Cover

Über dieses Buch:

Als Hanka in ihren Heimatort Rothenbach zurückkehrt, ist ihr Leben ein Scherbenhaufen. Fest entschlossen, von vorn anzufangen, zieht sie im alten Schlehenhof ein – hier ist genug Platz für sie und ihre kleine Goldschmiedewerkstatt. Während sie Roman, einem Freund aus Kindheitstagen und Besitzer des Hofs, bei der Renovierung hilft, fällt ihr ein altes Armband in die Hände. Die Perlen sind zerkratzt und haben ihren Glanz verloren, und doch rühren sie etwas in Hanka an. Neugierig geworden, begibt sie sich auf Spurensuche – und stößt auf die Geschichte von Greta und Johanna: Die zwei Flüchtlingsmädchen kamen vor 70 Jahren nach Rothenbach und brachten ein dunkles Geheimnis mit … dessen Folgen bis in die Gegenwart reichen.

Eine starke Frauengeschichte, ebenso packend wie bewegend: Der neue große Roman von Judith Nicolai, die mit der »Schneetänzerin«-Saga die Herzen der Leserinnen im Sturm eroberte.

Über die Autorin:

Judith Nicolai wurde 1976 in Karlsruhe geboren. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits mit 14 Jahren. Dennoch machte sie erst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte anschließend Gartenbauwissenschaften. Heute lebt sie in der Nähe von Karlsruhe.

Bei dotbooks veröffentlicht sie auch die Erfolgstrilogie:

»Schneetänzerin«

»Das Herz der Schneetänzerin«

»Der Traum der Schneetänzerin«

Die komplette »Schneetänzerin«-Trilogie ist auch als Sammelband unter den Titeln »In Zeiten des Sturms« und »Schneetänzerin – Das Herz der Schneetänzerin – Der Traum der Schneetänzerin. Drei Romane in einem eBook« erhältlich.

***

Originalausgabe November 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Zürn

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/gostua, Africa Studio, I AM NIKOM, Mike Pellinni, SF-Foto und Tamara Kullivova

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-282-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Frauen vom Schlehenhof« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Judith Nicolai

Die Frauen vom Schlehenhof

Roman

dotbooks.

Prolog

September 1945

Tante Else schnarchte. Sie schnaufte und pfiff, dass es Greta, die neben ihr saß, durch Mark und Bein ging, aber sie brachte es nicht übers Herz, Else durch einen Stups mit dem Ellbogen zu wecken.

Die Nacht war für sie alle kurz und unruhig gewesen, durchdrungen von Erinnerungen, die wie Schatten um die Betten krochen, und angstvollem Grübeln über den kommenden Tag. Nach dem Frühstück hatten sie sich von ihren Barackennachbarn verabschiedet, die immer noch feuchte Wäsche von der Leine genommen und in ihre Koffer gepackt. Dann hatte man sie in einem Lastwagen zum Bahnhof gebracht. Rothenbach hieß das Dorf, in dem sie für die nächste Zeit unterkommen sollten, bis Russen und Polen wieder vernünftig wurden und sie endlich nach Hause zurückdurften.

Elses massiger Körper bebte im Rhythmus der stampfenden Kolben und drückte Greta immer weiter in ihre Ecke. Die Luft im Abteil war zum Schneiden. Dampfige Nässe aus Schuhen und Mänteln vermischte sich mit dem Geruch, der aus den Holzbänken strömte. Gretas Schwester Johanna, die ihnen gegenübersaß, schaute reglos aus dem Zugfenster, als könne sie durch die beschlagene Scheibe noch etwas anderes erkennen als nur die Umrisse der fremden Landschaft dort draußen.

Mit einem Ruck wachte Tante Else auf. Schlaftrunken wischte sie sich übers Gesicht, dann fiel ihr Blick auf Greta, die neben ihr auf der Bank kauerte.

»Wir sind bestimmt bald da«, sagte sie und tätschelte Gretas Knie. »Wird schon alles gut werden, Marjell.«

Greta nickte und versuchte ein schwaches Lächeln. Sie wollte Else, die sich in den letzten Monaten so liebevoll um sie gekümmert hatte, nicht noch mehr Sorgen bereiten. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zitterten.

Um die Tränen zu verbergen, die ihr in den Augen brannten, lehnte Greta den Kopf gegen den muffigen Vorhang und wischte mit dem Ärmel ein Guckloch in die Fensterscheibe. Wie durch einen Tunnel kamen ihr zerzauste Bäume entgegen, an denen sich schon die Blätter färbten, mattgrüne Wiesen und schmale Wege, die sich durch die Hügel schlängelten. Und immer wieder hing am Horizont die dunkle Silhouette des Schwarzwalds wie eine drohende Gewitterwolke.

Tante Elses Stimme vermischte sich mit dem Rattern der Schienen und den Regentropfen, die gegen die Scheiben prasselten. Greta wusste, dass es unhöflich war, nicht auf Elses Aufmunterungsversuche zu reagieren. Doch mehr als ein gelegentliches Nicken oder ein paar gemurmelte Laute brachte sie nicht hervor. Der Anblick der trostlosen Landschaft vor dem Fenster, nur unterbrochen von den Überresten einer abgebrannten Feldscheune, legte sich auf ihre Brust wie ein Mühlstein, der immer gewaltiger wurde und ihr den Atem raubte.

Schließlich wurden ihre Lider schwer. Die vorbeiziehenden Felder verschwammen zu einem Meer aus Grau, Grün und Braun, in dem die Taktstriche der Telegrafenmasten den Rhythmus ihres unruhigen Dämmerschlafes bestimmten.

Heftig und schmerzhaft wie ein unerwarteter Schlag in den Magen überkam Greta die Gewissheit, dass sie sich mit jedem Kilometer, den sie in dem stickigen Eisenbahnwaggon zurücklegte, unwiederbringlich weiter von dem entfernte, was einmal ihre Heimat und ihr Leben gewesen war. Sie begann, leise vor sich hin zu summen, das Stück, das sie zuletzt auf dem Klavier geübt hatte, kniff die Lider fest zusammen und rettete sich in ihre Musik.

Kapitel 1

Rothenbach, September 2010

Ich kehrte mit meinem Trekkingrucksack und einer Reisetasche in jeder Hand zurück nach Rothenbach. Nicht gerade viel, wenn man bedenkt, dass sich darin die letzten zehn Jahre meines Lebens befanden. Vielmehr das, was davon noch übrig geblieben war.

Langsam verließ ich den Bahnsteig und ging um das Bahnhofsgebäude mit den hölzernen Blumenkübeln herum, dann stand ich auf der Hauptstraße. Früher war ich sie auf dem Weg zur Schule beinahe täglich entlanggegangen, während der letzten sechs Jahre nur noch selten, dafür aber aufmerksamer, mit dem halb wehmütigen, halb distanzierten Blick des Besuchers aus der Großstadt, der für ein paar Tage ins Städtchen seiner Kindheit zurückgekehrt ist.

