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Michael Böhm

Die zornigen Augen der Wahrheit

Roman

Inhalt

Impressum

Widmung

Zitate

Die Hauptpersonen

1 Bis zum Ende aller Tage

Der Skribent

Der Arzt

Der Fotograf

Wasser

2 Vergleichende Gedankenspiele

Der Skribent

Der Arzt

Der Fotograf

3 Träume als Trost

Der Skribent

Der Arzt

Der Fotograf

4 Gott des Schweigens

Der Skribent

Luft

Der Arzt

Der Fotograf

5 Der dunkle Schatten

Der Skribent

Geist

Der Arzt

Der Fotograf

6 Unterwegs als Spurensucher

Der Skribent

Feuer

Der Arzt

Der Fotograf

7 Komme, was da wolle

Der Skribent

Erde

Der Arzt

Der Fotograf

8 Ultima Ratio

Der Skribent

Was noch zu sagen wäre …

Über den Autor

Weitere Titel im Bookspot Verlag:

Leseprobe: Peter Hereld – Herr der Drohnen1

Widmung

Immer wieder:
Meinen Dank an Christel und Manuel

Zitate

Denke daran,

im Ungemach Gleichmut zu bewahren.

Horaz

 

Es wäre dumm, sich über

die Welt zu ärgern.

Sie kümmert sich nicht darum.

Marcus Aurelius

 

Es wird kaum noch produziert,

es geht um Geld, sonst nichts.

Arne Dahl

Die Hauptpersonen

DER SKRIBENT – genannt Gauß, kehrt in seine Heimatstadt zurück, um noch einmal vor der Ewigkeit seinen Erinnerungen zu folgen.

DR. ARNO THANN ist Arzt und zählt sich als Mitglied der Bruderschaft Congregatio Cicero zur Elite der Stadt.

SIXTUS ADLMEIER ist Fotograf und beobachtet hinter dem Vorhang seiner vermeintlichen Harmlosigkeit, wie das Spiel läuft.

RICHARD BIRGMANN geht als Baulöwe skrupellos seinen Weg.

KURT KOLBERG ist Architekt und hat genügend um die Ohren.

KARLMAX FELDIGL, EDUARD VON HOHENBURG, FRANZ MANNERT, JOCHEN MICHL, DR. JOSEF UHLIG und PROFESSOR LUDWIG WELLHOFER gehören zur Bruderschaft CC und lenken die Partei und damit auch die Stadtpolitik aus dem Hintergrund.

ANNI FEYERABEND verfängt sich im dichten Netz der Abhängigkeiten.

MALU SAND ist nicht nur Töpferin, sie steht auch Dr. Thann sehr nahe.

MONIQUE THUMANN ist Malerin und macht eine Eroberung.

PHILIPP TEICHMANN war früher Koch und hat nun ein Café.

TONI MUHR hat nichts davon, der Cousin des Stadtpfarrers zu sein.

1
Bis zum Ende aller Tage

Der Skribent

A und O – Anfang und Ende. Eben darum habe ich den Entschluss gefasst, nach über vierzig Jahren in meine Geburtsstadt zurückzukehren. Dort hat mein Bewusstsein eingesetzt und hier wird es damit auch zu Ende gehen. Ich bin hier, wo ich fast mein ganzes Leben nicht sein konnte, aber es doch immer gewesen bin.

An einem lauen Abend im April lande ich auf dem Münchner Flughafen und kreuze dort nur wenig später den Weg eines alten Schulfreundes, der aus Barcelona kommt. Zu diesem Zeitpunkt haben nur ganz wenige Menschen, vielleicht zwei Dutzend, Kenntnis von dem, was da aus dem Dunkel auf uns alle zukommt, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin einer von diesen wenigen Wissenden.

Ohne es zu ahnen, sind Arno und ich uns bereits bei den Gepäckbändern recht nahe gewesen. Auf dem einen kommen die Gepäckstücke vom Flug aus Barcelona, bei dem anderen, meinem, die aus LA via Heathrow. Wir müssen ein ganzes Stück weit nebeneinander her gegangen sein, werfen wir uns jedoch erst nahe den Türen nach draußen einen forschenden Blick zu. Erstaunlich, noch nach mehr als vier Jahrzehnten erkennen wir uns sofort. Kein lautes Hallo, wir bleiben nicht einmal stehen, wir lächeln beide, ich schon immer introvertiert, Arno, ja, ich weiß seinen Namen noch, war auch kein sonderlich lebhafter junger Mann gewesen, damals.

