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Maggie spinnt. Jetzt gerade wieder. Sie steht vor ihrem Herzchen-Spiegel, dreht und wendet sich, wackelt mit den Hüften, mit dem Po, reckt ein Bein in die Luft – ich fange schon langsam an zu gähnen –, da stöhnt sie plötzlich: »Ich bin ja soooo fett!«
»Ach, Maggie«, tröste ich und streichele sie wie ihren Hund Ungeheuer. »Halb so schlimm.«
Doch auch das scheint sie nicht sonderlich zu beruhigen, und als ich noch die Binsenwahrheit Kommt Zeit, kommt Rat hinzufüge, schraubt sich ihre Stimme zu einem schrillen Sopran empor und keift: »Das ist schlimm! Sehr schlimm sogar! Ich bin breiig und unförmig, ich bin ein ...«
»Ja? Ja?? Ja???« Wie eine Dirigentin wedele ich mit den Armen. Dabei weiß ich sowieso schon, was kommt. Entweder wird sie sich mit einem Panzer vergleichen, wahlweise mit einer Regentonne, einem Walross auf Freigang oder einem Gebäckstück, das eine Überdosis Hefe abgekriegt hat.
Aber ich habe mich geirrt, denn Maggie kreischt jetzt, sie würde wie ein Sofakissen aussehen, ein altes, unförmiges Sofakissen. Ich erspare es mir, diesen Unsinn zu kommentieren.
»Hedi, du sagst ja gar nichts.« Maggie runzelt verwundert die Stirn. Normalerweise protestiere ich nämlich sofort, wenn sie mal wieder einen ihrer Schwabbel-und-Gewabbel-fünf-Minuten-Anfälle kriegt, und erkläre ihr, dass sie auch mit ihren Rundungen wunderschön aussieht – was auch der Wahrheit entspricht. Maggie hat welliges, blondes Haar (nicht eine gespaltene Haarspitze!), Augen so blau wie die Schutzhülle meines Schulheftes, mausespecksüße Grübchen und rote Apfelbäckchen. Sämtliche Omas und Tanten stürzen sich wie Furien auf sie, um sie abzuknuddeln, und wenn die Natur nicht schon das Kindchenschema erfunden hätte, könnte man Maggie glatt als Prototypen anmelden. Abgesehen von ihrem Riesenbusen vielleicht. Als eine der wenigen in unserer Klasse trägt sie schon seit rund einem Jahr einen BH in Größe 80 A.
»Komm jetzt endlich!«, treibe ich sie zur Eile an, während ich meine braunen Haare nach hinten nehme und mit einem Kirschen-Gummi zusammenbinde.
Es ist Samstag, keine Schule (juchhu!), und jede von uns hat 20 druckfrische Euro in der Tasche, um sie in irgendeinem Geschäft zu verjubeln. Doch Maggie tritt vor ihre Pinnwand, an die sie massenhaft Fotos von irgendwelchen Fußballspielern, bunte Ketten, Postkarten und ihren Stundenplan geheftet hat, und betrachtet sie wie den heiligen Gral. Dann murmelt sie: »Nicht, bevor du mir die Wahrheit gesagt hast.«
»Welche Wahrheit willst du denn hören?« Langsam werde ich ungeduldig, um nicht zu sagen sauer.
»Sag schon: Sehe ich aus wie ein unförmiges Sofakissen? «
»Maggie! Du nervst mit deinem Ich-bin-ja-so-dick-Wahn! «
»Ich? Ich nerve?« Sie ächzt ein paar Mal, dann macht sie ein paar ungelenke Schritte rückwärts und lässt sich auf ihr Bett mit der himmelblauen Tagesdecke fallen, das Gesicht zu einer Grimasse wie kurz vorm Heulanfall verzogen. Zwei Sekunden später plärrt sie tatsächlich los.