Meine Füße fanden den Heimweg von allein, hoben sich, um über hohe Bordsteinkanten zu steigen und auf dem unebenen Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz nicht zu stolpern. Durch den alten Ortskern am Gasthaus zum Ochsen vorbei, links die Eisdiele am Tränkbrunnen, daneben die Buchhandlung und die Bäckerei, dann die sanfte Steigung hinauf, wo die Neubausiedlung lag.

Wie ruhig es hier war und sauber, ganz anders als in unserem Kiez in Berlin mit den Graffiti an den Wänden. Zäune und Fassaden waren dunkel vom Regen, das Gras in den Vorgärten ordentlich gemäht.

Meine Mutter hatte mich durchs Küchenfenster gesehen. Sie kam mir entgegen und streckte den Arm aus, um mir eine Reisetasche abzunehmen. Dann schob sie mich die Treppe hinauf und in den Lichtkegel, der aus der offenen Haustür in die Herbstdämmerung fiel.

»Schön, dass du da bist, Hanka! Lass dich erst mal drücken.« Ihre ausgestreckten Arme erstarrten auf halbem Weg, als sie mein Gesicht sah. »Lieber Himmel, ist dir schlecht?«

Ich schüttelte schwach den Kopf. Allerdings hatte ich mit einem Mal das Gefühl, mich vielleicht doch übergeben zu müssen, wenn ich jetzt den Mund aufmachte.

»Was ist los? Ist Tobi was passiert?«

Wieder wackelte ich mit dem Kopf, um dann zu nicken und mit den Schultern zu zucken. »Er … er ist i… in England«, brachte ich gerade noch heraus. Dann sank ich auf die unterste Treppenstufe, legte den Kopf in die Arme und begann laut und zornig zu weinen.

»Jemine«, murmelte meine Mutter, als sie sich neben mich setzte und hilflos meinen Rücken streichelte. »Warum in England? Was macht er dort? Und wieso bist du deshalb so außer dir?«

Zittrig holte ich Luft, wischte mir mit dem Handrücken die Nase und begann zu erzählen.

»Ach, Liebes. Das tut mir sehr leid für dich«, sagte meine Mutter, als ich fertig war, legte den Arm um mich und drückte mich an sich.

Dann lotste sie mich in die Küche und drückte mir ein Taschentuch in die Hand, in das ich mich lautstark schnäuzte. Neben mir auf der Eckbank türmten sich Stapel von Zeitschriften und Hugos zerkautes Hundespielzeug. Der kleine Border Terrier hockte zwischen meinen Füßen, wedelte verwirrt mit dem Schwanz und drückte die feuchte Nase gegen das Bein meiner Jeans. Er schien hin und her gerissen zwischen wilder Freude über meinen Besuch und Bestürzung über die gruseligen Geräusche, die ich von mir gab.

Ich putzte mir die Nase und schüttelte den Kopf wie ein außer Kontrolle geratenes Blechspielzeug. »Wir hatten es doch schön miteinander«, stieß ich hervor und brach beim Gedanken an das, was ich verloren hatte, gleich wieder in Tränen aus.

Meine Mutter sah mich nur mitleidig an und stellte eine Tasse Tee vor mich auf den Tisch. Doch ich wusste auch so, was sie gerade dachte. Nichts anderes als schon seit über zehn Jahren. Doch welches 16-jährige Mädchen hört schon auf das, was seine Mutter sagt? Nicht einmal dann, wenn sie ihm rät, auch mal über die Stränge zu schlagen und sich nicht zu früh an einen Jungen zu binden.

Es war reiner Zufall, dass ich die Nummer mit der englischen Vorwahl auf Tobis Handy entdeckte. Ich hatte die Nummer seines Kumpels Ben gesucht, den ich bitten wollte, mir sein Auto zu leihen, damit ich zum Großhändler für Goldschmiedebedarf fahren konnte.

Als ich Ben erreicht und ein bisschen mit ihm gequatscht hatte, war die unbekannte Nummer auf Tobis Anruferliste schon wieder vergessen. Erst als wir am nächsten Abend auf dem Sofa saßen, Pizza aßen und eine dieser Fernsehsendungen sahen, in denen wildfremde Leute füreinander kochen, fiel es mir wieder ein.

Es war nett, einfach mal wieder miteinander herumzugammeln, statt sich immer nur beim Frühstück und im Bett zu begegnen. In letzter Zeit hatten wir nicht viel voneinander gehabt, da Tobi mitten in den Prüfungen steckte und ich den Feierabend oft in meiner provisorischen Werkstatt in unserem Kellerabteil verbrachte. Ich war fest entschlossen, dieses herrliche Lotterleben zu genießen, solange es ging, denn sobald Tobis Assistenzarztzeit begann, würden wir uns vermutlich noch nicht einmal mehr erkennen, sollten wir uns zufällig in der Küche über den Weg laufen.

Ich pickte die Peperoni vom letzten Stück Pizza. »Übrigens weiß ich Bescheid über deine englische Geliebte.«

Genüsslich leckte ich mir die Finger und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm, wo gerade das Dessert serviert wurde. Als Tobi nicht antwortete, sah ich zu ihm hinüber. Er starrte auf den Bildschirm, als wäre das, was dort gerade lief, mindestens ein WM-Halbfinale. Das Pizzastück hing auf halbem Weg zu seinem Mund in der Luft, es schien vergessen zu haben, wo es hinwollte.

»Das war ein Witz, du Trantüte.« Ich wischte mir die fettigen Finger ab. »Es sei denn, du hast wirklich eine.«

»Eine was?«

»Na, eine Geliebte.«

»Haha«, machte Tobi, hievte sich aus dem Sofa und verschwand in der Küche. Ich hörte, wie er sich lautstark und ausgiebig die Hände wusch, als würde er sich für eine OP vorbereiten. So klang es jedenfalls in den Krankenhausserien immer. Dann machte er den Kühlschrank auf und wieder zu. Als er wieder zu mir ins Wohnzimmer kam, hatte er zwei Flaschen Bier in der Hand.

»Auch eine?«

»Nein, für mich nicht. Und? Was war das für eine Nummer auf deinem Handy? Du machst mich ganz schön neugierig.«

Tobi setzte sich wieder, allerdings nicht neben mich, sondern im Schneidersitz auf den Teppich vor dem Sofa, und stellte den Fernseher ab. Mit seinen kurz geschnittenen Fingernägeln knibbelte er am Etikett der Bierflasche herum.

»Hör mal, Hanka. Ich muss dir was sagen.«

Ich spürte, wie es mir sauer im Hals brannte, vermutlich zu gleichen Teilen wegen der Peperoni und des Klangs von Tobis Stimme.

