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Peter Verhelst

Eine Handvoll Sekunden

PETER

VERHELST

EINE

HANDVOLL

SEKUNDEN

ROMAN

Aus dem

Niederländischen

übersetzt von

Stefan Wieczorek

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

„De kunst van het crashen“

bei Uitgeverij Prometheus, Amsterdam.

Copyright © 2015 by Peter Verhelst

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Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Flämischen Literaturfonds.

Erste Auflage

© 2016 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Stefan Wieczorek

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung: Erik Spiekermann, Berlin

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Herstellung: Renate Stefan, Berlin

Friedrich Pustet, Regensburg

Papier Innenteil: 100g Fly 05

Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05

Papier Überzug: 130g Munken Lynx

Gesetzt aus FF Meta & FF Good

ISBN 978-3-905951-91-2

eISBN 978-3-905951-92-9

Inhalt

Vorwort

I Die erste Katze von Istanbul

II Studie eines rennenden Mannes

Interludium 1

III Studie einer menschlichen Lunte

Interludium 2

IV Studie eines Mannes, der auf seinen Schatten wartet

V Zeit und Wahrheit

Interludium 3

VI Zuhause

Glossar

Vorwort

23. April 2013. Überraschend muss ich zu einer Besprechung nach Brüssel, aber das ist nicht weiter schlimm: Es läuft angenehme Musik, und ich fahre genau 120 km/h. Es ist 12:20 Uhr. Kurz vor der Brücke bei Wetteren überhole ich auf der mittleren Spur einen Lastwagen, aus dem Augenwinkel sehe ich einen großen Autoreifen. Die darauf folgenden Sekunden dauern Stunden, Jahre, Millisekunden, je nachdem in welche Subzeiten sich die Zeit aufspaltet (dazu später mehr).

Mein Wagen wird angehoben, sofort breitet sich weißer Rauch aus, danach ist alles weiß.

Das Einzige, was ich begreife: Gleich kommt ein heftiger Schlag. Neben und über meinem Kopf schleift Metall über Asphalt.

Ich denke: So schnell geht das also … Es geht aber noch viel schneller. Ich rase kopfüber auf einer Achterbahn und zwar mit geöffneten Augen.

Ich kann in den Airbag schauen, wirklich, tief in die Kunstfasern hinein: weiße, glänzende ineinander verschränkte V, die selbst wieder aus durchscheinenden Fäden zusammengesetzt wurden – ich nehme sie zwischen die Finger, während ich auf dem Dach über den Asphalt rutsche und denke: Wie unglaublich gut ist das doch gemacht, richtig gut.

Jede Sekunde rechne ich damit, dass der Lastwagen über mich wegdonnert.

Ich denke: Nein, das ist zu früh, ich würde so gerne noch …

Über mir läuft noch immer die Musik (Kruder & Dorfmeister).

Ich spüre keinen Schmerz. Plötzlich wird es dunkel.

Ich schiebe meinen Kopf in eine Blase voller Stille. Eine Wolke aus Glück, gelassenem Glück, und gleichzeitig höre ich links von mir das panische Schleifen von Metall über Asphalt.

Und dann bewegt sich mein Auto nicht mehr.

Kein Aufprall. Wann brettert der Lastwagen über mich weg?

Ich schalte den Motor ab – mein Schlüsselbund hängt rechts oben.

Es ist still auf der Autobahn.

Hier drinnen ist es halbdunkel.

Liege ich verkehrt herum oder stimmt das so?

Ich hole Glas aus dem Mund und putze die Finger an meinem zerrissenen Ärmel ab. Ich nehme mein Handy, das an einem Kabel herumschlingert.

Mein Wagen sieht innen ganz schön zerlegt aus.

Mit dem Zeigefinger hebe ich links von mir den schlaffen Airbag hoch und denke: Das Fenster ist viel zu klein, gleich fängt der Wagen Feuer. Wie macht man das noch mal, so einen Sicherheitsgurt lösen?

Ich höre rasche Schritte. Jemand öffnet die Autotür. Ich beuge mich nach vorn, um auszusteigen, dabei fallen dicke Blutstropfen auf den Boden.

Jemand hält mich an der Schulter und sagt: „Das kann nicht sein, dass du noch lebst.“ Und: „Du hast dich dreimal überschlagen, dreimal.“

Eine Art Stille.

Es hat sich ein langer Stau gebildet, mit ernsten Menschen hinter den Lenkrädern.

Mein linkes Auge sticht.

Jemand führt mich an den Rand der Fahrbahn und fordert mich auf, mich auf den Boden zu legen.

Ich spüre einen stechenden Schmerz unter dem linken Schulterblatt.

