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Anthony J. Quinn

Gestrandet

Aus dem Englischen von Robert Brack
Herausgegeben von Wolfgang Franßen

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Copyright by Anthony J. Quinn
Originaltitel: Undertow

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2019
Aus dem Englischen von Robert Brack

Inhalt

Prolog

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

PROLOG

Andalusien, Spanien

Zuerst konnte er es nicht glauben. Der Brief lag unter dem Baumwollvorhang, der vom warmen morgendlichen Lufthauch sachte bewegt wurde. Er betrachtete das Schattenspiel der umherschwirrenden Insekten auf dem weißen Umschlag, der in diesem Zimmer unpassend sauber und grell wirkte. Er glaubte, sogar eine leicht bläuliche Tönung des Papiers zu erkennen, als Reminiszenz an das kalte Klima, in dem er aufgegeben worden war, jenem Land oben im Norden, wo der Himmel trügerisch und die Seen von unergründlicher Tiefe waren.

Trotz der Hitze lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Seit Monaten schon wartete er, ohne zu wissen auf was oder wen. Nachdem sich seine Angst in das Warten auf die Angst verwandelt hatte, hatte ihn ein eigenartiges Gefühl von Entfremdung erfasst. Er fragte sich, wie seine Geschichte wohl ausgehen würde. Was hielt dieses Netz des Verrats und der bitteren Geheimnisse noch für ihn bereit, das rein gar nichts mit der Suche nach Gerechtigkeit oder Wahrheit zu tun hatte? Sein Abenteuer als Spion war mit schrillen Lügen zu Ende gegangen, und er hatte feststellen müssen, dass er ganz auf sich allein gestellt war, sein einziger Beistand waren unfassbare Schatten gewesen.

Er hatte den Brief gleich nach seiner Rückkehr bemerkt, als er die hintere Tür schloss, die über Nacht offen gestanden hatte. Von dort aus konnte man nach Süden über die Olivenhaine schauen. Er hatte gehofft, die kühle Nachtluft würde seine Chancen auf ein bisschen Schlaf erhöhen. Mehrmals war er tatsächlich eingenickt und hatte geträumt, er läge unter dem knorrigen Ast eines alten Olivenbaums auf einer Terrasse unten im Tal und lauschte den Nachtigallen, die ihr Lied sangen, präzise und sanft intonierend, während das Schmelzwasser von den hohen Bergen der Sierra durch die Bewässerungskanäle gurgelte.

Am späten Vormittag hatte er die Finca sorgfältig gegen die andalusische Sonne verrammelt, deren Hitze ein Geschenk war, das er noch immer nicht zu schätzen gelernt hatte. Und jetzt lag dieser Brief vor ihm. Die erste Post, die ihn erreicht hatte, seit er sich in Spanien befand. Am Stempel konnte er erkennen, dass der Brief in Irland aufgegeben worden war. Die Handschrift auf dem Umschlag kam ihm bekannt vor, was der Grund war, warum er ihn nicht sofort geöffnet hatte. Da stand ganz offen und für alle Welt sichtbar sein Name: Tommy Higgins. Das ganze letzte Jahr hatte er ein Postfach in Málaga benutzt, hatte sich vom Internet ferngehalten und Mobiltelefone gemieden, aber sie hatten ihn trotzdem gefunden. Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Nicht der leiseste Luftzug war zu spüren, und trotzdem bewegten sich die Vorhänge in der Hitze und wogten über den staubigen Fußboden. Er setzte sich ans Fenster und rauchte eine Zigarette. Das Sonnenlicht schien seine Kraft einzubüßen angesichts dieses Briefs, adressiert in einer Handschrift, die die Urheberin vor fünfzig Jahren in einer ländlichen Schule an einem kahlen Berghang erlernt hatte. Die sorgfältige Schreibschrift seiner Mutter. Der Kontakt zu ihr war abgebrochen, seit er Irland verlassen hatte, und der Anblick ihres Namens auf dem Umschlag beunruhigte ihn sehr. Welche Neuigkeiten befanden sich darin? Und warum krampfte sich sein Magen zusammen? Fürchtete er, seine Herkunft, seine Vergangenheit könnten ihn überwältigen, ihn erneut vereinnahmen? Ein Brief war eine viel zu fragile Form der Kontaktaufnahme, um die tiefe Kluft der verletzten Gefühle zu überbrücken, die zwischen ihnen lag.

Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis er sich dazu durchgerungen hatte, den Brief zu öffnen. Ihre Handschrift war gleichmäßig, beinahe wie gedruckt, als wollte sie mit einem Kind kommunizieren oder einem Menschen, der sehr schlecht sehen konnte. Sie breitete seine Geschichte vor ihm aus, führte ihn zurück in die schmerzhafte Vergangenheit. Er las den Brief mehrmals durch. Und jedes Mal änderte sich die Bedeutung der Worte ein klein wenig. Auf welches Geheimnis spielte seine Mutter an? Ging es um Erlösung oder um Rache, was stand zwischen den Zeilen?

Der erste Abschnitt interessierte ihn nicht besonders. Ihre Verwandten und Nachbarn waren ihm längst fremd geworden, und die Klatschgeschichten über ihren drögen Alltag hatten keinen Wert für ihn, sorgten weder für Unterhaltung noch für Zerstreuung. Hinter jedem Namen hatte sie in Klammern einige biografische Details notiert für den Fall, dass er vergessen hatte, um wen es sich handelte. Dann änderte sich der Ton des Briefs. Sie schrieb von seinem Verschwinden, von den Gerüchten, er habe Selbstmord begangen, und davon, dass Nachbarn ihn angeblich im Urlaub an irgendwelchen weit entfernten Orten gesehen hatten. Man hatte ihr zugetragen, er hätte seine Identität und sein Aussehen geändert. Das alles referierte sie ganz sachlich, auch die unangenehmen Gerüchte, die behaupteten, er sei gefoltert worden und längst tot. Sie hatte alle diese Geschichten verworfen. »Eine Mutter weiß es immer«, schrieb sie. Niemandem war es gelungen, ihn zu finden, nicht mal den Intelligentesten unter seinen Feinden.

Eine Mutter weiß es immer. Er spürte ihre Gegenwart, als er diese Worte las. Und nun grübelte er in diesem stickigen Zimmer über seine Vergangenheit nach. Er las weiter und stellte fest, dass ihre Klatschgeschichten und sein Unglück miteinander in Verbindung standen. Seine Mutter hatte immer eine besondere Art gehabt, Dinge auszusprechen. Wie oft hatte er als Heranwachsender schweigend darauf gewartet, dass sie endlich mit der eigentlichen Nachricht herausrückte?

