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Über dieses Buch:

Manchmal muss man seine Heimat verlassen, um ein neues Zuhause zu finden. Deswegen packt auch Anna ihre Koffer und besteigt einen Dampfer, der sie in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bringen soll. Nur ganz so strahlend ist die Neue Welt leider nicht: Zahllose Einwanderer suchen verzweifelt nach Arbeit. Eine zarte Hoffnung auf Glück tut sich auf, als Anna Anstellung auf einer Ranch findet. Endlich wieder Weite und Pferde, Sonnenduft und Pfirsicheistee – und eine neue Liebe? Doch auch in diesem Paradies ziehen bald dunkle Wolken auf …

Das große Finale der Schneetänzerin-Saga: Ein bewegender Roman über die Kraft von Freundschaft und Liebe in Zeiten voller Schrecken und Dunkelheit.

Über die Autorin:

Judith Nicolai wurde 1976 in Karlsruhe geboren. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits mit 14 Jahren. Dennoch machte sie erst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte anschließend Gartenbauwissenschaften. Heute lebt sie in der Nähe von Karlsruhe.

Bei dotbooks erschienen bereits Judith Nicolais Romane »Die Frauen vom Schlehenhof«, »Schneetänzerin« und »Das Herz der Schneetänzerin«.

Die komplette »Schneetänzerin«-Trilogie ist auch als Sammelband unter den Titeln »In Zeiten des Sturms« und »Schneetänzerin – Das Herz der Schneetänzerin – Der Traum der Schneetänzerin. Drei Romane in einem eBook« erhältlich.

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Originalausgabe November 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Vera Baschlakow

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von Bildmotiven von istockphoto/Maksymowicz

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-874-8

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Judith Nicolai

Der Traum der Schneetänzerin

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Bremen, 31. Dezember 1950

Jetzt steckten Gisi und Lore schon wieder die Köpfe über Gisis Verlobungsring zusammen und kicherten wie zwei Backfische. Ich schüttelte den Kopf und begann, die Eier zu füllen. Den Kartoffelsalat mussten wir noch machen, und die Bowle war auch nicht fertig.

Ich hatte meine Freundin Gisi, mit der ich schon seit über fünf Jahren zusammen in der Kantine der amerikanischen Streitkräfte arbeitete, eingeladen, Silvester mit uns zu feiern. Denn seit Gisi ihren Eltern erzählt hatte, dass sie sich mit ihrem Freund Teddy, einem GI, verlobt hatte, stand es bei ihr zu Hause um die Stimmung nicht zum Besten. Ihr Vater weigerte sich immer noch, mit ihr zu sprechen. Da Teddy Dienst hatte, verbrachte sie den Abend bei uns. Auch meine Tanten Käthe und Heidrun und unsere Mieterin Lore würden mit uns feiern.

»Könntet ihr mir vielleicht auch mal helfen, oder wollt ihr für den Rest des Jahres den Ring bewundern?«

Gisi und Lore beachteten meine säuerliche Bemerkung überhaupt nicht, sondern tratschten einfach weiter. »Erzähl doch mal, wie der Antrag war«, bat Lore mit funkelnden Augen. »War es romantisch? Hat er dich aus den Puschen geworfen?«

»Das kannst du laut sagen.« Gisi streichelte mit der rechten Hand zärtlich ihren Ring, als wäre er Teddys Hand. Ich verdrehte die Augen. Die Geschichte von Teddys Antrag kannte ich schon. »Teddy wollte unbedingt einen Spaziergang machen, dabei wusste er genau, dass ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war. Mir war furchtbar kalt, also hat er meine Hand zu seiner in die Manteltasche geschoben, und plötzlich hatte ich den Ring am Finger. Als er dann meine Hand genommen und mich gefragt hat, ob ich seine Frau werden will, wäre ich fast umgefallen.«

Lore seufzte und rührte versonnen in der Mayonnaise. »Du Glückspilz. Wenn ich da an Walterchens Vater denke …«

»Wieso?«, fragte ich. »Wie hat er denn um deine Hand angehalten?«

»Eigentlich gar nicht, wenn ich es mir so recht überlege. Walterchen war unterwegs«, fügte sie erklärend hinzu. »Als ich gemerkt habe, dass ich schwanger bin, habe ich ihm einen Brief geschrieben. Er hat mir geantwortet: ›Volltreffer, so ein Mist! Dann müssen wir eben heiraten.‹«

»Autsch«, sagte ich mitfühlend.

»Er hat eine Woche Sonderurlaub bekommen, und wir sind ab aufs Standesamt.« Sie zuckte mir den Schultern. »Tja, das war dann meine Brautzeit und die Hochzeit.«

»Und wie ging es weiter?«, wollte Gisi neugierig wissen.

»Na ja, während unserer Flitterwochen, wenn man das so nennen kann, war mir ständig schlecht, sodass er nicht viel mit mir anfangen konnte. Als sein Urlaub vorbei war und er wieder fort musste, waren wir beide ganz froh. Sechs Wochen später war er tot, und ich war Witwe mit 21.« Lore begann, Kartoffeln für den Salat zu pellen. Als keine von uns etwas sagte, hob sie den Kopf und sah unsere betroffenen Gesichter. »He, nun schaut mal nicht so drein wie die Hühner, wenn’s donnert«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Es war Krieg. Was meint ihr, wie vielen Frauen es ähnlich gegangen ist wie mir?«

»Ja, schon«, meinte Gisi niedergeschlagen. »Aber es ist so traurig, wie wenig Zeit ihr miteinander hattet.«

»Ach, ich weiß nicht.« Lore griff nach der nächsten Kartoffel. »Ich glaube, mit uns beiden wäre es sowieso nicht gut gegangen. Wäre ich nicht schwanger geworden, hätten wir nie geheiratet. Wenn ich nur daran denke, wie wir seine Urlaubswoche in meinem kleinen Zimmer verbracht haben. Ich habe mich so geschämt, wenn ich mich übergeben musste. Am liebsten hätte ich mich unter der Bettdecke verkrochen und wäre gestorben. Und er hatte sich seine Flitterwochen natürlich auch ein wenig anders vorgestellt, der arme Kerl. Aber im Krieg gelten andere Regeln. Man wusste ja nicht, wie lange man noch zu leben hatte. Natürlich tut es mir leid, dass er so jung sterben musste und dass Walterchen nun ohne Vater aufwachsen wird. Aber abgesehen davon vermisse ich ihn nicht. Wir haben uns ja kaum gekannt.« Nachdenklich blickte Lore auf das Messer in ihrer Hand. »Wenn man es so betrachtet, habe ich vermutlich noch Glück gehabt. Wie furchtbar wäre es gewesen, wenn er mir wirklich etwas bedeutet hätte.«

»Ach, Lore«, schniefte Gisi. »Ich weiß nicht. Wenn du ihn geliebt hättest, könntest du wenigstens an eure gemeinsame Zeit zurückdenken.«

»Ich glaube, Lore hat recht«, murmelte ich, während ich großzügig Weißwein in die Bowle schüttete. »Das hat ihr viel Leid erspart.«

Als wir mit unseren Vorbereitungen fertig waren, baten wir die Tanten ins Wohnzimmer, und Lore schaltete das Radio an, in dem das Silvester-Wunschkonzert übertragen wurde. Gisi hatte Zubehör zum Bleigießen mitgebracht, und nach dem Essen schmolz jede von uns ein Klümpchen Blei über einer Kerzenflamme und kippte es in eine Schüssel mit kaltem Wasser. Dann steckten wir die Köpfe über dem erstarrten Gebilde zusammen und deuteten mit Hilfe eines Heftleins kichernd seine Bedeutung für das Jahr 1951.