»Ich habe eine Assistenzarztstelle. Ab Oktober.«

»Das ist ja klasse, gratuliere!«, sagte ich erleichtert. »Haben die im St. Marien sich etwa schon gemeldet?«

Tobis Daumennagel knibbelte hektischer. »Nein. Nicht die im St. Marien. In Birmingham.«

»Wie jetzt? Birmingham? Das Birmingham in England? Sag mal, spinnst du? Hättest du mich vielleicht fragen können, ob ich Lust auf England habe, bevor du dich bewirbst? Soll ich jetzt einfach meine Stelle kündigen? Und wann warst du überhaupt zum Vorstellungsgespräch dort? Tut mir leid, Tobi, aber das ist doch Schwachsinn, was du da redest.«

Tobi stellte die Bierflasche, aus der er noch keinen einzigen Schluck getrunken hatte, neben sich auf den Teppich. Dann räusperte er sich. »Ich gehe allein nach Birmingham.«

Gerade wollte ich ihm erklären, dass wir uns unmöglich zwei Wohnungen und regelmäßige Flüge zwischen Berlin und Birmingham leisten konnten, als mir aufging, was er meinte.

»Oh. Wow. Machst du etwa gerade Schluss mit mir?«

Ich wartete darauf, dass Tobi sich umdrehte, seinen Arm zu mir hochstreckte und meine Haare zerzauste. »Natürlich nicht, du dumme Nuss«, würde er dann sagen.

»Tut mir leid, Hanka«, sagte er stattdessen.

»Moment.« Ich presste meine Hände an die Schläfen, hinter denen es dumpf pochte. »Jetzt musst du mir auf die Sprünge helfen. Du machst mit mir Schluss, weil …?«

»Tut mir leid«, wiederholte Tobi. Er klang, als hätte er sich den Magen verdorben. »Aber ich muss das einfach allein machen. Ich habe noch nie etwas ganz allein gemacht. Ich war immer nur mit dir zusammen.«

»Und das ist dir ganz plötzlich eingefallen, dass du noch nie etwas ganz allein gemacht hast? Das hat dich doch bisher auch nicht gestört.«

»Na ja.« Tobi griff nach der Bierflasche und versteckte sein Gesicht dahinter. »Wir sind ja schon ganz schön lange zusammen. Hast du etwa noch nie daran gedacht, dass es vielleicht noch etwas anderes geben könnte?«

»Ganz schön lange? Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wie lange wir schon zusammen sind, du Arschloch! Zehn Jahre waren’s im Juni! Hast du eine Midlife-Crisis oder so was? Oder willst du einfach mal mit einer anderen ins Bett?«

Tobi raufte sich die Haare. Seine Stimme zitterte. »Nein. Ich weiß nicht, vielleicht. Aber das ist es nicht allein. Die Facharztausbildung ist so hart, dass ich ohnehin kaum für etwas anderes Zeit haben werde. Wir würden uns nur alle paar Tage sehen. Und außerdem … außerdem glaube ich einfach nicht mehr, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen möchte.«

»Oh. Das ist ja … schmeichelhaft. Und vor allem der perfekte Zeitpunkt – jetzt, wo du endlich deine beschissenen Prüfungen hinter dir hast. Und die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, als ich dich stundenlang abgefragt habe? Das konntest du ertragen? Gott, ich hätte dieses elende Examen selbst machen können. Und vermutlich hätte ich besser abgeschnitten als du! Aortenklappeninsuffizienz, Aortenklappenstenose, Mitralklappenstenose, Ventrikelseptum …, ach, hol’s doch der Teufel!«

»Ich weiß auch nicht, was ich dir sagen soll, außer, dass es mir leidtut.«

»Und was ist mit unserem Plan?«

»Ach, Hanka. Wie alt waren wir, als wir diesen Plan gemacht haben? 16, 17?« Eine Spur von Ungeduld mischte sich in Tobis Stimme. »Aber wir sind keine 16 mehr, oder? Manchmal muss man Pläne eben über den Haufen werfen.«

Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte erwidern können. Natürlich war das zwischen uns nicht mehr die atemlose, kichrige Verliebtheit, mit der wir uns früher in meinem Kinderzimmer eingeschlossen und die Stereoanlage ganz laut aufgedreht hatten. Es war nicht immer eitel Sonnenschein zwischen uns gewesen. Einmal hatte Tobi fast ein Vierteljahr bei Ben gewohnt, weil wir es nicht mehr miteinander aushielten. Und einmal hatte ich mich in einen Kollegen von der Arbeit verliebt. Aber ich passte auf, dass Tobi regelmäßig seine Magnesium-Tabletten nahm, und hatte immer seinen Lieblingskaugummi in der Handtasche. Und Tobi beschwerte sich nicht, wenn ich ihn in die Drogerie schickte, um Klopapier oder Tampons zu besorgen. Das war doch auch etwas wert, oder etwa nicht?

Einen Moment lang dachte ich daran, Tobi das zu erzählen, was ich eigentlich noch so lange für mich hatte behalten wollen, bis ich mir sicher war, dass es nicht nur am Stress lag: dass ich schon drei Wochen überfällig war. Und dass das bei mir noch nie vorgekommen war. Als ob Tobi das nicht selbst wüsste. Schließlich kannte er mich so gut wie sich selbst.

Schwangerschaftstest hatte ich noch keinen gemacht, denn irgendwie mochte ich das Gefühl angstvoller Freude, das mich jeden Morgen überfiel, noch ehe ich die Augen öffnete. Es fühlte sich so an, wie ich mir den Moment beim Fallschirmspringen vorstellte, wenn man schon in der offenen Luke steht, der eiskalte Wind einem wie Messer in die Lungen schneidet und man nicht weiß, ob man es wagen soll, zu springen, oder sich lieber wieder im sicheren Leib des Flugzeugs zu Boden tragen lässt.

Ich war mir ganz sicher, dass Tobi bei mir bleiben würde, wenn ich es ihm sagte. Aber so wollte ich ihn nicht zurück. Das konnte ich durch den Aufruhr, der in meinen Innereien tobte, fühlen.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Um die Worte daran zu hindern, unbedacht aus mir herauszupurzeln, und die Pizza zurückzuhalten, die sich ihren Weg zurück durch meine Kehle bahnte. Ich schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo ich hastig die Tür verriegelte und mich übergab. Erschöpft rollte ich mich auf dem Duschvorleger zusammen und blieb reglos liegen, bis ich mir nicht mehr wünschte, auf der Stelle zu sterben.

Tobi klopfte zaghaft an der Tür. »Hanka? Geht es dir gut? Komm, mach die Tür auf und lass mich rein.« Er rüttelte noch ein paar Mal halbherzig an der Klinke, dann gab er Ruhe.

Schließlich fiel ich in einen trübseligen Halbschlaf, aus dem ich erst wieder erwachte, als mir die Kälte der Fliesen in die Glieder kroch. Steifbeinig stand ich auf, putzte mir die Zähne und tappte in die Küche. Ich wünschte mir nichts mehr als eine Tasse Tee und den weichen Trost meiner Bettdecke. Na ja, fast nichts.