Das kann ja heiter werden, denn wenn bei Maggie erst einmal die Tränen laufen, besteht die Gefahr, dass sie sich so richtig einheult. Ihr Geflenne kann bis zu einer Stunde andauern und endet jedes Mal mit verschmierter Wimperntusche, die am Ende erst wieder ellenlang abgewischt und neu aufgetragen werden muss, bevor man endlich die Wohnung verlassen kann.
Damit dieser Fall gar nicht erst eintritt, gehe ich vor dem Bett auf die Knie und verklickere Maggie, was ich ihr schon tausendmal verklickert habe, nämlich, dass sie nicht mal ansatzweise wie ein unförmiges Sofakissen aussieht, sondern vielmehr wie ein liebreizender Weihnachtsengel.
»Aber ich bin total schwabbelig!«, heult Maggie schon wieder wie eine Sirene.
Dann iss weniger oder treibe regelmäßig Sport, will ich fast schon loswettern, doch in allerletzter Sekunde reiße ich mich am Riemen und erkläre sanft, dass die meisten Jungs sowieso auf kurvige Mädchen stehen würden und nicht auf Hungerhaken wie mich.
»Eben – auf kurvige Mädchen! Aber nicht auf fette!«
Ich gebe es auf. An manchen Tagen würde ich Maggie am liebsten bei einem gemeinnützigen Verein für supernervige Freundinnen abgeben – aber das spreche ich besser nicht laut aus.
Mit einem Ruck zerre ich sie von ihrem Bett hoch und schiebe sie wie einen sperrigen Gegenstand aus ihrem Zimmer. Bloß schnell raus hier. Ich will nicht, dass der Samstag mit mieser Stimmung verstreicht.
Draußen ist es kühl und nass. Schwerfällige Wolken à la Maggie wabern über den Himmel und ich muss automatisch grinsen. Natürlich will Maggie sofort wissen, was los ist.
»Gar nichts.«
»Du lügst.« Maggie zwickt mich ganz gemein. »Wenn du so blöd grinst, ist immer irgendwas los!«
»Ich freue mich nur«, weiche ich aus. »Wegen der 20 Euro, die ich gleich verprassen werde.« Dass ich mir in Wahrheit vorgestellt habe, Maggie könnte sich ebenso gut mit einer Wolke XXL vergleichen, muss ich ihr nicht unbedingt auf die Nase binden.
Maggie will sich ein Buch und ein T-Shirt kaufen, ich eine sommerliche Hüfthose. Auch wenn ich genauso skelettdünn wie im letzten Jahr bin, scheine ich ziemlich gewachsen zu sein, zumindest lugen bei meiner Lieblingssommerhose aus dem letzten Jahr die Knöchel hervor.
Als Erstes steuern wir die Buchhandlung an, die auf dem Weg zur S-Bahn liegt. Maggie fackelt nicht lange, nimmt mal hier, mal dort ein Buch aus dem Regal, dann lässt sie sich in die gemütlichen Sitzpolster sinken und will gar nicht mehr aufhören zu schmökern. Ich lese mich derweil in einem Buch fest, das von einer Austauschschülerin namens Elda in Frankreich handelt. Schulprobleme, Zoff mit der Clique, Liebe ... das muss ich einfach haben. Kurz entschlossen stelle mich an der Kasse an. 7 Euro 90.
Dass damit schon mehr als ein Drittel meines momentanen Vermögens futsch sind und ich für den Rest ganz sicher keine passable Hose finden werde, geht mir erst so richtig auf, als Maggie nach einer Weile ohne Einkaufstüte am Handgelenk hinterhergetrödelt kommt. Das ist wieder mal typisch. Maggie hält ihre Kröten hübsch zusammen und kauft sich gar nichts, doch ich muss ihr dann als beste Freundin hoch und heilig versprechen ihr das Buch später auszuleihen.
Wir fahren ein paar Stationen mit der S-Bahn. Inzwischen hat sich die Sonne durch die Wolken geboxt und lässt die oberen Stockwerke der frisch gestrichenen Plattenbauten, an denen wir vorbeiflitzen, schneeweiß aufleuchten. Wie Schneegipfel. Nur dass wir uns hier mitten in Berlin befinden. Wo es natürlich keine Berge gibt.
