es doch ein ganz natürlicher Impuls, dass ich erfahren wollte, ob ich womöglich mit diesem super angesagten Schuhdesigner verwandt sein könnte, wo wir doch schon den gleichen Namen haben.

Okay, mein Name ist zugegebenermaßen erst durch Heirat erworben, aber es wäre zumindest eine Verwandtschaft dritten Grades in Frage gekommen.

Na jedenfalls weiß ich mittlerweile Bescheid.

Genauer gesagt habe ich es sogar schriftlich.

Gewissermaßen schwarz auf weiß.

Ein Einschreiben.

Mit der gerichtlichen Verfügung, mich Stuart Weitzman nicht mehr als 200 Meter nähern zu dürfen.

Nein, das wollen Sie bestimmt nicht wissen.

Wirklich nicht, da bin ich mir ganz sicher!

Na gut. Ich muss allerdings vorausschicken, dass diese Verwarnung eine wirklich übertriebene Reaktion war, schließlich wollte ich doch nur auf Nummer sicher gehen, was nun unsere mögliche Blutverwandtschaft betrifft, als ich Mr. Highheel bei der Eröffnung seines Shops um eine Speichelprobe zwecks DNA-Analyse bat.

Also kurz zusammengefasst: Ich wurde ziemlich unsanft vor die Tür gesetzt, erhielt lebenslängliches Hausverbot und war von nun an dazu verdammt, keine Weitzmans mehr tragen zu dürfen. Und da bekanntlich geteiltes Leid halbes Leid ist, verpflichtete ich meine beste Freundin Sophie zum ebenfalls lebenslangen Verzicht dieser Traumschuhe und Mariella, Iris, Sonja, Nicole, Teresa, Claudia, Marie, meine beiden Cousinen, die Cousinen meines Mannes, obwohl die noch nie Weitzmans getragen haben. Und meine Mum, dabei trägt die ausschließlich riesengroße, superflache Gesundheitstreter. Ach ja und all meine weiblichen Patientinnen und die russische Putzfrau meiner Eltern, bei der ich bis heute nicht weiß, ob sie überhaupt verstanden hat, was ich von ihr wollte. Sie hat immerzu gesagt »Njet Weißmann, da!«, und …

»He du Lügnerin, bist du noch in der Leitung oder hat dich der Schlag getroffen?«, erkundigt sich Sophie etwas gehässig nach meiner Befindlichkeit.

»Ach Sophie«, stottere ich leise und mit Schuldgefühlen schwer beladen ins Telefon. »Es tut mir ja so leid! Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass die bei Popp & Kretschmer an der Oper auch Weitzmans führen und da ich dort kein Hausverbot habe, konnte ich einfach nicht anders. Verstehst du das denn nicht?«

Kein Laut am anderen Ende der Leitung.

Dann ein schwerer Seufzer gefolgt von einem lauten: »Doch! Aber versprich mir, dass du mir nie mehr ein Schuhverbot auferlegst. Alles klar?«

»Ja, klar. Alles was du willst, aber bitte, BITTE sei mir nicht mehr böse.«

»Ist schon in Ordnung«, erklingt Sophies Stimme versöhnlich am anderen Ende der Leitung und schon fühle ich mich wieder pudelwohl.

 

»Bist du denn schon aufgeregt, meine Süße?«, frage ich Sophie betont mitfühlend.

»Ja und wie! Deshalb hab’ ich auch noch schnell Frau Romanovic einen Blick auf meine Sterne werfen lassen. War gar nicht so einfach, so kurzfristig einen Termin zu kriegen, schließlich ist doch morgen die Premiere von Schnitzlers Liebelei am Burgtheater und da war sie schon ziemlich ausgebucht mit ihren Terminen. Aber da ich ja gewissermaßen Stammkundin bin, hat sie mich zwischen die beiden Hauptdarsteller geschoben. Und stell dir vor, sie meint«, sie hält kurz inne, »dass mich dank Venus eine erotische Aura umgibt, der sich niemand entziehen kann.«

»Ja super«, versuche ich möglichst begeistert zu klingen, um sie nicht im letzten Moment noch zu verunsichern, schließlich war das mit den Weitzmans schon Aufregung genug für heute. »Dann ist dein Erfolg ja schon vorprogrammiert. Und du weißt ja, Erik und ich stehen dir bei«, setze ich noch nach. Was nebenbei erwähnt in letzter Zeit schon in eine Art Gewohnheit von meinem Süßen und mir auszuarten scheint. Sophie wird von Massimo, dem verheirateten Hedge-Fond-Manager aus Mailand und Liebe ihres Lebens, wohlgemerkt der dritten in diesem Sommer, verlassen, schläft auf unserer Couch, betrinkt sich mit Eriks 50 Jahre altem schottischen Whiskey und isst kiloweise meine ›Altmann & Kühne‹-Pralinen.