Tobi hatte den leeren Pizzakarton weggeworfen und die Bierflaschen weggeräumt. Auf dem Esstisch lag ein Zettel. An seiner krakeligen Jungenhandschrift hatte sich seit seinem 16. Lebensjahr nicht viel geändert. Auch wenn er jetzt ein Doktor war.

Hanka, schrieb er. Ich bleibe ein paar Tage bei Ben. Ruf mich an, wenn was ist. Nächste Woche fliege ich nach Birmingham, den Arbeitsvertrag unterschreiben und eine Wohnung suchen. Danach müssen wir uns noch mal zusammensetzen und reden – auch darüber, was aus der Wohnung und den Möbeln werden soll. Bitte glaub mir, dass es mir leidtut, aber ich konnte so einfach nicht mehr weitermachen.

Alles Liebe

Tobi

Mein erster Impuls war, den Brief in Flammen aufgehen zu lassen, aber das schien mir doch ein bisschen melodramatisch. Also ließ ich ihn in den Müllsack fallen, wo er eine klebrige Verbindung mit dem kalten Käse und den Fettflecken auf dem Pizzakarton einging. Der Zettel sog sich mit Öl voll, bis das Papier glasig und die Schrift fast nicht mehr zu entziffern war. Mit dem Daumen drückte ich auf die Stellen, die noch nicht mit den Überresten der Pizza verschmiert waren, und hörte erst auf, als ich keinen einzigen Buchstaben von Tobis Abschiedsbrief mehr erkennen konnte.

Dann machte ich mir einen Tee und setzte mich an den Küchentisch, den ich vor Jahren auf dem Sperrmüll gefunden und mühevoll abgebeizt und geschliffen hatte. Auch ohne dass ich hinsehen musste, fanden meine Fingerspitzen die tiefen Kerben, die ein Kind mit einem Messer oder einer Schere in das Holz der Tischplatte geritzt hatte. ELSA stand dort in eckigen, ungelenken Buchstaben. Ich konnte mich noch an mein ehrfürchtiges Entzücken erinnern, als die vier Buchstaben nach dem Ablaugen der dicken, blasigen Farbschicht ans Tageslicht gekommen waren. Ich weiß nicht, warum, aber in meiner Vorstellung hatte Elsa dünnes, blondes Haar, das zu zwei Affenschaukeln geflochten war, und eine Narbe auf der rechten Hand, mit der sie sich einmal an der offenen Ofenklappe verbrannt hatte.

Ich schlief lange nicht ein in dieser Nacht, und nur der Gedanke an den Zellhaufen, der sich vielleicht gerade in meinem Bauch zu einem Kind formte, hielt mich davon ab, mir eine Flasche Wein und eine der verschreibungspflichtigen Tabletten aus dem Medizinschränkchen zu holen. Also lag ich wach im Bett, fühlte die kalte, leere Stelle neben mir wie den Phantomschmerz eines amputierten Glieds und wartete auf die Dämmerung. Als der Wecker klingelte, war ich beinahe erleichtert, aufstehen und zur Arbeit gehen zu dürfen.

Eigentlich saß ich gern an meiner Werkbank in der behaglichen Höhle der Goldschmiede Paschke, auch wenn ich oft tagelang nichts Anspruchsvolleres tat, als Halsketten zu reparieren oder Eheringe zu gravieren. Doch ich hatte keinen Grund, mich zu beklagen. Die Kollegen waren nett, ich konnte meinen Teil der Miete bezahlen und mir ab und zu ein Buch oder etwas zum Anziehen gönnen. Und meinen kreativen Anwandlungen ging ich nach Feierabend in unserem Kellerabteil nach.

Gelegentlich verkaufte ich die altmodischen, verspielten Schmuckstücke, die ich dort herstellte, auf Künstlermärkten. Mein größter Stolz war jedoch das Paar Eheringe, das ich für Freunde geschmiedet hatte. Immer, wenn ich an die strahlenden Augen der Braut dachte, wusste ich wieder, warum ich Goldschmiedin geworden war. Auch wenn der Traum, irgendwann einmal meine eigene Werkstatt zu haben, noch in weiter Ferne lag. Bis dahin ging ich eben weiterhin zu Paschke.

Auch an diesem Morgen kochte ich mir einen Kaffee, stocherte eine Weile in meinem Müsli herum und machte mich dann pflichtbewusst auf den Weg zur S-Bahn. Trotz des Drucks hinter meinen Schläfen und der dumpfen Schmerzen in Armen, Beinen und Rücken, die sich anfühlten, als wären sie mit Blei ausgegossen. Doch meine Finger sehnten sich nach dem Trost der feinen Werkzeuge, wenn ich sie mit sicherem Griff umschloss, nach der beruhigenden Routine des Messens und Feilens. Meine Nase brauchte den metallischen Geruch, der von meiner Werkbank aufstieg, wenn ich zarte Goldfäden miteinander verlötete, und der mir gesegnete Normalität vorgaukelte.

Ich hielt genau zwei Tage durch. Am Dienstagnachmittag saß ich im Sprechzimmer meiner netten Hausärztin, die einen niedrigen Blutdruck feststellte, mich nach einem Blick in mein graues, verquollenes Gesicht für den Rest der Woche krankschrieb und mir ein Rezept für ein Baldrianpräparat in die Hand drückte.

»Lassen Sie es ein bisschen ruhiger angehen, Frau Dorn. Sie befinden sich gerade in einem Ausnahmezustand. Und das nicht nur seelisch.« Ihre von unzähligen Lachfältchen umkräuselten Augen sahen mich über den Schreibtisch hinweg so freundlich an, dass mir schon wieder die Tränen kamen.

»Wenn Sie möchten, können wir auch gleich hier einen Test machen. Dann haben Sie wenigstens Gewissheit, was die Schwangerschaft betrifft.«

Ich schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf meine Finger, die ein Taschentuch zu einem feuchten Ball zusammenkneteten. »Nein, lieber nicht. Ich glaube nicht, dass ich das im Moment packe.«

»Gut, wie Sie meinen. Aber machen Sie bald einen Termin bei Ihrer Gynäkologin. Sie wird Sie gründlich untersuchen und Ihnen Ihren Mutterpass ausstellen.«

Der bloße Klang dieses Wortes, das mir die Ärztin mit freundlicher Professionalität entgegenschleuderte, ließ meine Knie zittern.

Sie tätschelte flüchtig meine Hand. »Gönnen Sie sich ein paar Tage Ruhe, dann sieht die Welt gleich wieder ein bisschen freundlicher aus. Und auch wenn das jetzt vielleicht kein Trost für Sie ist: Sie wären nicht die erste alleinerziehende Mutter auf der Welt. Sie schaffen das. Es sei denn, Sie wollten Alternativen in Betracht ziehen.«

Mit einem gemurmelten Dankeschön verließ ich das Sprechzimmer. Auf der Straße blieb ich einen Moment lang orientierungslos stehen. Ich fühlte mich, als hätte das Ärztehaus mich in einer fremden Stadt ausgespuckt und nicht in meinem vertrauten Kiez. Ich rieb mir heftig über die Wangen, dann war der verwirrte Augenblick vorüber, ich wusste wieder, wo ich war und was ich zu tun hatte. Ich würde rasch ein paar Einkäufe machen und mich dann mit einer Tasse Tee aufs Sofa legen und mir eine Wärmflasche gegen die ziehenden Schmerzen, die mich schon den ganzen Tag plagten, in den Rücken schieben.