Auf dem Weg zum Einkaufszentrum kommen wir an einer Bude mit Schmalzgebäck vorbei. Der Bretterverschlag sieht trostlos aus und es riecht nach altem Fett, doch als hätte Maggie nicht gerade noch lang und breit über ihre Figur gejammert, zückt sie ein Zwei-Euro-Stück, reckt sich auf die Zehenspitzen und ordert eine mittelgroße Portion. Maggie gehört zur Gattung der Pudding-Vegetarier. Was bedeutet, dass sie am liebsten alles maßlos in sich hineinstopft, was süß und fettig ist, und Salat und Möhren ebenso verschmäht wie bluttriefende Steaks und aus Innereien zusammengepanschte Würste.
Ich erspare es mir, meinen Senf dazuzugeben. Und ich sage auch nichts, als sie mampfend, schmatzend und auf einmal wieder bestens gelaunt neben mir herspaziert. Vielleicht hat sie ja irgendeine Gedächtniskrankheit und alles vergessen, was sich vor einer guten Stunde vor ihrem Herzchenspiegel abgespielt hat. Was durchaus möglich wäre. Ihre Großmutter ist manchmal auch ein bisschen tüdelig.
Den Kantstein rauf- und runterhopsend fragt Maggie: »Haben Schmalzkringel eigentlich viele Kalorien?«
Ich verdrehe bloß die Augen. Maggie weiß genau, dass sie gerade die totalen Hammerkalorienbomben in sich hineinstopft und sie sich das Gebäck, anstatt es zu essen, ebenso gut an ihre Hüften und ihren Po kleben könnte, das hätte in etwa den gleichen Effekt.
»Nun sag schon!«
»Willst du mich veräppeln?«
»Nein!« Maggies Augen verdunkeln sich und nehmen fast die Farbe eines gefährlichen Ozeans an. »Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn du nicht antwortest!«
»Okay, eine Portion Schmalzkringel hat schätzungsweise 1864 Kalorien. Zufrieden?«
Maggie leckt sich den Zucker von den Lippen und kreischt: »Du bist gemein! Das ist doch gar nicht wahr!«
»Nun komm mal wieder runter.« Obwohl ich mit meiner Geduld am Ende bin, lege ich Maggie den Arm um die Schulter. Sie kann nerven, sie kann sogar so sehr nerven, dass man innerliche Tobsuchtsanfälle kriegt, die im Totalkollaps sämtlicher Gehirn-Synapsen enden, dennoch ist und bleibt sie meine beste Freundin. Was bedeutet, dass man manchmal einfach großzügig sein und beide Augen zudrücken muss.
Aber sosehr ich auch drücke und kniepe, heute ist bei Maggie und mir der Wurm drin. Ich bin stinkig, weil ich – wie schon geahnt – keine Hose für 13 Euro finde und auf ein bauchfreies Tanktop zurückgreifen muss, das Maggie als meganuttig bezeichnet. Maggie ist stinkig, als sie sich im Gegenzug in die Hüfthose für 19,90 quetscht, auf die ich eigentlich scharf war, in der sie jedoch wie eine Wurst in der Pelle aussieht und damit tatsächlich die Bezeichnung meganuttig verdient.
»Sag mal, die geht doch, oder?«, fragt sie und führt wie vorhin bei sich zu Hause einen Balztanz vor dem Spiegel auf. Nur mit dem Unterschied, dass wir aneinandergequetscht in einer winzigen Umkleidekabine stehen und sie mich mit ihrem Gehampel ständig anrempelt. Ist sie eigentlich total blind? Andernfalls müsste sie doch sehen, dass eine Speckrolle XXL über den Hosenband quillt.
»Klar, falls du auch als Meganutte gehen willst, ist das geradezu perfekt«, sage ich todernst.