Ich rufe meine Freundin an und sage: „Mach dir keine Sorgen, mit mir ist alles in Ordnung, allerdings …“, während jemand neben mir sagt: „Sie müssen sich auf den Boden legen, jetzt müssen Sie sich wirklich auf den Boden legen.“

Ich telefoniere, um mich wegen der Besprechung zu entschuldigen.

Ich setze mich auf die Leitplanke.

Zerbeult liegt mein Auto auf dem Dach. Öl leckt auf den Straßenbelag. Die ersten Autos fahren langsam auf der freien Spur vorbei – es knackt, wenn sie über kleinere Trümmerteile fahren. Ein Fernsehteam trifft ein und wird von mir weggeschickt.

Ich versuche, meinen Kopf von links nach rechts zu bewegen.

Ein Lastwagenfahrer kommt und sagt, dass sein Rad nicht sein Rad sei.

Es hängt eine weiße Wolke im grauen Himmel.

Eigenartig, die Unterseite des eigenen Wagens zu sehen.

Zwei Polizisten sind da.

Ein Sanitäter leuchtet mir mit einem Lämpchen in die Augen.

Ich lege mich auf eine Trage und werde in den Krankenwagen geschoben. Ich klappere mit den Zähnen. Ich höre: innere Verletzungen. Ich schaue an die Decke des Krankenwagens.

In diesem Augenblick hat das Buch, das Sie gerade lesen, schon vor mehr als zwanzig Minuten angefangen (und ist, in einer anderen Zeitrechnung, bereits Jahrhunderte alt).

Dieses Buch ist kein Bericht eines Unfalls – den Bericht haben Sie soeben erhalten und das war es. Dieses Buch ist eine Ode an die Orte und Zeiten, auf die ich während des Unfalls einen Blick erhaschen konnte, Wahrheiten, aber nicht zwangsläufig in einem philosophischen und sicherlich nicht in einem religiösen Sinn. Alles in allem dauerte der Unfall eine Handvoll Sekunden. Und diese Sekunden dauern über 300 Seiten. So viel Zeit ist nötig, um die Wahrheit eines Buches zu ihrem Recht kommen zu lassen.

I

Die erste Katze von Istanbul

Die Unterrichtsstunden „Zeichnen nach lebendem Modell“ wurden im Ausweichgehege der Löwen abgehalten, weil der Weiher dort das Licht so schön reflektierte, die Körper wurden zunächst silbrig und dann transparent.

Die Königliche Akademie war einige Monate zuvor von den neuen Machthabern besetzt worden und tat nun Dienst als Kaserne für jene Garnisonen, die die Hauptstadt im Würgegriff hielten. Während das Modell sich auszog, schossen sich Scharfschützen auf Gipsrepliken von antiken Diskuswerfern, Denkern und geflügelten Frauen ein – ihre Schüsse hallten wider wie aufprallende Tennisbälle. Kohlmeisen hingen kopfüber in den Zweigen, um Tautropfen aufzufangen. Das Geräusch von Kreide auf Papier, ein Körper, Morgenlicht, hin und wieder das Brummen eines Löwen, der Schrei eines Adlers. Wie liebte Raoul diese gestohlenen Stunden. Nach dem gemeinsamen Zeichnen verließ man einzeln und auf verschiedenen Wegen den Zoo.

Anfang März wurde Raoul zur ersten Zeichenstunde eingeladen. Fünf Monate nachdem er sich in der Hauptstadt am Institut für Architektur an der Freien Universität eingeschrieben hatte. Diese wurde kaum zwei Wochen nach seiner Immatrikulation in Reichsuniversität umgetauft, und der Großteil der Professoren wurde durch Huren des neuen Regimes ersetzt, wie es am Eingang zur Fachgruppe Städtebau in eckigen Filzstiftbuchstaben hieß, die wenige Minuten später bereits ausgewischt waren. Die Anordnung seines Vaters erwartend, er solle umgehend nach Hause kommen, hielt sich Raoul – ganz der zurückhaltende junge Mann aus der Provinz – von der Gewalt fern. In seinem Dachzimmer mit Einzelbett und Waschbecken nahm er das Frühstück ein und ging danach ins Museum, um die flämischen Primitiven zu bestaunen. Die Frau, die die Eintrittskarten kontrollierte, ließ ihn umsonst hinein, nachdem sie ihn im Van-Eyck-Saal* hatte zeichnen sehen.

Wenn die Aufseher abgelöst wurden, setzte sie sich neben ihn und flüsterte: „Stecken Sie jetzt die Zeichenblätter weg.“ Und als er sie voller Unverständnis ansah: „Jetzt. Weg damit.“ Er steckte die Blätter in seine Aktentasche. Der neue Aufseher kam in den Saal, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er schaute zu beiden herüber wie eine Katze, die eine Maus beäugt: haarscharf vorbei.