Doch bis in den Supermarkt schaffte ich es nicht mehr. Als ich die Apotheke verließ, die Plastiktüte mit meinen Baldrianpillen und einem Gratispröbchen Gesichtscreme in der Hand, legten sich die Rückenschmerzen wie ein stählernes Korsett um meinen Bauch und drückten so fest zu, dass ich vor Schreck und Schmerz nach Luft schnappte. Ich musste nicht Medizin studiert haben, um zu wissen, was das bedeutete.

Eine Stunde später lag ich, von einer halben Flasche Rotwein, einer reichlichen Dosis Baldrian und ein paar Schmerztabletten in einen fast gleichgültigen Dämmerzustand gewiegt, auf dem Sofa, in eine Decke gehüllt und eingepackt in mein altes, verwaschenes Lieblingssweatshirt. Doch das half wenig gegen das Beben, das mich immer wieder von innen heraus schüttelte. Mein Handy lag noch neben mir auf dem Couchtisch, da ich kurz davor gewesen war, meine Mutter anzurufen und sie zu bitten, herzukommen.

Das war natürlich albern. Selbst wenn sie gleich jemanden fand, der nach Hugo sah, und sich in den nächsten Zug setzte, wäre sie erst am nächsten Morgen in Berlin. Und bis dahin wäre das Schlimmste schon ausgestanden. Ich merkte schon jetzt, dass die Schmerztabletten wirkten und die heftigen Krämpfe einem dumpfen Druck gewichen waren, der durchaus auszuhalten war.

Konnte man in der fünften Woche überhaupt schon von einer Fehlgeburt reden? Tobi hätte das gewusst, schließlich war er ja Arzt. Er hätte auch gewusst, was zu tun war, als ich vorhin weinend vor Schmerz und Entsetzen auf das viele Blut in meiner Unterhose gestarrt hatte.

Ich war sogar kurz davor gewesen, Tobi anzurufen. Um ihn zu fragen, was zum Teufel ich jetzt tun sollte. Ob ich zum Arzt musste oder ob sich alles von selbst regeln würde. Vor allem aber, um seine Stimme zu hören, wenn er sagte, dass er gleich bei mir wäre. Um seine Hand auf meiner Stirn zu spüren und seine Arme, wenn er mich hielt. Aber ich hatte ihn nicht angerufen.

Stattdessen ging ich in die Küche und kochte mir eine Kanne Tee. Damit tappte ich wieder zurück auf die Couch, schaltete den Fernseher ein und drückte mich so lange durch die Programme, bis ich eine Komödie fand, die albern genug war, um mich von dem Druck in meinem Bauch und in meinem Herzen abzulenken.

Während der nächsten Tage rief Tobi mich ein paarmal an. Wenn sein Name auf dem Display erschien, drückte ich ihn hastig weg. Sosehr ich mich die ganze Zeit nach dem Klang seiner Stimme gesehnt hatte, fürchtete ich mich jetzt beinahe davor. Schließlich kam Tobi einfach so vorbei. Er klingelte, als wäre er zu Besuch hier, als hinge der Wohnungsschlüssel nicht immer noch an seinem Schlüsselbund. Als ich die Tür aufmachte, blinzelte er.

»Du siehst ja furchtbar aus. Geht’s dir gut?«

»Nein«, sagte ich. »Ich war krank.«

Sorge und schlechtes Gewissen hingen wie eine Wolke in Tobis Gesicht. »Warst du bei Frau Dr. Beyer? Warum hast du mich nicht angerufen?«

Ich wich einen Schritt zurück. Damit ich mich nicht in seine Arme warf und weil ich mir an diesem Tag die Zähne noch nicht geputzt hatte. »Was interessiert dich das denn?«

»Hanka, bitte. Mach es mir doch nicht so schwer. Ich hab dich doch immer noch lieb. Ich will nicht, dass es so zwischen uns endet.«

Statt einer Antwort zog ich nur die Augenbrauen hoch. Tobi starrte auf seine Stiefelspitzen und machte keine Anstalten, hereinzukommen oder zu verschwinden. Schließlich schubste ich die Tür ein Stück weiter auf. »Dann komm halt rein.« Ich machte eine fahrige Handbewegung und ging ihm voran in die Küche. »Willst du einen Kaffee?«, rief ich ihm über die Schulter zu und setzte mich an den Esstisch.

Tobis Gesichtsausdruck war beinahe rührend dankbar und erleichtert. »Ja, sehr gerne. Danke.«

»Dann lass dich nicht aufhalten. Du weißt ja noch, wo die Tassen sind. Oder hast du das schon vergessen?«

Es bereitete mir eine hämische Freude, zu sehen, wie Tobis Miene in sich zusammenfiel. Schweigend holte er seine Lieblingstasse aus dem Hängeschrank und schenkte sich von der dicken Brühe ein, die schon seit dem Morgen auf der Warmhalteplatte stand. Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.

»Keine Sorge, der Kaffee in Birmingham ist bestimmt besser.«

»Hanka, bitte.« Tobi fuhr sich durch die Haare und setzte sich an seinen Platz am Tisch. »Hast du dir schon überlegt, ob du in der Wohnung bleiben willst?«

»Das kann ich mir nicht leisten. Was soll ich auch allein in einer so großen Wohnung?«

»Na ja, du könntest dir ja einen neuen Mitbewohner suchen.«

»Ach so, mein Mitbewohner warst du also.« Erfolglos versuchte ich, Spott in meine brechende Stimme zu legen. »Außerdem glaube ich nicht, dass ich überhaupt in Berlin bleibe.«

In dem Moment, als ich es aussprach, wusste ich, dass das die Wahrheit war. Berlin war nie meine Stadt gewesen. Immer nur unsere, Tobis und meine. Die Straßen waren gepflastert mit Erinnerungen an die Jahre, die wir hier gemeinsam verbracht, und an die Pläne, die wir für unsere Zukunft geschmiedet hatten.

Ich war sogar zum richtigen Zeitpunkt schwanger geworden. Sobald Tobi mit dem Studium fertig war und eine Stelle hatte, wollten wir unser erstes Kind bekommen, nicht zu lange danach dann das zweite. Später würde ich nebenher in meiner Werkstatt arbeiten oder mir eine Teilzeitstelle suchen. Das war unser Plan gewesen. Das und ein Häuschen im Grünen, nicht allzu weit weg von der nächsten Stadt, mit Hund und Katze und vielleicht sogar ein paar Hühnern im Garten. Fast musste ich lachen, als ich daran dachte, wie naiv wir gewesen waren. Als ob sich irgendetwas im Leben planen ließe.

