Cover

Lars Steffens

Supermanfred

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Lars Steffens

Lars Steffens schreibt eigentlich Drehbücher und unterrichtet an Filmhochschulen. Als Redakteur hat er zuvor bei RTL diverse Fernsehserien betreut. Bislang kann er noch nicht mit so interessanten Autorenjobs wie Robbenjäger, Goldschürfer oder Rechtspsychologe aufwarten. Er hofft allerdings auf eine Karriere als Frauenfußballhooligan oder Bohrinsel-Monteur. Bis dahin vertreibt er sich die Zeit mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern in Köln. Mit seinem Sohn spielt er manchmal «Papa Darth Vader und Mama Darth Vader» – ohne eigentlich zu wissen, was er dabei tun soll.

Über dieses Buch

Schatz, ich muss mal kurz die Welt retten!

 

Claudia sehnt sich nach Abenteuern. Auch in ihrer Beziehung. Denn Manfred ist zwar furchtbar lieb, aber auch furchtbar langweilig. Was Claudia nicht ahnt: Ihr Freund ist eigentlich Supermanfred und besitzt dank eines Trainingsanzugs übermenschliche Kräfte. Jetzt hat aber Claudia den Stoff versehentlich in die Waschmaschine gestopft und zu heiß gewaschen. Nun ist er eingelaufen, und die Superkräfte sind futsch. Freddie ist außer sich! Sein ärgster Widersacher, Holger Badman, darf davon auf keinen Fall erfahren! Aber der attraktive Superschurke ist bereits ins gleiche Haus gezogen – und beginnt heftig mit Claudia zu flirten … Und Supermanfred muss nicht nur die Welt retten, sondern auch noch seine Beziehung.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Illustration: Kai Pannen)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25955-5 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-48651-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-48651-5

Fußnoten

1

Leon der Rote wird in wenigen Jahren unweigerlich um die Weltherrschaft kämpfen. Verbittert, mit härtestem Geschütz und ohne jede Rücksicht auf Verluste. Denn natürlich ist Leon, wie jeder Junge in seiner Klasse, in die bezaubernde Elisabeth verliebt. Und die bringt ihn fortan nur noch mit der Elefantenunterhose in Verbindung – und mit dem peinlichen Vorfall im Schulbus. Was seine Chancen bei ihr noch unter den Nullpunkt senkt. Diese Erniedrigung und seine verschmähte Liebe wird Leon nie richtig verarbeiten. Wie auch? Schließlich folgt darauf jahrelanges, intensives Mobbing. Kein Wunder, dass Leon nie wieder eine normale Gesichtsfarbe hat. Er wird ewig rotgesichtig bleiben. All seine Wut und sein Frust konzentrieren sich deshalb auf das Einzige, was er wirklich kann: Chemie. Und so ist es nur ein kleiner Schritt zum Bau der Californium-252-Bombe, mit der er in naher Zukunft die neue Weltmacht China angreifen wird.

2

Big Bad Beringer ist ein außerordentlich erfahrener Superheld. Es gibt nichts, was er nicht schon gesehen hätte, nichts, was ihm fremd ist. Keinen Lavastrom, den er nicht durchtaucht, keine außerirdischen Drachenwesen, die er nicht bekämpft, kein Gift, das ihn nicht schon verseucht hat, und kein Fluch, mit dem er nicht schon belegt worden wäre. Es gibt keine überlegene Supermacht und keine hinterhältigen Superschurken, gegen die er nicht schon gekämpft hätte. Big Bad Beringer weiß, was alles schiefgehen kann, wenn man nicht genau aufpasst. Aus diesem Grund ist er auch so übervorsichtig, was die Tätigkeit in seiner Tarnexistenz betrifft. Da kann man sich über ihn lustig machen, wie man will. Er weiß, was er tut. Meistens jedenfalls. Denn seit er sich vor drei Jahren von seiner Gefährtin Elsebella getrennt hat – oder vielmehr: sie sich von ihm –, fühlt sich Beringer einsam und allein und irgendwie nutzlos. Er versucht daher, die Leere in seinem Leben mit Arbeit zu kompensieren, denn selbst die vielen Menschenleben, die er in seinem Leben gerettet hat, geben ihm nichts mehr. Da sind die ganzen Eventtätigkeiten schon interessanter.

3

Bombastic Babe Britta ist eigentlich ein gefeierter Star. Jünglinge liegen ihr zu Füßen, Mädchen kopieren ihre Kostüme, jubelnde Fans säumen ihren Wege und saugen freiwillig jedes Staubkorn in ihrer Nähe auf. Das ist wichtig, denn Brittas einzige, aber große Schwäche ist eine Stauballergie, an der sie leidet seit ihrem großen, blutrünstigen Kampf gegen Ursupator III. Natürlich hat sie den Widerling besiegt und ihn in all seine Atome zerlegt, aber manchmal fragt sich Britta, ob nicht genau das ihre Allergie ausgelöst hat. Und mit jedem allergischen Schock verliert sie einen weiteren Teil ihrer Superkräfte. Deshalb hat sie sich in ein Paralleluniversum geflüchtet. Da ist sie eine kleine, blässliche Angestellte in einem langweiligen Büro und wirkt so grau und farblos, dass sie sich kaum von der grauen Wand oder den grauen Büromöbeln abhebt. Wenn sie wenigstens ein Mal eine reizvolle Aufgabe von Beringer übertragen bekäme! Aber die kriegt immer nur Claudia. Kein Wunder, dass Bombastic Babe Britta ihre Kollegin hasst.