Als er sich in den nächsten Saal entfernt hatte, flüsterte sie: „Ihre Tasche.“

Er gab ihr seine Aktentasche.

Als er nach Schließung des Museums auf dem Museumsplatz in das grelle Sonnenlicht blinzelte, stellte sie sich neben ihn, hakte sich bei ihm unter und dirigierte ihn zur nächsten Café-Terrasse.

„Ich möchte gerne Tee“, sagte sie.

Noch bevor sie ein Glas hatte, sagte sie: „Gestern wurden vier Leute verhaftet, in genau dem Saal, in dem Sie gezeichnet haben.“

„Verhaftet.“

„Von der Polizei, ja. Verhaftet.“

„Ich wusste nicht, dass das verboten ist. Geht es um die Urheberrechte oder …“

„Es geht nicht um Urheberrechte oder so etwas.“ Sie schüttelte verärgert den Kopf. „Rooibos“, sagte sie zum Ober. „Ich trinke nur Rooibos-Tee.“ Sie lächelte ihm zu.

„Warum machen Sie das?“, sagte er.

„Mache ich was?“

„Mir das erzählen. Über die vier …“

„Vergessen Sie es einfach. In Ordnung?“

Während sie den Teebeutel am Faden um ihren Löffel wickelte und ausdrückte, fragte sie: „Welches Kunstwerk mögen Sie denn am liebsten?“

Jeden Tag setzte sich Raoul auf eine Bank, jedes Mal vor ein anderes Gemälde und betrachtete es stundenlang, ohne sich zu bewegen, die Hände auf den Beinen ruhend. Oder besser gesagt: Er ließ das Gemälde ihn betrachten. Bis aus seinem rechten Arm eine unsichtbare rechte Hand wuchs, die zwischen Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen eine unsichtbare rote Pastellkreide festhielt, mit der er auf einem nicht-existierenden Papier die ersten Entwürfe machte.

Er sagte: „Der Teppich auf dem Gemälde von Van Eycks Madonna des Kanonikus van der Paele, die Berührung der Hände von Mutter und Kind auf demselben Gemälde, der Knick in der Hüfte von David, dieser wunderbaren Skulptur von Donatello*. Die Röte auf den Frauenwangen auf einer der Seitentafeln des Moreel-Triptychons, gemalt von Hans Memling …“

Ihre Augenbrauen hoben sich. „Nein, ich meinte: Was ist Ihr Lieblingsbild hier im Museum?“

„Bislang habe ich nur fünf Gemälde angeschaut. Wirklich angeschaut.“

Sie zögerte kurz und fragte dann: „Hast du eine Freundin?“

Er wurde rot.

„Das habe ich mir schon gedacht“, sagte sie.

Sie dachte: Entweder ist er ein kompletter Vollidiot, oder er wird der Beste, den wir jemals gehabt haben. Der Allerbeste.

Wenige Tage später erzählte sie ihm von den Zeichenstunden nach lebendem Modell im Zoo.

Raoul stand vor Tagesanbruch auf, frühstückte, nahm seine Aktentasche und ging, wie verabredet, zum Seiteneingang, wo bereits eine Gruppe Männer wartete, schweigende Männer, die Hände in den Taschen, mit hochgezogenen Schultern. Als er sie begrüßte, drehten sie ihm ihre Oberkörper zu, betrachteten ihn kurz und wendeten sich wieder zum Eingangstor. Es war zu dunkel, um ihre Gesichter erkennen zu können.

Die Frau aus dem Museum wurde von zwei rauchenden Männern begleitet.

„Das ist Raoul. Und dies hier sind Herbert und Daniel.“

„Und Sie?“, fragte Raoul.

Herbert lachte und Daniel zog eine Augenbraue hoch.

„Sarah“, sagte sie. „Mit der Betonung auf dem zweiten a.“

Das Ausweichgehege der Löwen befand sich hinter den Löwenkäfigen und wurde durch hohes Schilf vor den Besuchern abgeschirmt. Der Weiher lag voller Blätter und Zweige, Schwalbennester hingen wie modellierte Trauben unter dem Vordach. Herbert schaltete die Wärmelampen an, die zunächst eine rote und kurz darauf eine gelbliche Hitze ausstrahlten. Daniel setzte sich auf einen der Felsblöcke und legte Papier und Bleistift bereit, nachdem ein Mädchen mit Sonnenbrille einen älteren Mann begrüßt hatte. Das Mädchen mit der Sonnenbrille nickte Raoul zu, der ältere Mann hatte einen kräftigen Händedruck. Es schien, als würde das Mädchen mit der Sonnenbrille ihn anstarren, das Kinn auf die Hand gestützt, aber die Gläser waren zu dunkel, um die Augen zu sehen.

