AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.

§

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.

§

Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.

§

Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.

§

Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.

UBIQUE TERRARUM

(ÜBERALL IN DER WELT)

LIMITED COMPANY

GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG

WWW.UBIQUE-TERRARUM.NET

EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART

EHRENPRÄSIDENT

LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.I.E.

GENERALDIREKTOR

ARTHUR MILLER

CHEFEXPEDITIONSLEITER

STEPHAN SLANTON, V.C.

EXPEDITIONSFORSCHE R

DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST

EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR EN MÉDECINE

GASTON DE MONTFORT

COMTE DE DARIFANT-CROY

EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS

UND IHRE MANNSCHAFT

PATRICK CROMBY aus Irland

CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich

TSCHANDRU-SINGH aus Indien

HERBERT KRANZ

DAS HAUS DER SIEBEN TÜRME

ABENTEUER IM LIBANON

Eigenverlag Georg Kranz
Born / Darß

Books on Demand

Weitere Informationen

über HERBERT KRANZ und

die UBIQUE-TERRARUM-SERIE

finden Sie im Internet unter

www.herbert-kranz.de

www.ubique-terrarum.de

ISBN: 978-3-8482-8870-0

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten

©2010 Kranz

Herausgeber:

Georg Kranz, Born/Darß

Einband:

Willy Kretzer

Überarbeitung der Wort- und Sacherklärungen:

Georg Kranz, Born/Darß

Satz und Layout:

voigt&kranz UG, Ostseebad Prerow

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

INHALT

Unerwünschte Gäste

Von Angesicht zu Angesicht

Schritt für Schritt

Wenn es siebenmal klopft

Der Mann mit den zwei Gesichtern

Sie kommen nicht weiter

Der Schlüssel zum Tor

Hilferuf

Kampf dem Gift

Auf dem Grunde des Turms

Rettung

Abreisen oder bleiben?

Ein neues Gesicht

Eine verdächtige Wendung

Auf der Suche

Kriegsrat

Die Nacht der Geschichten

Der Überfall

Zweikampf

Ein Stück Brot

Was wird mit Marûn

Die goldene Brücke

Kamelhengst Iskander

Kein Zutritt für GG

Große Pläne

Einbildung oder Wirklichkeit?

Abwehr

Sie kommen

Sie sind da

Turban und Pluderhose

Ghamin

Wer ist Sieger?

Das Ende

Ein Anfang

Marûns Geheimnis

Gesetz und Gewissen

Yehudit schreit auf

Neunauge klagt sich an

Wort- und Sacherklärungen

Unerwünschte Gäste

Es war sehr merkwürdig. Sie standen vor dem mächtigen Tor, aber es öffnete sich nicht, und auf ihr Klopfen und Rufen rührte sich nichts.

Über ihnen spannte sich der tiefblaue Himmel des Morgenlandes, fern am Horizont lag die nackte, zerrissene Messerschneide des Libanongebirges, aus dessen weißen Schneefeldern der Zedernwald von Bscherre wie eine schwarze Insel hervortrat, hinter ihnen sanken die Berghänge mit ihren blaugrünen Bananenfeldern, dem hellen Grün der Zitronenbäume und dem noch lichteren Grün der Weizen- und Gerstenäcker sanft zum Palmenstrand des Mittelmeeres hinab – jedoch von den drei Männern hatte keiner einen Blick für die Herrlichkeit des Landes. Sie sahen nur auf die zwanzig Meter hohen Türme, zwischen denen das verschlossene Tor lag, auf die halb so hohen Mauern mit ihren Zinnen und schmalen Schlitzen und immer wieder auf das Tor, das sich ihnen nicht öffnen wollte. Das war aber mehr als nur merkwürdig. Es war unheimlich.

Hinter diesen abweisenden, stummen Steinen musste der Mann hausen, der in der Angst um sein Leben in London um Hilfe gebeten hatte, Marûn el Maschumar Effendi. Waren sie etwa zu spät gekommen? War dem Bedrohten schon nicht mehr zu helfen?

„Wenn man überlegt”, sagte der Franzose, „was die Steine dieser alten Kreuzritterburg im Lauf der Jahrhunderte an Blut und Mord mitangesehen haben, so könnte man sich beinahe denken, ein so belasteter Bau müsste in seinen Mauern gräuliche Untaten geradezu hervorrufen.”

„Da ist noch Leben”, sagte der Deutsche, der weiter zurückgegangen war, um von einem Hügel aus die ganze Anlage dieses Mauerringes mit seinen sieben gewaltigen Türmen besser überschauen zu können. „Ich habe dünnen blauen Rauch gesehen.”

Der Engländer sagte nichts. Er griff wieder den schweren eisernen Türklopfer, der sich in der Form einer zur Faust geballten Hand am Tor befand, und schlug ihn mit ganzer Kraft gegen die Metallplatte, auf die er zu klopfen hatte. Bängbängbäng – bängbängbäng – und noch einmal: bäng – sieben Schläge, das sollte genügen! Das musste der Mann da hinter den Mauern doch gehört haben! Aber nichts bewegte sich. Nichts zeigte sich. Nichts war zu vernehmen. Um sie war nur die Stille des hohen Mittags. Aus seiner Wärme wehte sie ein würziger Hauch an. Er duftete nach Myrte, Thymian, Salbei und Lavendel.

„Duft vom Berge Libanon”, sagte der Franzose entzückt. Im selben Augenblick rief eine Stimme scharf und drohend auf englisch: „Was wollen Sie hier?”

Die Köpfe der drei hoben sich überrascht in die Höhe, denn von oben war der Ruf gekommen. Sie sahen, dass sich im Turm zur linken Seite des Tors von den drei nebeneinander liegenden Luken eine geöffnet hatte, ohne dass sie es bemerkt hatten. Es war die mittlere, und während die andern beiden mit Läden verschlossen waren, die an der Außenmauer saßen, musste diese dritte von innen durch ein Schiebebrett lautlos geöffnet werden können. Sie sahen in der Mauerluke ein hageres Gesicht mit einem auffallend starken grauen Schnurrbart und vollem grauem Haar. Der Deutsche hatte das bedrückende Gefühl, dieser Mann da oben hätte sie schon von Anfang an beobachtet.

„Gehen Sie weiter!”, rief er unwirsch. „Die Burg ist für Fremde nicht zu besichtigen! Und die große Zeder auch nicht!”