4

The Great Unresting Regine ist eine vom Ehrgeiz zerfressene junge Superheldin, die es bislang nicht in die erste Riege geschafft hat. Nun ja, eigentlich nicht mal in die zweite. Dabei hat Regine so viele Fleißkärtchen gesammelt wie sonst keine. Hier ein paar Ertrinkende gerettet, dort ein paar Staus verhindert. Hier die Lava am Dorf vorbeigeleitet, dort ein Bienenvolk gerettet. Emsig, fleißig, unermüdlich schwirrt Regine herum und versucht, Gutes zu tun. Im Kreise ihrer Kollegen wird sie allerdings nicht ernst genommen. Zu strebsam, zu eifrig, zu fleißig, zu bienig. Sie weiß zwar, wie die anderen über sie denken. Aber anstatt mal Fünfe gerade sein zu lassen, verdoppelt sie nur ihre Bemühungen und strengt sich noch mehr an. Kein Wunder, dass Regine so ausgemergelt ist.

5

The Whisperer ist der mächtigste Gedankeneinflüsterer auf dem Planeten Erde. Abgesehen davon, dass er jedes Ziel erreicht, das er sich in den Kopf gesetzt hat, verfügt er aber nicht wirklich über Superkräfte. Er hat lediglich an allen (!) Seminaren teilgenommen, die es je zum Thema Suggestivtraining gab – und schließlich seine eigenen Strategien entwickelt. Zurzeit arbeitet er unter einem Decknamen im Fitnessstudio, ursprünglich mit dem Ziel, jedes weibliche Wesen dort flachzulegen. Inzwischen ist er bei Nummer 168 und wird der Sache allmählich überdrüssig. Irgendwie wiederholt sich immer alles: lockerer Flirt im Aufenthaltsraum, ein gemeinsamer Fitnessdrink, eine kurze Berührung am Arm oder am Rücken, Austausch der Telefonnummern, eine erste Verabredung, romantisches Date – und dann Sex. Eigentlich ganz okay, aber hundertachtundsechzig Mal hintereinander innerhalb kürzester Zeit ist schon ziemlich ermüdend. Außerdem häufen sich die Konflikte, denn viele der Frauen kennen sich natürlich. Manche lassen auch nach einem Mal nicht locker, sondern erwarten mehr als nur unverbindlichen Sex. Und leider muss John, der Einflüsterer, sich auch eingestehen, dass der Sex nicht unbedingt besser wird, je toller die Frauen aussehen. Also kontrolliert er während des Aktes vor allem seine Bauchmuskeln im Spiegel. Denn ein Ziel ist nun mal ein Ziel.

6

Manic Manuel entstammt einem alten Weisen-Geschlecht und ist auf seinem Planeten Drax einer der angesehensten und klügsten Redner gewesen. Leider kann er seit dem großen Zusammenprall von P’aattex nicht mehr dorthin zurück, denn Drax ist dabei in ein anderes Universum katapultiert worden. Durch einen unglücklichen Zufall gelangte Manuel bei dem Zusammenstoß auf eine Raumsonde und mit ihr zusammen auf die Erde. Und hier sitzt er nun fest – umgeben von ignoranten Stieseln, wie es die Menschen nun mal sind. Keiner von ihnen erkennt Manuels Weisheit und seine wunderbar klugen Worte, sodass es ihm schwerfällt, ein weibliches Pendant zu finden. Dabei verfügt Manic Manuel über ein ausgesprochen hohes Testosteron-Level – weil er noch nicht aus der Pubertät heraus ist. Die dauert auf Drax nämlich rund zweiundfünfzig Jahre. Dennoch bemüht sich Manic Manuel auf der Erde verzweifelt um inneren Frieden. Und um aufregenden Sex. Was für ihn eigentlich dasselbe ist. Leider hat er bislang den falschen Weg eingeschlagen, denn der Mentor, den er sich erwählt hatte, Mike Mystery, ist vielleicht ein erfolgreicher Schaumschläger – aber sicher kein erfolgreicher Lehrmeister in Sachen Fraueneroberung. Trotzdem: Irgendwann wird eine Frau nicht mehr mit einer Ohrfeige antworten, wenn er sagt: «Dein Gesicht hab ich doch schon mal irgendwo gesehen … Genau: Im Lexikon! Direkt neben WOOOWWW!!!»

7

Charming Charlotte ist die schlecht gelaunteste Superheldin aller Zeiten. Aufgewachsen in wohlhabenden Verhältnissen, hat sie schnell eins gelernt: Alle lügen! Charlottes Superheldinnenfähigkeit besteht darin, dass sie jede Schummelei, jede Halbwahrheit, jede Unwahrheit und jede Lüge sofort durchschaut. Sie ist ein menschlicher Lügendetektor – ganz ohne den Puls eines Verdächtigen messen zu müssen. Sie braucht die Leute nicht einmal ansehen. Ihr reicht schon die Tonlage einer Stimme, um eine Lüge herauszuhören. Und so weiß sie auch, dass ihre Eltern sie zwar lieben, aber nicht so sehr wie ihre kleine Schwester. Und dass ihr Vater seine Sekretärin am allermeisten liebt. Was diese nur über sich ergehen lässt, weil sie aufsteigen will. Wenn allerdings der Chef von Charlottes Vater von der Affäre erfährt, wird er ihn mitsamt seiner überengagierten Vorzimmerdame rausschmeißen. Womit sich dann auch das ganze, schöne Prinzessinnenleben von Charlotte in ein großes Debakel verwandeln wird. So wie ihr Kindergeburtstag, den die lustlose Animateurin nur gerade so über die Bühne kriegt – wohl, weil sie Kinder hasst. Oder weil sie selbst gerne welche hätte? Aber bloß kein Mädchen! Oder doch? Die Signale, die Charming Charlotte von Claudia empfängt, sind widersprüchlich …