»Was soll das jetzt heißen?« Maggies sonst so üppiger Knutschmund verzieht sich zu einem Strich.
»Maggie, die Hose ist mindestens zwei Nummern zu klein! Außerdem hast du mich zuerst als Meganutte bezeichnet. «
»Okay, dann nehme ich das eben zurück.«
»Was trotzdem nichts daran ändert, dass dir diese Hose nun mal nicht passt.«
»Das sagst du nur, damit du mir so ein Omateil von Schlabberhose andrehen kannst!« Sie holt tief Luft. »Und dann als Beauty-Queen umso schöner neben mir erstrahlst! «
Einen Moment lang bin ich baff. Wie kann Maggie nur so etwas behaupten? »Das stimmt nicht«, entgegne ich, »und das weißt du auch.«
Maggie hat Mühe, sich wieder aus der Hose, Modell Wurstpelle, zu schälen. Als sie es endlich geschafft hat, steht sie da und mustert ihre Schenkel im Spiegel. Sie sind nicht gerade dünn, das ist schon richtig, aber auch nicht richtig schwabbelig. Wenn überhaupt, dann knuffig oder ein bisschen babyspeckig, was jedoch zu ihr passt.
»Weißt du, was ich manchmal denke?«, fährt sie jetzt ruhig fort und stülpt die schöne Hüfthose über den Garderobenhaken, als wäre sie ein alter, stinkiger Putzlappen. »Dass du mich in Wirklichkeit doch fett findest. Und dem lieben Gott täglich dreimal dankst, weil du nicht als ekliges Fettgeschwader durch die Gegend laufen musst!«
Jetzt bin ich noch baffer als baff. Meine beste Freundin unterstellt mir, dass ich sie belüge. Das ist gemein. Richtig gemein!
»Stimmt doch, oder?« Maggie mustert mich unsicher, während sie wieder in ihre Stretchjeans schlüpft.
»Nein, du bist nicht fett, aber eine selten dämliche Kuh!« Ich bin jetzt wirklich kurz vorm Explodieren. »Denk mal drüber nach!«
Damit schnappe ich mir meine Stoffumhängetasche und zische ab wie ein geölter Blitz.
2
Zu Hause muss ich meinen Puls von einer Million plus irgendwas erst mal wieder auf ein normales Level runterschrauben, was am besten in der Badewanne geht.
Gerade als ich das Wasser einlaufen lassen will, öffnet sich die Tür zu Paps’ Arbeitszimmer und er huscht auf seinen Filzpantoffeln zu mir ins Bad. »Hedi, wie sagst du, wenn du mit deinen Freundinnen eine Cola trinken gehst?«
»Cola trinken gehen«, lautet meine schlichte Antwort.
Paps ist Drehbuchautor und schreibt Dialoge für Soaps und Telenovelas, und da es in diesen Fernsehserien nur so von Jugendlichen wimmelt, die megajugendlich sprechen, kommt er alle naselang mit nervigen Fragen an. Sagst du eher krass oder megakrass und ist das Wort fett schon wieder aus der Mode, und wie umschreibt man das am besten, wenn einem etwas tierisch auf den Keks geht? Meine feste Überzeugung ist es ja, dass Paps ohne meine Mithilfe völlig aufgeschmissen wäre und schon längst keine Drehbuchaufträge mehr an Land ziehen würde. Wie oft habe ich beim Anschauen seiner verfilmten Bücher das Gefühl, ich hätte große Teile der Szenen geschrieben ... Von seinem Honorar kriege ich natürlich trotzdem nichts ab – abgesehen von dem bisschen Taschengeld.