Arno erinnert sich nicht an meinen Vornamen, auch nicht den Nachnamen, nennt mich jedoch gleich bei dem Namen, der mir damals in der Schule verpasst wurde. Er wird von einer hübschen Dame abgeholt, die, so schätze ich, in unserem Alter sein wird. Als sie uns kommen sieht, steigt sie aus dem dunklen BMW, begrüßt ihn mit einem freudigen Lächeln und diesem leichten, vertrauten Kuss eines Paares, das sich nahe ist. Seine Frau? Er stellt mich vor, sagt mir ihren Vornamen – Malu. Wo ich hinwolle?, fragt Malu und als ich es sage, bietet sie sofort an, mich mitzunehmen. Ich sage gerne zu. Unterwegs unterhalten die beiden sich munter, für mich ein weiteres Indiz ihrer Verbundenheit. Ich sitze hinten, höre bald nicht mehr zu, da sie mich offenbar schnell vergessen haben, aber der Tonfall ihrer Stimmen ist für mich ein erinnertes Hören. Ich überlasse mich meinen Gedanken, folge mit den Augen unserer Fahrtstrecke, denn ich kenne den Flughafen hier draußen im Moos nicht. Mein Flieger ist damals von Riem gestartet, vor Ewigkeiten. Nichts erkenne ich unterwegs wieder, gäbe es die Schilder neben der Autobahn nicht, mir wäre es unmöglich zu sagen, wohin der Wagen unterwegs ist.

Einem Impuls folgend, einem Bauchgefühl, lasse ich mich vor dem Hotel-Restaurant am Bahnhof absetzen.

Wir werden uns sehen, versprechen Arno und ich.

Ich stehe am Straßenrand, schaue dem Wagen nach. Ich nehme den Zugang zum Hotel. Die junge Dame an der Rezeption hat ein Zimmer für mich, hinten raus.

Wie lange ich zu bleiben gedenke, will die blonde Hübsche im Dirndl wissen.

Bis zum Ende aller Tage, antworte ich.

Sie stutzt ganz kurz, dann lacht sie und ich lache mit ihr.

Von Anfang an bin ich nicht nur mit offenen Augen, sondern auch und vor allem mit ausgefahrenen, sensibilisierten Empfangsantennen durch meine ehemalige Stadt unterwegs. Ich will ihren Geist erfühlen, erspüren. Was bewegt sich unter der dünnen Decke, was schwimmt auf dem flachen Grund, was pulst so kollektiv im Unterbewusstsein der Menschen, um doch weitgehend die Oberfläche mitzubestimmen. In der ersten Zeit ist es noch das Phänomen der guten Erinnerungen an Kameradschaft, sogar Freundschaft, das meine grünen Hoffnungen trägt.

Die vielen Jahre in der Fremde haben meine alte Stadt verklärt, sie golden und besonders gemacht. Doch ziemlich schnell wird mir klar, in dieser Stadt ist es nicht besser als sonst wo auf der Welt, aber auch nicht schlimmer. Allerdings vermag ich alsbald meine Augen nicht vor der ernüchternden Erkenntnis verschließen, dass immer häufiger, so wie überall, die Gier regiert, die Pandemie unserer Zeit, und die ist hoch ansteckend.

Jetzt, im Blick zurück, im Schatten sitzend, meine sammelnden Gedankenbilder auf die Blätter meines gelben Blocks schreibend, strukturiere ich die Zeit in meiner Stadt. Sie verlief nicht so, wie ich es mir vorstellte, war tatsächlich naiv. Was mich das ganze Geschehen dieser Monate mit zornigen Augen sehen ließ, war eine späte Erkenntnis. Nämlich erst die Zusammenhänge der Wahrheit hinter allem Nebel hat uns erkennen lassen, uns wirklich sehend gemacht, um was es eigentlich gegangen war.

Der Arzt

Vom Hotel aus fuhr Malu an der Post vorüber weiter die Bahnhofstraße hinauf auf die Kreuzung zu.