8

Marc the Mac ist ein Superheld, der Superheldencomics sammelt – aus Frust darüber, dass er selbst zu kurz gekommen ist. Alle um ihn herum haben fantastische Superkräfte. Marc aber kann weder fliegen, noch ist er besonders stark. Er kann sich auch nicht entmaterialisieren oder durch Wände gehen. Gedanken lesen und die Zukunft voraussagen gehören ebenfalls nicht zu seinen Fähigkeiten. Genauso wenig wie er Blitze, Laserstrahlen oder kosmische Energie absondern kann. Er kann weder die Luft noch die Zeit anhalten. Marc hat nur eine einzige, völlig sinnlose und überflüssige Superkraft: Er kann Schnecken flüstern hören. Ja, genau! So hat Marc the Mac, auch geschaut, als ihm das in frühester Kindheit während eines Familienurlaubs am Tegernsee klarwurde. Seitdem ist er extrem deprimiert. Er ist ein Nichts. Ein Niemand. Ein Versager. Und deshalb von Neid zerfressen …

9

The Incredible Lasse ist der größte Verwandlungskünstler, der in den letzten zwei Jahrhunderten auf der Erde gelebt hat. Nach einer kurzen Berührung kann er jede Gestalt und jedes Aussehen annehmen. Innerhalb von Millisekunden durchläuft sein Körper eine Metamorphose, und er verwandelt sich in große, kleine, blasse, dicke, dünne, hässliche oder schöne Menschen. In keinem dieser Körper hat es Lasse allerdings lange ausgehalten, bis er vor zwei Jahren eher zufällig in die Gestalt des Sportstudenten Mike schlüpfte. Eigentlich war es nur der dringende Wunsch gewesen, endlich wieder aus der Haut der depressiven, unter Diätzwängen und Panikattacken leidenden BWL-Studentin Eva zu fliehen. Also hat The Incredible Lasse bei dem für Eva ziemlich überraschenden One-Night-Stand mit dem knackigen Sportstudenten Mike ihren Körper verlassen. Am nächsten Morgen, als sein Kater ansatzweise verflogen war, ließ er die verstörte Eva zurück und fuhr sofort ins Fitnessstudio, um dort den Restalkohol auszuschwitzen. Da The Incredible Lasse zwar die Gestalt von anderen annehmen, ihre Handlungen aber nur teilweise beeinflussen kann, gibt es seitdem unzählige Sporteinheiten, kohlenhydratreiche Mahlzeiten und – an den Abenden – reichlich Alkohol. Gebräunt durch viele Stunden am Strand und auf dem Surfbrett und beinahe ebenso vielen Stunden im Bett von jungen, knackigen Studentinnen, ist sein Leben heute ein Traum! Und selbst die wenigen Stunden, die er im Sportgeschäft arbeitet, nutzt er dazu, teure Sportklamotten abzustauben oder weibliche Kundschaft aufzureißen.

10

Ahmed, The Anchor, verfügt über eine ganz besondere Fähigkeit: Er ist in der Lage, alles und jeden magnetisch anzuziehen. Die Methode funktioniert natürlich nicht über schnöden Magnetismus, sondern über ganz besondere Theta-Wellen. Leider kann Ahmed diese Wellen nicht optimal steuern. Außerdem glaubt ihm ohnehin niemand, dass er in irgendeiner Form anziehend ist. Dieser missmutige, kurz angebundene Mann mit der Hakennase und den beiden dicken Warzen im Gesicht, der stets auf Krawall gebürstet ist – wer sollte sich von dem angezogen fühlen? Sein neuer Fahrgast jedenfalls nicht. Dieser dicke, schnauzbärtige und leicht angetrunkene Mann findet nämlich, Ahmed fahre zu langsam. Dabei würde Ahmed ja selbst gerne schneller fahren. Aber er kann nicht. Die verdammten Theta-Wellen sind schuld. Jetzt wird er nämlich gerade angezogen. Und zwar von der Reeperbahn und den dortigen Verlockungen.

Für Pina, Iniesta und die einzig

wahre Superheldin.

1 Der Trainingsanzug und die Waschmaschine oder Wie alles begann …

Super, Manfred!» Claudias Stimme klang vorwurfsvoll. «Ganz toll. Wirklich.»

Sie war sauer. Stinksauer sogar.

Aber in diesem Moment war ihr ja auch noch nicht klar, dass sie kurz vor der größten und erstaunlichsten Entdeckung stand, die sie je gemacht hatte – die überhaupt je ein Mensch gemacht hatte. Sie wusste noch nicht, dass ihre Entdeckung dazu führen würde, dass sie schon bald dem personifizierten Bösen gegenüberstehen würde. Geschweige denn ahnte sie, dass das Böse vorhatte, sie zu vernichten. Claudia war einfach nur sauer.

Freddie protestierte: «Sprich bitte nicht mit mir, als wäre ich ein kleiner Junge!»

Mit funkelnden Augen sah Claudia ihn an. «Wer seine Klamotten in die Waschmaschine steckt, ohne die Taschen vorher auszuleeren, ist ein kleiner Junge! Wahrscheinlich hat einer deiner Kaugummis das Ding verstopft.»

Die neue, topmoderne Waschmaschine mit X3-Spülgang, Mengenautomatik, Schaumerkennung und Touch Control Display war eindeutig im Arsch. Und das, obwohl sie erst vier Monate alt war. Stumm und vorwurfsvoll stand sie auf dem Badezimmerboden und schien Claudia und ihren Freund Freddie mit offenem Maul anzustarren.

Wenn nicht ein Kaugummi daran schuld war, dann wahrscheinlich ein paar alte Taschentücher aus den Tiefen von Freddies Hosentaschen. Irgendetwas musste die Maschine ja lahmgelegt haben. Vielleicht wieder so was Bescheuertes wie letztens, als sie einen Türgriff zwischen der Wäsche gefunden hatte. Einen Türgriff! Wie auch immer der da reingekommen war. Sie hatte ihn jedenfalls nicht in die Waschmaschine gesteckt.