„Hier ist es am besten“, sagte Daniel.

Sarah setzte sich auf den mittleren Felsen, öffnete Schnallen und Knöpfe und ließ die Jacke über ihre Schultern bis auf ihre nackte Taille gleiten.

Im silbrig aufziehenden Licht.

Wurde sie selbst Silber.

Und als die Sonne aufzog, wurde sie transparent.

Raoul zeichnete sie mit weißer und gelblicher Kreide auf weißes Papier, zarte Andeutungen von Konturen – nur ihre Schulterlinie, das Profil; den Hals deutete er mit kaum sichtbaren Farbwölkchen an, wie Schatten. So wie sie war, kurz bevor das Licht durchbrach. Sarah bewegte sich keinen Millimeter. Sie schaute auf einen Punkt in der Ferne. Das Geräusch von Kreide auf Papier, hin und wieder das Brummen aus dem Nachthaus der Löwen, der Schrei eines Adlers.

Raoul spürte, wie dicht sie hinter ihm stand, das Mädchen mit der Sonnenbrille, wie sie sich über ihn beugte, um die Zeichnung besser sehen zu können, woraufhin es ihm nicht länger gelang, etwas aufs Papier zu bringen. Als er aber rasch über die Schulter blickte, saß sie immer noch an der gleichen Stelle, mit dem Kinn in der Hand, die Gläser zu dunkel, um die Augen sehen zu können.

Sarah zog die Jacke wieder hoch und jeder verstaute seine Blätter, die Pastellkreide und die Bleistifte. Der alte Mann gab Raoul die Hand. Das Mädchen mit der Sonnenbrille sagte: „Bis bald.“ Sarah und Daniel sprachen leise miteinander. Herbert legte eine Hand auf Raouls Schulter und sagte: „Folge mir, aber mit Abstand. Wir kennen einander nicht.“ Sarah winkte Raoul zu, ohne ihn anzuschauen.

Wir kennen einander nicht.

Herbert hatte die linke Hand in der Hosentasche. Er atmete den Zigarettenrauch aus, indem er seinen Kopf beim Gehen zurücklegte. Der Zoo war noch geschlossen, trotzdem liefen überall Leute herum, ausschließlich Männer, manche in Arbeitskleidung, andere im Anzug, nicht gehetzt, aber zielgerichtet.

Bei den Käfigen der Tapire sah Raoul einen Mann, der sich zurücklehnte, um Herbert hinter einem Baum vorbeigehen zu sehen, danach schlug er mit dem Daumen das Revers seiner Jacke um und sprach etwas hinein. Er lehnte sich noch weiter zurück und gab wieder etwas durch, nickte.

„Entschuldigung.“

Zuerst tat der Mann so, als habe er Raoul gar nicht bemerkt.

„Haben Sie Feuer?“ Raoul sprach laut genug. Er sah, dass Herbert ihn gehört hatte, erkannte es an der Seitwärtsbewegung seines Kopfes. „Ich habe mein Feuerzeug vergessen.“ Raoul schaute auf die Kippe zu Füßen des Mannes.

Der Mann kramte sein Feuerzeug hervor und gab ihm Feuer. Er schaute über die Schulter, aber Herbert lief schon nicht mehr auf dem Hauptweg.

Raoul sagte: „Können Sie mir helfen? Ich suche das Gehege der …“ Der Mann eilte davon. Er hinkte nicht wirklich, sein Gang erinnerte eher an eine Art Drill. Er hielt den Kopf schräg, ununterbrochen im Gespräch mit seiner Jacke.

Sarah war am folgenden Tag nicht im Museum. Raoul versuchte vor der Madonna des Kanonikus van der Paele sitzen zu bleiben, aber es gelang ihm nicht, sich auf das Bild zu konzentrieren.

An der Universität wurde der Unterricht wieder aufgenommen. Es gab jetzt deutlich weniger Studenten, manche Seminare waren kaum besucht. Die neuen Dozenten taten so, als wäre das völlig normal, verschwanden aber nach ihren Seminaren auffallend schnell. Jeden Abend schaute Raoul beim Treppensteigen, ob ein Brief mit einer Anweisung des Vaters vor seiner Tür läge.

Immer häufiger sah er, wie Daniel, der auch Architektur studierte, im Universitätspark mit feinen Nylonfäden zu Gange war, als wollte er von den Spinnweben lernen, wie man ein Haus entwerfen könnte, bei dem die Räume nicht länger durch Wände getrennt wären, sondern durch schlanke, weiße Pfeiler, dünn wie Fliegenbeine, die nach einem ausgeklügelten System platziert wurden. Und alle Möbel wären auf Rädern montiert. Dadurch könnten die Menschen ihr Haus selbst unterteilen, je nach ihrer Stimmung. Veränderbarkeit. Daniel und sein Lächeln. Seine leise Stimme. Die Finger, die ununterbrochen alles betasteten. Die Höflichkeit, mit der er die Tür aufhielt, um anderen den Vortritt zu lassen. Sein Traum von einer veränderbaren Welt.