Während Gisis Klumpen vage die Form einer Blume angenommen hatte, was ein klarer Hinweis auf ihren Brautstrauß war, und Lores einem Hammer glich, war mein Stückchen Blei, als ich es mit spitzen Fingern aus dem Wasser angelte, einfach nur ein hässliches, kleines Häufchen. Aus irgendeinem albernen Grund deprimierte mich das ungemein. Vermutlich bedeutete es, dass das neue Jahr für mich genauso trostlos werden würde, wie das alte endete. Dafür hätte ich weiß Gott kein Orakel gebraucht.

Nachdem ich fünf Jahre lang auf meine Jugendliebe Adam gewartet hatte, der an der Ostfront vermisst war, hatte ich im Frühjahr Sam kennengelernt, einen Captain der US-Streitkräfte, und mich in ihn verliebt. Doch als ich erfuhr, dass Adam schon 1945 in Kriegsgefangenschaft gestorben war, fühlte ich mich so schuldig, als hätte ich selbst seinen Tod verursacht. Ich konnte so nicht mehr bei Sam bleiben und trennte mich von ihm. Und nun war seine Dienstzeit bei der Army zu Ende und er zu seiner Familie nach Delaware zurückgekehrt. Ich vermisste ihn in jeder wachen Sekunde, und sogar in meinen Träumen sah ich sein Gesicht vor mir. Doch vermutlich würden wir uns nie wiedersehen.

Um Mitternacht stießen wir mit einer Flasche Sekt auf ein glückliches neues Jahr an, dann gingen die Tanten zu Bett. Lore trug ihren kleinen Sohn Walterchen, der schon längst unter dem Couchtisch eingeschlafen war, nach oben und räumte mit Gisis Hilfe das Wohnzimmer frei. Dann tanzten die beiden zum Swing, den AFN spielte. Ich beschränkte mich darauf, ihnen vom Sofa aus zuzusehen, im Takt zur Musik mit dem Fuß zu wippen und mich darum zu kümmern, dass die Bowle nicht verdarb.

Als Lore und Gisi sich atemlos neben mich fallen ließen, streckte ich ihnen meinen linken Arm entgegen. »Habe ich euch eigentlich schon erzählt, dass Sam mir diese Uhr zu Weihnachten geschenkt hat? Gisi kriegt einen Ring und ich dieses blöde Ding mit dem albernen roten Armband. Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit?«

»Ich finde die Uhr eigentlich ganz hübsch«, meinte Lore und sah auf mein Handgelenk.

»Ach, du hast doch keine Ahnung«, sagte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Mit einem schnellen Griff brache Lore ein Sektglas in Sicherheit, das ich beinahe vom Couchtisch gefegt hätte. »Ich dachte, du hast Captain Boyd den Laufpass gegeben? Wieso solltest du dann einen Ring von ihm bekommen? Ich finde es ja sehr nett von ihm, dir überhaupt etwas zu Weihnachten zu schenken.«

Gisi antwortete ihr über meinen Kopf hinweg, als wäre ich gar nicht da. »Das ist doch ganz einfach: Er macht ihr einen Antrag, aber sie gibt ihm einen Korb. Dann fällt ihr ein, dass sie ihn doch mag, aber jetzt will er nicht mehr, weil er beleidigt ist. Und nun kriegt sie kalte Füße, weil sie Angst hat, als alte Jungfer zu enden, und versucht deshalb, sich in der Ananasbowle zu ertränken.« Kopfschüttelnd entwand sie mir mein Glas. »Ihr benehmt euch wie die kleinen Kinder, alle beide.«

Entrüstet schlug ich Gisi auf den Schenkel. »Und du willst meine Freundin sein? Du könntest mich wenigstens ein bisschen bedauern, aber nein, stattdessen machst du dich über mich lustig!«

Gisi rieb sich ihr schmerzendes Bein. »Dich sollte man wirklich keinen Alkohol trinken lassen. Weißt du noch, wie ihr euch kennengelernt habt, du und Sam? Da warst du auch betrunken.«

Ich seufzte. »Oh, ja. Das war romantisch. Er hat mir ein Glas Orangensaft gebracht. Außerdem war ich nicht betrunken, sondern nur ein bisschen beschwipst.« Ich ließ mich an Gisis Schulter sinken. »Er fehlt mir so sehr.«

Gisi tätschelte meinen Kopf. »Ich weiß. Ach, Anna. Was mache ich bloß mit dir?«

Lore erhob sich ächzend. »Ich würde sagen, wir bringen sie erst mal ins Bett. Ich bin jedenfalls hundemüde.«

Ich sah den beiden vom Sofa aus dabei zu, wie sie das Wohnzimmer aufräumten. Als mir einfiel, dass Gisi bei uns übernachten würde, rappelte ich mich auf. Während mir fast die Augen zufielen, suchte ich ihr ein Kissen und ein paar Decken heraus und machte ihr auf dem Sofa ein gemütliches Lager zurecht. Dann wankte ich hinauf in mein Zimmer, schlüpfte aus Rock und Bluse und kroch ins Bett, ohne mir auch nur die Zähne geputzt zu haben.

Als Gisi und ich am nächsten Vormittag beim Frühstück saßen, warf sie mir immer wieder besorgte Blicke zu.

»Wirst du zurechtkommen, wenn ich in Amerika bin?«

Ich hielt mir den Kopf und grinste schwach. »Klar. Ich brauche nur jemanden, der dafür sorgt, dass ich keinen Alkohol trinke.«

»Ich finde immer noch, du solltest dir überlegen, ob du nicht auch nach Amerika auswandern willst.«

Ich winkte ab. »Selbst wenn ich wollte, bräuchte ich bestimmt ein Visum und jede Menge Papiere. So viele Leute wollen auswandern. Warum sollten sie in Amerika ausgerechnet auf mich warten?«

»Denk wenigstens noch mal darüber nach«, beharrte Gisi.

»Eigentlich finde ich Giselas Vorschlag gar nicht so abwegig.«

Weil Gisi nicht aufhören wollte, mich mit ihrer Schnapsidee vom Auswandern zu plagen, hatte ich schließlich den Tanten davon erzählt. Ich war fest davon überzeugt, dass sie den Vorschlag genauso lächerlich finden würden wie ich. Doch zu meiner großen Überraschung reagierte ausgerechnet Heidrun ganz anders.