„Wir sind keine Touristen!”, rief der Deutsche zurück. „Wir möchten Herrn Marûn el Maschumar sprechen!”

„Marûn Effendi ist nicht da!”, war die rasche und heftige Antwort. „Er ist verreist. Er ist nach Beirut. Oder nach Saida. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Niemand weiß auch, wann er zurückkehrt.”

„Offenbar kommen wir dem Schnurrbart da oben äußerst ungelegen”, sagte der Franzose.

Jetzt aber griff der Engländer energisch ein. „Hallo, Mann!”, rief er hinauf, „hören Sie genau zu!” Er schob den linken Ärmel seiner Jacke etwas zurück. Blick auf die Uhr: zwölf Uhr zehn. „Warte noch bis zwölf Uhr zwanzig. Wenn dann das Tor nicht aufgeschlossen ist, kommen wir mit der Polizei wieder. Haben den Wagen noch da. Sind in einer halben Stunde in Tripoli unten und in fünf Viertelstunden wieder hier oben. Haben Sie das verstanden?”

Der Mann beantwortete die Frage nicht, überlegte aber wohl, was er gehört hatte. „Was wollen Sie von Marûn Effendi?”

„Das können wir nur ihm selbst sagen!”, rief der Deutsche. „Wir kommen aus London.”

„Genaugenommen”, verbesserte der Franzose, „im Auftrag von London.”

„London ist groß”, erwiderte der Mann verschlagen.

„Aber doch nicht so groß, dass nicht ein Brief mit genauer Adresse richtig ankommt!”, rief der Deutsche zu ihm hinauf.

„So eine genaue Adresse könnte mich vielleicht interessieren”, kam es von oben herab.

„Was halten Sie von dieser hier: W. 14, 26 Edith Road?”

„Warten Sie!”, rief der Mann zurück und verschwand von der Luke.

„Ich bin sicher, das ist Marûn selbst”, sagte der Deutsche.

„Wer sollte hier sonst die Adresse von Ubique Terrarum kennen als der Briefschreiber?”

„Aha”, sagte der Graf, „jetzt bekommen wir den Schlüssel!” Der Mann ließ aus der Luke an einem Strick einen kleinen Korb hinunter, und als der Engländer, der Längste der drei, ihn erreichen konnte, griff er nach dem Schlüssel, jedoch vergeblich. Der Korb war leer.

„Was soll das?”, rief er ärgerlich.

„Legen Sie Ihre Pässe hinein!”, rief der andere. „Ehe ich die nicht gesehen habe, schließe ich nicht auf!”

Die drei sahen sich verblüfft an. „Ich hätte nicht gedacht”, sagte der Franzose, „dass die alte Turmeule da oben ihren Euripides so genau gelesen hat: ,Weises Misstrauen ist’s, was stets den größten Nutzen schafft den Sterblichen!’“

„Gar nicht übel“, knurrte der Engländer. „Will auf keine Schwindler hereinfallen. Weiß eben – gibt mehr Schwindler auf der Erde als ehrliche Leute.”

„Ich weiß nicht, Chef”, widersprach der Franzose, „ob darüber statistische Erhebungen vorliegen, aber selbst wenn das der Fall wäre und sie Ihrer Meinung einen Anschein von Richtigkeit gäben, so wäre ich davon noch keineswegs überzeugt. Eine Statistik sagt viel, aber das Eigentliche erfährt man durch sie niemals!”

Damit hatte er auch seinen Pass hervorgeholt, ebenso wie der Deutsche. Unwillkürlich sahen alle drei zu, wie der Korb nach oben gezogen wurde. Dann griff eine Hand aus der Öffnung und verschwand mit ihm.

„Tatsächlich”, sagte der Franzose, „er schiebt die Luke wieder zu. Offenbar nimmt er an, wir seien als Fassadenkletterer ausgebildet und zögen es daher vor, seine Burg nicht durch das Tor zu betreten, sondern durch das Loch in zwanzig Meter Höhe.”

„Der Mann muss ja von Misstrauen wie zerfressen sein”, sagte der Deutsche.

„Wird seine Erfahrungen mit den Menschen gemacht haben”, entschied der Engländer.

„Tut mir sehr leid, Chef”, antwortete der Franzose, „das genügt mir wieder nicht, sowenig wie Ihr Glaube an die Statistik. Wir haben auch unsere Erfahrungen mit unsern Zeitgenossen gemacht. Ich erinnere nur an Herrn Caruana-Bei oder an den Herrn der Wölfe oder an einen gewissen Mister Song. Sind wir deshalb angstkrank ? Ich rechne mich persönlich sogar zu den ausgemacht heiteren Naturen!”

„Sie sagen Angst, Graf”, meinte der Deutsche nachdenklich.

„Liegt der Grund zur Angst bei den anderen Menschen? Liegt er nicht immer in uns selbst?”

Aber der Mann, der ihnen so zu denken gab, setzte sie noch weiter in Erstaunen. Denn als er nach einer Weile wieder in der geöffneten Luke erschien, erklärte er rundheraus, er dächte nicht daran, sich in die Gewalt dreier Unbekannter zu begeben. Pässe hin, Pässe her – sie könnten gefälscht sein, für gutes Geld wäre ja alles zu haben, und schon näherten sich die kostbaren Dokumente in ihrem Behälter wieder dem Erdboden.

Je tiefer der Korb an dem langen Strick herabsank, desto höher stieg in dem Engländer der Zorn auf. Er rang nach Worten, um dem Obervorsichtigen möglichst bündig zu erklären, von nun an solle er sich gefälligst abgewöhnen, vom Libanon bis ans Ufer der Themse um Hilfe zu schreien. Der Franzose feilte in Gedanken an einer feinen Antwort, dass er lebhaft bedauere, den Herrn des Hauses der sieben Türme nicht kennenzulernen, doch sei er ihm dafür dankbar, dass er sie hier hergerufen habe, denn der Blick auf die Schneefläche des Libanon, den sie während der Fahrt von Tripoli her gehabt hätten, lohne eine so weite Reise durchaus. Doch ehe sie das krachende oder funken sprühende Feuerwerk ihrer Antworten abbrennen konnten, sprach der Deutsche – und was er jetzt vorbrachte, das war für die beiden anderen eine neue Überraschung.