Sie schrieb, sie hätte kurz nach seiner Flucht überlegt, alles zusammenzupacken und ans andere Ende des Landes zu ziehen. Doch bald schon war ihr klar geworden, dass es wie das Eingeständnis einer Niederlage gewirkt hätte, wenn sie aus Dreesh fortgegangen wäre. Sie hatte immer gern dort gelebt. Sie erzählte von den lokalen Verbrechergangs, von den Männern, gegen die er ausgesagt hatte, ohne ihre Namen zu nennen, und von dem einen, der die Inkarnation des Teufels war.

Die Zeit verlangsamte sich, während er weiterlas. Die Luft wurde dicker und der Inhalt des Briefs veränderte sich. Über mehrere lange Abschnitte schimpfte sie auf das Justizsystem und die Nachlässigkeit der Polizisten. Der zuständige Sergeant und seine Spießgesellen ignorierten sehenden Auges die kriminellen Mächte, die inzwischen das Dorf kontrollierten. Sie hatte Gerüchte über verdächtige Zahlungen gehört, Bestechungen, unsaubere Geschäfte, geheime Bankkonten.

»Ich bin geduldig gewesen …«, schrieb sie.

Ich bin einen langen Weg gegangen. Ich habe vor der Tür gestanden und gewartet. Ich habe zugeschaut, wie dein Feind in deiner Abwesenheit immer mächtiger geworden ist. Er beeinflusst den gesamten Alltag in unserer Gemeinde. Er hat sie erbarmungslos ausgebeutet und sie gleichzeitig mit Geld aus dunklen Quellen überflutet. Jede Frage und jeder Zweifel an ihm wird von der Angst erstickt und von dem Wunsch, der Geldstrom möge weiter fließen.

Die Entschiedenheit ihrer Worte beeindruckte ihn, ebenso ihr Drang, die Fehler der Vergangenheit zu beschönigen. Sie schrieb, sie sei schon längst nicht mehr von der Komplizenschaft ihrer Nachbarn schockiert oder ihren Behauptungen, sie wüssten gar nicht, was da vor sich gehe. Sie seien damit zufrieden, ihr Leben möglichst reibungslos zu leben und ignorierten, was direkt vor ihrer Nase ablief.

Als das Sonnenlicht noch weiter über den Fußboden gekrochen war, zog er sich in den Schatten zurück. Beinahe wäre ihm ein Blatt aus der Hand gefallen, so viele waren es. Er las den Brief erneut, ganz konzentriert und angespannt.

Detective Brian Carey hätte eines Tages vor ihrer Haustür gestanden, schrieb sie. Er war gekommen, um sich für die Misshandlungen ihres Sohns durch die Geheimdienstleute zu entschuldigen, und hatte angedeutet, es sei möglich für ihn, ein neues Leben zu beginnen. Er könnte seine irrsinnige Existenz als untergetauchter ehemaliger Informant beenden, bevor er doch noch auf grausame Weise ausgeschaltet würde.

Sie bezogen sich auch auf das Unrecht, das dir angetan wurde. Sie wären bereit, dich aus ihrem Gedächtnis zu streichen, so zu tun, als würde dein Leben nichts mehr bedeuten. Aber jedes Geheimnis hat seine Zeit, und wenn du warten kannst, werden alle diese Geschichten, die nie zu Ende erzählt oder von Lügen geschwärzt wurden, doch noch ans Tageslicht kommen.

Ihre Worte beunruhigten ihn mehr, als er erwartet hatte. Sie ließen alles in einem neuen Licht erscheinen. Detective Carey hatte ihr erklärt, er wolle den Fall neu aufrollen. Dazu müsste er unbedingt Kontakt mit ihrem Sohn aufnehmen, und er hätte auch schon einen Flug nach Spanien gebucht. Alles war schon in die Wege geleitet, damit Tommy die Möglichkeit bekam, den Weg hin zu Wahrheit und Gerechtigkeit einzuschlagen. Es sei an der Zeit für ihn, Zeugnis abzulegen, schrieb sie, selbst dann, wenn er für den Rest seines Lebens gezeichnet sein würde.

Als er den Brief wieder zusammenfaltete, war es im Zimmer sehr heiß und klaustrophobisch eng geworden. Er betrachtete die dunklen Umrisse des Mobiliars und der verschlossenen Fenster und spürte so etwas wie Zuversicht. Zum ersten Mal seit über einem Jahr hatte sein Leben wieder einen Sinn bekommen. Jetzt, wo er einen Plan hatte, fühlte er sich völlig verändert. Es war ein düsterer Racheplan, der da in ihm wuchs. Er flüsterte ihm Dinge ein und wollte ihn davon überzeugen, dass seine Mutter recht hatte. Es war an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Er schob die Vorhänge beiseite und trat auf die Terrasse.

Sofort brach das Licht der Sonne Andalusiens über ihn herein: der schockierend blaue Himmel, die grellen, gekalkten Wände, die roten und weißen Geranienblüten, die vor Leben geradezu loderten. Es genügte, in diesen hellen Glanz zu treten, und alle seine Ängste wurden beiseitegefegt. Er streckte die Hände aus und spürte die Hitze in den Weinranken über sich, merkte, wie das Licht sich auf ihn stürzte wie eine flammende Fackel aus reinem Benzin und den Zorn anfachte, der in ihm brodelte, aber auch die Liebe zu seiner Mutter, die ihn geboren hatte und nun für seine Wiedergeburt sorgen und ihm den Weg weisen wollte aus diesem Albtraum seiner Flüchtlingsexistenz.

Er schaute hinauf in den sengenden Himmel, wo eine grelle Sonne stand, die alles bleichte, die der Terrasse, den geweißten Wänden und den Olivenhainen im Tal ein geisterhaftes Aussehen verlieh. Und gleichzeitig schien es, als würden die Erinnerungen an die Vergangenheit schwarz und düster auf ihn herabregnen.

KAPITEL 1

Lough Neagh, Nordirland

Der Nebel hing schwer über der weiten, wogenden Fläche des Lough und drängte über die Uferlinie.

Jenseits des Stegs schien alles in Auflösung begriffen. Nichts war zu erkennen, nichts fassbar, bis auf dieses kalte Wabern, das über allem lag. Keine versteckten Konturen oder Schatten und kein Hinweis auf den Verbleib des Ertrunkenen. Die gewaltige Masse des Lough und die darin verborgenen Geheimnisse, von denen eines in der Nacht ans Ufer getrieben worden war, waren erneut dem Vergessen anheimgefallen.

Desorientiert ließ Inspector Celcius Daly seinen Wagen hinter sich und horchte auf verräterische Töne im Rauschen der anbrandenden Wellen, im Gurgeln des zurückströmenden Wassers oder im akustischen Gewirr des Vogelgezwitschers in den Bäumen der Uferböschung, aber er hörte nichts. Es war noch sehr früh am Tag, zu früh für die meisten Menschen. Er hatte die Nacht durchgearbeitet und darauf gehofft, den Kopf beim Einatmen der frischen Seeluft wieder freizubekommen und einen Blick auf die windgepeitschten, vom hell-dunklen Wechselspiel der Regentropfen gemusterten Wellen werfen zu können. Seit dem Tod seines Vaters war diese weite Wasserfläche für ihn ein Fluchtpunkt, um kurz durchzuatmen, Ruhe zu finden zwischen den beiden Gewohnheiten, die sein Leben bestimmten: Arbeit und Schlaflosigkeit. Es war der einzige Ort, an dem er frei atmen und seinen Gedanken nachhängen konnte.