„Kennst du den kleinen Park hinter dem Zoo? Niemand kennt ihn. Vollkommen verwildert. Dort male ich oft nach der Natur. Kathedralen, gestützt von Sonnenstreifen und -balken, gebaut aus Sonnenlicht, das durch eine Baumkrone fällt.“

Es war Daniel, der Raoul darüber informierte, dass man Sarah versetzt hatte.

Eines Tages zeigte er Raoul in der Eingangshalle das Fenster, das seiner Meinung nach das Erscheinungsbild des ganzen Gebäudes prägte, als der letzte fortschrittliche Professor ging, flankiert von zwei uniformierten Männern. Alle Studenten blieben stehen, schauten den dreien hinterher. Sie stiegen in einen Wagen – einer der Uniformierten drückte den Kopf des Professors beim Einsteigen nach unten. Einige Studenten applaudierten sogar. Daniel und Raoul sagten nichts, spürten aber, wie die Atmosphäre unwiederbringlich umgeschlagen war.

Am nächsten Tag hatte man die Mauern der Universität schwarz angestrichen. Zuerst dachte Raoul, es wäre ein Akt des Widerstands gewesen. Bis er begriff, dass kein Filzstift es jetzt noch mit diesem Schwarz aufnehmen konnte.

Hin und wieder zeichnete Raoul nach lebendem Modell. Die Morgenstunden im Zoo. Frauen, deren Namen er nicht erfuhr, aber die so blass waren, dass sie nicht zu existieren schienen. Keine der Frauen sah er hinterher noch einmal. Nur das Mädchen mit der Sonnenbrille war jedes Mal dort. Sie rauchte schweigend. Und beugte sich über Raouls Schulter, sogar wenn sie mehrere Meter entfernt hinter ihm saß.

Eines Tages lehnte Herbert rauchend an einer Säule und wartete auf Raoul.

„Nicht hier“, sagte er und ging in aller Ruhe weg, die Hand in der Hosentasche.

Auf dem hektischen Bahnhof reihte er sich dann in eine lange Schlange ein und winkte Raoul mit dem Kopf zu.

„Wo ist Sarah?“, fragte Raoul.

Herbert sagte nur: „Heute, Schließzeit, an der üblichen Stelle.“ Er schob Raoul zur Seite und schaute auf die Anzeigetafeln.

Natürlich war Raoul rechtzeitig bei den Ausweichgehegen der Löwen. Es war ein Abend, an dem Gänse wie dickbäuchige, geflügelte Flaschen in V-Formation am Himmel vorüberzogen. Die Sonne ging unter.

Ruhe senkte sich über die Käfige.

Über dem Weiher drehte eine Fledermaus ihre Runden.

Raoul blieb unbeweglich hocken.

Wie er anfängt, sich im Dunkeln aufzulösen, an diesem mondlosen, bewölkten Abend. Wie dieser zurückhaltende Junge aus der Provinz zu einem Teil der Nacht wird, die er sich jetzt noch gar nicht vorstellen kann.

Raoul konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Das Aufflackern eines Feuerzeugs. Das Mädchen mit der Sonnenbrille. Sie nahm ihn mit auf den Heuboden der Katzenartigen, über dem Gehege der Löwen, die sie durch die Decke schnauben und brummen hörten.

Sie flüsterte: „Alles ist in Ordnung.“

Eine Hand auf seinem Rücken. Einige Schritte.

Sie flüsterte: „Warte kurz.“

Er hustete.

„Neben dir steht ein Stuhl.“

Er setzte sich. Die Aktentasche auf den Knien. Seine Knie aneinander gepresst.

Ihm den Rücken zuwendend, entzündete sie zwei Gaslichter. Dann stand sie aufrecht, drehte sich um und ging einen Schritt nach hinten, so dass sie sich ganz im Licht befand.

Sie trug ein langes, schwarzes Kleid.

Sie war kein Mädchen, sondern eine Frau.

Mit einer Sonnenbrille.

Was konnte Raoul sagen? „Sie sind so …“

Elegant, dachte er. Niemals zuvor, dachte er, habe ich jemanden getroffen, der so elegant aussieht.

Eine lange Stille.

Schließlich.

„Würden Sie die Augen kurz schließen?“

Er schloss seine Augen beinahe vollständig. Was er durch die Wimpern noch sah, nahm ihm den Atem.