»Arno«, sagte sie, »ich sehe ja gewiss vieles ziemlich großzügig, doch bei deinem Freund beschleicht mich ein eigentümliches Gefühl.«

Er warf ihr einen Blick zu, erfreute sich ganz bewusst an ihrem mit Licht und Schatten gemalten schönen Profil, lächelte leise.

Der dunkle BMW rollte über die Kreuzung.

»Kannst du dich nicht an ihn erinnern, Malu? Kam er dir kein bisschen bekannt vor?«

Malu schüttelte ihre blonde Mähne.

»Ich habe ihn sofort erkannt«, sagte Arno. »Kannst du dich nicht an Gauß erinnern?«

»An den Namen, ja, an das Gesicht nicht.«

Er blätterte alte Erinnerungen an ihre gemeinsame Schulzeit auf, aber bei Malu wollte der Groschen partout nicht fallen. Sie konnte den Mann, dessen Gesicht sie immer wieder im Rückspiegel angesehen hatte, nicht in die Bilderfolge ihrer Vergangenheit einordnen.

Inzwischen war sie in eine kleine Seitenstraße eingebogen und hielt vor Arnos Haus an. Er beugte sich zu ihr hinüber, ihre Lippen trafen sich kurz.

»Willkommen zuhause, Arno.«

»Danke fürs Holen, Malu.«

»Für dich stets zu allem bereit.«

»Ich weiß und danke dir dafür. Ich komme später.«

»Bis dann, mein Lieber. Ich freue mich.«

Seinen Koffer neben sich, stand Arno mitten auf der von zwei Laternen in der Nähe erleuchteten Straße, schaute dem davonfahrenden Wagen nach, bis er außer Sicht war. Er rollte den Koffer nicht, hob ihn leicht an, ging zum Vorgartentor. Nein, er benötigte kein Licht, jeder Handgriff war in den vielen Jahren in Fleisch und Blut übergegangen, war so eine eingeübte Gewohnheit, dass alles wie blind ablief.

Durch den dunklen Vorgarten erreichte er sein Haus, klappte neben der Tür eine schmale Abdeckung zurück, tastete mit dem Zeigefinger ins Dunkel, atmete einmal tief durch, schloss die Haustüre auf, trat ein. Auch im Haus machte er immer noch kein Licht. Sicher nahm er seinen Weg im Finstern durch den Flur, die kurze Treppe hinauf in den Vorraum, wo er den Koffer einfach stehen ließ und weiter ging zum großen Wohnraum. Erst hier schaltete er ein schwaches indirektes Licht an. Er öffnete die Tür eines Sideboards, beugte sich vor, schaute hinein, griff nach einer bestimmten Flasche – irischer Whiskey –, goss zwei Finger breit der goldenen Flüssigkeit in ein Glas aus Bleikristall.

Nach seinem ersten Schluck, den er warm bis in den Magen nachfühlte, hörte er, das Glas in der Hand, den Anrufbeantworter ab. Siebzehn Mal, er hatte unbewusst tatsächlich mitgezählt, war versucht worden, ihn in seiner Abwesenheit von nur wenigen Tagen zu erreichen.

Er knipste die Leselampe über dem alten Ohrensessel neben dem Kamin an, trank im Stehen den zweiten Schluck und setzte sich dann. Fest drückte er den Hinterkopf gegen das harte Kopfteil. Schon kurz danach ließ der leichte Stressdruck in seinem Kopf nach, was ihn augenblicklich daran erinnerte, seinem Physiotherapeuten unbedingt in dieser Woche noch einen Besuch abzustatten.

Wie ist es immer wieder schön, ein wahres sinnliches Vergnügen, hier zu sitzen, einfach seine Gedanken sanft dahintreiben, es sich gut gehen zu lassen.

Libertinismus sentiendi – Freigeisterei des Denkens.

Der Alarm in Jochen Michls sonst so beherrschter Stimme ließ ihn unwillkürlich Lächeln. Sein Anruf war der einzige Interessante der ganzen Sammlung gewesen. Mit der Briefwahl stimmt was nicht, Arno, rief Jochen nahe der Panik. Unterirdisch brodle es gehörig. Noch verdichteten sich hier und da gesprochene Vermutungen nicht zu einem fertigen Gerücht. Dazu darf es nicht kommen. Melde dich umgehend, Arno.