»Du bist viel zu intelligent, um dein Leben lang den Amerikanern das Essen zu servieren. Das wird dich auf Dauer nicht glücklich machen. Ich habe mich ab und an schon gefragt, ob es nicht ein Fehler war, dir damals diese Stelle zu besorgen.«

»Also hör mal, Heidrun, der Job war das Beste, was mir passieren konnte. Immerhin habe ich uns mit Lebensmitteln versorgt, als es nach dem Krieg nichts zu essen gab.«

»Das will ich auch gar nicht bestreiten. Für eine Übergangszeit war es die perfekte Lösung. Aber doch nicht für immer. Die Arbeit in der Kantine gefällt dir leidlich, und Gisela ist ohne Zweifel eine nette Kollegin. Aber was wird sein, wenn sie nicht mehr da ist? Außerdem ist es durchaus möglich, dass der Stützpunkt in den nächsten Jahren komplett nach Bremerhaven verlegt wird.«

»Aber deshalb muss Anna doch nicht gleich auswandern. Wir haben ihr oft genug angeboten, sie zu unterstützen, wenn sie das Abitur machen und vielleicht sogar studieren will.« Käthe wandte sich an mich. »Und du weißt, dass du jederzeit als Lehrmädchen bei mir anfangen kannst, wenn du das möchtest.«

»Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen, aber ich glaube nicht, dass Damenschneiderin der richtige Beruf für mich wäre.«

»Wenn ich mir deine Nähte anschaue, habe ich da auch so meine Zweifel«, murmelte Käthe. »Doch ich wäre gerne bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Und selbst wenn du nicht bei mir in die Lehre gehen willst, gibt es hier in Deutschland bestimmt noch andere Möglichkeiten. Ich bekomme ja fast den Eindruck, du willst Anna dazu überreden, nach Amerika zu gehen.« Die letzten Worte richtete Käthe in scharfem Ton an ihre ältere Schwester.

Heidrun schüttelte den Kopf. »Natürlich will ich Anna nicht verlieren. Aber ich fände es egoistisch, ihr diese Möglichkeit auszureden, nur weil wir sie bei uns behalten möchten. Und lasst uns doch realistisch sein. Welche Möglichkeiten hat denn eine junge Frau ohne Ausbildung heutzutage in diesem Land? Ich würde weder die Chancen auf eine Heirat noch die beruflichen Aussichten als besonders gut einschätzen, vor allem, wenn du dich weiter so gegen eine Ausbildung sträubst.«

»Also wirklich, Heidrun! Du scheinst mich ja auf der ganzen Linie für eine Versagerin zu halten.« Nun war ich doch ein bisschen beleidigt.

Auch Käthe warf Heidrun einen tadelnden Blick zu. »Anna ist ein nettes, hübsches und intelligentes Mädchen. Es gibt überhaupt keinen Grund, ihr Angst einzujagen. Natürlich kann sie auch hier in Deutschland einen Ehemann finden. Oder einen Beruf, mit dem sie sich selbst versorgen kann, ohne auf einen Mann angewiesen zu sein. Sie sollte sich nur langsam darüber klar werden, was sie mit ihrem Leben anfangen will.«

Das Gespräch mit den Tanten trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühlte. Um die beiden zu beruhigen und auch selbst wieder besser schlafen zu können, meldete ich mich gleich in der folgenden Woche für einen Abendkurs in Stenografie und Schreibmaschine an. So hätte ich außer umfassenden Kenntnissen im Kaffeekochen wenigstens noch ein paar andere Qualifikationen vorzuweisen.

Außerdem kam ich endlich dazu, beim Glaser vorbeizufahren, um das Kellerfenster reparieren zu lassen, das Walterchen und ich beim Fußballspielen kaputt gemacht hatten. Ganz in der Nähe der Kaserne war eine Glaserwerkstatt. Schreinerei & Glaserei Wuttke stand auf dem Blechschild, das am Werkstatttor hing. Als ich die Tür öffnete, hörte ich das satte Ratschen eines Hobels, und ein angenehmer Geruch nach frisch gesägtem Holz und nach Farbe lag in der Luft. Ein etwa 14-jähriger Junge war dabei, den Boden zu kehren. Als er mich sah, schulterte er seinen Besen und kam lässig auf mich zu.

»Tag«, grüßte er.

»Tag. Ist denn Herr Wuttke auch da?«

»Klar, der hobelt.« Er drehte sich um und rief: »Meister? Meister! Kundschaft!«

Das Geräusch des Hobels verstummte, und gleich darauf kam hinter einem Bretterstapel ein Mann um die 30 hervor. Sein Haar hätte einen Schnitt vertragen können, und sein grauer Arbeitskittel war über und über mit Hobelspänen bedeckt. Als er auf uns zukam, sah ich, dass er stark hinkte.

»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

»Unser Kellerfenster ist kaputt. Könnten Sie sich das mal anschauen?«

»Das sollte kein Problem sein.« Er angelte in der Brusttasche seines Kittels nach einem Notizbuch und warf einen Blick hinein. »Wenn Sie möchten, kann ich das nächste Woche erledigen. Ist nur die Scheibe kaputt oder auch der Rahmen?«

»Nur die Scheibe. Wir haben Fußball gespielt.«

Er grinste verständnisvoll. »Dann ist das keine große Sache. Wenn Sie mir Namen und Adresse geben, komme ich gleich am Montag zum Ausmessen.«

Am Montag hatten wir Waschtag. In der Waschküche waberten Dampfwolken umher wie in einem Hexenkessel, während wir Walterchens Hemden einweichten, Handtücher auswrangen und mit dem langen Holzlöffel in dem Bottich mit der Kochwäsche rührten. Unsere Wangen glühten in der feuchten Hitze, und Lores Haare ringelten sich unter ihrem Kopftuch hervor. Als es an der Haustür klingelte, wischte sie sich fluchend die nassen Hände an der Schürze ab und eilte die Treppe hinauf. Wenig später hörte ich das Trampeln von Männerschritten auf der Kellertreppe, und Herr Wuttke streckte den Kopf in die Waschküche. Hinter ihm lugte der Lehrling um die Ecke.

»Tag, Fräulein Finke, wir wären dann da.«

»Hallo, Herr Wuttke«, sagte ich atemlos, da ich gerade unter Einsatz all meiner Kräfte ein Laken übers Waschbrett zog. »Lore, könntest du den Herren das Fenster zeigen? Ich tropfe sonst alles voll.«

»Dann kommen Sie mal mit.« Lore lotste die beiden in den Vorratskeller. Das Fenster war schnell ausgemessen, und wenig später hörte ich ihre Stimmen wieder näher kommen.

»Vielleicht könnten Sie sich auch gleich die Küchentür anschauen. Sie hat sich abgesenkt und geht nicht mehr richtig zu«, sagte Lore. Vor der Waschküche blieben sie stehen. »Wir wollten gerade Pause machen. Möchten Sie beide nicht einen Happen mit uns essen? Ich habe Gemüsesuppe auf dem Herd.«

Herr Wuttke winkte verlegen ab. »Vielen Dank, aber das ist doch nicht nötig. Wir haben unsere Brote dabei.«

Als sie den entsetzten Blick des Lehrjungen sah, meinte Lore: »Die Brote können Sie auch später essen. Bei der Kälte braucht man doch etwas Warmes im Magen.«

Ergeben zuckte Herr Wuttke mit den Schultern. »Na, dann sag ich vielen Dank.«

Hungrig langten die beiden Männer zu, während Walterchen ihnen andächtig zusah, und lehnten auch einen Nachschlag nicht ab.