»Aber etwas beunruhigt mich.« Sophies Stimme klingt plötzlich ganz verändert. »Bitte halte mich nicht für verrückt, aber es ist etwas Beängstigendes passiert. Also während der Sitzung bei Frau Romanovic legte sie Tarot-Karten und stell dir vor, ich zog die Karte des Henkers und des Todes! Ist das nicht schrecklich?«

»Ojeoje«, gebe ich mich mitfühlend und versuche gleichzeitig mit besänftigender Stimme, die um sich greifende Todesangst zu entschärfen. »Aber bitte nimm das doch nicht so ernst. Das sind doch bloß Karten und …«

»Die Karten lügen aber nicht!«, kreischt Sophie jetzt zunehmend hysterisch.

»Jetzt hör mal«, versuche ich mein Bestes, sie zu beruhigen, »du weißt ja nicht welcher Tod damit gemeint ist.«

»Na, du bist vielleicht gut! Welcher Tod soll denn bitteschön gemeint sein, hm? Meiner natürlich, schließlich waren es ja auch meine Tarot-Karten.«

Na super, dieser Beruhigungsversuch ist hiermit also eindeutig fehlgeschlagen. Elli denk nach. Dir wird doch wohl was einfallen, um deine halb wahnsinnige Freundin zu beruhigen.

»Ich hab’s«, rufe ich schließlich erfreut ins Telefon. »Vielleicht begegnest du ja dem kleinen Tod!«

»Wie bitte?«, kommt es ungläubig vom anderen Ende der Leitung.

»Na, du weißt schon – ein unglaublich toller Orgasmus! Den nennt man doch den kleinen Tod. Dagegen hättest du doch bestimmt nichts einzuwenden, oder?«, sprudle ich hervor und denke, dass das ja wohl absoluter Schwachsinn ist, was ich hier von mir gebe. Doch zu meinem Erstaunen scheint Sophie nun erleichtert.

»Ja bestimmt, da könntest du recht haben«, jubelt sie auf einmal. »Es wäre wirklich gut möglich, dass ich heute Abend den Wahnsinnstypen treffe, der mich einfach umhaut.«

»Elli, du bist ein Schatz! Bestimmt hast du recht. Es wird ein grandioser Abend werden, ich werde meinen Traummann treffen und ich werde LCS erleben!«, ruft sie begeistert ins Telefon und ehe ich erfahre, was um Himmels willen LCS bedeutet, hat sie auch schon voll enthusiastischer Vorfreude und mit einem knappen »Bis dann« den Hörer auf die Gabel geknallt.

 

2

Kann schon sein, dass sich einige Frauen mit

Absätzen stärker machen als sie sind.

Stuart Weitzman

 

Paola Visconti ließ ihre makellosen Gesichtszüge, die vor Jahren so manches Hochglanzcover schmückten, hinter einer dunklen Sonnenbrille von Dior verschwinden und trat nach draußen auf die Terrasse. Es war ein wundervoller Sommertag. Die Sonne strahlte vom Himmel, tauchte die malerischen Weingärten in ein helles Grün und ließ den in weiter Ferne sichtbaren Stephansdom im Dunstnebel dieses heißen Tages versinken.

Mit der Vogue in ihrer Hand schlenderte sie langsam am halbmondförmigen Swimmingpool entlang hinüber zur Liege, die im Schatten lag. Über all die Jahre hatte sie nichts von ihrer anmutigen Schönheit eingebüßt. Ihrer Ausstrahlung verdankte sie noch heute den Umstand, alle Blicke auf sich zu ziehen. Doch bei genauerer Betrachtung wurde man einer gewissen Melancholie, einer tiefen Traurigkeit gewahr, die sie umgab, und von der auch ihr perfektes Styling, ein azurblauer Bandeau-Bikini, ein locker um ihre Stirn geschwungenes buntes Seidentuch von Pucci und goldglänzende Valentinosandalen nicht abzulenken vermochten.

Erschöpft sank sie auf die dunkle Teakholzliege nieder und schlug die Zeitschrift auf, ließ sie aber in ihren Schoß sinken. Sie hatte sich fest vorgenommen, ein wenig zu entspannen, Kraft zu tanken für den Abend. Der Pressetrubel kostete sie jedes Mal ungeheure Energie und seit diesem furchtbaren Unfall war sie zunehmend schwächer geworden. An manchem Tag schaffte sie es kaum aus dem Bett und ohne ihre Beruhigungsmittel war sie ein nervliches Wrack. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann genau es damit angefangen hatte.