Daly ging unsicher Richtung Ufer, versuchte, sich zu orientieren. Sofort umfing ihn der dichte Nebel, und schon stand er zwischen weißen Wänden, konnte nichts weiter erkennen als zerfließende Fragmente dunkler Steinbrocken, gezackter Bäume und eines halb verrotteten Fischerboots. Kein Ton, keine Anhaltspunkte, kein Zeichen von seinen Kollegen, auch kein Polizeiabsperrband oder andere Hinweise auf das traurige Geschehen der vergangenen Nacht. Nur diese unfassbaren weißen Korridore, die ihm den Atem nahmen.

Wo waren sie denn bloß? Lough Neagh mochte ja einer der größten Seen in ganz Westeuropa sein, aber aus der Nähe betrachtet war er doch recht klein. Schlechte Nachrichten verbreiteten sich an seinen Ufern in Windeseile, und Daly hatte eigentlich zahlreiche Pressefotografen und Schaulustige am Tatort erwartet. Vielleicht hatte er ja einen Fehler gemacht und am falschen Ort angehalten. Eine einsame Welle brach sich und ergoss sich schäumend über den unsichtbaren Strand. Er machte kehrt und ging in die andere Richtung.

Diese Gegend sollte er eigentlich in- und auswendig kennen, aber heute Morgen schien es, als wäre der Lough mit den üblichen fünf Sinnen nicht zu erfassen. Daly stapfte das matschige Ufer entlang und kam sich vor, als würde er Blindekuh spielen.

Zu seiner großen Erleichterung befanden sich doch noch andere Menschen in diesem Nebel. Die Umrisse eines jungen Mannes zeichneten sich ab, eines Polizisten, der den Tatort absicherte, das Gesicht umwölkt vom feuchten Dunst.

Daly klappte seinen Ausweis auf. »Welche Richtung?«

Der Beamte zeigte ihm den Weg. Ein Kollege glitt vorbei, noch so ein Geist, dann wurde alles wieder weiß. Daly rutschte eine steinige Uferböschung hinunter, die wegen der Algen sehr glitschig war, und hörte ein Platschen. Aufspritzendes Wasser durchtränkte seine Hose und tropfte an seinen Beinen herab. Erst die dünne Luft, dann das tiefe Wasser, er sollte wirklich besser aufpassen. Er streckte die Hand aus und hielt sich an einem Pfosten fest. Dieses unsichtbare Ufer wurde ihm immer fremder, obwohl er schon unzählige Male hier entlanggegangen, ungehemmt ausgeschritten oder locker über Hindernisse geklettert war, damals als kleiner Junge. Aber irgendwie waren alle Erinnerungen daran vom Nebel verschluckt worden. Da er keine Lust mehr hatte, von einem Stein zum nächsten zu springen, weil er doch wieder abrutschen würde, trottete er einfach weiter und nahm die nassen Füße in Kauf.

Ein blühender Dornenbusch tauchte auf und verschwand im Nebel wie in einer anderen Welt. Wieder hatte er dieses irritierende Gefühl, der Lough wäre mit einem Mal in die Ferne gerückt, hätte sich zusammen mit dem Tatort davongestohlen, im Nebel Zuflucht gesucht, und seine Wellen würden sich nun an anderen Gestaden brechen.

Er rief: »Hallo, Polizei«, in der Hoffnung, auf diese Weise aus dem Schlamassel herausgelotst zu werden. Sein Ausruf klang kläglicher, als er es beabsichtigt hatte, halb erstickt und heiser. Verärgert, dass er auf diese erbärmliche Weise die Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte, stieß er einen lauteren Ruf aus und horchte. Der Lough lag schweigend da. Dann endlich kam eine gemurmelte Antwort ein Stück weit entfernt vom Ufer her. Gefolgt von einem anderen heiseren Schrei, noch weiter weg, der auf den ersten antwortete. War das sein eigenes gedämpftes Echo? Oder waren da noch andere Kriminalbeamte unterwegs, die nach Leichen suchten, laut rufend, um einen Weg aus diesem vernebelten Labyrinth zu finden?

Einen kurzen Moment lang riss der Nebel auf, und Daly konnte das Ufer überblicken. Die Stürme des Winters hatten jede Menge Unrat angehäuft. Die Landschaft um Lough Neagh war verlassen und unwirtlich, die umliegenden Felder wurden oft überflutet, und Matsch und Dreck in die Hütten geschwemmt. Abseits der Vogelreservate kamen nur wenige Menschen hierher. In ganz Irland hatten Investoren gebaut, wo immer es möglich war, hatten schicke teure Apartmenthäuser und Ferienwohnungen direkt an den Ufern von Seen und Flüssen errichtet. Doch die großzügige Genehmigungspraxis der Stadtplaner, die den Bauunternehmern ermöglichte, die Gewässer des Landes zu verschandeln, hatte sich hier nicht ausgewirkt. Der Lough und seine Ufer waren eines der letzten ursprünglichen Naturgebiete des Landes, eine Moorlandschaft, in die Daly gern zurückkehrte, um zu sich zu kommen und seine Gedanken und Erinnerungen zu ordnen. Aber heute Morgen war das alles wie weggewischt.

Zwischen den auseinandertreibenden Nebelschwaden wurden die weißen Umrisse der Beamten in den Schutzanzügen der Spurensicherung sichtbar, die wie Maden über den Strand krochen. Das schmale Stück war übersät mit Fremden, die gekommen waren, weil letzte Nacht eine aufgedunsene Leiche hier angeschwemmt worden war. Ohne auf die anderen Polizisten zu achten, stieg Daly über die glitschigen Steine zu der Stelle, wo die Leiche mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken lag, die Füße noch im See. Das durch den langen Aufenthalt im Wasser aufgedunsene Gesicht war zur Seite gedreht, die leblosen Augen und der mehrere Zentimeter lange ungleichmäßige Bart waren mit feuchter Schmiere überzogen.

»Typisch irischer Selbstmord«, murmelte Detective Derek Irwin, als er neben ihn trat.