»Das war ganz ausgezeichnet. Vielen Dank noch mal für die Einladung. Peter, bedank dich doch auch mal.« Der Lehrling nickte eifrig, den Mund voll Suppe.

Lore errötete vor Freude. »Ist doch schön, wenn jemand am Tisch sitzt, der Hunger hat und ordentlich zulangt.

Peter kratzte seinen Teller sorgfältig aus und verschlang den Rest seiner Suppe. »Vielleicht solltest du auch kochen lernen«, sagte er dann zu seinem Meister.

Herr Wuttke schwang drohend seinen Löffel. »Wenn hier einer kochen lernt, dann du, Bürschchen. Dann kaufe ich dir eine Schürze, so eine hübsche mit Blümchenmuster. Und jetzt ab mit dir, das Werkzeug einladen. Wir müssen gleich weiter.« Grinsend sah er dem Jungen nach. »Leider hat er nicht ganz unrecht, was meine Kochkünste angeht. Bei uns gibt es meistens Pellkartoffeln und Quark.«

»Ist Peter Ihr Sohn?«, fragte ich neugierig.

»Nein, nein«, wehrte er ab. »Ich bin nicht verheiratet. Peter ist mein Lehrling.«

»Aber er wohnt bei Ihnen?«

»Na ja, Peter ist ein Flüchtlingsjunge. Seine Mutter lebt mit den jüngeren Kindern im Lager in Aumund. Kaum zu glauben, unter welchen Bedingungen die armen Leute dort immer noch hausen müssen. Als ich den Jungen in die Lehre genommen habe, war klar, dass er die Strecke nicht jeden Tag mit dem Fahrrad zurücklegen kann. Also wohnt er unter der Woche bei mir. Seine Mutter hat einen Esser weniger, und ich habe ein bisschen Gesellschaft. Dafür kommt sie alle zwei Wochen mit dem Bus nach Bremen und nimmt meine Schmutzwäsche mit.«

»Er ist aber noch ziemlich jung«, gab Lore zu bedenken. »Kann er Ihnen denn schon richtig zur Hand gehen?«

»Er macht sich ganz prima. Ist fleißig und passt auf. Manchmal ist er ein bisschen großspurig, aber das waren wir in dem Alter ja alle.« Er klopfte sich mit der Faust auf sein rechtes Bein, das er steif von sich streckte. »Außerdem bin ich froh um ein Paar gesunde Beine. Er nimmt mir manchen Weg ab und klettert auf die Leiter.«

Mein Stenografiekurs begann ein paar Tage später und langweilte mich schon in der ersten Stunde. Die anderen Mädchen waren fast alle jünger als ich, unbeschwerte 16- oder 17-jährige Dinger, die in ihren modischen, bunten Kleidern wie Schmetterlinge wirkten. Ich fühlte mich wie ein Storch unter lauter munter zwitschernden Singvögeln. Besonders unsympathisch war mir eine junge Frau, die ihrer Schönheit und ihren teuren Kleidern zum Trotz immer mürrisch dreinsah. Bereits vor der ersten Unterrichtsstunde hatte sie uns mitgeteilt, dass sie es eigentlich nicht nötig hatte, einen Beruf zu lernen. Sie wollte lediglich ihren Verlobten in seinem gut gehenden Weinimport unterstützen – natürlich nur bis zur Hochzeit. Als sie erfuhr, dass ich bei den Streitkräften arbeitete, kam sie auf mich zu und sah mich an, als sei ich ein seltenes Insekt, das unter einem Stein hervorgekrochen war.

»Sagen Sie, ist es wahr, was man sich über die Amerikaner erzählt? Dass sie in den Offiziersclubs wahre Orgien feiern?« Ihre Augen leuchteten vor kaum verhohlener Sensationsgier.

»Oh, ja«, gab ich mit Grabesstimme zurück. »Wir müssen schon morgens beim Frühstück Schleiertänze aufführen. Und abends tragen wir nichts als ein Baströckchen und zwei Kokosnussschalen. Sie wissen schon, wo.«

Das Mädchen zuckte unmerklich zusammen. »Wie gut für Sie, dass die Amerikaner nicht so anspruchsvoll sind«, erwiderte sie dann naserümpfend und warf einen Blick auf meine rauen Hände und meine einfache Bluse. Dann wandte sie sich, ohne die Stimme zu senken, an ihre Banknachbarin: »Wenn mein Verlobter wüsste, was sich hier so alles herumtreibt, würde er mich sofort aus dem Kurs nehmen.«

Ich hörte ein unterdrücktes Kichern aus der Reihe hinter mir, dann eine helle Stimme: »Gut gebrüllt, Löwe! Machen Sie sich nichts draus. Vermutlich hat ihr Verlobter Haarausfall und eine Trichterbrust. Ich wette, die Gute träumt nachts davon, einen Schleiertanz vor ein paar flotten Amis hinzulegen.«

Schuldbewusst grinsend drehte ich mich nach der Besitzerin der Stimme um. Sie gehörte einem Mädchen mit knabenhaft kurz geschnittenem, dunklem Haar und reizenden Grübchen in ihrem runden Gesicht. »Ganz bestimmt. Und der gut gehende Weinimport ihres Zukünftigen ist in Wirklichkeit ein Kiosk am Weserstadion.« Unser Gelächter trug uns einen giftigen Blick der Verlobten ein.

Mit zwei Abenden pro Woche, an denen ich die Schreibmaschine malträtierte oder Stenografiekürzel übte, war meine Zeit ausgefüllter denn je. Außerdem kam Gisi regelmäßig zu uns, um sich mit meiner Hilfe eine kleine Aussteuer zu nähen. Auch wenn sie nicht allzu viel Gepäck nach Amerika mitnehmen konnte, wollte sie ihr neues Leben doch nicht ganz ohne Handtücher, Bettwäsche und Schürzen beginnen. Allerdings hatte ich den leisen Verdacht, dass sie in erster Linie wegen Käthes elektrischer Schranknähmaschine kam, weniger wegen meiner fachkundigen Unterstützung, denn Käthe hatte nicht ganz unrecht gehabt, was die Qualität meiner Nähkünste anging. Daher beschränkte ich mich meist darauf, Kaffee zu kochen und Gisi mit lauter Stimme, um das Rattern der Nähmaschine zu übertönen, aus Käthes Zeitschriften vorzulesen. Wir genossen diese Abende, wussten wir doch beide, dass wir nicht mehr allzu viele miteinander verbringen würden.

Denn es gab Neuigkeiten: Teddy hatte endlich die Heiratserlaubnis erhalten, die er als Mitglied der US-Army brauchte, um eine Deutsche zu heiraten. Nach der Hochzeit im März hatte Gisi Anspruch auf ein Visum in die USA und würde Teddy wenige Wochen nach seiner Abreise in ihr gemeinsames Leben folgen.