War es, als man sie das erste Mal von seinen außerehelichen Vergnügungen informierte?

War es die Fehlgeburt?

Sie unterdrückte ihre Tränen und zwang sich dazu, nicht mehr weiter darüber nachzudenken. Sie wusste, dass sie mit ihren Kräften haushalten musste. Das hatte ihr auch der Arzt dringend angeraten. Sie nahm das Modemagazin wieder hoch und blätterte suchend darin. In den letzten 15 Jahren hatte sie jeden Pressebericht, jedes noch so kleine Interview über Philipp fein säuberlich aufbewahrt. Das Sammeln der Artikel war anfangs Ausdruck ihrer Freude über seinen Erfolg gewesen, doch mittlerweile war es zu einer lieblos-dokumentarischen Routinehandlung verkommen, die sie bisher nicht aufzugeben vermochte, aus Gründen die sie nicht kannte.

Sie legte die Schere zur Seite, nahm den fertigen Ausschnitt zur Hand und betrachtete den Artikel eingehend.

Philipp Margold, Österreichischer Fotograf mit vier schillernden Gaben: herausragendes Talent, blendendes Aussehen, strahlende Persönlichkeit und funkelnder Humor, suchte sich das barocke Schloss Schönbrunn als Kulisse für sein Shooting selbst, um die luxuriösen Seidenstrümpfe von Wolford opulent in Szene zu setzen. In gerade mal fünf Tagen und Nächten intensiver Arbeit war das Kunstwerk in Wien vollbracht. Genug Zeit also, um seine Ausstellung in Londons Victoria & Albert Museum zu eröffnen und den ›Prix du Photo­graphe‹ entgegen zu nehmen.

Links neben dem Artikel befand sich ein Foto von ihm. Ein äußerst vorteilhaftes Bild. Er trug Jeans von Cavalli oder Gucci, ein weißes Polohemd mit hochgekrempelten Ärmeln und hatte ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Es war kaum zu übersehen, wie sehr er sein Leben auskostete. Und was war mit ihrem Leben?

Nachdenklich begann sie an ihrer Unterlippe zu kauen.

Ihr Leben hatte in Wahrheit schon lange aufgehört zu existieren. Sie hatte beinahe aufgehört zu existieren. Bis gestern!

Diese unglaubliche Nachricht hatte alles geändert.

Aber was sollte sie jetzt bloß tun?

Sie war keineswegs naiv gewesen. Sie hatten einen Ehevertrag. Im Falle der Scheidung würde ihr die geliebte Villa Porcia in Siena zufallen und der Großteil des gemeinsamen Vermögens. Welchen Grund hatte sie also, bei ihm zu bleiben?

Er liebte sie nicht, zumindest nicht mehr, und die traurige Gewissheit darüber trieb ihr ein weiteres Mal die Tränen in die Augen. Sie wusste, dass sie so nicht weitermachen durfte. Vor allem nicht jetzt. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen, dessen war sie sich im Klaren und doch fürchtete sie sich davor.

Wie würde ihre Zukunft ohne Philipp aussehen? Wäre sie in ihrem Zustand überhaupt im Stande, dem Pressetrubel, der im Falle einer Scheidung über sie hereinzubrechen drohte, standzuhalten?

Könnte sie das durchstehen?

Alle Welt würde erfahren, dass er sie schon über Jahre hinweg mit jedem sich bietenden Model betrogen hatte. Dabei hatte sie so gehofft, dass jetzt nach Philipps schwerem Unfall, Oliviers Kündigung und diesem langersehnten Gottesgeschenk, sich die Dinge ändern würden, wieder alles ins Lot käme, sie wieder zueinander finden würden. Doch dem war nicht so.

Paola wusste, dass er sich mit Sophie, seiner neuen Muse, vergnügte. Bisher hatte sie es nicht geschafft, den Umschlag zu öffnen, der in der obersten Schublade ihres Sekretärs verwahrt, die bildhaften Beweise seines Ehebruchs enthielt. Doch seine bloße Anwesenheit genügte, um ihren Ekel zu schüren.

Sie hasste das Bild von ihr als verlassene, betrogene Ehefrau und sie verabscheute die Presse. Bestimmt würden sie in ihrer Vergangenheit wühlen und sie würden nicht ruhen, ehe alles ans Licht kam.