Daly drehte sich um und blickte in das graue Gesicht seines Kollegen. »Es gab keine Vermisstenmeldung.«

»Deshalb ist die Spurensicherung noch da.« Irwin gab ein gelangweiltes Seufzen von sich. »Die Leiche eines übergewichtigen Mannes mittleren Alters in den tristen Wellen des Lough. Das klingt für mich nach Selbstmord.«

Der Leichnam wirkte tatsächlich traurig und beschämend mit seinem ungleichmäßig gewachsenen Bart und dem Wasser, das über seine nackten Füße schwappte. Der Lough war bekannt dafür, dass er Selbstmörder anzog. Dalys früherer Vorgesetzter Ian Donaldson hatte eine ähnliche Bühne gesucht für seine letzte verwerfliche Tat vor drei Jahren. Daly studierte das Gesicht des toten Mannes und fragte sich, welche bitteren Flüche oder verzweifelten Worte er im Sterben in seinen Rasputinbart gemurmelt hatte. Ja, vielleicht war das hier nur ein weiterer typisch irischer Selbstmord und sonst nichts. Das Ergebnis einer plötzlichen Eingebung, ohne Zeugen und ohne dass jemand da gewesen wäre, um an den gesunden Menschenverstand dieses armen Kerls zu appellieren. Ein Freitod war die einsamste und rätselhafteste Tat, die ein Kriminalbeamter zu untersuchen hatte. Selbst der abgebrühteste Mörder verspürte eines Tages den Drang, sein Schweigen zu brechen, um sich zu entschuldigen, weil er im Zorn gehandelt hatte und die schreckliche Tat bis an sein Lebensende bereuen würde. Selbstmörder hingegen konnten sich nicht mehr erklären, konnten nicht mehr verhört werden und die Polizei mit Lügen und scheinheiligen Blicken in die Irre führen.

Als Daly ihn betrachtete, blubberten Bläschen über die Lippen des Toten, als wollte er das Wort ergreifen für alle Ertrunkenen, die im Lough ihr Ende gefunden hatten.

»Nicht gerade die angenehmste Art, einen Arbeitstag zu beginnen, was?«, sagte Irwin.

Daly spürte, wie eine Ader an seiner Schläfe zu pochen begann. »Damit liegen Sie falsch. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich bin seit gestern Abend im Dienst.«

»Immer noch fleißig Überstunden ansammeln?«

»Ja.« Seine Diensteinteilung war seit sechs Monaten gleich geblieben, und er war total erschöpft. »Wer hat die Leiche gemeldet?«

Irwin deutete mit dem Kopf auf einen ziemlich verwahrlost aussehenden Fischer, der abseits des Geschehens stand und sich in das Gesamtbild einfügte wie ein Geist, den niemand beschworen hatte.

Daly winkte ihn zu sich. Die Fischer des Lough waren in der Regel abergläubisch und wurden schnell nervös in Gegenwart einer Leiche. Dieser hier war offenbar besonders erpicht darauf, möglichst bald zu verschwinden.

»Soll ich hier den ganzen Morgen herumstehen?«, beklagte er sich, während er über die Steine stieg. Daly hatte den Eindruck, dass er ein bisschen wacklig auf den Beinen war.

»Nein, nur so lange wie es dauert, Ihnen ein paar Fragen zu stellen.«

Der Mann mied Dalys Blick, verzog misstrauisch das Gesicht. Seine Wangen waren aufgedunsen und über seine Stirn zog sich eine hässliche Schnittwunde.

»Was ist denn mit Ihrem Kopf passiert?«

Der misstrauische Blick verfinsterte sich. »Hab ich mir an einem Stein aufgeschlagen.«

»Wann?«

»In dem Moment, als ich merkte, dass ich eine Leiche gefunden habe.« Er riss die Augen auf, als er sich daran erinnerte und richtete sie dann ganz langsam auf Daly. Sie waren dunkel und wirkten so schlammig wie der Lough selbst.

Daly roch seinen schalen Alkoholatem. Er bildete sich ein, diesen Typ von Fischer gut zu kennen. Die Fischer vom Lough Neagh waren ein bunter Haufen von Einzelgängern, Quartalssäufern, trotzigen Teenagern, die die Schule geschmissen hatten; eine gemischte Horde von Aussteigern, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel. Sie kannten die geheimen Strömungen des Lough und alle Kniffe und Winkelzüge, mit denen sie die Fischereiaufseher und Polizeistreifen an der Nase herumführen konnten.

»Waren Sie nüchtern?«

»Nein, ich hatte ein paar Guinness getrunken, aber nicht so viele, dass ich besoffen gewesen wäre. Ich fische meistens nachts hier in der Bucht. Ich kenne sie wie meine Hosentasche.«

Er hatte wahrscheinlich den schlammigen Boden nach Aalen abgesucht, um sie an die gehobeneren Restaurants zu verkaufen. Daly bezweifelte, dass gerade Saison für Aale war oder dass er überhaupt eine Lizenz dafür hatte.

»Wie haben Sie die Leiche gefunden?«

»Sie stieß gegen mein Boot. Zuerst dachte ich, es wäre ein totes Tier.« Er starrte Daly an. »Ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, was es wirklich war«, sagte er entschuldigend, als würde die Verzögerung eine Rolle spielen.

Der alte Mann wandte sich ab, um zu seinem Boot zurückzugehen, aber Daly wollte mehr Informationen haben, und der Fischer schien am besten geeignet, sie zu geben.

»Erzählen Sie mir mal was über die Strömungen in der Bucht hier«, sagte er. Der Lough mochte für einen Polizisten nur ein tiefes Loch sein, aber Daly wusste genug, um zu vermuten, dass die Leiche nicht zufällig an dieses Ufer getrieben war. Versteckte Strömungen, der Zulauf von Flüssen und die vorherrschenden Winde dürften die letzte Reise des Toten auf verschiedenste Arten beeinflusst haben.

»Die Aale sammeln sich hier entlang der Strömungen. Deshalb kann man sie hier so wie früher mit Netzen herausholen.«

»Ich will nicht mit Ihnen über das Fischen reden. Aus welcher Richtung könnten die Strömungen die Leiche hierher getragen haben?«

»Die dürfte den gleichen Weg zurückgelegt haben wie ich. Von Süden her, diesseits von Coney Island. Man braucht kein Segel und auch keinen Kompass, um hierherzukommen. Ich würde darauf tippen, dass er irgendwo in der Nähe des River Blackwater bei Marghery ins Wasser gekommen ist. Alles, was der Fluss in den See schwemmt, landet irgendwann hier an diesem Ufer.«

»Und wenn er hinter Coney Island ins Wasser gefallen wäre?«

»Dann wäre er in die Mitte des Lough getrieben und an der Ostküste an Land gespült worden. Je nachdem, wie der Wind geweht hätte, wäre er vielleicht sogar bis Crumlin getrieben.«

Der Fischer schlurfte über den steinigen Boden zu seinem Boot, aber Daly blieb an ihm dran. »Haben Sie während Ihrer Arbeit auf dem See irgendwas bemerkt? Abgesehen von den Fischen, meine ich.«

»Ich hab nichts gesehen.«

»Keine unbekannten Boote oder Personen am Ufer?«

»Nichts.«

»Was ist mit den Netzen? Hat sich irgendwas Ungewöhnliches darin verfangen?«

Der alte Mann wandte sich ab und grummelte vor sich hin.