Als Tobi mir einen überraschten Blick zuwarf, nickte ich. »Ja. Ich gehe auch weg von hier. Weißt du was? Irgendwie hast du mir sogar einen Gefallen getan. Vermutlich wäre ich sonst nie von Paschke weggekommen und hätte in zehn Jahren immer noch Eheringe poliert. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, ganz von vorn anzufangen und endlich mein eigenes Atelier aufzumachen.«

In Tobis Miene stritten sich Kränkung und Erleichterung um die Vorherrschaft. »Oh. Das klingt doch gut. Und wohin willst du gehen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Tobi rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Ich habe ein möbliertes Apartment ganz in der Nähe der Klinik gefunden. Meinen Schreibtisch und ein paar andere Sachen lagere ich bei meinen Eltern im Keller ein, aber den Rest der Möbel kannst du behalten, wenn du willst.«

»Wie großzügig von dir. Heißt das, dass ich das Vergnügen habe, die Wohnung aufzulösen und den ganzen Mist loszuwerden?«

»Hanka, bitte«, murmelte Tobi wieder, den Refrain eines bedrückenden Liedes. Seine Stimme klang, als wäre er den Tränen nah. »Ich weiß, dass das alles schwer für dich ist. Ich werde Ben bitten, dir zu helfen.« Hastig nahm er noch einen Schluck Kaffee und stand dann auf. »Nächstes Wochenende ziehe ich um. Ich komme am Freitagnachmittag und hole meine Sachen.«

»Du kannst kommen, wann du willst. Ich werde nicht da sein. Ich fahre heim. Nach Rothenbach.«

Tobi nickte. Dann sagte er, den Blick auf die ausgebeulten Knie meiner Jogginghosen gerichtet. »Ich hoffe, dass du mir irgendwann nicht mehr böse bist. Und dass wir wieder Freunde sein können. Du warst immer meine beste Freundin.« Seine Stimme brach.

Ich stand auf, ging zur Wohnungstür und öffnete sie weit. »Ja, Tobi. Das können wir bestimmt. Wenn die Hölle zufriert.«

Tobi nickte noch einmal und schob sich an mir vorbei durch die Tür. Auf der Fußmatte drehte er sich um und versuchte sein schiefes Lächeln, für das ich ihn schon von Anfang an geliebt hatte. Doch es wollte ihm nicht ganz gelingen. Es rutschte ihm von den Lippen und hinterließ Resignation und Kummer.

»Also dann. Mach’s gut, Hanka.«

»Du auch«, sagte ich, aber ich glaube, er hörte mich schon nicht mehr.

Kapitel 2

Die ersten Tage nach der Rückkehr in meine alte Heimat im Schwarzwald verbrachte ich mit langen Spaziergängen. Mit Hugo an meiner Seite marschierte ich durch die Wälder oder am Fluss entlang, lief Tränen und Wut davon, bis mir so warm war, dass ich das Gefühl hatte, zu dampfen.

Wenn mir der Sinn nach Gesellschaft stand, führten mich meine Streifzüge hinunter ins Dorf. Ohne darüber nachzudenken, lief ich einfach los. Einmal fand ich mich vor dem Eingang meiner Schule wieder, misstrauisch beäugt vom Hausmeister, der gerade die Papierkörbe leerte. Ein anderes Mal ging ich den Weg zu meiner früheren Schulfreundin Caro. Das Garagentor neben dem Haus ihrer Eltern hatten wir, als wir 13 oder 14 gewesen waren, himmelblau gestrichen und mit unzähligen kleinen Gänseblümchen bemalt. Es schien ein halbes Jahrhundert her zu sein, dass wir an einem heißen Ferientag in abgeschnittenen Jeans und farbverschmierten T-Shirts auf der Leiter gestanden, Take That gehört und uns über Jungs unterhalten hatten, während wir die Pinsel schwangen.

Doch früher oder später musste ich mich mit einem Leben ohne Tobi abfinden. Für den Anfang beschloss ich, mein Zimmer neu zu tapezieren, fetzte Poster und die alte Tapete von den Wänden und entrümpelte den Kleiderschrank. Ein, zwei Mal erlitt ich einen Rückfall, etwa, als ich das T-Shirt in den Altkleidersack stopfte, das Tobi mir auf einem Open-Air-Konzert gekauft hatte. Oder als ich das Flugticket unseres ersten gemeinsamen Urlaubs fand – fünf Tage London im Sommer nach Tobis Abitur. Aber im Großen und Ganzen gelang es mir, meinen Schmerz in produktive Bahnen zu lenken: Drei Wochen nach meiner Ankunft hatte nicht nur mein Zimmer eine beinahe perfekt geklebte neue Tapete, ich hatte auch den Keller aufgeräumt, sämtliche quietschenden Türen geölt und den Geräteschuppen gestrichen.

Jetzt erst fiel mir bei einem meiner abendlichen Spaziergänge durch Rothenbach auf, wie sehr der Ort sich in den Jahren meiner Abwesenheit verändert hatte. Einige der alten Fachwerkhäuser waren liebevoll renoviert worden, andere abgerissen und durch moderne Mehrfamilienhäuser ersetzt. Läden hatten ihre Besitzer gewechselt, und die Bäckerei, in der es die besten Brezeln im ganzen Landkreis gegeben hatte, war einem Backshop gewichen.

Sogar das hektisch zuckende Neonschild an der Fassade des Dorfgasthofs war verschwunden, stattdessen baumelte dort ein altes, liebevoll poliertes Wirtshausschild, von dem ein Ochse seelenvoll auf mich herabsah. Die ehemals schmuddelige Fassade war in einem hübschen Vanillegelb gestrichen, vor dem die dunkelgrünen Fensterläden und die Kästen mit den immer noch tapfer blühenden Geranien um die Wette leuchteten.

Ich beschloss, mir eine Pizza in unserer alten Stammkneipe zu gönnen. Vielleicht würde ich ja sogar ein paar Bekannte treffen.

»Buona sera, signorina«, grüßte mich die junge Bedienung, als ich die Gaststube betrat. »’erzlick willkommen im Ochsen.«

Beim Klang ihres italienischen Akzents musste ich unwillkürlich an warme Sommernächte denken, an knatternde Vespas und den Geruch von Kokosnuss-Sonnencreme.

»Äh. Buona sera«, antwortete ich verwirrt. So viel internationales Flair hatte ich in Rothenbach gar nicht erwartet.

»Einen Tisch per una persona, sì?« Sie führte mich an einen kleinen Tisch an einem der Fenster und gab mir die Speisekarte.

Während ich meine Pizza aß, sah ich mich um und wippte zum Takt der munteren Akkordeonmusik, die im Hintergrund dudelte, mit den Füßen. Der von zahllosen verschütteten Bieren und Colas fleckige PVC-Boden war verschwunden, die darunterliegenden alten Dielenbretter hatte man abgeschliffen und geölt, bis sie in einem warmen Honigbraun schimmerten. Der mächtige Holztresen, der den Schankraum schon seit mehreren Generationen bewachte, glänzte, als würde er allabendlich liebevoll poliert.