Nein, das konnte sie nicht zulassen. Das durfte sie nicht zulassen.

Es musste eine andere Lösung für ihre Probleme geben.

 

»Du bekommst keinen verfluchten Cent!«, drang es erneut aus Philipp Margolds Arbeitszimmer, in dem sich die Gemüter zunehmend zu erhitzen schienen. »Geht das in deinen VERDAMMTEN Schädel?«

Philipp Margold trat verärgert vor die riesigen Glastüren, die den Blick über die hügeligen Weingärten des 19. Wiener Gemeindebezirks freigaben, und starrte mit versteinerter Miene ins Leere. Auf dem roten Sofa von Le Corbusier, einem Präsent des Konzerns zum Dank für seine grandiose Arbeit, saß sein Vater Richard, ein auffallend großer, korpulenter Mann mit dichtem, weißen Haar, einem schmalen Oberlippenbart, einer hervorstechend scharfen Nase und einem durchtriebenen Lächeln auf den Lippen.

Er war sichtbar ungerührt von den Worten seines Sohnes, die emotionslos an ihm abzuprallen schienen. Richard Margold zählte nicht zu jener Sorte Mensch, die Gefühle zeigten oder gar aus der Fassung gerieten, wenn sich Probleme ankündigten, denn er hatte nichts zu verlieren, außer der Hoffnung auf den Gewinn und die dazu notwendigen finanziellen Mittel.

Es entzog sich seiner Kenntnis, wie viel Geld er in einem Monat, einer Woche oder an einem einzigen Tag in den letzten Jahren verloren hatte, aber er wusste, dass er Ruhe bewahren musste, wenn er als Sieger aus dieser Diskussion hervorgehen wollte.

Bisher war Philipp immer großzügig gewesen. Es war niemals eine große Sache. Doch aus einem ihm unerklärlichen Grund gestalteten sich seine Angelegenheiten seit einigen Wochen äußerst kompliziert, geradezu zäh und für einen kurzen Augenblick fragte er sich ernsthaft, ob Philipp womöglich etwas ahnte?

Nein.

Das war unmöglich. Er hatte ganze Arbeit geleistet.

Keine Spuren, keine Beweise.

Dennoch war Richard Margold zunehmend besorgt, als er sein geleertes Cognacglas auf der Tischplatte abgestellt hatte und sich mit versöhnlicher Miene auf seinen Sohn zubewegte. »Philipp!«, hob er an. »Jetzt hab’ dich nicht so! Ein paar Tausend reichen völlig. Das sind doch Peanuts für dich.«

Philipp Margold schien keines seiner Worte gehört zu haben. Regungslos stand er mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen da und starrte mit gedankenverlorenem Blick aus dem Fenster. Er wusste nicht, woher dieses Gefühl auf einmal gekommen war. Weder konnte er es in Worte fassen noch rational begründen, aber irgendetwas sagte ihm, dass er seinen Vater loswerden musste.

Seltsam, geradezu absurd.

Er wurde dieses Gefühl nicht los, dass man ihn … dass er ihn töten wollte.

Er schauderte.

Plötzlich schien alles Sinn zu machen. Paolas Ankündigung, die kaputten Bremsen – er brauchte keine Psychotherapie. Er brauchte bloß ein Puzzlestück an das andere zu reihen.

Ein genialer Plan.

So genial, dass nicht einmal Philipp Margold selbst ihn für möglich hielt. Niemand, wirklich niemand würde seinen Vater hinter alledem vermuten, wenngleich er berechtigter Miterbe in seinem Testament war.

Philipp Margold war sich sicher. Richard hatte es getan und er würde es bestimmt ein weiteres Mal versuchen. Das machte es notwendig, schnell zu handeln.

»Wie viel?«, sagte er mit fester Stimme während er zum Kamin hinüberschritt. Er durfte nicht riskieren, dass sein Vater etwas von seiner Absicht bemerkte. Er hob das goldgerahmte Kokoschka-Gemälde ab, eine billige Kopie, deren teures Original sicher verwahrt in einem Schweizer Schließfach lag, und öffnete die dahinter befindliche Stahltür. Sein Vater war mittlerweile nähergekommen und stand nun dicht hinter ihm. Auf seinem Gesicht hatte sich ein vorfreudiges Lächeln ausgebreitet, als Philipp ins Innere des Tresors griff. Und da, neben seiner IWC-Taschenuhr, einer Antiquität aus dem Jahre 1880, welche er zum Opernball zu tragen pflegte, ertastete er ihn, den Lauf der Pistole.

 

*