»Irgendein altes Müllteil vielleicht, so etwas, das man gleich wieder zurückwirft?«

Sie waren jetzt an der Stelle angelangt, wo sein Holzboot zwischen den Steinen festgekeilt lag. Das Wasser plätscherte gegen den Kiel. Daly erkannte an der flachen Bauweise, um was es sich handelte: Es war ein traditionelles Cot Boat, eine der primitivsten Konstruktionen, mit denen der Lough befahren wurde, aber auch die unsichtbarste, bestens geeignet für einen Wilderer, weil man mit ihm durch flache Gewässer fahren konnte, die den größeren Booten mit ihren starken Motoren verwehrt waren. Im Boot lagen Schwimmer, Leinen, ein Eimer und eine kleine Ruderpinne. Nichts, was Daly besonders interessant fand. Er hob eine Reihe aneinandergebundener Schwimmer hoch und stieß auf eine durchnässte Stofftasche, gefüllt mit feuchten Klamotten. Sie waren ordentlich gefaltet und sahen teuer aus. Er stöberte darin herum und fand dazwischen einen Schnellhefter mit einem Boarding Pass für einen Flug nach Spanien, ausgestellt auf den Namen Brian Carey und dem Abflugdatum 22. Mai, also vorgestern. »Wo haben Sie das denn gefunden?«, fragte er scharf, hob die Tasche aus dem Boot und stellte sie auf den Boden.

»Ich hab’s im Netz gehabt, kurz bevor ich die Leiche fand.«

Das Licht der aufgehenden Sonne drang durch den Nebel und warf einen gespenstischen Schimmer auf die Umgebung. Der Fischer trat ängstlich von einem Bein aufs andere, starrte in Dalys skeptisches Gesicht und wartete auf dessen Antwort, dann erstarrte er. »Warten Sie mal«, sagte er. »Ich kenne Sie doch. Sie sind Celcius Daly. Erkennen Sie mich nicht?« Er beugte sich vor, zeigte sein Gesicht, um von Daly erkannt zu werden, aber der sah nur Alter und Verfall.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind.«

»Ich war mir nicht sicher, aber jetzt schon.« Der Fischer grinste und entblößte mehrere Zahnlücken. Die Stofftasche hatte er ganz vergessen. »Sie sehen anders aus. Aber Sie sind immer noch der gleiche Celcius Daly, jede Wette.« Er packte Daly am Ärmel und zog ihn zu sich. »Wissen Sie denn nicht mehr, wer ich bin? Wir teilen ein Geheimnis, erinnern Sie sich nicht?«

»Das wage ich sehr zu bezweifeln«, sagte Daly und wunderte sich, dass dieser alte Saufbold es wagte, ihn anzufassen. Vielleicht war er ein alter Freund seines Vaters.

Der Mann starrte Daly mit einem plötzlichen Ausdruck großer Verärgerung an und ließ seinen Arm los. »Sie mögen sich ja verändert haben, aber ich kenne den wahren Celcius Daly«, erklärte er großspurig. »Ich kenne Sie nur zu gut. Was für eine Überraschung, Sie hier zu treffen, wie Sie den großen Kriminalisten spielen, Fragen stellen und nach Spuren suchen.«

Daly wich zurück, aber der Fischer folgte ihm, platschte mit seinen Stiefeln durchs Wasser, während sein Mantel aufging und in einer Innentasche eine halb ausgetrunkene Flasche Whisky sichtbar wurde. Das angebliche Geheimnis, das er mit Daly teilte, hatte ihn munter gemacht. Er wirkte wie ein junger Stier, der gegen einen Zaun anrennt.

»Dass Sie es wagen, vor mir den Detective zu spielen, mich zu fragen, ob ich getrunken hätte, mich ins Kreuzverhör zu nehmen, und durch mich hindurchzugucken, als wäre ich irgendein Verdächtiger, den Sie vorher nie gesehen haben!«

Daly wandte sich ab, blinzelte in den sich kräuselnden Nebel, das graue Nichts, dort wo der Lough sich ausdehnte, und hatte ganz vergessen, was er als Nächstes sagen oder tun wollte. In seinem Kopf wurde es mit einem Mal ganz ruhig, als hätte sich der Nebel auch dort ausgebreitet. Er suchte nach einer passenden Antwort, einer Erinnerung, um diese Leere auszufüllen, nach irgendwas, das ihm erklärte, was es mit diesem heruntergekommenen Fremden auf sich hatte.

»Was für ein unerwarteter Glücksfall«, sagte der Fischer. »Wenn ich mir ausmale, dass mir eben gerade noch angst und bange war, weil ich fürchtete, Sie könnten mich verhaften, weil ich irgendein beschissenes Fischereigesetz übertreten habe, und mich zur Polizeistation schleppen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal so ein Glück haben würde.« Er sprang über mehrere Steine und schaute Daly von seinem neuen Aussichtspunkt aus prüfend an. Seine Umrisse verloren sich immer wieder im Nebel.

Eigentlich hätte Daly einen Aussichtspunkt gebraucht. Er spürte die Anwesenheit von etwas Überwältigendem und Gefährlichem – der Vergangenheit. Dieser Fischer bemächtigte sich seiner Sinne, wirkte in der feuchten Luft und vor dem Hintergrund der schwarzen Steine und der kargen Äste irgendwie vergrößert. Er hatte sich von einem widerspenstigen, aber harmlosen Zeugen in etwas Feindseliges und Beunruhigendes verwandelt, womöglich sogar in etwas, das seine Ermittlungen in Gefahr bringen könnte.

»Sie haben mir Fragen gestellt, und jetzt möchte ich Ihnen mal eine Frage stellen«, sagte der Fischer. »Haben Sie je darüber nachgedacht, was Sie meinem Bruder angetan haben?« In seiner Stimme schwang eine gewisse moralische Überlegenheit mit. Er schien das sogar zu genießen und funkelte Daly zornig an, als wollte er ihm ein Geständnis abpressen.

Daly schwankte leicht, als würde er sich am Rand eines Abgrunds befinden. Bestimmt hatte dieser Kerl mit seinem schiefen Grinsen, das irgendwo in einer längst vermoderten Vergangenheit seinen Ursprung hatte, nichts mit ihm zu tun, genauso wenig wie sein Bruder. Daly gehörte auf die Seite von Recht und Ordnung, regulärer Arbeit und Alltagsroutine, er führte keine prekäre, unstete Existenz wie dieser alte Narr, der jetzt sein halb verrottetes Boot ins Wasser schob.