«Irgendwas war jedenfalls wieder in deinen Klamotten, Manfred!»

«Woher willst du wissen, dass es wirklich an mir liegt? Und nenn mich bitte nicht Manfred.»

«Du heißt aber so. Und wer die Waschmaschine kaputtmacht, hat schließlich Strafe verdient … Manfred

Natürlich war es Freddie gewesen, das stand für Claudia fest. Eigentlich war er ja ein lieber Kerl, aber er hatte diese schusseligen Anwandlungen. Und in letzter Zeit kam es andauernd zu diesen merkwürdigen Zwischenfällen. Den Türgriff in der Waschtrommel hatte er nicht erklären können. Das Gleiche galt für die seltsamen, langen Tierzähne, die Claudia vor einem Jahr aus seiner zerfetzten Hose gezogen hatte. Gruselig. Die seien bloß von einem Dachs gewesen, hatte Freddie versucht, sie zu beruhigen. Er und seine Kollegen von der örtlichen Feuerwehr hätten das Tier von einem Dachstuhl gerettet. Es habe sich gewehrt, und dabei müsse einer seiner Beißer irgendwie in die Hosentasche geraten sein. Eine idiotische Erklärung! Claudia würde sich jedenfalls nicht von Feuerwehrmann Freddie retten lassen, falls sie mal auf dem Giebel eines brennenden Hauses stehen sollte. Sie wollte ihr Gebiss behalten.

Wütend zerrte sie die nasse Wäsche aus der Trommel. Sie würde den Grund für den heutigen Schlamassel schon finden. Was war es diesmal? Ein Autoschlüssel? Eine Blumenvase? Eine Ledercouch?

Plötzlich riss Freddie entsetzt die Augen auf und fasste blitzschnell an Claudia vorbei. Er griff nach dem hässlichen, grellgrünen Trainingsanzug, der zwischen Claudias Jogginghose, seinem gelben Pulli mit dem albernen Häschenaufdruck und seinem durchgeschwitzten Unterhemd lag. Ungläubig zog er den Trainingsanzug hervor.

«Was … was hast du getan???» Seine Stimme war kraftlos, ein dünnes Flüstern. Die nackte Panik stand ihm in den Augen.

Claudia zuckte mit den Achseln und suchte weiter nach dem Übeltäter, der die Maschine gestoppt hatte. War es eine Kuh? Ein Fußballpokal?

«Ich habe deinen ollen Fetzen da gewaschen. Das heißt, ich hab es zumindest versucht. Bis die Maschine im Schleudergang den Geist aufgegeben hat …»

«Warum? Warum nur wäschst du ausgerechnet diesen … Trainingsanzug?» Mühsam presste Freddie die Worte heraus.

Er befühlte nervös den alten, abgewetzten Baumwollstoff, der triefend nass und schlaff in seinen Händen lag. Seine Finger zitterten, als er daran zog und feststellte, dass der Trainingsanzug eingelaufen war.

Claudia sah auf und bemerkte, wie Freddie heftig atmete. Warum stellte er sich bloß so an? Er sollte doch froh sein, dass sie ihm die Drecksarbeit abnahm!

«Der geht in die Altkleidersammlung. Genauso wie der gelbe Pulli mit dem blöden Aufdruck, der liegt doch auch schon seit Ewigkeiten nur rum. Die Sachen kannst du wirklich nicht mehr anziehen. Ich wollte sie weggeben und vorher noch kurz durchwaschen …»

Freddie starrte auf den Trainingsanzug und sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.

«Was hast du gegen Kleiderspenden?» Claudia fand Freddies Verhalten albern. Es gab schließlich Bedürftige! Es gab Menschen, die brauchten Kleidung nötiger als sie. Vielleicht sogar so einen hässlichen Trainingsanzug. Obwohl man mit diesem grellgrünen Ding eigentlich nicht an die Öffentlichkeit treten durfte. Die Gefahr, dass den Leuten beim Anblick übel wurde oder dass sie von der grellgrünen Farbe Augenschäden davontragen würden, war einfach zu groß.

«Morgen werden die Sachen abgeholt.» Entschlossen griff Claudia nach dem Trainingsanzug.

«Arrrgh …!» Freddie riss den Trainingsanzug an sich und sprang auf. Er presste das grässliche schlabberige Ding an sich, als wäre es ein Goldschatz. Mit einem Satz war er aus dem Zimmer.

Claudia blieb irritiert vor der Maschine sitzen. Dann ließ sie den gelben Häschen-Pulli sinken und stand auf. Im Flur sah sie, wie Freddie gerade mit seinem Trainingsanzug in der Hand die Wohnung verlassen wollte.

«Was, verdammt, ist mit dir los?» Claudia beobachtete ihren Freund, der anscheinend nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Er benahm sich wie ein Irrer auf Freigang.

Dabei war Manfred Süßengut, ihr Freddie, eigentlich ein ruhiger, anständiger, zurückhaltender und stets freundlicher Zeitgenosse. Ein Fels in der Brandung. Ein Ruhepol. Ein Trostspender. Manchmal sogar ein echter Langweiler.

Aber ein angenehmer Langweiler, dachte Claudia. In den fünf Jahren ihrer Beziehung hatte sie sich an das unaufgeregte Zusammenleben mit Freddie gewöhnt. Die Dinge liefen in geregelten Bahnen, ohne größere Aufregungen. In jeder Hinsicht. Aber mit Mitte dreißig waren Claudias Chancen auf einen kernigen Supermann von der Sorte «Brad Pitt» eben nicht mehr die besten. Das sah Claudia ganz pragmatisch. Und Freddie war schon okay.