„Effendi”, rief er zur Turmluke hinauf, „wir können Ihren Einwand durchaus verstehen und wissen Vorsicht zu schätzen. Wir machen Ihnen daher einen neuen Vorschlag: Sie empfangen nur einen von uns, und danach können Sie dann entscheiden, ob wir nicht Ihnen doch alle drei willkommen sind!”

Marûn Effendi lachte, aber es war ein bitteres Lachen. „Schlaue Füchse werden auch gefangen!”, rief er hinab.

„Wenn ich mein Tor für den einen aufschließe, dann fallt ihr alle drei über mich her!”

„Wenn Sie es wünschen, Effendi, so entfernen sich die anderen zwei, und wenn Sie das Tor öffnen, so sehen Sie sich nur einem einzigen Besucher gegenüber!”

„Und dieser eine setzt mir seine Pistole auf die Brust, und im Nu sind die andern beiden wieder da!”

„Wenn es Ihnen lieber ist, Effendi, dann betritt der eine Ihre Burg mit erhobenen Händen!”

„Aber das sage ich Ihnen”, rief der Mann verbittert zurück, „ich habe dabei meine Pistole in der Hand, und sie ist entsichert!”

„Warum auch nicht?”, fragte der Deutsche zurück. „Wir wissen ja, Sie haben allen Grund, äußerst vorsichtig zu sein!”

„Geschehe alles, wie Gott es will”, erklang es von oben, freilich nicht mehr auf englisch, sondern im einheimischen Arabisch, und die Luke schloss sich.

„Ich nehme an”, sagte der Franzose, „jetzt werden wir losen, wer sich hinter die Mauern zu diesem widerborstigen Effendi wagt.”

„Ausgeschlossen!”, lautete des Engländers energische Antwort. „GG ist dran. Hat sich das eingebrockt. Wäre mit dem Kerl Schlitten gefahren.”

„Herrschaften”, bemerkte der Franzose, als sie sich ihre Pässe wieder aus dem Korbe nahmen, „soviel wir nun schon zusammen erlebt haben: das ist uns doch noch nie passiert, dass uns einer zu Hilfe ruft und dann nichts von uns wissen will.”

„Ist vielleicht überhaupt verrückt.” Damit steckte der Engländer seinen Pass in die Tasche.

„Dann hätte er unsere Hilfe doppelt nötig”, sagte der Deutsche. „Und dann wären Sie für ihn genau der richtige Mann”, setzte der Franzose bestimmt hinzu. „Immer habe ich Ihr Wissen und Ihren Scharfsinn bewundert – jetzt aber sehe ich, dass Sie auch noch über die Geduld eines Irrenwärters verfügen. Ich räume ein, dass das den Umgang mit vielen unsrer Mitmenschen wesentlich erleichtert. Kommen Sie, Chef! Wir werden hier nicht weiter gewünscht!”

Von Angesicht zu Angesicht

An der Innenseite des Tores wurden zwei Riegel aufgeschoben; sie mussten groß und schwer sein, denn der Rückstoß krachte laut. Dann wurde ein Schlüssel zweimal herumgedreht. Das Schloss quietschte unangenehm. Darauf tat sich der eine Torflügel auf, aber nur ein wenig, und durch den Spalt spähte der Mann mit dem dichten grauen Schnurrbart angestrengt in den freien Raum vor der Mauer. Die Anspannung seines hageren Gesichts war so stark, dass sich seine Lippen fest aufeinanderpressten. Als er erkannte, dass draußen wirklich nur der eine Besucher stand, mit dem er zuletzt gesprochen hatte, öffnete er das Tor weiter, blieb aber unter dem Sturz stehen, in der rechten Hand eine Browning-Pistole, und zwar das schwere zehnschüssige Polizeimodell. Er hatte den Zeigefinger am Drücker.

Der Deutsche hielt gegen die Verabredung seine Hände nicht hoch, sondern streckte sie dem andern offen entgegen. „Sie sehen, Effendi”, sagte er, „ich komme ohne Waffe!”

„Sie haben Ihre Pistole in der Tasche!”, war die scharfe Antwort.

„Richtig!” Seine Hand fuhr in die rechte Hosentasche, der Burgbesitzer hob seine Pistole, aber mit unbeirrbarer Freundlichkeit hielt ihm der Besucher die eigene Pistole auf der offenen Hand hin. „Bitte, Effendi”, sagte er, „nehmen Sie! Es ist eine Smith & Wesson, ein neues kurzläufiges Modell für die Patrone S&W 357 Magnum. Sie übertrifft an Durchschlagskraft alle bisherigen Patronen.”

Der Mann im Torrahmen war so verblüfft, dass er die angebotene Waffe wortlos mit der Linken ergriff und einsteckte. Der unwillkommene Gast tat wieder einen Schritt auf ihn zu. Aber der Syrer wich zurück, mit rasch erhobener Pistole. „Sie haben noch eine in der Tasche!”, rief er.

„Mir ist schon die eine schwer genug”, antwortete der Deutsche freundlich. „Aber Ihre Vermutung ist an sich ganz richtig. Der Engländer zum Beispiel, der große Mann, den Sie gesehen haben, führt ständig zwei bei sich, was für manchen, der das nicht voraussah, schon unangenehm wurde.”

Damit schritt er gelassen weiter. Seine selbstverständliche, sachliche Art wirkte offenbar beruhigend. Es interessierte ihn natürlich sehr, wie es innerhalb der Mauern aussah. Aber er vermied es, sich umzusehen, um nicht den Anschein zu erwecken, als wolle er hier spionieren. „Wohin gehen wir?”, fragte er leichthin, als der andere das Tor wieder geschlossen und die beiden Riegel mit lautem Krachen zugeschoben hatte.

Der Effendi wies stumm auf die schmale Türöffnung im Turm links. Sein Gast betrat vor ihm das Innere des Turms, das nur durch schmale Schlitze in der dicken Mauer erhellt wurde, und er sah, dass sich hier eine Wendeltreppe mit recht ausgetretenen Stufen in die Höhe schraubte. „Vielleicht gehen Sie voran, Effendi”, sagte er und machte dem andern Platz.

Sofort aber war bei jenem das Misstrauen wieder wach. „Sie gehen zuerst”, antwortete er schroff.