Die Art, wie sie die linke Hand ans Oberteil ihres Kleides hielt, um es nicht herunterfallen zu lassen, während sie den Reißverschluss an der Seite öffnete.

Die Art, wie sie einen Träger des Kleides von ihrer Schulter schob.

Die Art, wie sie das Kleid hinunterrutschen ließ, den Kopf zur Seite, die Haare vor ihrem Gesicht.

Die Art, wie sie aus dem Kleid stieg.

Die Art, wie sie die Schuhe von den Füßen streifte.

Die Art, wie sie, die Arme hinter dem Körper, ihren BH öffnete. Die Schultern nach vorn, während sie den BH auszog und einen Arm vor die Brüste hielt.

Die Scham, mit der sie ihren Slip auszog, wie sie ihn über die Beine schob und sich hinsetzte, immer noch mit abgewandtem Gesicht und nach vorn gebeugten Schultern. Die Sonnenbrille immer noch auf.

Raouls linke Hand auf der Aktentasche. Seine rechte Hand schwebend in der Luft.

„Schau nur“, sagte sie.

Und er öffnete seine Augen ganz.

Eine sitzende Frau, nackt, aber mit Sonnenbrille, ihm zugewandt, aber im Profil, gestützt auf die rechte Hand, die Knie übereinandergeschlagen.

Raoul entriegelte eilig die Aktentasche auf seinen Knien – er hoffte, sie würde seinen Herzschlag nicht hören –, zog seine Jacke aus, nahm das Zeichenpapier und die Kreide heraus und legte das Papier auf die Aktentasche.

Er saß da, ohne sich zu bewegen.

Seine Hände ruhend auf der Aktentasche.

Ein- und ausatmend.

„Funktioniert es?“, fragte sie.

Er schaute.

Schaute.

Auf den Herzschlag an ihrem Hals.

Die Röte auf ihrem Hals.

Der Herzschlag an ihrem Hals.

Da bog sie sich weiter, legte sich auf die Seite und senkte den Kopf auf die Handfläche.

Nach unten blickend.

Atmete ein.

Ihre kleinen Brüste.

Ihr Nabel.

Sie zog das obere Bein nach hinten, so dass das Licht auf ihren Bauch fiel.

Auf den Streifen Haar unter ihrem Bauch.

Raoul schaute.

Auf die leuchtende Wölbung ihrer Hüfte.

Und dann kehrte sein Blick zurück.

Liegend drehte sie ihren Kopf ins Profil.

Ihr Hals.

Sie nahm die Sonnenbrille ab.

Sie schüttelte die Haare. Strich sich die Haare aus dem Gesicht. Und dann wandte sie sich Raoul zu.

Und schlug die Augen auf.

Und schaute ihn an.

Um ihm deutlich zu machen, dass sie sah, wie er sie anschaute.

Was war mit ihren Augen?

Wie lange hatte er ihre Augen angeschaut, die Kreide wenige Zentimeter über dem leeren Blatt in der Schwebe? Ohne dass sie ihre Augen auch nur einmal niedergeschlagen hatte. War das ein Lächeln, wie klein auch immer? Oder war es Schmerz? Oder eine Form des Glücks, die er noch nicht kannte?

Beider Blicke.

Plötzlich drehte sie sich seitwärts zu einem der Gaslichter und drehte es ab. Sie nahm ihre Kleider und hielt den anderen Arm vor die Brüste. Sie schaute ihn nicht mehr an.

„Sie können jetzt nicht nach Hause. Dort ist eine Matratze.“

Raoul steckte die Papiere in seine Aktentasche und ging zur Matratze. Kurz dachte er, hoffte er … Im Augenwinkel sah er: ein aufleuchtender Fleck nackter Haut, das Gaslicht, das sie zu einer anderen Matratze mitnahm.

Dunkel.

Er legte sich auf den Rücken.

Minuten später sagte er: „Gute Nacht.“

Aber er bekam keine Antwort.

Er legte sich auf die Seite.

Mit weit geöffneten Augen.

Als Raoul aus dem Schlaf aufschreckte, war sie bereits angezogen. Einschließlich der Sonnenbrille. Ein langer, schwarzer Mantel fiel locker über das Kleid. Bis auf die hohen Absätze hinunter.

Neben ihr stand Herbert. Der Raoul kurz zunickte und sagte: „Du brichst erst in einer Stunde von hier auf. In einer Stunde, keinesfalls früher.“

Sie stand neben Raoul.

Herbert ging zur Tür. „Und nimm den Schlüssel mit, ja? Raoul? Hörst du?“

„Ich danke dir“, sagte sie und reichte Raoul die Hand.

Herbert ging nach draußen.