Anfangs sogar mehr als das. Claudia erinnerte sich noch gut an das erste Treffen auf einem Grillfest und daran, dass sie Freddies muskulösen Rücken fasziniert angestarrt hatte. Sie wusste noch, dass ihr Blick wie magnetisch von Freddies starken, gebräunten Unterarmen angezogen worden war. Das hatte vielleicht etwas von Freddies Körpermitte abgelenkt. Nicht, dass er dick wäre. Aber eben kräftig gebaut. Und da er abends auf der Couch gern mal die ein oder andere Tüte Chips verdrückte, war er mittlerweile sogar noch etwas kräftiger geworden.

Aber wichtig waren doch vor allem die inneren Werte. Und Freddie hatte sich gleich zu Anfang ihrer Beziehung, also noch bevor man es überhaupt «Beziehung» nennen konnte, als emotionaler Frauenversteher entpuppt. Als ihm nämlich beim ersten gemeinsamen Videoabend während des Films Grüne Tomaten ein paar dicke Kullertränen über die Wangen liefen. Auch wenn Freddie noch jahrelang behauptet hatte, ihm sei eine Fliege ins Auge geflogen. Manchmal war es auch eine Wimper. Oder eine Augenentzündung. Aber Claudia erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem dieser große, kräftige Mann neben ihr auf dem Sofa plötzlich von einem heftigen Zittern erfasst wurde, als Mary Stuart Masterson auf dem Bildschirm gerade ihre Freundin Ruth an den Krebs verlor. Freddies Körper bebte so sehr, dass Claudia zuerst dachte: Hilfe, ein Epileptiker! Dann aber sah sie Freddies tränenfeuchte Wangen und seine große Hand, die sich an die Erdnussschale klammerte. Und da wusste Claudia, dass sie ihn sich schnappen musste: Denn Freddie war ein ganz Lieber.

Normalerweise jedenfalls.

Jetzt griff er sich den Hausschlüssel, klemmte sich den grellgrünen Stoff unter den Arm und war schon an der Wohnungstür. Wie ein Raubtier auf der Flucht sah er aus – geduckt, aggressiv, mit rot unterlaufenen Augen.

«Freddie?»

«WAS???» Er fuhr herum und funkelte Claudia wütend an.

Erschrocken zuckte sie zusammen. Dann versuchte sie, Freddie zu beruhigen.

«Wenn du nicht willst, dass ich den Trainingsanzug in die Altkleidersammlung gebe, dann sag das doch. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass du einem armen, hungernden Kind in Afrika eine wärmende, tröstende Anzugjacke vorenthalten würdest, nur um sie wieder sinnlos unter deinem Bett vergammeln zu lassen, aber bitte. Wenn du unbedingt willst …»

Freddie starrte Claudia eindringlich an. Und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, als würde er sich gleich auf sie stürzen.

Dann aber sagte Freddie langsam und betont ruhig: «Erstens ist es in Afrika warm. Zweitens kann man die Trainingsjacke nicht essen. Und drittens geht dich das überhaupt nichts an.»

Damit drehte er sich um und war aus der Tür, bevor Claudia noch irgendetwas erwidern konnte. Wumms!

Nachdem die Tür lautstark ins Schloss gefallen war, blieb Claudia verstört zurück. Den verdammten Kaugummi holst trotzdem du aus der Maschine, dachte sie noch. Aber dann begann sie zu grübeln. So kannte sie Freddie gar nicht. Er war doch eigentlich immer freundlich und kontrolliert. Dass er auch laut werden konnte, hatte Claudia nicht geahnt. War das derselbe Freddie, der samstags immer den Wagen wusch und danach die Putzlappen auskochte? Der Freddie, der das Glas trennte und vorher noch die Etiketten abknibbelte? Der Freddie, der sogar mitten in der Nacht an einer einsamen, roten Fußgängerampel stehen blieb, auch wenn man einen näher kommenden Wagen schon kilometerweit sehen würde?

Claudia erinnerte sich noch, wie sie Freddie einige Wochen nach der Grillparty im Wohnzimmer eines Nachbarn wiedergetroffen hatte. Sie hatte aus Versehen ihr Weinglas umgestoßen und einen großen Rotweinfleck auf dem weißen Teppich verursacht. (Aber wer kauft sich auch einen weißen Teppich?) Alle Anwesenden hatten wie erstarrt auf den dunklen, sich ausbreitenden Fleck gestarrt, vor allem die entsetzte Gastgeberin. Nur Freddie hatte blitzschnell gehandelt. In Windeseile war er mit einem Handtuch und einem Salzstreuer zur Stelle gewesen, um das Schlimmste zu verhindern. Na ja, dass Claudia zum letzten Mal eingeladen war, konnte auch er nicht verhindern. Aber das war nicht weiter schlimm. Über den Weinfleck waren Claudia und Freddie ins Gespräch gekommen, und als er ihr erzählte, dass er Feuerwehrmann war, hatten Claudias Augen aufgeblitzt. Als kleines Mädchen hatte sie immer davon geträumt, einmal einen Feuerwehrmann zu heiraten. Sie musterte Freddies imposanten Körper und stellte sich vor, wie er mit bloßem, durchtrainiertem Oberkörper, ein Rettungsseil zwischen den Zähnen, an einem brennenden Haus hinaufkletterte. Auf einmal fand sie den ruhigen, eher unscheinbaren Freddie um Längen attraktiver.

Sie hatte ihn angelächelt und gefragt: «Und – rettest du täglich verzweifelte Menschen aus brennenden Hochhäusern?»

«Äh … eher nein.» Freddie hatte mit den Achseln gezuckt und geschwiegen. Die Gelegenheit für einen charmanten Spruch à la «Für so eine attraktive Frau wie dich würde ich das Haus sogar eigenhändig in Brand stecken!» hatte er definitiv nicht genutzt.