Michl hatte Latein gesprochen. Alle Mitglieder der Bruderschaft Congregatio Cicero sprachen Latein miteinander, immer, ausgenommen unter Ohrenzeugen.

Arno fasste seinen stummen inneren Kommentar mit den Worten cui bono – wem zu Nutzen – zusammen.

Dr. Arno Thann, Facharzt für Innere Medizin, war seit drei Jahren Witwer, lebte allein in seinem schönen Haus am Hang. Eine Haushälterin hatte den Alltag im Griff, ein Gärtner an zwei Nachmittagen den Garten, einer gewollt chaotischen Wildnis. Er pflegte mit allen Sinnen bewusst zwei, seit einem knappen Jahr drei Leidenschaften, denen er vieles, sogar Berufliches, unterordnete, nämlich das Lesen, das Reisen und das Zusammensein mit seiner Geliebten Malu.

Gedankenverloren nahm er eines der dort liegenden Bücher vom Beistelltisch, es war ein Krimi, schaute ihn einen längeren Moment an, und legte ihn dann wieder zurück.

Arno war ein begeisterter Krimileser, hatte da keine Vorlieben, nur die Plots mussten einfach gut, vielleicht sogar ungewöhnlich sein, was für ihn bedeutete, sie mussten ihn packen und festhalten. Eine besondere Freude des Lesers Thann waren allerdings die literarischen Werke von Lawrence Durrell, in denen er regelrecht mit Freude schwelgte, auf dessen Spuren er schon einige Male gereist war.

Noch einmal drückte er seinen Kopf zurück, schloss dann die Augen für eine Weile.

Etwa zur gleichen Stunde des Vorabends war er mit einem Kollegen aus Lemgo im Stadtteil El Raval in Barcelona unterwegs gewesen. Beide waren Teilnehmer eines Ärztekongresses, der in der katalanischen Hauptstadt stattfand. Sie hatten das Geburtshaus des Schriftstellers Montalban, ein unbedingtes Muss für einen Kenner gehobener Kriminalliteratur, in dem etwas zwielichtigen Viertel gesucht und auch gefunden. Anschließend betraten sie das rustikale Lokal gleich nebenan. Sie aßen gut, genossen einen schönen Abend, erzählten sich medizinische Anekdoten, die interessanteste Form einer Unterhaltung von Ärzten auf Fachtreffen.

Ach ja, er durfte nicht die eine köstliche Episode vergessen an Malu weiterzugeben, die der Kollege, der auch als Gerichtsmediziner arbeitet, während eines ganz speziellen katalonischen Gerichtes zum Besten gab.

Er hatte eine unbekannte Tote auf dem Tisch, der er auf nicht gerade gewöhnlichem Wege zu ihrem Namen verhelfen konnte, nämlich anhand der Seriennummern ihrer Brustimplantate.

Gerade in dem Moment, als der Kollege auf die Würdigung seiner Geschichte hoffen durfte, meldete sich Arnos Smartphone. Es war der Anruf, der ihn alarmierte, wegen dem er einen Tag früher aus Barcelona abreiste.

Thann trank den letzten Schluck Whiskey mit intensivem Genuss. Das Glas ließ er auf dem Beistelltisch zwischen den Büchern stehen. Mit ein wenig schweren Schritten bewegte er sich in den hinteren Teil des Raumes, in den nur wenig Licht von vorne drang.

Einem hohen Spiegel mit verspieltem Goldrahmen gegenüber stand ein zweisitziges Sofa. Neben dem Spiegel hing das Portrait einer schönen Frau.

»Meine liebe Hanna«, sagte Thann grüßend zu dem Bild.

Nach dem Tod eines geliebten Menschen sollte das Herz zwei Jahre Trauer tragen, hatte Malu gesagt.

»Mein Herz trägt noch heute Trauer um dich, Hanna.«

Malu hatte auch gesagt, Arno und Hanna wären für sie die Verkörperung des doppelköpfigen Tieres, der höchsten Stufe der Liebe.

»Solche Worte gefallen dir, meine Hanna, hab ich recht?«

Malu Sand war zusammen mit Arno und Hanna in die Schule gegangen und seit vielen Jahren seine Patientin. Und seit nicht einmal einem Jahr waren Malu und Arno sehr diskret und sehr eng liiert.