Kapitel 2

Ein Brief meiner Freundin Helene war eine angenehme Unterbrechung des Alltagstrotts, in den man nach den Weihnachtsfeiertagen unweigerlich gerät, und der den Januar und Februar wie einen großen Topf voll Graupensuppe erscheinen lässt, der niemals leer wird.

Helene und ich kannten uns schon seit unserer Kindheit, die wir in Ostpreußen verbracht hatten. Von dort waren wir Ende 1944 vor Helenes gewalttätigem Verehrer Werner geflohen, hatten uns aber unterwegs verloren. Erst im letzten Herbst hatte der Kirchliche Suchdienst ihre neue Adresse herausgefunden, und ich hatte Helene und ihre kleine Tochter Annemarie mit Sams Hilfe in Potsdam besuchen können.

Liebe Anna, schrieb Helene,

vielen Dank für das hübsche Jäckchen, das Du Annemarie geschickt hast. Sie trägt es mit Begeisterung, weil es ihr so gut gefällt, vor allem aber, weil ihre neue Freundin Anna es ihr geschenkt hat. Ich habe mich sehr über die Modemagazine und Stoffreste gefreut, sag Deiner Tante Käthe herzlichen Dank dafür.

Werner hat uns glücklicherweise bisher mit einem Besuch verschont. Das tut mir fast schon leid, denn mein alter Freund Schätzchen hat mir einen Baseballschläger besorgt, der jetzt bei mir im Schirmständer steckt. Es juckt mich in den Fingern, ihn mal auszuprobieren.

In diesem munteren Plauderton schrieb Helene weiter. Doch plötzlich setzte ich mich kerzengerade in meinem Sessel auf.

Ich habe übrigens gründlich über den Ratschlag nachgedacht, den Du mir gegeben hast. Jedenfalls habe ich mich an Silvester – das erschien mit irgendwie passend, und ich hatte sowieso nichts anderes vor – auf den Hosenboden gesetzt und Robert einen Brief geschrieben. Ein Foto von Annemarie habe ich auch dazugelegt. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie viel Briefpapier und Taschentücher mich das gekostet hat. Als ich endlich fertig war, hatte ich das Gefühl, mir einen riesigen Felsblock von der Seele geschrieben zu haben. Das hat sich allerdings ganz rasch wieder geändert, nachdem ich den Brief eingeworfen hatte. Ein paar Tage lang ging es mir so schlecht, dass ich sogar Pickel bekommen habe. Pickel hatte ich noch nicht mal mit 14.

Zwei Wochen später kam dann eine Antwort aus Frankreich. Als ich den Brief aus dem Umschlag zog, fiel mir ein Foto entgegen. Auf den ersten Blick dachte ich, es sei ein Bild von Annemarie, aber das war ja kaum möglich. Als ich das Foto umdrehte, sah ich, dass jemand etwas auf die Rückseite geschrieben hatte: Madeleine Evrard, six ans, 1924. Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden, als mir klar wurde, was das bedeutete. Das Kind auf dem Foto ist Roberts Schwester, und Annemarie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Was das heißt, brauche ich Dir nicht zu erklären.

Du ahnst nicht, wie viele Nächte ich an Annemaries Bettchen verbracht und in ihrem Gesicht nach Zügen von Robert oder Werner geforscht habe. Als sie größer wurde, habe ich ihre Mimik und jede ihrer Gesten beobachtet, aber ich konnte keinen der beiden in ihr entdecken. Sie war immer nur Annemarie.

Ich bin Robert unendlich dankbar, dass er mir diese Fotografie überlassen hat. Und natürlich meiner klugen, vernünftigen Freundin Anna. Damit habt Ihr beide mir einen Teil meiner selbst wiedergegeben, der irgendwo auf dem Weg zwischen Grünhayn und Potsdam verloren gegangen war.

Denk jetzt bitte nicht, ich würde Annemarie weniger lieben, wenn sie Werners Tochter gewesen wäre. Aber es ist doch schön zu wissen, dass sie mit Zuneigung und Leidenschaft gezeugt wurde und nicht in Angst und Hass.

Obwohl ich Robert geschrieben habe, dass ich keine Forderungen oder Erwartungen an ihn habe, weder was Geld, noch Gefühle angeht, hat er mir einen wirklich ergreifenden Brief geschickt. Ich weiß jetzt wieder, warum ich damals so verschossen in ihn war. Doch von Liebe haben wir beide nichts geschrieben. Das zwischen uns beiden war eine Kriegsliebe, entstanden aus Einsamkeit, Verlangen und Lebenshunger. Das wissen wir beide.

Robert möchte zumindest einen kleinen Teil der Verantwortung für seine Tochter tragen, und sei es nur, dass er mir ein wenig Geld für sie schickt. Ich vermute, dass ich ihm das nicht abschlagen kann. Außerdem hat er mich gebeten, ihm regelmäßig Fotos von Annemarie zu schicken und ihm zu schreiben, wie es ihr geht und wie sie sich entwickelt.

Ich bin wirklich froh darüber, auf dich gehört zu haben  – auch wenn du ganz schön grob zu mir warst. Wie ist es mit Dir? Ich hoffe, dass auch Du den Rat angenommen hast, den Dir Deine alte Freundin gegeben hat.

Viele Grüße und Küsse aus Potsdam senden Dir Helene und Annemarie.

Gedankenverloren starrte ich auf den Brief in meinem Schoß. Wenigstens dieses eine Mal hatte ich das Richtige getan. Doch meine Freude hatte einen bitteren Beigeschmack. Insgeheim hatte ich wohl doch darauf gehofft, dass Helene und Robert allen Widrigkeiten zum Trotz wieder zusammenfinden und glücklich werden würden. Aber leider waren weder Helene noch ich Prinzessinnen aus dem Märchen. Näher würden wir beide einem Happy End vermutlich nicht kommen.

Unterdessen betrat jedoch ein anderer Prinz die Bühne, ohne dass ich davon auch nur die leiseste Ahnung hatte.

Als ich das Haus verließ, kam Herr Wuttke mit seinem rostigen Opel Blitz angerumpelt und hielt vor dem Gartentürchen.

»Herr Wuttke! Guten Morgen«, grüßte ich ihn, als er sich mit seinem steifen Bein mühsam aus der Fahrerkabine schob. »Ich dachte, Sie sind mit dem Kellerfenster fertig.«

»Oh, Fräulein Finke. Gar nicht bei der Arbeit?«

»Nein, heute darf ich mal daheim bleiben. Ich wollte aber gerade einkaufen gehen.«

»Ach so. Mir ist letzte Woche der Kitt ausgegangen. Deshalb muss ich noch mal rasch ans Fenster und eine Seite verfugen.«

Herr Wuttke war entweder der zerstreuteste oder aber der talentloseste Handwerker, der mir je begegnet war. Dies war meiner Zählung nach sein vierter Besuch wegen eines Kellerfensters und einer verzogenen Tür.

»Ist Peter heute nicht mitgekommen?«, fragte ich und spähte an ihm vorbei ins Führerhaus des Pritschenwagens.