»Auch wenn Sie versuchen, mich und meinen Bruder zu vergessen und sich nicht trauen, mir in die Augen zu sehen, wird Ihnen das nichts nützen, Daly.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dass Sie Karriere gemacht haben, ändert nichts an der Vergangenheit. Was Sie meinem Bruder angetan haben, kann nicht einfach so weggewischt werden, bloß weil Sie hier in schicken Klamotten vor mir stehen und mir Fragen über einen Ertrunkenen stellen.«

Der gequälte Gesichtsausdruck des Mannes hatte etwas Drohendes. Aber wie sehr Daly auch sein Gehirn anstrengte, er konnte sich nicht erinnern, für welche Missetat er hier verantwortlich gemacht wurde. Er erwiderte den Blick des Fischers mit einem Ausdruck von Unverständnis. Dieser Alte hegte offenbar einen Groll wegen irgendetwas, das in der Vergangenheit geschehen war, einem Skandal oder einer schmutzigen Sache, von der er glaubte, sie hätten etwas mit Daly zu tun und könnten seinem Ansehen schaden. So schlimm konnte es aber nicht sein, da er selbst es völlig vergessen hatte. Sein Bewusstsein war nicht getrübt. Angenommen, der Alte sagte die Wahrheit, dann hatte Daly es offensichtlich geschafft, ein ganz normales Leben zu führen, obwohl er eine schwere Schuld auf sich geladen hatte. Hatte er die Tat in dem Bewusstsein verübt, niemand würde je davon erfahren? War das der Grund, warum es ihm gelungen war, sie aus seinem Bewusstsein zu verbannen?

Der Fischer stieß das Boot mit einem Ruder vom Ufer weg, es schabte über den steinigen Grund und schwamm sich dann frei.

»Ich kenne die Wahrheit über dich, Celcius Daly«, rief der Fischer. »Selbst wenn der Wind deine Asche längst verweht hat, werde ich mich noch daran erinnern, an jede verdammte Tat, die du als Polizist begangen hast.«

Die Beamten der Spurensicherung unterbrachen ihre Tätigkeit und schauten zu den beiden hin. Daly sehnte sich danach, nicht länger ein Gefangener seiner eigenen Vergangenheit zu sein. Seit er die Wahrheit über den Mord an seiner Mutter während des Nordirlandkonflikts herausgefunden hatte, und welche Rolle ehemalige Polizisten bei der Vertuschung gespielt hatten, war er bemüht, dieses gefährliche Terrain zu meiden. Nur so war er in der Lage, sich morgens die Haare zu kämmen und sich zu rasieren. Er weigerte sich, über die Vergangenheit nachzudenken. Lieber fuhr er zur Arbeit, sah zu, dass er genug zu tun hatte, und suchte ständig neue Wege, sich der Erinnerung zu entziehen.

Der Nebel gab nun den Blick auf den frühmorgendlichen Himmel frei, die Sonne schickte ihr helles Licht über den Lough. Der Abstand zwischen Daly und dem Fischer wurde immer größer. »Warten Sie«, sagte er. Er sollte diesen alten Mann nicht so einfach davonfahren lassen. »Stopp!«, rief er. »Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie heißen und wo Sie wohnen.«

»Keine Sorge, Daly. Ich werde nicht verschwinden. Meine Familie lebt schon seit Generationen hier am See. Ich werde Ihnen schon bald einen Besuch abstatten.«

Als er außer Sichtweite war, wandte sich Daly wieder dem Ertrunkenen zu, hockte sich hin, um wieder zu sich zu kommen. Er starrte in die leblosen Augen des Toten und schwieg. In dieser Stellung verharrte er eine ganze Weile. Dann stand er auf und sagte: »Lasst uns die Leiche von hier fortschaffen.«

Seine Kollegen schauten ihn erstaunt an. Irwin zuckte mit den Schultern. »Wir warten auf den Krankenwagen. Die lassen sich auch immer mehr Zeit.«

Als die Ambulanz endlich kam, kraxelte Daly über die Uferböschung zurück zu seinem Wagen. Es stellte sich heraus, dass es ein wunderschöner Morgen war, wie gemacht für eine entspannte Fahrt nach Hause. Aber er geriet ins Grübeln und versuchte angestrengt, die Lücken zu füllen, die das Gespräch mit dem Fischer hinterlassen hatte. Breite Sonnenstrahlen durchschnitten die restlichen über die Straße driftenden Nebelschwaden. Er gab Gas und raste über die schmale Landstraße, als würde er einer gewundenen Linie geisterhafter Erscheinungen folgen, die der Sog der Erinnerung ihm vorgaukelte. Das war das Problem, wenn man an den Ort zurückkehrte, wo man geboren und aufgewachsen war. Nach Hause zu kommen bedeutete, sich der Vergangenheit auszuliefern. Sie schaut dir zu und taucht vor dir auf in der Gestalt ruppiger alter Männer, die sich daran ergötzen, Geschehnisse zutage zu fördern, die tief in deiner Erinnerung begraben waren.

KAPITEL 2

Dreesh, Republik Irland

»Niemand geht, bevor ich alle Lieferscheine kontrolliert habe.«

Die Stimme von Tom Morgan durchschnitt die dicke Luft, diese Zusammenkunft der Schmuggler, angefüllt mit Dieseldunst und dem Dröhnen der Motoren, Schatten und ungeduldigen Rufen, alles umhüllt vom Summen der Rohre, die den Treibstoff in die unterirdischen Tanks leiteten. Es war beeindruckend zuzusehen, wie die Lastwagenfahrer erbleichten, wenn sie den Groll in seiner Stimme bemerkten. Vor ihm hatten sie eine Mordsangst, er war der Boss, er war Red Tom, der König der Schmuggler von Monaghan, von manchen, ob Freund oder Feind, auch einfach nur Red genannt. Auf seinen Befehl hin hatten die Männer sich im Hof seines illegalen Benzinlagers versammelt, hier in diesem kleinen Dörfchen namens Dreesh, das auf der südlichen Seite dicht an der irischen Grenze lag.

Es war noch sehr früh und in den umliegenden Schuppen standen jede Menge Fahrzeuge, wurden befüllt mit rotem Diesel, der an verschiedenen geheimen Orten in der Grafschaft Monaghan eingesammelt worden war. In einer Stunde würde ein anderer Lastwagenkonvoi das Benzin übernehmen und zu den Abnehmern im Norden schaffen, wenig pingeligen Tankstellenbesitzern und kriminellen Banden, darunter auch loyalistische Paramilitärs. Aber das waren Angelegenheiten, die erst später am Tag anstanden, im Augenblick waren andere, dringendere Probleme vorrangig.

»Hat jemand das Bedürfnis, etwas zu sagen?«, fragte Morgan eine Gruppe von Männern, die als Antwort nur stumm die Köpfe schüttelten.

Der jüngste der Lkw-Fahrer, die schmutzige Mütze tief in die Stirn gezogen, war etwas später als die anderen aus seinem Lastwagen gestiegen. Die Verzögerung war kaum der Rede wert, aber Morgan musste sich sehr beherrschen, um seinem Zorn nicht freien Lauf zu lassen.

»Nimm die Mütze ab, damit ich dich besser sehen kann«, sagte er zu ihm.