„Wenn Ihnen das lieber ist”, erwiderte sein unerschütterlich ruhiger Besucher und schritt behutsam die abgewetzten Steinstufen hinauf, wobei er den andern mit der Pistole in der Hand und dem Finger am Drücker in seinem Rücken wusste. Dann aber saßen die beiden in dem Raum mit der von innen verschließbaren Luke einander friedlich gegenüber.

In die Mauer, die den Turm nach der Burg zu abschloss, war ein größeres Fenster gebrochen, das mit Glas versehen war und der Turmstube helles Licht gab, und so konnte jeder den andern gut betrachten. Doch der Besucher hielt sich nicht mit abwartenden Beobachtungen auf, sondern begann sofort zu sprechen, als wolle er dem andern keine Zeit lassen, wieder in misstrauisches Grübeln zu verfallen.

„Ich bin überzeugt”, sagte er, „Sie sind Marûn el Maschumar Effendi! Auf Grund Ihres Briefes nach London sind wir von Marokko sofort hergekommen. Ich bin wirklich Dr. Peter Geist; Sie haben meinen Namen im Pass gelesen. Ich habe Philosophie, Sprachen und Naturwissenschaften studiert und stehe als Expeditionsforscher im Dienst der Company Ubique Terrarum.” Dass seine Freunde ihm den Spitznamen „Großer Geist” gegeben hatten, erwähnte er nicht; sie gebrauchten übrigens diese anspruchsvolle Bezeichnung nur in der ernüchternden Abkürzung GG. „Der Chef der Unternehmung ist der Engländer Stephan Slanton, und uns begleitet der Arzt Gaston de Montfort, Graf von Darifant-Croy. Wir drei kennen einander seit Jahren. Jetzt kommen wir, wie gesagt, aus Marokko. Vorher waren wir in Sardinien, in Malaya, in Grönland, im Karibischen Meer, in Arizona, im Urwald des Amazonas, in Afghanistan, und ich kann Ihnen versichern, dass wir alle unsere Aufträge zur vollen Zufriedenheit unserer Auftraggeber erledigten. Ich zweifle nicht, dass auch Sie nicht bereuen werden, sich nach London gewandt zu haben, und Sie können sicher sein, dass wir für Sie alles tun werden, was uns möglich ist.”

Er sprach einfach, bestimmt und freundlich. Aber während er so ruhig redete, studierte er sein Gegenüber mit höchster Aufmerksamkeit.

„Sie werden sich”, redete er weiter, „an der etwas schroffen Art des Engländers hoffentlich nicht stoßen. Er ist ein ganz ausgezeichneter Mann. Einer von den seltenen Menschen, auf die man sich unbedingt verlassen kann. Wir nennen ihn nur ,Chef’ – ist damit nicht schon alles gesagt?” Sollte er noch hinzusetzen, dass dieser Chef über erstaunliche Körperkräfte verfügte und ausgezeichnet trainiert war? Dass seine linken Schwinger gefürchtet waren, dass er ein unbedingt sicherer Schütze war? Aber GG sprach davon lieber nicht. Hier war alles noch ungewiss, und wenn er selbst auch kein Misstrauen kannte, so war er doch vorsichtig.

„Auch mit dem Grafen werden Sie vorzüglich auskommen”, sagte er in überzeugendem Ton. „Er ist nicht nur ein Arzt, der auf seinem Gebiet Hervorragendes leistet, sondern ein Mann, der das Leben kennt, der keinen Menschen auf den Schein hin beurteilt oder gar verurteilt, der sorglich nach den tieferen Gründen sucht und den auch bittere Erfahrungen nicht davon abbringen können, heiter und immer hilfsbereit zu bleiben.”

Die ganze Zeit hatte GG das Gefühl, dass der Syrer ihm zwar genau zuhörte, aber dabei ganz bestimmten Gedanken nachhing. Jetzt erst fand sich Marûn Effendi veranlasst, auch etwas zu sagen: „Sie sind viel gereist. Wann waren Sie in Ägypten?”

„Leider noch gar nicht”, erwiderte GG.

„Nicht? Nicht?”, wiederholte Marûn. „Aber der Engländer war natürlich da. Alle Engländer kommen nach Ägypten.”

„Der Chef hat nie davon gesprochen, und wenn er auch nicht sehr gesprächig ist, so würde darauf doch wohl einmal die Rede gekommen sein. Ich glaube also, ich kann auch von ihm behaupten, er sei nie dort gewesen. Aber ich gebe zu, ich kann mich irren.”

„Und der Graf?”, fragte Marûn. „Am Hygiene-Institut in Kairo gibt es französische Ärzte!”

„Sie haben recht, Effendi. Zwischen Ägypten und den Gelehrten Frankreichs bestehen manche Beziehungen. Aber ich glaube nicht, dass der Graf in Kairo war. Jedenfalls hat auch er nie davon gesprochen. Aber vielleicht wären Ihnen gerade Kenner Ägyptens erwünscht gewesen?”

„Es hätte mich interessiert”, murmelte Marûn Effendi. „Ich war noch nie dort. Gerade deshalb hätte es mich interessiert.”

„Soviel ich weiß, kommen in der heißesten Zeit viele Gäste aus Ägypten in den angenehmeren Libanon.”

Darauf antwortete Marûn nicht. Er starrte zum Fenster hinaus. Es war, als sei er durch diese Bemerkung GGs aufs neue beunruhigt.

‚Dieser Mann’, dachte GG, ‚trägt sich europäisch. Seine Haut ist bräunlich, aber er würde in keiner europäischen Stadt auffallen. Sein hageres Gesicht, seine kräftige Nase, sein buschiger Schnauzbart geben ihm zwar etwas Eigenwilliges. Aber man könnte ihn für einen Gutsbesitzer halten, der sich viel im Freien aufhält, oder einen pensionierten Offizier, der lange in den Tropen war. Weshalb nur hat er trotzdem etwas ganz Besonderes, das mich stutzig macht, das mich beunruhigt, das mich nicht loslässt?’

„Die Herren müssen mich entschuldigen”, sagte Marûn jetzt langsam, „dass ich Ihnen Schwierigkeiten machte. Vielleicht komme ich Ihnen damit lächerlich vor. Aber wenn Sie wüssten, was ich –”

Er schloss den angefangenen Satz nicht, als könnte er nicht über die Lippen bringen, was er hatte sagen wollen.