Und dann rückte sie näher an Raoul heran, küsste seine Wange, neben den Mundwinkel, und flüsterte: „Niemals, wirklich niemals hat mich jemand so angeschaut, wie du es getan hast. Behältst du das bitte in Erinnerung?“

Herbert steckte den Kopf wieder herein.

Sie stand einen Meter von Raoul entfernt. Sie drehte sich um und lief aus seinem Leben.

Ist es denkbar, dass jemand, mit dem man nie zuvor gesprochen hat und dessen Namen man nicht kennt, dass der Verlust von so jemandem nach nur einer Nacht deinem ganzen weiteren Leben Sinn gibt?

Ich kann es nicht anders sagen: Sinn gibt.

Nur eine Nacht?

Raoul brach früher vom Heuboden auf als befohlen, früh genug um zu sehen, wie sich Scharfschützen auf dem Dach seines Zimmers positionierten und Polizisten aus seinem Fenster schauten.

Raoul verbarg sich in dem kleinen Park hinter dem Zoo. Bis Daniel vorbeikam, ihn im Kofferraum versteckte und ihn wegbrachte. Stundenlang im Kofferraum auf einem Parkplatz. Raoul wurde zu dem alten Mann gefahren, der nach jedem Satz nach Luft schnappte, so erschöpft war er.

Als Raoul von dem Mädchen sprach, hob der alte Mann seine Hand. Die Hand zitterte. Er schüttelte den Kopf.

Raoul fragte: „Wie hieß sie?“

Der alte Mann nannte ihren Namen. So leise sprach er den Namen seiner Tochter aus, als hätte er Angst, sie würde dadurch noch einmal sterben.

Danach spie der alte Mann einen anderen Namen aus: Herbert. Ohne darüber nachdenken zu müssen, breitete sich sein zukünftiges Leben vor Raoul aus. Die Entscheidung. Von jetzt an. Zum Äußersten bereit. Ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Der alte Mann blickte Raoul an, umarmte ihn. Stinkend vor Schmerz.

Von diesem Tag an lebte Raoul in permanenter Bewegung, jeden Tag in einer anderen Vermummung, unter einem anderen Namen: Wir, die wir uns selbst die Erste Katze von Istanbul nennen, weil wir überzeugt sind, dass sie uns nie werden ausrotten können, jene die ausrotten, aber mit jedem Schuss irgendwo auf der Welt jemand Neuen aufwecken. Eine neue Katze.

Das Mädchen mit der Sonnenbrille. Ihr Name, den man nicht aussprechen durfte, um ihren Tod nicht zu vermehren. Sie stand in allen Zeitungen, kam in allen Nachrichten. Die Frau in Schwarz. Die schwarze Witwe. Sie, die den Großen Führer ums Leben bringen wollte. Sie wurde erschossen, bevor das Auto des Führers die Kurve erreicht hatte, die er jeden Tag in seinem offenen Wagen passierte, weil er so vor Augen führen wollte, dass er keine Eskorte benötigte, dass das Volk ihn so fürchtete, dass niemand auch nur daran zu denken wagte ihn … den Großen Führer … der noch am gleichen Tag, lachend vor der Kamera, spielend mit der Kamera, im Profil, sagte: „Wir sind sicher.“

Er, der Jagd auf seine Feinde machte wie auf Ratten: Zünde nicht die Ratte an, auch nicht das Nest der Ratte, lass es an beliebigen Orten brennen, so dass die Ratte denkt, keine Fluchtmöglichkeit mehr zu haben. Greife dann zu.

Verstümmele,

zerquetsche,

vernichte die Ratte.

Einmal sah Raoul Herbert, der eine Uniform trug und auf der Rückbank einer Limousine saß. Raoul stand an der Ampel, sein Blut gefror, aber er konnte die Augen nicht von Herbert abwenden. Das Auto setzte sich in Bewegung, hielt nach einigen Metern an, fuhr nach wenigen Sekunden weiter. Diese Sekunden. Kurz stoppen, dann Gas geben: Was sollte man davon halten, man wusste es nicht, hörte auf zu denken.

Raoul war nicht der Bombenleger, nicht der Saboteur, nicht derjenige, der die Pläne entwarf, nicht der Soldat. Er war der Funktionär, oder weniger fein ausgedrückt: der Menschenhändler, denn gewiss, es musste verhandelt werden, unterhandelt, geschachert, umworben und gebrüllt, bezahlt und gestohlen, erpresst und bedroht und auch mitleidslos bestraft werden, um Flüchtling X von A nach B zu bekommen. Fluchtwege und Schmuggelrouten. Wie man es aus Filmen kennt, nur noch viel schmutziger, hinterhältiger und härter und manchmal schrecklich banal. Er tat Dinge, die er nie für möglich gehalten hätte. Schachspieler, Psychologe, Infiltrant, Arschloch – wenn es sein musste.