Aber Claudia hatte nicht lockergelassen. «Rettest du denn wenigstens hilflosen Frauen das Leben, wenn sie mit ihrem Wagen in einen reißenden Fluss stürzen?»

«Mmh … eigentlich auch nicht.» Freddie hatte verlegen am Schild seines Pullovers geknibbelt.

«Was machst du dann? Holst du Leoparden vom Baum, wenn sie aus dem Zoo ausgebrochen sind?»

Kopfschütteln.

«Katzen?»

Auch die nicht.

Schließlich hatte Claudia genervt gefragt: «Was machst du denn eigentlich bei der Feuerwehr?»

«In den meisten Fällen stellen wir technische Hilfeleistung oder sind bei der Beseitigung von Sturm- und Wasserschäden beteiligt. Aber meine Arbeitszeit verbringe ich vornehmlich damit, den Einsatzwagen zu putzen und die Ausrüstung instand zu halten und …»

Aha. Claudia hatte ein wenig enttäuscht genickt. Aber sie war sich sicher gewesen, dass Freddie nur kokettierte und seine eigentlichen Heldentaten verschwieg.

Heute, fünf Jahre später, wusste Claudia, dass Freddie nichts als die Wahrheit gesagt hatte.

2 Rückblende: Einen Tag zuvor, im Süden der Republik

Der grellgrüne Stoff spannte sich über seine breite Brust. Seine Muskeln bebten darunter unruhig wie die einer Raubkatze vor dem Sprung. Elegant schimmerte der Trainingsanzug im Sonnenlicht und schmiegte sich eng um Supermanfreds athletischen Körper. Nicht nur seine Körperhaltung war kraftvoller als normalerweise, auch sein Gesicht wirkte kantiger. Seine Augen waren hellwach, und ein furchtloses Glimmen leuchtete darin, als er den Blick über die Umgebung schweifen ließ.

Supermanfred stand auf einem Felsen, hoch oben auf einem Berg. Um ihn herum nur karges Gestein. Die Aussicht von hier oben war fantastisch. Unter ihm lag die endlose Weite des Tals, er konnte kilometerweit sehen, schöner war nur der Blick in die Lüfte. Er schien die wenigen Wolken mit der Hand greifen zu können.

Die Sonne strahlte warm, und der Wind sauste durch sein Haar. Sonst bewegte sich nichts. Mit wachsamen Augen schaute er in die Tiefe.

Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Seine Pupillen verengten sich. Ein Zucken flackerte über sein Gesicht. Supermanfred ging in die Knie, federte und stieß sich mit aller Kraft vom Felsen ab. Er schien einen Moment in der Luft zu stehen, dann aber fiel er, stürzte, flog. Majestätisch sah das aus. Blitzschnell sauste er in die Tiefe, im freien Fall, die Faust nach vorne gestreckt.

Bis Supermanfred plötzlich die Richtung änderte und nach links in Richtung Talbrücke abbog.

In gut hundertfünfzig Metern Höhe erstreckte sie sich über die breite Mündung des Flusses. Aber nicht mehr lange. Denn eines ihrer stählernen Spannseile war gerissen. Befreit von dem enormen Druck schnalzte es durch die Luft und fegte beinahe einen Lastwagen von der Fahrbahn. Nur knapp zischte das dicke Stahlseil am Führerhaus vorbei. Aber nun geriet die gesamte Brücke in Schieflage. Das war zwar die Rettung für den Lastwagenfahrer, weil das Stahlseil schon wieder gefährlich nah an ihm vorbeipeitschte. Doch mit einem Mal war aus den Pfeilern der Brücke ein gewaltiges Stöhnen zu hören. Der Asphalt riss auf, und ein Teil der Straße stürzte in die Tiefe. Schwere Gesteinsbrocken und meterlange Stahlträger sausten durch die Luft. Zwei sich nähernde Kleinwagen kamen im letzten Moment zu Stehen. Das Quietschen ihrer Bremsen hallte laut durch das Tal.

Von der anderen Seite näherte sich ein Schulbus dem klaffenden Abgrund. Der Fahrer ahnte die Gefahr jedoch nicht, denn er war gerade damit beschäftigt, den elfjährigen Quentin und seinen Klassenkameraden Leon vom Streiten abzuhalten.

Quentin hatte seinen Sitznachbarn einen Versager genannt, und Leon hatte sich mit einer Tüte Brezeln revanchiert, die er Quentin über dem Kopf zerbröselt hatte. Daraufhin hatte Quentin den Turnbeutel seines Widersachers genommen und ihn quer durch den Schulbus geworfen. Die anderen Kinder grölten vor Vergnügen, denn Leons Unterhose mit den rosa Elefanten fiel heraus. Sie landete auf dem Kopf von Elisabeth, der Klassenschönheit. Elisabeth schrie. Leon lief rot an. Quentin juchzte. Leon röhrte los und stürzte sich auf Quentin.[1] Ein Tumult brach los. Der Busfahrer schimpfte und blickte sich ständig nach hinten um. Mittlerweile war der Bus mitten auf der Brücke angekommen, wenige Meter entfernt von der Abbruchkante – und dem sicheren Tod.

Nur einer war sofort zur Stelle: Supermanfred. Er flog pfeilschnell direkt über den Bus und bekam die Verkleidung des Dachs zu packen. Kurz hielt er die Luft an und sammelte seine Kräfte. Dann atmete er ein und hob den Bus in die Höhe, nur Sekunden bevor dieser in den Abgrund gestürzt wäre.

Der Busfahrer, der sich erneut zu Leon umgedreht hatte, bemerkte es zunächst nicht. Und auch die anderen Kinder, die jetzt ein begeistertes Wurfspiel mit Leons Elefantenunterhose vollführten, bekamen nichts davon mit, dass der Bus plötzlich einige Meter durch die Luft flog – über den Abgrund hinweg.