Er setzte von neuem an. „Wenn ich Ihnen erst einmal anvertraut habe, was mir –”

Wieder stockte er, und mit einem Male wusste GG, was ihn an seinem Gegenüber so erregte.

Es waren Marûn el Maschumars Augen.

Schritt für Schritt

Der Syrer, ein Mann zwischen Vierzig und Fünfzig, hatte große schwarze Augen, was der Betrachter so gern als seelenvoll auslegt, weil er meint, durch die dunkle Öffnung des Auges in die Tiefe der Seele zu schauen. Aber nur für Sekunden zeigten sie sich groß und schön in einem träumerischen Blick. Gleich darauf verengten sich seine Pupillen wieder, und an diesem Wechsel konnte GG erkennen, dass er keinen Menschen vor sich hatte, dessen verengte Augenöffnung ihn als einen Opium- oder Haschischraucher verrät. Nein, dieser Mann war keinem Rauschgift verfallen, dessen unheimliche Wirkung den, der ihm hörig ist, lähmt und erstarren lässt. Er war von heftigen inneren Erregungen durchflutet, die sich dem Menschenkenner in jener Veränderung der Pupillengröße ankündigten. Doch was war es, was ihn so überwältigte? Trübsinn hätte es sein können, aber der passte nicht zu diesem Mann, der Augenblicke von echter Spannkraft zu haben schien. Auch an Ärger hätte GG denken können, an ständigen, quälenden Ärger, der einen Menschen zu einem grämlichen, kleinlichen Nörgler macht. Indessen konnte das hier auch nicht richtig sein, denn der Mann hatte nichts von jener zersetzenden Untätigkeit an sich, die mit ständigem Nörgeln zusammengeht. Viel eher schien er zu einem plötzlichen und sehr entschlossenen Handeln fähig zu sein.

Nicht Trübsinn, nicht Ärger. Aber es gab ein drittes, und indem GG sich das vergegenwärtigte, wusste er, dass er jetzt den passenden Schlüssel gefasst haben konnte. Er wusste, auch Angst verengt die Pupillen – und das war die Lösung. Es war Angst, heillose Angst, der Marûn el Maschumar ausgeliefert war. Es war Angst, die hinter seinem bis ins Lächerliche gesteigerten Misstrauen stand. Es war die Angst, in der er sich hilfesuchend an die Retter in dem fernen London gewandt hatte.

Warmes Mitgefühl packte GG. „Effendi”, sagte er, „beunruhigen Sie sich nicht. Wir drängen Sie ja nicht. Eines Tages sagen Sie uns, was Sie so bedrückt. Wir haben keine Eile. Wir haben Zeit. Sie müssen uns erst kennenlernen. Die Hauptsache: wir sind da. Wir schützen Sie. Sie brauchen sich keine Sorge mehr zu machen. Ich bin überzeugt, Sie haben viel zuwenig geschlafen!”

„Ich schlafe keine Nacht mehr”, sagte er. Seine Worte kamen ihm tonlos über die Lippen.

„Sie werden wieder schlafen, Effendi! Wir wachen für Sie!”

Marûn, der vor sich hingestarrt hatte, sah GG jetzt voll an. „Sie wissen nicht – Sie können gar nicht wissen, wie sehr Sie mir damit helfen”, sagte er leise. „Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Wir wollen die beiden Herren rufen. Ich schäme mich, dass ich mich so töricht benommen habe.”

Er stand auf, und GG, der sich mit ihm erhob, war froh.

Die Brücke war geschlagen. Es war ihm gelungen, das Vertrauen des Argwöhnischen zu gewinnen. Jetzt musste es auch möglich sein, dem Bedrängten die Ursache seiner Ängste zu nehmen.

„Ich rufe den Chef und den Grafen”, sagte er. „Sie sind sicher zum Auto gegangen. Wir können es nun nach Tripoli zurückschicken. Inzwischen werden vielleicht auch die andern eingetroffen sein.”

Marûn, der schon an der Tür zur Wendeltreppe war, fuhr herum. „Die andern?”, fragte er hastig. „Welche andern?”

Voller Bestürzung sah GG, dass alles, was er erreicht zu haben glaubte, wie weggewischt war. Die Züge des erschreckten Mannes waren wieder von Misstrauen beherrscht, von Feindseligkeit und Abwehr. Musste er noch einmal ganz von vorn anfangen?

„Unsere Begleiter konnten nicht sofort mit uns hier herauf fahren”, sagte er. „Durch ein Versehen war ein Koffer unseres Gepäcks in Beirut von dem Hoteldiener vertauscht worden. Sie mussten zurückfahren, um das in Ordnung zu bringen.”

„Warum haben Sie mir davon nichts gesagt?!” Vor Erregung ging dem Syrer der Atem rasch. „Wie viele sollen denn noch kommen?”

„Sie sind zu dritt.”

„Zu sechsen wollen Sie hier herein?!”, schrie Marûn auf. „Das geht nicht! Das ist unmöglich! Das dulde ich nicht! Nein, niemals!”

GG holte tief Luft. „Ich kann es gut verstehen”, sagte er dann, „dass es hier für Sie in Ihrer Abgeschiedenheit etwas Erschrekkendes hat, nun auf einmal mit so viel fremden Leuten zu tun zu haben. Aber, Effendi, Ihre Burg umfasst ein großes Gelände. Um es zu überwachen, sind sechs Leute eigentlich noch zu wenig. Und glauben Sie mir: wie Sie mit dem Chef, dem Grafen und mir gut auskommen werden, so wird es Ihnen mit den andern drei auch gehen.”

„Es sind Ihre Diener?”

„Wenn Sie so wollen, ja.”

„Sie haben sie in Beirut gemietet?”

„O nein. Wir kennen sie seit Jahren. Sie haben uns auf allen unsern Expeditionen begleitet.”

„Alle Bedienten sind bestechlich”, sagte der Syrer. „Sie dienen mir – aber wem dienen sie noch?”

„Zweifellos haben Sie Ihre Erfahrungen gemacht, Effendi”, erwiderte GG. „Aber sehen Sie: diese drei sind mehr als nur Diener. Sie sind auch unsere Freunde.”