Ein kalter Luftzug fuhr mir in den Nacken. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch und drehte mich zur Tür. Ein Mann hatte die Gaststube betreten und brachte einen Schwall feuchter, nach Herbst riechender Luft mit sich. Er trug Arbeitskleidung, an der Zementstaub und Sägemehl hingen, in seinen dunklen Haaren glitzerten feine Nebeltröpfchen. Als er an meinem Tisch vorbeiging, roch ich Verdünner, Holz und frischen Mörtel.

Der Mann grüßte die Kellnerin und gab seine Bestellung auf. Dann ließ er sich müde auf einen der Barhocker fallen. Die Bedienung zapfte ihm ein Bier, das er fast zur Hälfte leerte, ehe er das Glas wieder abstellte. Dann ließ er seinen Blick durch den Raum und über die anderen Gäste schweifen, wie ich es gerade getan hatte.

Als sein Blick für einen Moment auf mir ruhte, senkte ich den Kopf, um nicht dabei ertappt zu werden, wie ich ihn anstarrte. Als ich wieder aufsah, glitt sein Blick weiter, flackerte dann aber wieder zurück zu mir, bis er abschätzend auf mir lag. Er schien zu überlegen, ob es die Mühe wert war, mich anzugraben.

Diesmal wich ich seinem Blick nicht aus, sondern schoss unfreundliche Blitze zurück, bis er den Kopf abwandte und noch einen Schluck von seinem Bier nahm. Dann stemmte er die Hände auf den Tresen, rutschte von seinem Barhocker und kam zu mir herüber. Wenig später stand er vor mir und blickte aus kühlen, grauen Augen auf mich herab.

Er schenkte mir ein knappes Nicken und sagte dann, ohne sich mit einem Gruß oder anderen Höflichkeiten aufzuhalten: »Sag mal, kann es sein, dass wir uns kennen?«

»Nein«, antwortete ich kurz. »Ich glaube nicht.«

»Sicher?« Seine dunklen Augenbrauen zogen sich zu einem misstrauischen V zusammen.

»Ja. Ganz sicher. Ich bin nicht von hier. Ich wollte hier nur in Ruhe etwas essen.«

»Wenn du meinst.« Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab und setzte sich wieder an den Tresen. Doch bald kroch sein schiefergrauer Blick wieder in meine Richtung, ließ meinen Rücken steif vor Unbehagen werden.

Als das Unbehagen sich in Ärger verwandelte, kreuzte ich die Arme vor der Brust und starrte mit zusammengekniffenen Augen zurück. Doch meine bösen Blicke schienen an dem Typen abzuperlen wie ein sanfter Sommerregen.

Als ich mir seiner ungeteilten Aufmerksamkeit wieder gewiss war, streckte ich ihm die Zunge heraus, ohne mich damit aufzuhalten, den letzten Bissen Pizza vorher herunterzuschlucken. Dann warf ich dem Mann ein strahlendes Lächeln zu, bei dem ich meine spinatverschmierten Zähne bleckte.

Angewidert drehte er sich von mir weg und griff nach seinem Glas, obwohl es bis auf einen Klecks Schaum bereits leer war. Als die Bedienung ihm einen Pizzakarton auf den Tresen stellte, angelte er nach seinem Portemonnaie und zahlte. Als er an mir vorbeiging, meinte ich, ein gemurmeltes »Verrückte Kuh« zu hören. Dann verließ er das Lokal, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Zufrieden widmete ich mich wieder meiner Pizza.

Wenig später fiel erneut ein Schatten über meinen Teller. Die Kellnerin stand kopfschüttelnd und mit blitzenden Augen vor mir. War ihre Stimme eben noch sahniges Tiramisu und vino rosso gewesen, so purzelten jetzt Kartoffelschnitz und Träublessaft durcheinander.

»Net schlecht, die Schau«, sagte sie in reinstem Rothenbacherisch. »Bissle eklig, aber gar net schlecht. Reschpekt. Den Trick muss ich mir merken, wenn ich im Sommer wieder bei meiner Oma bin. In Italien sin die Typen ja noch viel aufdringlicher als hier bei uns.«

Als ich sie verblüfft ansah, grinste die junge Frau verlegen. »Ja, ich weiß, das ist auch so ein Trick. Ich würd’s ja net machen, aber mein babbo meint«, über die Schulter wies sie mit ihrem Daumen in Richtung Küche, »dass die Gäste das wollen. Ambiente und so, versteh’n Se?«

Ich musste lachen. »Ja, klar. Ambiente und so. Aber Italiener seid ihr schon, oder?«

»Wie man’s nimmt. Mein Vater ist Italiener, aber meine Mutter ist gebürtige Rothenbacherin.«

»Komisch, dass wir uns dann noch nie begegnet sind.«

»Wir haben den Ochsen erst im Frühjahr übernommen, vorher hatten wir eine Pizzeria in der Nähe von Mannheim. Aber meine Mutter wollte zurück in die Heimat.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen. »Ich bin übrigens Vittoria. Vicki.«

»Ich heiße Hanka.« Ich deutete auf den Stuhl gegenüber. »Setz dich doch einen Moment, wenn du Zeit hast.«

Vicki sah sich prüfend in der Gaststube um und sank dann mit einem kleinen Seufzer auf den Stuhl. »Gern. Meine Füße bringen mich gleich um. Ich sollte anfangen, Gesundheitsschlappen zu tragen.« Sie warf einen bedauernden Blick auf ihre eleganten Stiefel, die einen unvernünftig hohen Absatz hatten. »Schön, dich kennenzulernen. Sag mal, was hattest du denn eigentlich gegen den Typen? Der sieht doch ganz appetitlich aus. Und faul scheint er auch nicht zu sein. Kommt schon eine ganze Weile beinahe jedes Wochenende her und nimmt sich sein Abendessen mit.«

»Bestimmt arbeitet er irgendwo schwarz. Warum sollte einer sonst am Samstagabend in Arbeitsklamotten herumlaufen? Führst du die Kneipe eigentlich mit deinen Eltern zusammen?«, wechselte ich dann das Thema.

Vicki zuckte mit den Schultern. »Eigentlich studiere ich BWL in Karlsruhe, aber wenn Not am Mann ist, springe ich ein. Und Not am Mann ist bei uns eigentlich ständig. Mein babbo vergrault jede Bedienung, weil er alles besser weiß. Am liebsten wäre es ihm, wenn ich das Studium schmeißen und in den Betrieb einsteigen würde.« Sie zog ihr Blöckchen aus der Schürzentasche und legte es vor mich auf die Tischdecke. »Hier, schreib mir deine Telefonnummer auf. Vielleicht können wir ja etwas zusammen unternehmen, falls ich irgendwann in diesem Jahr noch mal freikriegen sollte.