Supermanfred drehte keine Extrarunde und flog diesmal auch keinen Looping. Er stellte den Bus einfach sicher auf der anderen Flussseite ab, wo die Reifen sich beim Kontakt mit dem Asphalt sofort weiterdrehten.

Der Busfahrer schimpfte noch einmal. «Jetzt ist aber Ruhe! Ich will nichts mehr hören!» Dann wandte er sich wieder nach vorne und gab entschlossen Gas. Als wäre nichts gewesen.

Supermanfred nickte zufrieden. Er hatte keinen Dank erwartet. Ohnehin war es besser, wenn die Menschen gar nicht so viel von seiner Existenz erfuhren. Sonst stellten sie Fragen. Öffentlichkeit war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er zog steil nach oben und verschwand hinter der Bergspitze. Es gab hier nichts mehr für ihn zu tun. Die beiden Kleinwagen auf der halb zerstörten Brücke versperrten den nachkommenden Autos den Weg. An dieser Barriere kam niemand vorbei, und so würde auch niemand in die Tiefe stürzen. Auf der gegenüberliegenden Seite stand der Lastwagen quer auf der Fahrbahn. Niemand war zu Schaden gekommen. Und für den Wiederaufbau der Brücke war er nicht zuständig. Supermanfred drehte nach Norden ab. Vielleicht würde er bereits in der größten Hafenstadt des Landes gebraucht.

3 Der ganz normale Wahnsinn

Noch Minuten nachdem Freddie die Wohnung verlassen hatte, hing Claudia ihren Gedanken nach. Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Lange starrte sie auf die Wand gegenüber, auf das Bild mit den drei bunten Tulpen, das sie vor zehn Jahren gekauft hatte und das sie eigentlich nicht mehr leiden konnte. Sie starrte auf die verstaubten Blätter der kümmerlichen Grünpflanze daneben. Auf den Fernseher, den Freddie sicherlich gleich wieder anschalten würde, wenn er heute Abend von der Arbeit zurückkam. Erschöpft, wie immer.

Die Traurigkeit kam in Claudia hoch wie ein Schluckauf. Abrupt war das schale Gefühl da, und sie konnte es nicht unterdrücken. Sie fragte sich, warum Freddie bloß dauernd so müde war, wenn er doch im Job nichts weiter tat, als den Feuerwehrwagen zu putzen. Gut, dann und wann half er mal, ein Unfallauto wegzuräumen oder den ein oder anderen Kleinstbrand zu löschen. Aber das war’s auch schon. Sonst schob er eine ruhige Kugel.

Dabei könnte er ihr gegenüber ruhig etwas aufmerksamer sein. Denn eigentlich war sie doch die perfekte Partnerin. Fand zumindest Claudia selbst. Sie hatte sich ohne zu murren an seine unregelmäßigen Dienstzeiten gewöhnt und daran, dass er manchmal mit ein paar merkwürdigen Schrammen und unschönen blauen Flecken nach Hause kam. Woher die Verletzungen kamen, konnte sich Claudia auch nicht so recht erklären – vom Autoputzen sicherlich nicht. Freddie hatte jedoch stets eine passende, schlüssige Begründung parat. Aber er war ohnehin nicht der Typ, der sie hintergehen würde.

Er war eben eher der Typ, der abends erschöpft aufs Sofa sank und in seiner Freizeit kaum aus dem Haus zu kriegen war. Warum wohnten sie überhaupt in Hamburg, wenn sie doch nie ausgingen oder etwas unternahmen?

Sicher, auch Claudia konnte einem gemütlichen Abend vor der Glotze etwas abgewinnen, aber ein bisschen Abwechslung wäre doch auch mal schön. Mal aus dem langweiligen Alltag auszubrechen …

Claudia starrte auf den Fernseher und überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, ob sie ihn einschalten sollte. Aber es war Samstagnachmittag, und es würde ohnehin nichts Vernünftiges laufen. Nein, bis Freddie zurückkam, würde sie sich langweilen. Allein, zu Hause, auf der Couch. Draußen pulsierte das Leben, hier drinnen gab es nur Tristesse und Langeweile. Und hässliche Grünpflanzen.

Und einen Anrufbeantworter, der nicht blinkte. Natürlich hätte Claudia selbst zum Telefon greifen und eine ihrer vielen Freundinnen anrufen können, aber die Wahrheit war: So viele waren es gar nicht. Und von denen war die eine Hälfte im Urlaub und die andere Hälfte so dynamisch, erfolgreich und gut gelaunt, dass Claudia sie jetzt nicht ertragen könnte. Sie hätte den Computer anstellen können, aber sie wusste, dass sie das schlechte Gewissen dazu verleiten würde, ihre E-Mails zu kontrollieren. Neben einem Haufen Spam würde sie wahrscheinlich nur mit Mails aus dem Büro bombardiert werden.

Kurzerhand stand Claudia auf und ging zum Wohnzimmerschrank. Mit Schokolade ließen sich Frust und Langeweile besser ertragen. Vielleicht konnte sie damit auch die nötige Energie aus ihrem Körper kitzeln, um sich wie eine dieser dynamischen, erfolgreichen und selbständigen Großstadtfrauen zu fühlen, die von Designer-Highheels, Designer-Kleidern, Designer-Unterwäsche, Designer-Handtaschen, Designer-Wohnungen und Designer-Freunden umgeben waren.

Mit zwei Schokoriegeln in jeder Hand ließ Claudia sich wieder aufs Sofa fallen. Sie überlegte, ob sie doch noch ihre beste Freundin Regine anrufen sollte, als plötzlich, wie durch Gedankenübertragung, das Telefon zu klingeln begann.

Regine?, dachte Claudia erfreut. Doch als sie das Display sah, verging ihr das Lächeln. Es war Beringer.