»Nee.« Herr Wuttke grinste. »Hat mich geärgert. Der muss heute Schrauben sortieren.«

»Auwei.«

Herr Wuttke verlagerte unruhig das Gewicht auf sein gesundes Bein. »Dann will ich mal an die Arbeit«, sagte er und deutete mit dem Daumen Richtung Haustür.

»Warten Sie, ich lasse Sie noch schnell rein.«

Er winkte hastig ab. »Ist nicht nötig. Gehen Sie nur einkaufen, Frau Stein ist ja da, oder?«

»Ja, die ist im Haus. Na, dann schönen Tag noch.«

»Ihnen auch.« Er war schon auf dem Weg zur Tür.

Ich schüttelte den Kopf. Wann er wohl merken würde, dass er seinen Werkzeugkasten im Auto gelassen hatte?

Nachdem ich einen längst fälligen Zahnarztbesuch hinter mich gebracht und meine Einkäufe erledigt hatte, verzog ich mich in mein Zimmer, um vor dem Essen noch ein bisschen auf Heidruns Schreibmaschine zu üben. Ich hatte gerade mal zwei Zeilen asasas und lölölö getippt, als Lore ohne zu klopfen das Zimmer betrat und sich auf mein Bett setzte. Gedankenverloren schüttelte sie das Kopfkissen auf und legte mein Nachthemd zusammen.

»Lass das doch, Lore. Das brauchst du nicht zu tun.«

Lore zupfte weiter an meinem Nachthemd herum. »Herr Wuttke war vorhin noch mal da.«

»Ja, ich weiß. Wir sind uns draußen begegnet. Er war wohl nicht ganz bei der Sache. Ist ohne sein Werkzeug ins Haus gegangen.«

Lore packte mein Kopfkissen und schlang ihre Arme darum. Dann platzte sie heraus: »Stell dir vor, er hat mich gefragt, ob ich Samstagabend mit ihm ausgehen möchte!«

Ich riss die Augen auf. »Dieser Schlawiner! Mir hat er erzählt, dass er noch etwas am Kellerfenster zu tun hat. Und? Was hast du gesagt?«

Lore strahlte. »Ich habe ihm natürlich zugesagt.« Plötzlich sank sie in sich zusammen wie ein angestochener Luftballon. »Meine Güte, worüber soll ich mich bloß mit ihm unterhalten? Und anzuziehen habe ich auch nichts.« In ihren Augen stand das blanke Entsetzen. Als ich lachen musste, sah sie mich vorwurfsvoll an. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wann ich das letzte Mal mit einem Mann aus war?«

»Mal überlegen. Das dürfte vermutlich der Abend gewesen sein, an dem ihr Walterchen auf den Weg gebracht habt.«

Lore schlug die Hände vors Gesicht. »Mein Gott, damit dürftest du sogar recht haben!«

»Wenn euch die Gesprächsthemen ausgehen, dann frag ihn einfach nach seiner Arbeit. Und was die Bekleidungsfrage angeht … Wohin will er dich denn ausführen?«

»Keine Ahnung. Tanzen wird er wohl nicht können mit seinem Bein.« Lore klang ein wenig enttäuscht. »Vielleicht in eine Weinstube? Oder er lädt mich zum Essen ein.«

Ich machte die Tür meines Kleiderschranks auf und warf einen Blick auf seinen überschaubaren Inhalt. »Ich würde dir ja mein grünes Kunstseidenes borgen, aber bei der Kälte holst du dir darin den Tod. Wie wäre es mit dem Popelinerock? Dazu könntest du deinen roten Wollpullover anziehen. Der steht dir so gut.«

Lore schien mein Vorschlag nicht ganz überzeugt zu haben. Vermutlich hoffte sie auf einen unerwarteten Wärmeeinbruch, damit sie in einem duftigen Kleid zu ihrer Verabredung gehen konnte. Dieser Wunsch erfüllte sich zwar nicht, aber in ihrem dunkelroten Pullover und meinem Rock sah sie ausgesprochen hübsch aus. Ein Paar Pumps von Käthe und meine gute Handtasche vervollständigten ihre Garderobe. Ich hatte ihr am Nachmittag die Haare auf Wickler gedreht, sodass sie sich nun sanft wellten. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet.

Um sieben drückten Lore und ich uns hinterm Küchenfenster herum. Die Tanten saßen im Wohnzimmer und hatten die Tür offen gelassen, um aus den Augenwinkeln einen Blick auf Lores Verehrer erhaschen zu können. Pünktlich rollte Herr Wuttke in seinem Pritschenwagen vors Haus. Hinter den Gardinen versteckt sahen wir zu, wie er sich aus dem Auto herausmühte.

»Ich geh’ schon«, sagte ich, als er wenig später klingelte.

Als ich schwungvoll die Haustür öffnete, blinzelte Herr Wuttke mir entgegen. »’n Abend, Fräulein Finke.«

»Hallo, Herr Wuttke. Kommen Sie doch herein.«

Er folgte mir in den Flur, während er hastig das Papier von dem Nelkenstrauß entfernte, den er fest umklammert hielt. Er trug einen dunklen Anzug, und die schon etwas abgelaufenen Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Seine Krawatte hatte allerdings ziemlich Schlagseite. Gequält fuhr er sich mit dem Finger in den Kragen, als würde ihn jemand würgen.

»Darf ich mal, Herr Wuttke?«, fragte ich höflich. Mit wenigen Griffen hatte ich den Schlips etwas gelockert und an den rechten Platz gerückt.

»Ah, vielen Dank. So ist es besser«, meinte er erleichtert.

»Und das Einwickelpapier können Sie mir auch gleich geben.« Ich widerstand dem Drang, ihm einen mütterlichen Klaps auf den Rücken zu versetzen. »Lore?«, rief ich. »Herr Wuttke ist jetzt da.«

Als Lore in den Flur trat, zog ich mich taktvoll ins Wohnzimmer zurück, wo ich durch den Türspalt einen hervorragenden Blick auf die beiden hatte. Die Tanten sahen mich tadelnd an, spitzten aber selbst die Ohren, um kein Wort der Unterhaltung zu verpassen.

»Guten Abend«, hauchte Lore.

»Oh, guten Abend, Frau Stein.« Herr Wuttke räusperte sich nervös. »Sie sehen aber ganz besonders hübsch aus heute Abend.« Seine Hand fuhr wieder an den Hemdkragen.

»Vielen Dank.« Nach einem kurzen Schweigen sagte Lore: »Schöne Blumen sind das. Sind die für mich?«

»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie.«

Lore eilte in die Küche, um die Blumen ins Wasser zu stellen, dann machten die beiden sich auf den Weg. Kaum hatten sie die Haustür hinter sich geschlossen, rannte ich ans Fenster. Galant öffnete Herr Wuttke Lore die Beifahrertür und half ihr in den Wagen, da sie mit ihren hohen Absätzen und dem engen Rock Schwierigkeiten hatte, die Stufen zur Fahrerkabine zu erklimmen.