„Ihr Freund hat einen Freund, aber der Freund Ihres Freundes hat wieder einen Freund, und der hat auch seine Freunde – wie vielen sind Sie mit Ihrem einen Freund ausgeliefert?!”

„Gewiss, daran ist etwas. Aber ich kann mir nicht denken, Effendi, dass Sie in Ihrem Leben nicht auch einen Freund gewonnen haben, an dem, wie man gern sagt, ,kein Falsch ist’ – Sie werden dem Sprichwort Ihrer östlichen Nachbarn zustimmen: ,Ein Mann ohne Freund ist wie die rechte Hand ohne die linke.’“

„Yuhanna es Ghamin ist mein Freund”, antwortete Marûn. „Er ist der einzige, dem sich das Tor meiner Burg öffnet. Ihm und den Kindern seines Bruders, für die er sorgt.”

Über diese Antwort war GG froh. So war der gequälte Mann doch nicht ganz ohne die Stärkung, die davon ausgeht, dass man mit einem andern Menschen eins ist, und das war vermutlich, was dieser sich ängstigende Einsame wahrscheinlich vor allem brauchte – seelische Kräftigung.

„Sehen Sie, so sind wir auch unsern Begleitern verbunden. Der Graf kennt Cyprian Bombardon seit dem letzten Kriege. Er hat ihn vor der Verschüttung gerettet und ist mit ihm zusammen aus der Gefangenschaft entflohen. Bombardon hat es nicht nötig, sich sein Brot als Koch und Reisebegleiter zu verdienen. Er ist reich. Aber er bringt es nicht übers Herz, sich von dem Grafen zu trennen. Auch der Ire Patrick Cromby ist ein wohlhabender Mann – und doch kennt er nur eins: die Sorge für den Chef. Er möchte nicht mehr, als ihm immer die Pfeife rechtzeitig stopfen, damit der sie genau in dem Augenblick bekommt, wo ihn danach verlangt.”

Gelang es ihm, mit diesen freundlichen Harmlosigkeiten dem Syrer den Widerstand zu nehmen, in den er sich von neuem verkrampft hatte? GG entschloss sich, in dieser Bemühung noch einen Schritt weiterzugehen.

„Wirklich”, sagte er, „wir stehen ausgezeichnet miteinander. Niemand nennt den Koch anders als ,Neunauge’, und der Ire heißt nur ,Plumpudding’.”

„Was ist ein Neunauge?”, fragte Marûn.

„Ein Fisch. Es gibt kleine Neunaugen, die nur hundert Gramm wiegen, und große, die es auf ein dreißig mal schwereres Gewicht bringen können.”

„Aber wie können sie neun Augen haben!?”

„Sie sehen nur so aus, als ob sie die hätten. Früher haben die Leute auch die Kiemenspalten der Tiere als Augen angesehen.”

„Und weshalb heißt der Mann ,Vater der neun Augen’? Sieht er so viel mehr als andere?”

„Das möchte ich nicht behaupten, obwohl er manchmal Dinge und Zusammenhänge sieht, die gar nicht vorhanden sind. Nein, er ist ein ausgezeichneter Koch und hatte erst die Idee, in Paris ein kleines Restaurant ,Zum vergnügten Neunauge’ einzurichten. Aber mittlerweile sind seine Pläne gewachsen. Sein Unternehmen soll ein Haus der großen Welt werden, in dem der Gast sich jedes Gericht bestellen kann, wie es irgendwo auf dieser Erde zubereitet wird.”

„Das ist gut”, sagte Marûn. Zum ersten Mal zeigte sich in seinem Gesicht ein Lächeln. „Was ein Plumpudding ist”, sagte er weiter, „das weiß ich. Mit Engländern habe ich viele Geschäfte gemacht.”

„Wenn Sie das Vollmondgesicht des trefflichen Iren sehen, so werden Sie an diese weiche Nachspeise erinnert werden. Aber glauben Sie mir: der lebendige Plumpudding ist in seinem Kern fest wie Granit. Ein Mann wie er wird leicht unterschätzt. Er sorgt für den Chef, wie ich schon sagte, aber das macht er, ohne dass man viel davon merkt. Nie tut er sich hervor, er gehört zu den Menschen, von denen man erst dann begreift, was sie bedeuten, wenn sie nicht mehr da sind. Ich kann Ihnen sagen, dass er in Malaya dem Chef das Leben rettete, indem er sein eigenes aufs Spiel setzte. Seiner äußeren Stellung nach ist er der Diener des Chefs – aber in Wirklichkeit ist er dessen Vertrauter, der für ihn alles wagt, wie der Chef für ihn alles wagen würde.”

„Jetzt kann ich verstehen”, sagte der Syrer, „dass Sie so zuversichtlich sind. Sie haben tüchtige Leute. Sie können sich aufeinander verlassen. Keiner ist allein.” Aber er war wieder wie aufgescheucht, als GG ihren dritten Begleiter, Tschandru-Singh, erwähnte.

„Ein Inder!”, rief er empört aus.

„Ein junger Mann, der für uns durch sieben Feuer geht”, sagte GG eindringlich. Er begriff nicht, weshalb sich Marûn an der Nationalität Tschandru-Singhs stieß. Der Syrer antwortete darauf nicht, aber seine Ablehnung war deutlich genug zu spüren, und GG musste sich weiter bemühen, sein Misstrauen zu zerstreuen. „Ein Kastenloser” , sagte er, „ein Unberührbarer, der durch uns zu einem freien Menschen geworden ist.”

Auch darauf schwieg Marûn.

„Ich mache nicht gern große Worte, Effendi. Aber über Tschandru-Singh möchte ich sie aussprechen: für uns lässt er sein Leben.”

Er hätte wohl sagen müssen ,für mich’; doch das widersprach ihm.

„In Kairo gibt es viele Inder”, sagte Marûn langsam.

„Es tut mir leid, dass auch Tschandru-Singh nie in Ägypten war”, erwiderte GG. „Er stammt aus Indien und begleitete uns nach Afghanistan und nach Malaya. Von dort aus nahmen wir ihn nach Sardinien mit und dann nach Marokko – aber andere Länder hat er noch nicht gesehen.”

Wie vorhin sah Marûn GG fest in die Augen. Ihm war es, als klammere sich der Syrer an ihn. „Sie bürgen für ihn?”, fragte er leise. „Wie für jeden von uns”, antwortete GG.