Paps fährt sich nervös über seine Glatze. »Oder anders ... Wenn ihr um die Häuser zieht, einen trinken geht ... Wie sagt ihr dazu?«
»Paps! Bin ich jemals um die Häuser gezogen? Hab ich jemals Alkohol getrunken? Ich bin zwölf!«
»Ach so, ja, stimmt«, sagt er zerstreut, als wären ihm gerade eben die Eckdaten zu meiner Person wieder eingefallen. »Ausgehen ... Wie findest du ausgehen? Ist das gebräuchlich? «
»Ausgehen klingt gut. Das sagen manche an unserer Schule auch.«
»Dank dir, Hedi-Maus. Sonst alles klar?«
»Ja, alles klar«, murmele ich. Es wäre mir viel zu anstrengend, Paps von meinem Stress mit Maggie zu erzählen. Ganz abgesehen davon, dass er beim Schreiben sowieso immer wie ein Fernseher auf Stand-by wirkt – geistesabwesend, um nicht zu sagen leicht daneben.
»Deine Mutter kommt gegen halb acht«, fährt er jetzt halbwegs normal fort. »Lust auf Spaghetti? Ich könnte eine schöne Carbonara machen.«
»Klingt super.« Damit scheuche ich Paps aus dem Badezimmer und ziehe die Tür hinter mir zu. Ich liebe unser Bad mit den gelb-lila geblümten Kacheln, der alten Wanne, die auf vier Beinen steht, und dem pipigelben PVC-Bodenbelag. Auch wenn das die Leute, die zu uns zu Besuch kommen, anders sehen, sprich regelmäßig Würganfälle kriegen.
Das merkwürdige Bad ist allerdings nur ein Beispiel dafür, dass die Uhren in unserer Familie etwas anders ticken als bei Maggie oder meinen Klassenkameradinnen: Meine Mutter hat eine Vollzeitstelle als Garderobiere bei der Filmproduktionsfirma, für die mein Vater hin und wieder Drehbücher schreibt. Heißt, meine Mutter steht früh auf, um zur Arbeit zu fahren, während mein Vater bis in die Puppen schläft und sich erst am späten Vormittag mit einer Kanne Tee an den Schreibtisch setzt. Meine Mutter arbeitet oft am Wochenende, mein Vater abends, und was die Rollenverteilung angeht, ist Mummie eher der Mann und Paps die Frau. Zumindest steht meine Mutter mehr darauf, Regale zusammenzuschrauben und Fahrradreifen zu reparieren, als sich wie mein Vater am Herd auszutoben.
Gerade als ich wohlig schnurrend ins Schaumbad eintauche, fällt mir dummerweise wieder der Zoff mit Maggie ein. Hoffentlich ist es jetzt nicht aus zwischen uns. Dafür hab ich Maggie nämlich viel zu gerne. Falls sie nicht gerade so drauf ist wie heute, kann man mit ihr lachen, quatschen, richtig Spaß haben. Aber nicht nur das. Bei Kummer hört sie mir endlos lange zu und tröstet mich, außerdem hat sie ein so großes Herz, dass neben Menschen und süßen Tieren selbst noch Ratten, Kakerlaken und Stechmücken Platz haben. Nie könnte sie irgendeinem Lebewesen etwas zu Leide zu.
Ihre einzige schlechte Eigenschaft – das muss jetzt auch mal gesagt werden – ist Neid. Maggie ist auf Leute neidisch, die besser in der Schule sind als sie, auf Sportskanonen und Musik-Asse, leider auch auf Mädchen mit Skelettfiguren wie mich. Wieso um Himmels willen begreift sie nicht, dass ich auch nicht gerade glücklich bin mit meinem Aussehen? Dabei ist das Elend doch auf den ersten Blick auszumachen: Meine Schlüsselbeine, Rippen und Hüftknochen stehen auf geradezu gruselige Weise hervor, und dort, wo langsam mal Brüste wachsen sollten, sind allenfalls zwei kleine Knubbel zu erkennen. Mummie meint zwar, ihr Busen habe auch erst mit 13 angefangen Form anzunehmen, allerdings ist das  bloß ein schwacher Trost. Das letzte Mal, als ich sie im Badeanzug gesehen habe (also vor gut einem Monat im Hallenbad), hatte sie jedenfalls nicht gerade etwas vorzuweisen, das man als Busen bezeichnen könnte, allerhöchstens als mittelgroße Knubbel. Und da Mummie Mitte 40 ist, wird sich in diesem Punkt wohl auch nichts mehr ändern. Zumindest sagt mir das mein messerscharfer Verstand.