Ihr Chef rief sie zu Hause an. An einem Samstagmorgen. Um halb elf. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Und das tat es auch nicht.[2]

«Herr Beringer!» Claudia seufzte in den Hörer. «Schönen guten Tag.»

«Haben Sie die Kellner überprüft?» Beringers Stimme knarzte in der Leitung.

«Wie bitte? Was –»

«Haben Sie die Kellner überprüft?» Er war so unfreundlich und ungeduldig wie werktags. Und wie immer wusste Claudia nicht, was er eigentlich von ihr wollte.

«Äh … was heißt überprüft? Ob sie eine Kellnerausbildung haben? Ob sie schielen? Oder ob sie einen terroristischen Anschlag planen?»

Claudia fand ihre freche Antwort durchaus gelungen, doch Beringer stieg nicht auf ihren Scherz ein.

«Ob einer von ihnen Vegetarier ist, natürlich. Nicht, dass es heute Abend zu Konflikten kommt!»

Genervt verdrehte Claudia die Augen. An diesem Abend fand der alljährliche Empfang der Hamburger Fischhändler statt. Und die Agentur, bei der Claudia als Eventmanagerin angestellt war, arbeitete seit Monaten an der Organisation der Veranstaltung. Wobei sich Claudia fragte, warum man so viel Zeit für eine vergleichsweise unspektakuläre Veranstaltung aufwenden musste. Aber sie kannte die Antwort: Es lag ausschließlich an Beringer und seinem beinahe krankhaften Perfektionswahn.

Warum sie ausgerechnet im Eventbereich gelandet war, wusste Claudia auch nicht. Sie hatte sich gute Verdienstmöglichkeiten und ein spannendes Aufgabenspektrum ausgemalt. Aber statt viel Geld gab es höchstens viele Überstunden. Und statt Abenteuer und Glamour nur dröge Butterfahrten für Krankenkassenmitarbeiter oder langweilige Hüpfburgen für parteigesponserte Kinderfeste.

Das einzig Aufregende in ihrem Job war Claudias nicht nur penibler, sondern auch völlig cholerischer Chef Beringer, der immer wieder und vor allem zu den unpassendsten Zeiten mit irgendwelchen kruden Ideen um die Ecke kam.

So auch heute.

Und wie fast immer war sein Anliegen höchst seltsam. Denn die Frage, ob die Kellner beim Empfang der Fischhändler auch wirklich alle selbst Fisch aßen, war doch völlig bescheuert, fand Claudia. Sie sollten den Fisch doch nur servieren und gerade nicht selbst essen.

Aber leider war Beringers Anliegen wie immer ernst gemeint.

Ihr Chef war ein erschreckend humorloser Mittfünfziger. Ein Anzugträger, der trotz seines stets offenstehenden Hemdes, seiner künstlich gebräunten Haut und seines krampfhaft jugendlichen Auftretens wirkte, als hätte er das Leben bereits hinter sich. Wie der Typ es schaffte, eine Eventagentur am Laufen zu halten, war Claudia schleierhaft.

Aber zum Glück war die Auftragslage gut, sonst hätte sie sich einen anderen Job suchen müssen. Und das wollte Claudia vermeiden. Es war schwer genug gewesen, diesen zu ergattern – ohne großartige Vorkenntnisse. Also biss Claudia auch an diesem Samstagvormittag die Zähne zusammen und tat wie gewöhnlich das, was Beringer von ihr verlangte.

«Ist die Überprüfung denn wirklich nötig? Ich meine, eine gesunde Einstellung zur Ernährung macht einen noch lange nicht zum Ökoterroristen!»

«Sind Sie etwa selbst Vegetarierin?» Beringer klang extrem beunruhigt, und Claudia sah ihn vor ihrem inneren Auge schon in Schweiß ausbrechen.

Schnell erklärte sie: «Nein, natürlich nicht!»

«Na, also! Dann überprüfen Sie die Kellner!»

«Aber kann Britta nicht –»

Beringer knallte den Hörer auf. Nein, offensichtlich konnte ihre Kollegin nicht einspringen.

Claudia seufzte.

Als sie kurze Zeit später runter in die U-Bahn ging, klingelte ihr Handy. Es war Britta. Als ob sie es gerochen hätte.

«Hallo, Claudia!» Britta verdeckte nur oberflächlich die Abneigung, die sie gegen Claudia hegte.

«Hallo, Britta!» Claudia gab sich wirklich Mühe, die Kollegin nicht merken zu lassen, wie sehr sie ihr auf die Nerven ging. «Was kann ich für dich tun?»

«Der Empfang der Fischhändler – mir ist gerade eingefallen, dass die Praktikantin …»

«Keine Sorge, ich bin schon unterwegs.»

«Wieso?» Brittas Stimme war schrill wie drei Alarmglocken.

Claudia biss sich auf die Lippen. Sie hatte für einen Moment vergessen, wie besitzergreifend Britta war. Und wie aufopferungsbereit sie ihren Job anging. Oder anders gesagt: Wie verzweifelt und deprimiert Brittas Leben sein musste, dass sie an einem Samstag freiwillig arbeiten wollte.[3]

Britta hatte die Tendenz, alle Aufgaben an sich zu reißen. Grundsätzlich hätte Claudia damit kein Problem. Warum auch nicht? Sollte die verhärmte Britta doch bis zum Umfallen schuften und sich die Nächte, Tage und Wochenenden um die Ohren schlagen. Claudia würde entspannt die Beine hochlegen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Nur leider war es so, dass Beringer jedes Mal, und wirklich jedes Mal, Claudia beauftragte, nach dem Rechten zu sehen, Standard- und Sonderaufgaben durchzuführen und überhaupt den ganzen Laden zu schmeißen. Eigentlich könnte Claudia sich glücklich schätzen, war sie nicht angetreten, um einen spannenden und aufregenden Beruf zu haben?