Der Jugendliche zog die Mütze ab und lief herum, während Morgan seine Papiere inspizierte. Als er aufschaute, war der junge Mann schon zu seinem Laster zurückgegangen, hatte sich hinters Steuer gesetzt und die Tür offen gelassen. Nun wartete er auf die Erlaubnis zum Losfahren. Wie er da hinter dem Steuer saß und frech dreinblickte, wirkte es, als maße er sich an, für diese Operation der Schmugglerbande verantwortlich zu sein. Im Gegensatz zu ihm hatten sich die älteren Fahrer kein Stück bewegt, sondern sich gegenseitig nervöse Blicke zugeworfen, unsicher, ob es ihnen bereits gestattet war, in ihre Fahrzeuge zu steigen und abzufahren.

»Aus welchem Grund betrügt mich einer von euch?«, fragte Morgan und griff nach einem Hurley-Schlagstock, der in einer dunklen Ecke gelehnt hatte. »Warum tut jemand so etwas?« Er hob den Stock hoch, damit alle die Spitze aus hartem Eschenholz sehen konnten und die glatte Fläche, die den Lichtschein reflektierte, der aus den umliegenden Schuppen drang.

Als Kind hatte seine Großmutter ihn zu der offenen Sickergrube geschickt, die sich am Rand des familieneigenen Bauernhofs befand, und ihm aufgetragen, sich mit einem Stock in der Hand daneben zu setzen und jede herauskriechende Ratte in tausend Stücke zu schlagen. Die Ratten hatten gelbe Zähne, genau wie seine Großmutter, und Schnurrbarthaare. Sie hatte ihm Geschichten von irgendwelchen Rattenkönigen erzählt, und wie diese Viecher sich ausbreiten würden, wenn man sie nicht in Schach hielt, und das verrottete Erdreich unter der Farm bevölkern und zahllose Gänge graben würden, um aus ineinander verschlungenen Körpern ein Rattenreich zu errichten, das ständig in Bewegung war. Er erinnerte sich, wie er die Ratten totgeschlagen hatte, wenn sie aus der Dunkelheit huschten, ihre Barthaare aufstellten und schnupperten und mit ihren langen Schwänzen den Schlamm und den Kot peitschten.

War das ein Grinsen im Gesicht des jungen Mannes oder ein Zeichen von Nervosität? Morgan starrte ihn an. Der Jugendliche schaute weg und begann, einen Rhythmus gegen die Tür des Lasters zu trommeln. Das Dröhnen der Motoren im Leerlauf und das Geräusch der Pumpen übertönte alles andere. Der Junge schien die misstrauischen Blicke seiner älteren Kollegen nicht zu bemerken. Was für ein Dummkopf, dachte Morgan. Ein blinder, gieriger Dummkopf. Der hat ja keine Ahnung, was für eine Tortur ihn erwartet.

Morgan winkte ihn zu sich. »Komm noch mal her, ich will mit dir reden.«

»Was wollen Sie denn wissen?«

»Hast du auf dem Weg hierher irgendwo angehalten?«

»Nur in der Stadt.«

»In Monaghan?«

»Ja, um mir ein paar Zigaretten zu besorgen. An einer Tankstelle.« Der Junge wich seinem Blick aus, wirkte abwesend.

»Ah, das erklärt es natürlich.«

»Erklärt was?«

»Irgendein Mistkerl hat offenbar fünfhundert Liter Diesel bei dir abgezapft, als du im Laden warst.« Morgan beugte sich vor und schaute ihn zornig an. »Entweder das oder du lügst mich an.«

»Ich lüge nicht. Im Tank ist genau das drin, was eingefüllt wurde, bevor ich losfuhr. Kein Tropfen mehr oder weniger.« Der Junge sah die anderen Fahrer an, bat mit seinen Blicken um Unterstützung, aber sie schauten bloß grimmig drein. Ein Schaudern ging durch die Runde, das nichts mit der kalten Luft zu tun hatte, die über den Hof wehte.

Was verräterisches Handeln betraf, war das hier ziemlich banal im Vergleich zu dem, was Morgan während seiner Zeit als junger IRA-Rekrut erlebt hatte. Es ging ja nur um vorsätzlichen Betrug in der Größenordnung von ein paar Hundert Litern Diesel, die jemand in einer Seitenstraße abgezogen hatte. Aber Morgan war ziemlich resolut, wenn es um Grundsätzliches ging, und er verlangte unbedingte Loyalität von seinen Angestellten und hasste jede Form von Unzuverlässigkeit.

»Sie können’s ja noch mal überprüfen«, sagte der Junge. »Ich lüge Sie nicht an.«

»Ich bin das Kassenbuch durchgegangen, hab alles überprüft und die Zahlen stimmen. Nur bei vier Einträgen in den letzten Monaten gab es Abweichungen. Und die gehen alle auf dein Konto.« Morgan blätterte die Kladde durch und hielt sie ihm hin. Dann drehte er sich zu den anderen Fahrern um und fragte, ob irgendein Unbefugter Zugang zu dem Kassenbuch gehabt hatte.

Ein vielfach gemurmeltes Nein war die Antwort. Am liebsten hätten sie sich alle in die Dunkelheit verdrückt.

Er wandte sich wieder dem Jungen zu. »Hast du irgendeine andere Erklärung für diese Differenz?«

Der Junge zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf. Früher hätte Morgan eine Kombizange genommen und den Jungen mit einem Stromgenerator verbunden. Als diese turbulenten Zeiten zu Ende gegangen waren, in denen jeder zweite IRA-Mann im Verdacht stand, ein Spitzel zu sein und das Land sich nach einem Waffenstillstand sehnte, hatte er seine Verhörmethoden deutlich verfeinert. Der Tag, an dem der Kriegszug der IRA beendet wurde, war der schlimmste seines Lebens gewesen, schlimmer noch als alles, was die britische Armee ihm angetan hatte. Er fühlte sich erniedrigt, als er mitansehen musste, wie die Soldaten ihre Patrouillen an der Grenze verstärkt hatten, ohne Angst vor Gegenschlägen haben zu müssen. Und das, nachdem sie es jahrelang nicht gewagt hatten, sich auf andere Art als mit dem Helikopter fortzubewegen. Angewidert und vom Gefühl durchdrungen, verraten worden zu sein, hatte er den Konferenztisch verlassen, sich von der neuen Ära der friedlichen Verhandlungen distanziert und sich dem Schmuggel von Dieselkraftstoff und anderen Dingen zugewandt, um darin Trost zu suchen.

»Sei ehrlich zu mir, Junge. Wie lange hintergehst du mich schon?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Du glaubst wohl, du bist besonders schlau, hm?« Er griff mit der Hand in den Schritt des Jungen, um zu fühlen, ob er sich nass gemacht hatte.