Es klopft an die Badezimmertür und Paps ruft: »Maggie ist dran! Soll ich ihr sagen, dass du gleich zurückrufst?«
»Frag sie, was sie will.« Schlagartig ist mein Puls wieder auf eine Million und irgendwas.
Eine Weile dringt nur undeutliches Gemurmel durch die Tür, dann ertönt erneut Paps’ Bass: »Sie möchte sich bei dir entschuldigen!«
Ein wohlig-warmes Gefühl durchflutet mich. Ich schüttele mich kurz, wobei Wasser über den Badewannenrand spritzt, dann rufe ich: »Entschuldigung angenommen! Sag Maggie das! Und dass ich sie nach dem Abendessen anrufe!«
Erleichtert tauche ich mit dem Kopf unter und lasse mich vom warmen Wasser umschmeicheln. Gut, dass Maggie den ersten Schritt gemacht hat. Ich hätte es nicht ertragen, dauerhaft mit ihr im Clinch zu liegen. Und alles nur wegen ein paar läppischer Kilos.
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»Mummie, was ist das denn??!!«
Gerade ist meine Mutter in die Wohnung gekommen und pfeffert einen blauen Müllsack unter die Garderobe. Doch statt mir zu antworten, fragt sie bloß, was es zu essen gäbe, das Kantinenessen hätte sie heute wegen eines sichtbaren Gruselfaktors auslassen müssen.
»Spaghetti Carbonara!«, meldet sich Paps aus der Küche.
»Sind das Klamotten?«, lasse ich nicht locker. Manchmal bringt Mummie Kleider der Seriendarsteller zum Ausbessern mit nach Hause, und falls sie besonders generös ist (was allerdings nur alle zehn Jahre vorkommt), darf ich dann auch das eine oder andere Teil anprobieren.
»Das ist bloß Lillys Fatsuit.« Mit wenigen Handgriffen bringt Mummie ihre rötlich getönten Haare vorm Flurspiegel in Form. »Der gibt langsam seinen Geist auf. Hier ein Löchlein, da eine morsche Naht, und an einigen Stellen quillt sogar schon das Granulat raus.«
Lilly ist die Hauptdarstellerin in der Serie Schlagende Herzen, bei der Mummie die Schauspieler ankleidet (und für die Paps bisweilen Drehbücher schreibt). Die Aschenputtelgeschichte ist seit gut einem Monat auf Sendung und hat bei den Zuschauern wie eine Bombe eingeschlagen: Hauptfigur ist eine unförmige junge Frau namens Lilly, die sich als Assistentin bei einem schmierigen Popstar abrackert, und es dauert sage und schreibe 220 Folgen, bis der schmierige Popstar begreift, dass die unförmige Lilly die Richtige für ihn ist. Da Rieke Reinsdorf, die die Lilly spielt, in Wirklichkeit auch bloß ein skelettdünnes Mädchen ist, muss sie Tag für Tag einen mit Schaumstoff und Kunststoffgranulat gefüllten Fettanzug unter ihren Klamotten tragen, der sie von Kleidergröße 34 auf 40/42 pusht. Gegen Ende der Serie wird Lilly laut Drehbuch ein paar Kilo abnehmen (wahrscheinlich, weil das Rumgeknutsche mit ihrem Popstar so viele Kalorien verbraucht), doch erst in der allerletzten Folge tritt die Schauspielerin ohne Fatsuit, also klapperdürr, vor die Kamera, was den schmierigen Popstar dermaßen anmacht, dass er sie auf der Stelle heiraten will.
»Darf ich mal sehen?« Ohne Mummies Antwort abzuwarten, zerre ich das wabbelige Etwas aus der Tüte.