Da ihr Mann den größten Teil des Jahres auf Ölplattformen aller Meere verbrachte, hatte Malu sich ein völlig eigenständiges Leben als Künstlerin, das einer Töpferin, aufgebaut.

Freundschafft ist eine Kunst, hatte Malu gesagt.

Wie klug sie ist, meine Freundin.

Im Spiegel sah er, wie sie sich mit beiden Händen in ihr volles blondes Haar griff und darin wühlte.

Dr. Arno Thann verließ wenig später sein Haus, blieb einen Moment vor dem Gartentor stehen, sah hinauf zum Schloss, das als ein blauschwarzes Rechteck gegen den leicht helleren Himmel stand.

Er begann seinen kurzen Spaziergang zu Malu durch die noch junge Nacht, lauschte dabei dem Klang seiner ruhigen Schritte, dachte voraus, dass er in den frühen Morgenstunden zurückkehren, pünktlich in der Praxis sein, im Laufe des Vormittags einige wenige wichtige Anrufe führen, und danach abwarten, wie sich der Tag entwickeln würde.

Dies diem docet, dachte Thann, es wird sich zeigen.

Er lächelte.

Der Fotograf

Worauf jeden Morgen sein Blick zuerst fiel, war das Pentakel seines geistigen Freundes Pythagoras. Entweder war es die Sonne, die darauf leuchtete oder das automatische Spotlicht vom Tisch neben seinem Bett, das von einer bestimmten Uhrzeit gesteuert wurde. Diese kurze Zeit des Betrachtens war ihm heilig, kam einem Morgengebet gleich, versorgte ihn mit genügend Kraft für diesen neuen Tag, auf den er sich immer unbändig freute – wie ein Kind, offen und fröhlich.

So war Sixtus Adlmeier.

Heute lag für ihn das Versprechen eines weiteren schönen Frühlingstages in der Luft.

Sixtus, unverkennbar ein Mann um die sechzig, sprang nach seiner Kontemplation wie ein junger Kerl mit beiden Füßen gleichzeitig aus dem Bett, stellte sich an das breite Fenster, nahm die Weite der Ebene, die erst vor den Bergen endete, mit tiefen Atemzügen in sich auf. Nur kurz streifte ihn die Idee, seinen Freund Bertl, wie er ein Fotograf, in Gaißach anzurufen, um spontan eine Bergtour zu verabreden.

Nein, führe mich nicht in Versuchung.

Es lagen zwei Zeichnungen auf seinem Arbeitstisch, die er unbedingt fertig machen musste. Erst nach Erledigung seiner Pflicht durfte er dem geliebten Müßiggang frönen.

Er entledigte sich seiner Pyjamahose, marschierte nackt in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Gang, und weiter ins Bad. Lauter, falscher, gut gelaunter Gesang begleitete seine Toilette.

Als er zurück in die Küche kam, sein rundes Gesicht mit den großen blauen Augen und den dicken Lippen Zufriedenheit ausstrahlte, trug er ein wadenlanges Araberhemd; sein bevorzugtes Kleidungsstück für die eigenen vier Wände. Kaffeeduft erfüllte den hellen Raum. Er goss sich die erste Tasse ein, verbrannte sich, wie jeden Morgen, Lippen und Zunge am ersten Schluck, ging hinaus zur Wohnungstür, wo außen der Leinenbeutel mit seinen beiden Semmeln hing, die ihm der Bäcker brachte, ein bezahlter Freundschaftsdienst.

Während des Frühstücks hörte er Radio, war jedoch mit seinen Gedanken in gänzlich anderen Gefilden unterwegs.

Sixtus Adlmeier war ein Mann mit mehreren Gesichtern, immer ein passendes für unterschiedliche Gelegenheiten.

Sein erlernter Beruf war der eines Fotografen, sogar mit dem Abschluss-Zertifikat der Kunsthochschule. Als Industriefotograf hatte er sich einen respektablen Namen gemacht.