Marûn ließ den Blick nicht von dem andern. „Ich habe schon mit vielen Menschen zu tun gehabt”, sagte er. „Man sieht vielerlei, wenn man sich vom armen Schlucker zum reichen Mann hinaufarbeitet. Aber Leute, wie Sie und Ihre Kameraden zu sein scheinen, habe ich nie getroffen.”

Er zögerte einen Augenblick, als überlege er, ob er das sagen dürfe, was ihm auf der Zunge lag. Aber dann sprach er es aus: „Es wäre vielleicht besser gewesen, mit Menschen aufzuwachsen, wie Sie es sind.”

Um ein Haar hätte GG geantwortet: „Dann würden Sie sich am Ende Ihres Lebens vermutlich nicht als reichen Mann bezeichnen können.” Aber er unterdrückte den Satz noch rechtzeitig.

Wenn es siebenmal klopft

Marûn wandte sich nicht wieder zur Tür. Nun, wo er sich damit abgefunden hatte, dass die sechs Männer bei ihm einzogen, mehr – wo er das als eine große Erleichterung empfand, wäre es doch an der Zeit gewesen, die andern nicht noch länger warten zu lassen. Aber er hatte sich auf die Bank gesetzt, die an der Turmwand stand, in der die Luke war. Er saß ein wenig vornübergebeugt, die Hände ineinandergelegt. Er schien einem Gedanken nachzuhängen, und es war, als hätte er dabei vergessen, dass er nicht allein war.

GG konnte sich nicht dazu entschließen, ihn zu drängen. Er musste immer noch damit rechnen, dass der Syrer in jedem Vorschlag, der nicht von ihm selbst kam, Unrat witterte und sich ihm deshalb verschloss. Da war es das beste, darauf zu warten, dass er äußerte, was unternommen werden sollte. Offenbar ertrug er es nicht, wenn nicht alles nach seinem Willen ging oder doch zu gehen schien.

„Ich will es Ihnen sagen”, murmelte Marûn. „Sie müssen es ja wissen. Sie müssen sich danach einrichten. Sie können mir sonst gar nicht vorschlagen, wie Sie mir helfen wollen.”

GG war ganz Ohr. Das war rascher gegangen, als er gehofft hatte. Jetzt kam er anscheinend schon an das eigentliche Rätsel, das hier zu lösen war. Gespannt sah er auf den Syrer, der sich Satz um Satz langsam abrang.

„Ich werde verfolgt”, flüsterte Marûn el Maschumar. „Ich werde von Mördern verfolgt.”

Er schwieg, als erwartete er, dass sein Gegenüber etwas sagte, bekam jedoch keine Antwort, denn GG wollte erst mehr erfahren. Der Syrer aber nahm an, der andere zweifle am Ernst seiner Worte, und fuhr rascher fort: „Sie haben mir geschrieben. Einen Zettel. Sie werden kommen. Ich muss 50.000 Pfund in Dollar für sie bereit haben. Wenn ich sie ihnen nicht gebe, dann bringen sie mich um. ,Wenn es an das Tor des Dar el burusch es saba’a sieben Mal klopft, dann sind wir da.’ So stand es auf dem Papier.”

Jetzt begriff GG, warum Marûn es ihnen so schwer gemacht hatte, in die Burg zu kommen. Hatte der Chef nicht zufällig sieben Mal geklopft und den Syrer damit ahnungslos selbst zu höchster Vorsicht gemahnt? Aber weiter, weiter!

„Den Zettel müsste man gelegentlich einmal sehen”, sagte GG.

„Ich habe ihn nicht mehr. Ich habe ihn zerrissen und die Fetzen verbrannt.”

„In welcher Sprache war er geschrieben?”

„Arabisch.“

„Wo haben Sie ihn gefunden?”

„In meinem Garten. In dem weißen Rosenbusch stak er, zwischen zwei Knospen.”

„Haben Sie eine Vermutung, wie er dahin gekommen sein kann?”

„Nein. Ich habe sofort alle meine Bedienten entlassen. Ich lebe seitdem nur mit einem einzigen Menschen in der Burg. Einer alten Frau. Sie kocht für mich. Ein Eseltreiber kommt alle drei Tage und bringt herauf, was wir brauchen. Den Schlüssel zum Tor gebe ich nicht mehr aus der Hand.”

„Es gibt in Libanon keine Räuberbanden mehr. Drüben im Iran ist es anders. Aber wie ist es, Effendi – haben Sie Feinde?”

„Es sind meine Verwandten”, antwortete Marûn. „Es ist der Sohn meiner Schwester. Er ist mein Erbe. Aber er kann nicht abwarten, dass ich sterbe. Ich lebe ihm zu lange. Ich soll ihm das Geld schon jetzt geben – und wenn ich’s nicht tue, dann sorgt er dafür, dass ich umkomme. Damit fällt ihm ja alles zu.”

GG stutzte. War das denn stichhaltig? Marûn konnte doch in seinem Testament den Neffen ausdrücklich enterben – hatte da der junge Mann nicht allen Grund, sich mit dem Erbonkel gut zu stellen? Aber nur jetzt keine Einwände machen, keine Zweifel zeigen – und so fragte er: „Sie meinen, Ihr Neffe habe den Zettel geschrieben?”

„Dafür ist er zu schlau. Er hat irgendwelche Hundesöhne dafür angeworben. Die besorgen das für ihn.”

„Wo lebt Ihr Neffe?”

„In Saida. Das heißt, ich weiß nicht, ob er dort noch ist. Immer unterwegs ist er, immer unterwegs, ruhelos, wie ein Schakal.” Er atmete rascher. „Ich habe das Geld hier”, flüsterte er. „Ich habe es von der Bank geholt. Aber wenn ich es ihnen gebe – bin ich dann sicher, dass sie nicht wiederkommen? Dass sie mir nicht alles abnehmen, bis ich bettelarm bin?”

GG musste sich eines Schauders erwehren. War dieser Mann noch ganz bei Verstand? War er wirklich in Gefahr, oder bildete er sich das nur ein? „Effendi”, sagte GG, „es wird das beste sein, ich hole jetzt meine Freunde. Ich teile ihnen mit, was ich von Ihnen erfahren habe, wir sehen uns dann in der Burg genau nach allem um, und danach schlagen wir Ihnen vor, was geschehen soll”

„Verlieren Sie nicht soviel Zeit”, antwortete Marûn hastig.