»Er ist richtig goldig«, sagte ich versonnen zu den Tanten. »Ein bisschen unbeholfen, wie ein kleiner Junge.«

»Lore braucht aber nicht noch einen kleinen Jungen«, warf Heidrun ein, »sondern einen zuverlässigen Mann, der für sie und Walterchen sorgt.«

»Nun sei doch nicht so unromantisch«, sagte ich. Dann bekam ich einen Schreck. »Ihr glaubt doch nicht etwa, dass sie ihn heiraten und weggehen wird? Das wäre ja schrecklich.«

Heidrun sah mich über den Rand ihrer Handarbeit hinweg streng an. »Ich mag vielleicht unromantisch sein, aber du bist ein bisschen selbstsüchtig, findest du nicht? Du kannst nicht davon ausgehen, dass Lore für immer hier wohnen und uns den Haushalt führen wird. Schließlich ist sie eine junge Frau. Vielleicht möchte sie ja irgendwann einen eigenen Hausstand gründen und noch mehr Kinder haben.«

Betreten sah ich zu Boden. Natürlich würde ich es Lore von Herzen gönnen, sollte sie sich verlieben und wieder heiraten. Aber sie wohnte nun schon so lange bei uns, und ein Leben ohne ihre liebe, unkomplizierte Anwesenheit konnte ich mir nicht vorstellen.

»Macht euch keine Sorgen über Dinge, die ihr sowieso nicht ändern könnt«, sagte Käthe vernünftig. »Wenn es dazu kommen sollte, dass Lore wieder heiratet, werden wir uns alle für sie freuen. Doch jetzt sollen die beiden erst mal einen netten Abend miteinander verbringen.«

Ich ging nach oben, um Walterchen bei seinem samstäglichen Bad zu beaufsichtigen und machte ihm vor dem Zubettgehen eine Tasse Milch warm. Dann las ich ein bisschen, aber der spannende Roman aus der Bibliothek konnte mich nicht fesseln. Als gegen elf ein Auto vorfuhr, schlich ich auf Strümpfen die Treppe hinunter in den Flur, wo Lore gerade ihren Mantel an die Garderobe hängte.

»Und? Hattest du einen schönen Abend?« Nur mühsam konnte ich meine Neugierde beherrschen.

Lore nickte. »Ja, sehr schön. Komm, ich mache uns noch einen Tee, dann erzähle ich dir alles.«

In der Küche verbreiteten die Nelken, die Lore in einer Vase auf den Tisch gestellt hatte, ihren süßen Duft.

Wir setzten uns auf die Eckbank, und ich sah Lore erwartungsvoll an. »Erzähl schon. Worüber habt ihr geredet?«

Lore lachte. »Ach, über vieles. Über Walterchen und Peter, über euch und seine Arbeit. Den Krieg und Walterchens Vater. Es war ganz leicht, sich mit ihm zu unterhalten.«

»Er scheint wirklich sehr nett zu sein.«

»Ja, das finde ich auch.«

Ich malte mit dem Fingernagel das Muster auf der Tischdecke nach. »Heidrun hat vorhin etwas gesagt …«

»Was denn?«

»Sie meinte, du würdest bestimmt irgendwann wieder heiraten wollen und deinen eigenen Hausstand gründen.«

Lore errötete und lachte unsicher. »Herrje, ich war doch erst einmal mit dem Mann Essen. Man könnte meinen, Heidrun will mich loswerden.«

»Nein, so hat sie das nicht gemeint. Es ist nur … dass ich nicht selbst schon auf diesen Gedanken gekommen bin. Warum solltest du denn nicht wieder heiraten? Du bist ja noch nicht mal 30. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, gefällt mir dieser Gedanke überhaupt nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass du und Walterchen irgendwann hier auszieht …« Ich stützte das Kinn in die Hände und seufzte. »Ich bin ein furchtbarer Mensch. Und neidisch noch dazu. Im Moment kann ich mich selbst nicht leiden.«

»Sei nicht albern«, erwiderte Lore schroff. »Ich habe nicht vor, in den nächsten Tagen Herrn Wuttke oder sonst wen zu ehelichen. Und selbst wenn es so kommen sollte, wärst du diejenige, die sich am meisten mit mir darüber freuen würde, das weiß ich genau. Und du wirst auch nicht für immer bei deinen Tanten leben. Vielleicht bist ja sogar du diejenige von uns beiden, die zuerst weggeht.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte ich verzagt. »Alles verändert sich so schnell. Gisi geht bald nach Amerika, und du … Nur ich trete auf der Stelle. Ich glaube, ich bin einfach eifersüchtig.«

Gutmütig zuckte Lore mit den Schultern. »Na und? Das ist doch nicht so schlimm. Das machen wir alle mal durch. Was meinst du, wie oft ich mir gewünscht habe, mit dir tauschen zu können, wenn du mit Gisi oder Captain Boyd etwas unternommen hast, während ich hier gesessen habe, mit einem Kleinkind und dem Haushalt.«

»Davon hast du nie etwas gesagt. Bist du denn unglücklich bei uns?«

Lore lachte. »Natürlich nicht. Mir hätte gar nichts Besseres passieren können, als bei euch zu landen. Ihr seid meine Familie. Und erzählt habe ich dir nie etwas, weil es mir peinlich war. Manchmal schielt man eben auf die Teller der anderen und glaubt, sie hätten den größeren Brocken abbekommen. Das vergeht auch wieder.«

»Hoffentlich hast du recht«, seufzte ich. »Und jetzt sag mal, wo wart ihr denn?«

»Zuerst waren wir essen, in der Krone.«

Beeindruckt pfiff ich durch die Zähne. »Den Abend hat er sich ganz schön was kosten lassen. Und dann?«

»Dann sind wir tanzen gegangen.«

»Ich dachte, mit seinem Bein kann er nicht tanzen?«

Lore grinste. »Das dachte ich auch, aber er meinte, ein, zwei langsame Tänze würden ihn schon nicht umbringen.«

Kapitel 3

Bisher in meinem Leben hatte ich freudig jeden Frühling begrüßt, wenn er im Kampf gegen den sich mit letzter Kraft aufbäumenden Winter den Sieg davontrug. Ich hatte das Gefühl gehabt, zusammen mit der Natur aus dem Winterschlaf zu erwachen, und mich jung und lebendig gefühlt. Doch in diesem Jahr war es anders. Seit Sam fort war, war ich immun gegen den Frühling und die geheimnisvollen Substanzen, die sonst um diese Jahreszeit das Blut schneller durch meinen Körper strömen ließen.

Die Romanze zwischen Lore und Erich Wuttke spross dagegen wie die Krokusse, die im Garten ihre grün-weiß gebänderten Blätter dem Sonnenlicht entgegenreckten. Auch Gisi und Teddy verbrachten all ihre freie Zeit miteinander und schmiedeten Pläne für die Hochzeit und ihre gemeinsame Zukunft in Amerika. Selbst J. J., der GI, den ich am gleichen Abend kennengelernt hatte wie Sam und der uns allen ein guter Freund geworden war, hatte uns schon seit ein paar Wochen nicht mehr in der Salierstraße besucht. Ich fühlte mich schrecklich allein. Als ich schon begann, mir Sorgen um J. J. zu machen, tauchte er wieder aus der Versenkung auf.