Der kräftig wirkende Mann war ein Einzelgänger, aber dennoch eine stadtbekannte Persönlichkeit. Ihm war nur allzu klar, dass er viele Jahre, addiert waren es Jahrzehnte, zu gerne als tapsiger, unbeholfener Bär, als eine Art lokaler Hofnarr gesehen worden war. Diese öffentliche Geringschätzung perlte locker an ihm ab, er war dagegen wie imprägniert, und war ihm mit der Zeit nicht einmal unlieb, als arglos, ziemlich naiv und nicht richtig ernst genommen zu werden. Als kluger Mensch hatte Sixtus schon früh erkannt, hinter dem Vorhang der Harmlosigkeit war es gut und leicht Verstecken zu spielen, mühelos unbeachtet wirklich wichtigen Dingen nachzugehen. Allerdings hatte Sixtus nie auch nur eine einzige der Demütigungen, von wem auch immer, vergessen.

Die Stadt ist für mich ein Dorf, ich schaue hinter die Kulissen, hatte er irgendwann einmal zu Jochen Michl gesagt, einem seiner handverlesenen, wirklich guten Freunde. Und Jochen wusste, dass das stimmte und tatsächlich wörtlich zu verstehen war.

Ein anderes Gesicht, auch das weitgehend unbekannt, hatte unmittelbar mit seiner Unabhängigkeit zu tun. Sixtus war der Alleinerbe seines Großvaters, der ihm auch immer Vater, mehr als ein Ersatz für den nie gekannten biologischen, bis zu seinem Tod gewesen war. Der Opa war ein Großbauer mit weitgestreutem Landbesitz im Hinterland bis in den nächsten Landkreis hinein. Der alte Mann hatte Zeit seines Lebens das Gras wachsen hören, spürte eher als andere, woher der Wind wehen würde, vor allem war er ein außerordentlich kluger Rechner. Der Opa hatte ihm auch den alten Griechen Pythagoras einst vorgestellt.

Natürlich konnte und durfte Sixtus seine finanziellen Angelegenheiten als reicher Erbe nicht mehr wie bis dahin gewohnt mit der linken Hand betreiben. Der Opa hatte in München einen professionellen Berater, den der Enkel blind übernahm. Der Privatbank von Hermann beließ er vor Ort das bisherige Portfolio. Was gerade diese Verbindung so ideal machte, war, dass der Geschäftsführer Jochen Michl und Sixtus Adlmeier sich von Kindheit an kannten und auch immer gut leiden mochten.

Ohne Hektik, ruhig, überlegt und vor allem klug ordnete der Erbe sein Leben neu. Als Fotograf verließ er das Hamsterrad, pickte sich allein die lukrativen Rosinen aus dem angebotenen Kuchen des freien Marktes. Anschließend ging er daran sein Hobby zu intensivieren, nämlich das Zeichnen von Karikaturen. Er nannte sich Dionysos und hatte binnen weniger Jahre einen anerkannten, jedoch weitestgehend anonymen Namen als Zeichner. Und er begann zurückhaltend, ja vorsichtig, nach außen wirkte sein Tun wie locker nebenher, einer kleinen Privatgalerie als stiller Teilhaber unter die Arme zu greifen. Die Hinterhofgalerie, nur wenige Minuten zu Fuß von seiner Wohnung entfernt, hatte ihre Räume in einem Hinterhof, wie schon der Name verriet.

Nachdem alles so auf die Reihe gebracht war, dass er damit zufrieden war, befasste er sich nach einer kurzen Phase der Bummelei mit den verzwickten Geheimnissen des Aktienmarktes. Als er davon überzeugt war, festen Grund unter den Füßen zu haben, fing er an, mit Unterstützung von Jochen Michl an der Börse zu spekulieren, von Jahr zu Jahr erfolgreicher.

Heute wäre der Opa im Vergleich mit dem Enkel ein Mann von eher bescheidenem Vermögen. So ändern sich die Zeiten mit allen ihren Möglichkeiten, dachte Sixtus manchmal in Erinnerung an früher.

Sixtus hatte die beiden Zeichnungen abgeschlossen, sie im schattenfreien Licht seines Arbeitstisches eingehend begutachtet, ihre Vollkommenheit in sich aufgenommen. Dann machte er die beiden Arbeiten fertig für den Postversand.

Der Umschlag steckte in seiner beigefarbenen Leinenumhängetasche, die Kamera lag bereit, er musste sich jetzt nur noch für seinen geliebten Müßiggang, wenn er dann für die wichtigen Dinge hinter dem Vorhang unterwegs war, fein machen.