»Lass das, du perverser Sack!«

»So redet niemand mit mir«, knurrte Morgan drohend, aber der Junge schaute ihn ausdruckslos an. Dort, wo Angst und Respekt vor der Autorität sein sollten, war nur Leere. Morgan erkannte, dass es sich hier um ein völliges Fehlen von Achtung handelte, und dass dieser Mangel alle Befehle und Anordnungen von seiner Seite sabotieren würde. Er packte den Jungen an den Haaren und zog ihn zu sich. Er wollte, dass sich dieser leere Blick in einen Ausdruck nackter Angst verwandelte, aber die Augen des Jungen starrten ihn nur an, schwarz und kalt, was Morgan noch mehr in Rage brachte.

Vor zehn Jahren hatte die IRA Morgan in den Ruhestand versetzt, ihn aber klammheimlich ermuntert, seine besonderen Begabungen weiterhin gewinnbringend einzusetzen. Er wusste, wie man sich im Grenzgebiet unbemerkt auf geheimen Pfaden bewegte, wie man sein Terrain verteidigte und den Gängeleien durch die Behörden widerstand, selbst wenn es sich bei den Funktionsträgern um ehemalige IRA-Kameraden handelte. Der Waffenstillstand ermöglichte ihm den Aufbau seines kriminellen Imperiums. In den seither vergangenen zehn Jahren war er sehr wohlhabend geworden, aber auch misstrauisch und paranoid. Seine größte Sorge war der Verlust der Protektion der IRA. Durch den Waffenstillstand waren die Bedingungen gefährlich variabel geworden. Prominente Anführer starben an Altersschwäche oder wurden senil, der Einfluss der Organisation nahm ab und die politische Führung veränderte sich. Ohne die Unterstützung der IRA würde er in einer riskanten Zone operieren, mit zahllosen Falltüren, die sich in alle Richtungen auftun konnten. Republikaner, die die politische Harmonie störten, mussten damit rechnen, dass die Umstände sich rasch verschlechtern konnten. Sie wurden sofort isoliert und ihr Ansehen wurde untergraben.

»Welche Straße soll die Polizei also heute Nacht sperren?«, fragte Morgan.

»Was soll das denn heißen?«

»Wo soll ich deine beschissene Leiche abladen? Im Norden oder im Süden, du hast die freie Wahl.«

Wieder begrapschte er den Schritt des Jungen. Diesmal spürte er das, wonach er gesucht hatte: die Feuchtigkeit des Urins. Er kannte den Geruch der Angst, seine Ausdünstungen und Ausscheidungen, und es freute ihn, dass der Junge endlich eine Regung zeigte. »Ich merke, dass du dir so langsam Sorgen machst, mein Junge.« Er grinste. »Aber nur keine Panik. Wir ziehen das hier ganz im alten Stil durch. Du hast noch eine letzte Chance, die Angelegenheit ehrenhaft über die Bühne zu bringen. Erzähl mir alles, solange du noch dazu in der Lage bist.«

»Wovon reden Sie überhaupt?«

Morgan holte mit dem Schlagstock aus und rammte ihn dem Jungen in den Magen, so stark, dass es wehtat, aber nicht stark genug, um ihn jetzt schon außer Gefecht zu setzen. »Das war ein Fehler, mein Junge. Du stellst keine Fragen. Ich stelle die Fragen.«

Der Junge fiel flach auf den Betonboden und versuchte davonzukriechen.

»Wer hat dich angestiftet?«

»Weiß nicht.«

»Hast du jemandem was gesteckt?« Diesmal trat Morgan ihm in den Bauch.

»Nein.«

»Der Polizei? MI5? Was ist mit Detective Carey und Sergeant McKenna im Ort?«

»Kann nicht.« Der Junge bekam kaum noch ein Wort heraus. Er schaute sich um, als wäre der vom Dröhnen der Motoren erfüllte Hof ein gigantisches Loch, in das er gefallen war, eine tiefe Höhle ohne jede Hoffnung auf ein Entrinnen. Die Umrisse seines Peinigers nahmen sein gesamtes Sichtfeld ein.

Morgan hielt inne, um Atem zu schöpfen, seine Augen leuchteten vor Schadenfreude. »Bist du ein beschissener Spion? Ein Spitzel?«

Der Junge schüttelte benommen den Kopf.

Morgan hatte die neue Ausrichtung der IRA nie infrage gestellt, auch wenn er klammheimlich dagegen war. Er hatte getan, was die Führung ihm aufgetragen hatte. Er hatte brutale Strafmaßnahmen und Schmuggelaktionen durchgeführt und seinen Teil beigetragen. Ihr Geld hatte er in kompliziert aufgebaute Immobilien-Imperien investiert, Bargeld mithilfe von Geldwechsel-Firmen gewaschen und ihre geheimen Bankkonten damit gefüllt. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hatte er noch einige der hiesigen Kriminalbeamten bestochen. Niemand konnte ihm schaden. Er war ein Diener der IRA und genoss deren Protektion. Indem er diese krummen Wege ging, war er in gewisser Weise sogar zum Förderer des politischen Friedensprozesses geworden, zu seinem heimlichen Gefolgsmann. Denn irgendjemand musste sich ja um die Beseitigung der blutigen Hinterlassenschaft kümmern.

Der Junge wimmerte, als Morgan erneut mit dem Schlagstock ausholte. Wenn er erst mal angefangen hatte, konnte ihn nichts bremsen. Weder hatte er sich diese Strafmaßnahme genauer überlegt noch darüber nachgedacht, ob dieser Hof mit dem ganzen Gerümpel dazu geeignet war. Er schaute sich um. Immerhin gab es einen Schlauch und einen Wasserhahn in der Nähe, mit deren Hilfe er hinterher das Blut wegspritzen konnte. Er verpasste dem Jungen noch ein paar Schläge.

Ab und zu wurde Morgan von seinen Vorgesetzten zurechtgewiesen, er müsse seine kriminellen und gewalttätigen Aktionen eindämmen. Aber was sollte er denn sonst tun? Er fühlte sich sowieso schon eingezwängt und festgenagelt an diesem Ort hier an der Grenze und seinen Hof. Wovon sollte er denn sonst leben, ihm stand nun mal nichts Besseres zur Verfügung als dieses heruntergekommene Treibstofflager und ein paar Felder mit Mooren und Dornengestrüpp.

Jeder Schlag mit dem Stock half ihm, seinen Stolz wiederzufinden. Tom Morgan, der ehemalige IRA-Mann, jetzt Farmer und lokaler Hurling-Champion, kannte als König der Schmuggler zahllose Geheimnisse, die hier im Grenzgebiet verborgen lagen, in diesem Terrain der Angst und des Blutvergießens. Er spürte ein erhebendes Gefühl in der Brust, seine Gedanken rasten durch einen Tunnel blinder Wut. Sein Opfer lag ihm zu Füßen, ein zusammengesacktes schlaffes Bündel, das perfekte Objekt für seine Tritte, zu denen er immer wieder ausholte. Der dicke lange Hurley-Stock fühlte sich gut an in seiner Hand, war gleichzeitig Werkzeug und Symbol der Macht.