»Wenn es dich glücklich macht.« Mummie zwinkert mir zu, dann verschwindet sie im Bad, um sich frisch zu machen.
Der Fatsuit ist eine Art bis zum Oberbauch reichende, knielange Hose in schmadderbeige, prall gefüllt mit einem watteähnlichen Material. Als ich ihn betaste und knete, laufen mir prompt kleine gruselige Schauer über den Rücken. Nicht nur dass das Ding an das welke Fleisch einer Wasserleiche erinnert, es riecht alles andere als veilchenfrisch und fühlt sich wie ein lebloser Puppenkörper an. Dennoch gäbe ich einiges drum, einmal hineinzuschlüpfen. Wie ich wohl dicker aussehe? Und wie es sich anfühlen mag, à la Maggie durchs Leben zu spazieren? Aber bestimmt wird Mummie es nicht erlauben. Wegen der Hygienevorschriften.
»Diese Möchtegerndiva!«, schimpft sie, als wir wenig später beim Essen sitzen. Aus dem Radio dudelt leise Klassikmusik, die Fenster stehen offen und lassen die milde Abendluft herein.
»Wer? Ich?«, frage ich.
»Unsinn, du doch nicht!« Mummie reicht mir den Parmesan. »Rieke Reinsdorf. Wahrscheinlich hatte Marlene Dietrich weniger Starallüren als unsere kleine Ex-Kellnerin!«
Bevor Rieke Reinsdorf fürs Fernsehen entdeckt wurde, hat sie Kaffee und Kuchen in einem Café am Ku’damm serviert. Kein ordentlicher Schulabschluss, keine Ausbildung, nichts.
»Die Frau ist ein einziger Albtraum!«, fährt Mummie fort. »Sie hat unsere Disponentin laut schreiend zusammengestaucht, weil angeblich abgesprochen war, dass sie Mittwochnachmittag frei hat.«
»Das ist alles?«, fragt Paps völlig verständnislos.
»Natürlich nicht!« Mummie hält ihm auffordernd ihr leeres Weinglas hin, woraufhin Paps sofort zwei Fingerbreit nachschenkt. »Benjamin hat ihrer Ansicht nach Mundgeruch, so was kann sie nun wirklich nicht küssen, die Drehbücher sind unter ihrem Niveau, genau genommen müsste sie jedes einzelne eigentlich komplett umschreiben ...«, Seitenblick in Richtung Paps, »und dann hat ihre Maskenbildnerin es noch gewagt, ein falsches Make-up-Schwämmchen zu benutzen. Nur deswegen hat sie diesen eitrigen Pickel am Kinn bekommen.«
Paps Lache heult wie ein Motor auf.
»Wie hält man es bloß aus, mit solchen Leuten zusammenzuarbeiten? «, will ich wissen und nehme mir einen Nachschlag. An Mummies Stelle würde ich sofort zur Kassiererin im Supermarkt umschulen. Dort laufen ihr wahrscheinlich weniger Durchgeknallte über den Weg.
»Ach, Hedi ...« Mummie seufzt leise und dreht ihre Spaghetti so lange um sich selbst, bis sie ihr wieder von der Gabel flutschen. »Riekes Karriere wird schneller vorbei sein, als sie im Moment ahnt, und dann verschwindet ihr Divaverhalten ganz von selbst.«
Meine Mutter ist ohnehin der Meinung, dass man den Beruf der Schauspielerin nur dann ergreifen sollte, wenn man scharf darauf ist, auf Dauer arbeitslos zu sein. Das mag fies klingen, entspricht aber der Wahrheit. Ein paar Monate werden die sogenannten Stars und Sternchen von der Welle ihres Erfolgs getragen (so Mummie), doch kaum haben sie sich an ihren Ruhm gewöhnt und suhlen sich darin wie Schweinchen im Dreck, sind sie auch schon wieder von der Bildfläche verschwunden, weil neue Stars und Sternchen längst geifernd in den Startlöchern stehen. Ziemlich schrecklich. Also verkneift man es sich doch besser gleich, bei einer Schauspielschule vorzusprechen.