Braune Cordhose, einfarbiges offenes Hemd, dünner gelber Pullover, die alte leichte Lederjacke, die in allen Farben dieser Welt changierte. Er liebte diese Jacke, weil sie ihm, wie er meinte, doch ein wenig jugendliches Flair verlieh.

Er verließ seine Wohnung, verschmähte die Leichtigkeit des Lifts, stieg die Treppen hinunter, stand einen kurzen Moment vor dem Haus auf der Straße. Kurz darauf marschierte er den steilen Karlsberg abwärts, folgte der Münchner Straße bis hin zum Unteren Markt, wo er zum Sparkassenplatz abbog. Im Schatten der Zufahrt zu den Parkplätzen blieb er stehen, denn er hatte drüben an einem Tisch des Lokals zwischen den Olivenkübeln einen Mann an seinem Laptop sitzen gesehen. Richard Birgmann. Er ließ sich Zeit mit der Beobachtung des Mannes, der seit längerem auf seiner ungeschriebenen Liste der wichtigen Dinge stand, zündete sich einen Zigarillo an, paffte, mit der Schulter an die Wand gelehnt, genussvoll vor sich hin. Er hatte nämlich alle Zeit der Welt.

Sixtus kannte Richard Birgmann inzwischen recht gut, obwohl es zwischen ihnen keinerlei persönliche Berührungspunkte gab. Ob von Seiten Birgmanns irgendein Interesse an Adlmeier bestand, war eher nicht zu vermuten. An diesem agilen Anfangsvierziger, der dort am Tisch saß, war in der Stadt und im Landkreis in seinem Bereich kein Vorbeikommen. Wo immer es auf dem Bau- und Immobiliensektor auch nur vage nach Geld roch, stellte Birgmann sich in den Weg und schnappte unbarmherzig wie ein Raubtier zu. Immer wieder wurde seinem Namen das ungute Zusatzwort Baulöwe angehängt. Ein faszinierender Typ, elegant, gutaussehend, smart und absolut unsympathisch. Nein, Sixtus mochte ihn wirklich nicht leiden. Ständig hatte dieser Birgmann irgendwelche dubiosen Spielchen laufen. Wie ein Mantra wiederholte sich Sixtus wieder mal die Frage, ob Birgmann tatsächlich die Wohnung in Rom nahe dem Vatikan besaß, wie gemunkelt wurde? Aber es war ja doch so unerheblich wie nur eben möglich. Schon wieder so ein seltsames Spiel.

Nach einem kleinen Mittagessen am Stehtisch in einer Metzgerei machte er sich auf einen Spaziergang, der ihn kreuz und quer durch das Gebiet östlich der Bahnlinie führte. Er machte Besuche, trank dort einen Tee, aß hier ein angebotenes Stück Kuchen, traf Leute auf der Straße, die sich gerne eine Weile mit ihm unterhielten, saß mit zwei alten Frauen gegenüber dem Altenheim auf einer Bank, erfreute sie mit lustigen Geschichten. Seit er vor Jahren erkannt hatte, wie absurd jegliche Pläne waren, jede Voraussicht letztendlich sinnlos, hatte er eine Freiheit für sich gewonnen, die ihn fröhlich sein ließ, was die Menschen, denen er begegnete, natürlich spürten.

Am frühen Abend tauchte Sixtus in der Hinterhofgalerie auf, betrachtete mit neugierigen Augen neue Werke, diskutierte mit zwei Malern, wobei er sich mit seiner Ansicht vornehm zurückhielt, nur manchmal mit einem Wort pikste, innerlich die Reaktionen bewertete, ohne das Gesicht zu verziehen.

Als er sich schließlich auf den Heimweg machte, legte er kurzentschlossen einen kleinen Schlenker ein, der ihn bei Jochen Michl vorbeiführen sollte.

Schon vom oberen Ende der Straße aus sah er zwei Personen das Haus betreten und wusste sogleich, dass heute bei Jochen kein Besuch mehr in Frage kommen würde.

Außerhalb des Laternenlichts stellte er sich auf dem Grundstück schräg gegenüber in die schon dunkle Einfahrt. In den nächsten Minuten zählte er drei weitere Ankömmlinge, die hinter Jochens Haustür verschwanden.

Entweder sie waren komplett, da einer vor ihm gekommen war, oder einer fehlte noch, murmelte er vor sich hin.