Er saß auf unserer Treppe, als ich von der Arbeit kam, vom Dachvorsprung nur notdürftig vor dem kalten Frühlingsregen geschützt. Statt einer Jacke trug er einen blauen Matrosenpullover, den Kragen bis über die Ohren hochgestellt, den Hals eingezogen wie eine Schildkröte.

»J. J.! Warum um alles in der Welt sitzt du hier draußen in der Kälte?«

»Keiner da.« Aus seinem Kragen hervor grinste er mich schief an. »Da habe ich es mir eben solange hier gemütlich gemacht.«

Kopfschüttelnd kramte ich den Schlüssel aus meiner Handtasche. »Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt?«

»Ach, ich hatte viel um die Ohren, du weißt ja, wie das ist.« J. J. rappelte sich auf und trat hinter mir in den Flur.

»Setz doch schon mal Wasser auf, ich will mir nur eben etwas Trockenes anziehen.« Gehorsam ging J. J. in die Küche, während ich die Treppe hinaufrannte.

Als ich wieder nach unten kam, hatte J. J. Kaffee gekocht und saß am Küchentisch, die Hände um seine Tasse gelegt, um sie zu wärmen. Ich erschrak, als ich ihn im hellen Licht der Deckenlampe sah. Er war so blass, dass seine Sommersprossen wie dunkle Male von seiner Haut abstachen, unter den Augen hatte er blaue Schatten. Sogar sein Pullover schien ihm zu groß zu sein, als wäre er über Nacht geschrumpft.

»Lieber Himmel, J. J.! Was ist los? Du siehst ja furchtbar aus!«

Noch nicht einmal sein siegessicheres Grinsen wollte J. J. gelingen.

»Nun sag schon«, drängte ich ihn.

Er zuckte mit den Schultern und zog die ausgefransten Ärmel seines Pullovers bis über die Finger. »Ach, nichts weiter.« Er tätschelte mir beruhigend die Hand, als ob ich seinen Trost bräuchte und nicht umgekehrt.

»So siehst du aber ganz und gar nicht aus.«

Tatsächlich wirkte er ohne die laute Munterkeit, die ihn normalerweise umgab wie eine Rüstung, erschreckend jung und verletzlich, sein Gesicht das eines traurigen Schuljungen.

J. J. fuhr sich mit dem Pulloverärmel übers Gesicht. »Gott, es ist einfach erbärmlich, wie ich mich aufführe.«

Mit einem Mal schwante mir, was mit J. J. los war. »Ist es wegen eines Mädchens?«

J. J. zuckte wieder mit den Schultern.

»Herrje, das tut mir leid. War es etwas Ernstes?«

Er nickte. Im Geiste ging ich die Gesichter von J. J.s Begleiterinnen durch, mit denen ich ihn in den letzten Monaten gesehen hatte. Doch mit keiner von ihnen war er so oft zusammen gewesen, dass sie mir besonders nachdrücklich in Erinnerung geblieben wäre.

»Kenne ich sie?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

»Nein. Und es wird sich auch nicht wieder einrenken, wenn es das ist, was du als Nächstes sagen willst.« Als er meinen gekränkten Blick sah, seufzte er. »Entschuldige. Ich wollte meinen Frust nicht an dir auslassen.«

»Schon o. k.«, erwiderte ich großzügig. »Wenn du dich dann besser fühlst.«

Eine Weile saßen wir schweigend am Küchentisch und schlürften unseren Kaffee, jeder in seine düsteren Gedanken versunken. Schließlich hieb J. J. mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen klirrten. »Meine Güte, sind wir zwei Trauerklöße. Da wird man ja schon vom Zuschauen schwermütig. Weißt du, was wir brauchen?«

Ich hob den Kopf, den ich schwer in die Hände gestützt hatte. »Nein, was denn? Alkohol?«

Er warf mir einen tadelnden Blick zu. »Nein, davon hatte ich in den letzten Tagen schon genug. Was wir brauchen, sind Abwechslung und ein bisschen frischen Wind um die Nase.«

»Aha. Und an was genau hattest du gedacht?«

»Das ist eine Überraschung. Wann hast du mal wieder am Wochenende frei?«

»In nächster Zeit nicht. Aber am Samstag habe ich Spätschicht.«

»Perfekt. Dann hole ich dich gegen zehn ab.«

»Und wohin fahren wir?«

»Ich sagte doch, dass es eine Überraschung ist. Vertrau mir einfach. Ich bin davon überzeugt, dass es dir gefallen wird.«

Als J. J. sich etwas später verabschiedete, hatte er schon bessere Laune. Er brachte sogar ein Lächeln zustande.

»Ach, das hätte ich beinahe vergessen. Zieh dir am Samstag Hosen und feste Schuhe an. Und einen dicken Pullover.« Er winkte mir noch einmal zu, dann rannte er mit hochgezogenen Schultern in den Regen hinaus.

Der Jeep, den J. J. für unseren geheimnisvollen Ausflug organisiert hatte, sah aus, als käme er direkt vom Manöver. Lehm klebte in dicken Krusten an der Karosserie und war auf der Windschutzscheibe festgetrocknet. Nur dort, wo die Scheibenwischer ihre Bahnen gezogen hatten, konnte man durch die trüben Schlieren hindurch die Straße erkennen.

J. J. saß lässig auf dem Fahrersitz, als ich zu ihm ins Auto kletterte. Er hatte seine Bluejeans an, dazu eine mit Lammfell gefütterte Lederjacke; sein speckiger Hut lag hinter ihm auf der Rückbank. Er sah aus, als wäre er direkt von der Leinwand eines Cowboyfilms gesprungen und nur versehentlich in der Salierstraße gelandet.

»Morgen, Anna. Bereit für unser kleines Abenteuer?«

»Ich denke schon. Ich hoffe nur, dass ich nicht overdressed bin.« Ein bisschen verlegen sah ich an meiner ausgeleierten Trainingshose und dem dicken, selbst gestrickten Pullover hinab.

J. J. lachte und zupfte an meinem Kopftuch. »Du siehst prima aus. Perfekt gekleidet für den Anlass.«

Er ließ den Motor an und fuhr zügig aus der Stadt hinaus, als wäre er die Strecke schon Dutzende Male gefahren. Obwohl ich quengelte, verriet er mir nicht, wo das Ziel unseres Ausflugs lag. Also sah ich zum verschmierten Seitenfenster hinaus und versuchte zu erraten, wohin wir unterwegs waren.

Ein paar Kilometer folgten wir der Landstraße Richtung Osterholz, dann bogen wir auf eine schmale, ungeteerte Straße ab und fuhren durch Dörfer mit stattlichen Bauernhäusern, deren Backsteinfassaden mit dem dunklen Fachwerk noch nass vom nächtlichen Regen waren. Ein Ladenbesitzer hatte auf dem Gehsteig vor seinem Schaufenster Bündel von Spaten, Harken und Besen drapiert. Auf den Wiesen schimmerte schon der erste blassgrüne Hauch des Grases, und dazwischen blitzte immer wieder das satte Braun frisch gepflügter Äcker hervor.