„Ich kann Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen, und die Burg ist einfach gebaut. Sie besteht aus einem Sechseck von gleichmäßigen hohen Mauern. An jedem Eck steht ein Turm. In der Mitte des Sechsecks liegt der Donjon, der Hauptturm. In seinem ersten Obergeschoß wohne ich. Unten ist die Küche. Neben ihr schläft die alte Batijah. Sie können im Turm des armen Prinzen und im Turm der Stummen wohnen. Der Turm der bösen Dschins ist wie der Speicherturm verfallen. Hier sind wir im Turm der stolzen Kaiserin. Das Tor liegt zwischen ihm und dem Adlerturm. Nur durch dieses Tor kann man in die Burg. Das war ein Grund für mich, die Burg zu kaufen. Schloss ich das Tor ab, so war ich sicher.”

„Wie lange leben Sie schon in der Burg?”

„Fünf Jahre.”

„Und wann haben Sie den Brief bekommen?”

„Vor sechs Wochen.”

Wieder stutzte GG. Zeigte sich hier nicht eine zweite Unstimmigkeit? „Sechs Wochen”, wiederholte er langsam, „sechs Wochen” – aber nein, er konnte dem Verdacht, der ihm gekommen war, jetzt nicht nachgehen, ja er durfte sich nicht einmal merken lassen, dass sein Misstrauen geweckt worden war. Deshalb fragte er ruhig weiter: „Und seitdem haben Sie nichts wieder gehört?”

„Nichts. Sechs Wochen sind lang. Nun müssen sie bald kommen.”

„Und als Sie uns vor der Burg sahen, dachten Sie, wir wären die Räuber?”

Marûn nickte.

„Wir müssen Sie sichern. Elektrischen Strom haben Sie nicht?”

Der Syrer schüttelte den Kopf.

„Aber man könnte doch wohl von Tripoli eine Leitung herauflegen”, sagte GG. „Mit einer Starkstromsicherung wäre einiges gewonnen.”

„Das könnte ich machen lassen. Aber Sie sind hier nicht in Europa. Das dauert zwei Jahre, bis alles fertig ist, und niemand garantiert mir dafür, dass die Leitung dann auch funktioniert.“

„Also muss das Tor ständig bewacht werden”, sagte GG.

„Zwei von uns werden sich immer hier im Turm der stolzen Kaiserin aufhalten und den Zugang im Auge behalten.”

„Das ist gut”, sagte Marûn.

„Aber ich finde es nicht ganz gut”, erwiderte GG, „dass Sie im Donjon ohne allen Schutz wohnen. Sie brauchen eine ständige Wache um sich, Effendi. Vier von uns sollten bei Ihnen bleiben.”

„Das geht nicht”, war Marûns rasche Antwort. Er war durch diesen Vorschlag sichtlich beunruhigt. „Für so viele Leute ist dort gar kein Platz. Ich sagte doch, Sie müssen sich verteilen – zwei gehen in den Prinzenturm, zwei in den Turm der Stummen. Dazu eine Wache hier im Turm am Tor: das ist sehr gut.”

„Effendi, Sie müssen wieder schlafen können. Wenn im Donjon für vier kein Platz ist, dann doch wohl für zwei, und diese beiden Wächter in Ihrer unmittelbaren Nähe verbürgen Ihnen den Schlaf.”

„Sie nehmen ihn mir. Ich bin es zu sehr gewohnt, ganz allein zu sein”, brachte Marûn unwirsch vor.

„Aber das bezahlen Sie mit Ihren Nerven, Effendi. Bitte stellen Sie sich einmal genau vor: Das Tor ist bewacht. Gut. Aber müssen wir nicht auch mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Wache überwältigt wird? Es kann durch ein menschliches Versagen geschehen, durch einen Zufall oder eine Kette von Zufällen oder dadurch, dass unsre Gegner uns überlegen sind. Dann ist der Weg zum Donjon frei – und dann ist im Augenblick der höchsten Gefahr niemand bei Ihnen, Effendi!”

Marûn konnte sich diesem Einwand nicht entziehen, versuchte jedoch hartnäckig, seinen Willen durchzusetzen. „Es genügt, wenn ein Mann in meiner Nähe ist”, sagte er verbissen. GG sah klar, dass ihn die Vorstellung ängstigte, mit zwei Wächtern einer Übermacht ausgeliefert zu sein. Hier ging es jedoch um die Sache, und da gab es für GG bei aller Rücksichtnahme kein Zurück.

„Lassen Sie etwas geschehen, Effendi”, sagte er mit großem Ernst. „Der eine Mann wird sie verteidigen, unbedingt. Aber wo ist dann der Mann, der die andern alarmiert? Für den Verteidiger ist es kein Fehler, den Angreifer zu überschätzen!”

Marûn antwortete nicht. Er fuhr zusammen. Von unten klang das Hämmern des Türklopfers herauf. Der Syrer sprang auf. Mit offenem Munde stand er da und zählte in Gedanken die Schläge: bäng – bäng – bängbäng –

GG lief an die Luke und schob sie auf. „Es sind meine Freunde”, sagte er. „Sie sind sicher in Unruhe, weil ich so lange wegbleibe.” Er rief hinunter: „Alles in Ordnung, Chef! Ich komme gleich und mache auf.”

„Ja”, sagte Marûn, „tun Sie das. Hier ist der Schlüssel. Und hier –” Damit gab er GG auch die Pistole. Seine Hand zitterte. Der Schrecken, es hätte auch siebenmal klopfen können, hatte ihn schwer mitgenommen. Rasch sagte er noch: „Sie haben recht. Zwei Mann kommen zu mir in den Donjon. Das ist gut.” Jedoch packte ihn gleich wieder die Besorgnis, unvorsichtig gewesen zu sein. „Aber keiner von Ihnen darf die Burg verlassen, ohne dass ich es weiß. Ich muss immer wissen, wo Sie sind!” Jetzt überkam ihn wohl wieder die Besorgnis, zu weit gegangen zu sein, denn um die barsche Forderung abzuschwächen, setzte er flüsternd hinzu: „Ich brauche Sie eben … ich brauche Sie!”

Der Mann mit den zwei Gesichtern

„Angelegt wie der Tower in London”, sagte der Chef.