In Rothenbach war Kerwe, und schon seit Tagen schossen die Buden auf dem Marktplatz in die Höhe wie Pilze nach einem Regenguss. Das Klappern der Metallstangen und die Flüche der Schausteller, wenn sie Stände und Karussells aufbauten, waren die Ouvertüre zur Schlagermusik, die während der nächsten beiden Tage aus den Lautsprecherboxen quäken würde.

Der Autoskooter war noch dunkel, die Boxautos standen nebeneinander an der Bande wie brave Pferdchen und streckten ihre Stangen in die Höhe. Doch sobald der Duft nach Zuckerwatte, Magenbrot und Bienenwachspolitur durch die Straßen zog, würden die Rothenbacher auf den Marktplatz strömen, um Karussell zu fahren, am Getränkeausschank zu flirten oder sich mit Schlappen und Nagelscheren einzudecken. Hier traf man Leute, die man sonst das ganze Jahr nicht sah, und erfuhr, wer in Rente gegangen, gestorben oder getrennt war.

Ich liebte die Kerwe, denn nichts übertraf die heimelige Mischung aus wehmütigen Kindheitserinnerungen, dem Wiedersehen mit alten Bekannten und dem Warenangebot an Nützlichem und Plunder, die man nur auf dem Jahrmarkt seines Heimatorts antrifft. Deshalb wollte ich mich in diesem Jahr so richtig amüsieren. Ich würde Magenbrot essen, bis mir schlecht wurde, exotische Gewürzmischungen und Tees kaufen und vielleicht sogar eines dieser gesundheitsfördernden Magnet-Armbänder – na ja, vielleicht auch nicht.

Schon als ich die Hauptstraße hinunter zum Ochsen ging, wo ich mich mit Vicki treffen wollte, wehte ein schwacher Geruch nach Sauerkraut und Frittiertem durch die Luft, das Karussell drehte wimmernd seine Runden. In der Gaststube war es ruhig und dämmrig. Statt nach fruchtiger Tomatensoße, Knoblauch und Kerzen roch es sauber und frisch nach Putzmittel und Zitronen. Vicki saß an einem Tisch in der Ecke, vor sich einen Stapel Bücher, und tippte etwas in ihr Notebook.

»Hallo, da bist du ja.« Schwungvoll klappte sie das Notebook zu und warf Handy und Geldbörse in ihre Umhängetasche.

»Wir können gleich los. Möchtest du vorher noch etwas essen? Mein babbo hat bestimmt etwas im Kühlschrank.« Vickis Absätze hämmerten auf den Holzdielen, als sie zur Küchentür ging.

»Ich brauche nichts, vielen Dank«, rief ich ihr nach, doch die Schwingtür war schon hinter ihr zugefallen.

Fasziniert hörte ich zu, wie Vicki in der Küche vom behäbigen badischen Dialekt ins Stakkato des Italienischen wechselte. Wie eine Maschinengewehrsalve schoss ihre helle Stimme durch den Raum, in regelmäßigen Abständen unterbrochen vom Grollen eines Männerbasses. Wenig später kam sie wieder in den Gastraum, in der Hand ein Tablett mit einem Dessertteller und einem Glas Cola, mit der anderen zog sie eine mollige Frau hinter sich her.

»Mama, das ist Hanka Dorn. Das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe. Wir wollen zusammen auf die Kerwe.«

Vickis Mutter warf mir einen prüfenden Blick zu und gab mir die Hand. »Tag, Hanka. Dorn, Dorn, sagen Sie mal, ist Ihre Mutter vielleicht eine geborene Messner?«

»Ja. Bettina Messner. Kennen Sie sie?«

Vickis Mutter lachte. »Ja, freilich. Die Tina war in meiner Klasse. Es hat mir immer leidgetan, dass wir uns nach der Schule aus den Augen verloren haben. Aber ich bin ja dann nach Mannheim gegangen. Ich habe nur gehört, dass sie den Peter Dorn geheiratet hat. Wohnen die beiden etwa noch hier in Rothenbach?«

»Meine Mutter schon. Meine Eltern sind seit ein paar Jahren geschieden.«

»Richten Sie ihr doch einen schönen Gruß von der Mimi aus. Vielleicht erinnert sie sich noch an mich und besucht mich mal.«

»Von der Mimi, also wirklich.« Vicki verzog peinlich berührt das Gesicht. »Jetzt werd mal nicht kindisch. Du bist doch keine 13 mehr. Michaela heißt sie«, fügte sie an mich gewandt zu. »Und jetzt setz dich und iss die Schoko-Cannoli, die mein Vater mir für dich gegeben hat, sonst ist er beleidigt.«

Gehorsam ließ ich mich auf einen Stuhl sinken, verputzte die beiden Cremeröllchen und spülte mit kalter Cola nach. Applaus schwappte vom Dorfplatz herüber; der Bürgermeister schien beim Fassanstich auf Anhieb getroffen zu haben.

Als ich fertig war, griff ich nach meiner Jacke, die über der Stuhllehne hing. »Meinetwegen können wir los.«

Draußen ließen wir uns mit der gemächlichen Welle von Rothenbachern mittragen, die uns bis zu den Ausläufern der ersten Buden spülte.

»Ich glaube, ich könnte doch noch Geschmack am Dorfleben finden«, sagte Vicki und schnupperte begeistert, als wir uns einem Stand mit Lederwaren näherten.

»Warum bist du überhaupt mit deinen Eltern nach Rothenbach gezogen?« Ich schob mich hinter Vicki her, die zwischen ein paar kauflustigen Frauen verschwunden war.

Sie zuckte mit den Schultern, während sie ein paar Handtaschen begutachtete. »In unserer Wohnung konnte ich ja schlecht bleiben, und eine WG wäre für mich nicht infrage gekommen.« Angewidert schüttelte sie sich, ob wegen der billigen Taschen oder der Aussicht auf eine Studenten-WG, war mir nicht ganz klar. »Also bin ich halt mit hierhergezogen. Aber das ist schon in Ordnung, ist ja nicht für immer. Nächstes Jahr mache ich meinen Abschluss.«

»Hanka! Hab ich doch richtig gesehen! Bist du auf Besuch bei deiner Mutter? Wo hast du denn Tobi gelassen?«

»So schön wie hier ist’s in der Großstadt halt net, gell?«

»Da wird sich die Mama aber freuen, dass sie dich wieder daheim hat.«

Meine Begeisterung für die Kerwe verflog in dem Maß, in dem Bekannte und Nachbarn an uns vorbeizogen und dabei nicht mit Bemerkungen zu meiner Heimkehr an den mütterlichen Herd sparten.

Vicki, die meine ganze traurige Geschichte mittlerweile kannte, tätschelte mir mitfühlend den Arm. »Gar nicht so leicht, wieder zu Hause zu sein«, grinste sie. »So viele alte Bekannte.«

Ich zuckte seufzend mit den Schultern. »Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Aber ich fühle mich trotzdem wie ein Versager.«