Als Mummie mit ihrem Gejammer aufhört, kommt Paps an die Reihe. So läuft das immer bei uns und am Ende sind beide so ausgelaugt, dass für meine Probleme kaum noch Platz ist. Paps beklagt sich heute darüber, dass ihm das Drehbuch zäh wie Kleister aus der Feder fließt. Das kann ich nur allzu gut verstehen. Wenn ich einen Schulaufsatz schreiben soll, fließt nicht mal Kleister. Allerhöchstens plumpst hin und wieder ein unförmiger Gedankenbrocken aufs Papier, der dann, wenn ich etwas länger darüber nachgrübele, doch zu nichts zu gebrauchen ist.
»Und bei dir alles klar, Hedi?«, erkundigt sich meine Mutter beim Nachtisch, der aus sandigen Erdbeeren direkt aus der Pappschale besteht. Sie fragt wohl nur pro forma, denn bloß einen Atemzug später informiert sie Paps darüber, dass sie morgen unbedingt Oma Hildegard besuchen und nachsehen müssten, wie es ihrem Fuß geht. Oma Hildegard hat die unschöne Angewohnheit, sich im zehnwöchigen Rhythmus mal den einen, mal den anderen Fuß zu verknacksen und dann auf jugendlich getrimmt in rosa Turnschuhen durch die Gegend zu humpeln.
Paps sieht alles andere als begeistert aus. »Ich muss mindestens fünf Drehbuchszenen schaffen!«, ruft er aus, als wäre das ebenso schwer wie die Erklimmung des Himalaja. Komisch. Er hat doch mich, seine persönliche Schreibsklavin. »Aber wenn Hedi mitkommt, bin ich auch mit von der Partie.«
»Was hat Hedi damit zu tun?«
»Eben!«, hake ich sofort ein. »Ich bin schon verplant.«
»Ach ja?« Mummie sieht mich forschend an.
»Ja, Maggie und ich ...« Der Sand der Erdbeeren knirscht zwischen meinen Zähnen. »Wir wollten vielleicht ...«
»Alles wieder in Butter zwischen euch?«, fragt Paps dazwischen. Seine Stirn ist gekraust wie die einer Bulldogge.
»Wieso, was war? Habt ihr euch gestritten?«, will Mummie prompt wissen, doch ich erkläre nur vage, dass wir uns wieder vertragen hätten, was ja schließlich das Wichtigste sei. Ende der Durchsage. Ich habe keine Lust, die Geschichte mit den Schmalzkringeln und den gemeinen Unterstellungen noch einmal aufzurollen.
Später rufe ich Maggie an und bin froh, dass ihre Stimme wieder ganz normal klingt. Bestimmt ist sie ebenfalls happy, dass ich genauso nett wie immer bin und ihr keine Vorhaltungen mehr mache.
»Was ist mit morgen Nachmittag?«, frage ich, als Maggie das Telefonat schon beenden will. Wenn ich ehrlich bin, stehe ich nicht besonders darauf, mir den lila verfärbten Knöchel meiner Großmutter anzugucken.
»Wieso, morgen ist doch schon gebongt«, tiriliert Maggie wie ein Vögelchen. Als hätten wir uns nicht mal ansatzweise in die Haare gekriegt. Als hätte es niemals Schmalzkringel und meganuttige Hosen gegeben. »Es sei denn, es stört dich, dass mein Cousin Pascal auch dabei sein wird. Du weißt schon, Mr Schnecke aus der Schweiz. Seine Mutter hat am Montag zwei Vorstellungsgespräche als Ergotherapeutin, irgendwo in Tegel.«
Ich wäre zwar lieber mit Maggie allein gewesen, aber ihr Cousin kratzt mich nicht weiter. Sie hat mir ihre Schweizer Verwandtschaft mal auf Fotos gezeigt und da sah Pascal zumindest nicht wie ein Ungeheuer aus. Eher ganz normal.