Ein Mann spazierte die Straße herauf, kam von der Flussseite her. War er der fehlende?

Nein, denn als der Mann näherkam, erkannte er ihn, sofort, nach so vielen Jahren, immerhin.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Gauß«, sagte Sixtus.

»Ich freue mich, dich so unverhofft zu treffen. Was machst du hier, quasi so konspirativ im Schatten?«

»Es braut sich irgendwas zusammen.«

»Hört sich richtig spannend an. Darf ich bei dir stehen bleiben?«

Wasser

Mathias Kreilinger ist beim Segeln auf dem Ammersee ertrunken, ein bedauerlicher Unfall, wie es abschließend lapidar in den Akten heißt.

Mathias hatte zu seinen Lebzeiten ein Gesicht wie ein Junge, jedoch ungewöhnlich faltig. Wurde er darauf angesprochen, schob er die Falten dem ständigen Ärger in die Schuhe, den er als Bauausschuss-Vorsitzender des Stadtrates habe. Lachend behauptete er dann gerne, beim Segeln sei er jung, der Wind glätte auf einmal wie mit leichter Hand seine Haut.

Es ist früher Sonntagmorgen, am Seeufer sammeln sich zunächst nur wenige zeitige Spaziergänger, die neugierig stehen bleiben, als Rettungskräfte die angetriebene Leiche aus dem Wasser bergen. Zwei der Gaffer heben ihr Smartphone in die Richtung, um die Szene, in der sich mehrere Menschen um den Unbekannten aus dem Wasser mühen, digital zu speichern und gleich ihren Freunden in den sozialen Netzwerken anzubieten. Irgendwo in der Nähe erklingt deutlich hörbar, fast wie bestellte Hintergrundmusik, gregorianischer Gesang.

Polizei, Notarzt, Krankenwagen, Wasserwacht, später die graue Limousine eines Bestattungsinstitutes, parken in Reihe neben dem Uferweg nahe Utting.

Erst als sich mehrere Zuschauer zwischen den Wagen zum Ufer hin wagen, bis ganz in die Nähe des auf einer Plane liegenden Toten, werden sie energisch von zwei Polizisten zurückgeschickt.

Der Tote trägt Segelkleidung und hat keine Papiere bei sich. Es dauert nicht Stunden, es geht schneller, bis die Identität des augenscheinlich Ertrunkenen zweifelsfrei festgestellt ist.

Am Nachmittag des Vortages, die Sicht war klar, die Berge zum Greifen nah, war ein Segelboot verlassen auf dem Ammersee vor Utting getrieben. Einer Patrouille der Wasserwacht war das Boot aufgefallen. Anhand der Kennung auf dem Segel hatten sie über Funk schnell Antwort erhalten, erfahren, wohin das Boot und wem es gehörte.

Mathias Kreilinger ist allein hinausgefahren, so wie zumeist. Sein Boot ist ohne Schwierigkeit von einem Mann zu handhaben, zudem gilt er als erfahrener Segler. So war es allen, die ihn kennen, ein Rätsel, wie er bei bestem Wetter über Bord gehen konnte. Im Segelclub wird über das Unglück, denn dafür wurde sein Tod gehalten, immer wieder diskutiert. Sehr einfallsreich, es gibt viele Arten des Unglücks, jongliert man mit Möglichkeiten, länger jedenfalls, als sich die Polizei den Kopf über eigentlich doch Offensichtliches zerbricht.

Gut zwei Wochen nach Mathias’ Tod meldet sich ein Segler aus Dießen, der länger beruflich unterwegs gewesen ist, und berichtet von seiner Beobachtung. Er kennt Mathias flüchtig, sein schnittiges Boot, da es ihm gefällt, noch besser. An dem gewissen Nachmittag hatte er gesehen, sich darüber gewundert, dass ein Motorboot auf das Segelboot zu rauschte, in kurzem Abstand neben ihm liegen blieb. Später hatte er das Motorboot mit weißer Bugwelle quer über den See verschwinden sehen.

Diese Aussage befeuert noch einmal die Ermittlungen der Polizei, füttert weiter die Fantasie der Segelkameraden im Club. Doch schließlich versickert das Interesse, wird der Akt mit dem Vermerk »Unfall« geschlossen.

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Vergleichende Gedankenspiele