„Haben Sie Kinder?“

„Ich habe zwei, einen Sohn und eine …“

„Möchten Sie sie aufwachsen sehen?“

„Wie bitte?“

„Möchten Sie Ihren Sohn Herbert Jr. und Ihre Tochter Lili aufwachsen sehen?“

In wie vielen Varianten sprach Raoul diesen Satz aus?

Raoul brach nicht offiziell mit seiner Familie, er suchte einfach keinen Kontakt mehr und wurde unsichtbar. Zum einen ihrer Sicherheit wegen. Zum anderen, weil er zum ersten Mal das Gefühl hatte, zu leben – vielleicht muss man sich seiner Familie entledigen, um endlich zu sehen, wer man ist. Romantischer Unsinn. Wer der Revolution dient, bezahlt mit seinem Leben, das ist der Preis. Punkt. Du gibst dein altes Leben auf. Punkt. Um etwas Neues und Größeres zu ermöglichen. Ausrufungszeichen. Eines Tages stand sein Stiefbruder vor ihm – ein vollkommenes Rätsel, wie er Raoul, den Unaufspürbaren, der sich in Luft auflöste, hatte finden können. Als sie einander umarmten, merkte Raoul, wie sehnig und fest der Körper des Jungen geworden war.

„Wir haben nur wenig Zeit. Zu gefährlich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Geld du wert bist, Erste Katze von Istanbul.“ Der Bruder legte seine Hände auf Raouls Wangen.

Und bevor Raoul danach fragen konnte: „Mama ist vorige Woche gestorben. Im Schlaf. Sie bat mich, dir einen Kuss zu geben.“ Eine minutenlange Umarmung.

„Wie hast du mich gefunden?“

„Das kann ich dir nicht erklären, aber glaube nichts von dem, was du über mich hören wirst. Versprichst du das?“

Der Bruder stieg auf ein Motorrad. Obwohl die für gewöhnliche Bürger verboten waren.

„Wie kommst du in Gottes Namen an ein Motor…“

„Vertrau mir“, sagte er.

Er setzte den Helm auf. Gab Gas.

„Erster Hund von Afrika“, sagte er. „Das ist mein Name.“

Das Letzte, was der Bruder sagte: „Deine Augen.“

„Was sagst du?“

„Deine Augen haben sich vollkommen verändert.“

Der Kies flog auf, als er anfuhr und auf dem Hinterrad davonraste.

Das Zimmer liegt auf der Südseite und vielleicht sind die Fensterläden deshalb am Mittag geschlossen, allerdings so, dass man die Geräusche von der Straße noch hört und man, wenn sich die Augen ans Dunkel gewöhnt haben, den Mann auf dem Bett sehen kann.

Raoul liegt auf der Decke, Jacke und Schuhe noch angezogen. Vielleicht war er müde und ist nach seiner Ankunft sofort eingeschlafen – würde man näher herangehen, könnte man seine weit geöffneten Augen sehen und die beiden Hände in den Jackentaschen, wie er seine Arme steif gegen seinen Körper presst und sich hin und wieder auf die Unterlippe beißt, als würde er eine Entscheidung treffen. Es ist Jahre her, dass er hier gewesen ist, viele Namen her: so viele Namen und dazugehörige Körper, die kamen und wieder gingen.

Danach sitzt Raoul eine Weile an einem kleinen Tisch am Fenster, einen Kugelschreiber in der Hand. Er blickt durch die Ritzen zum Zoo auf der anderen Seite der Straße, der versteckt hinter einer verwitterten Backsteinmauer liegt, über die die schweren Zweige der Eichen herabhängen. Durch zwei Baumkronen sieht er die Gehege der Katzenartigen – den Lageplan des Zoos kennt er auswendig. Nach einer Weile legt er sich wieder aufs Bett, ohne jedoch Schuhe oder Jacke auszuziehen, die Hände in den Jackentaschen.

Draußen fangen Hunde an zu bellen. Raoul schaut durch die Fensterläden. Ein weißer Hund steht auf seinen Hinterpfoten und springt die Mauer an, während ein schwarzer Hund die Vorderbeine streckt und mit erhobenen Kopf etwas anbellt, das im Blätterdach versteckt ist. Sie hören selbst dann nicht auf, als ein schwarzer Lieferwagen langsam vorbeifährt. Der weiße Hund ist völlig außer sich und springt so hoch, dass er beim Herunterfallen auf der Seite landet, aber er schmeißt sich schon wieder gegen die Mauer. Auf der Mauer liegt eine Katze. Eine weiße Kurzhaarkatze. Sie macht sich nicht einmal die Mühe, die Hunde zu beachten.

Der Lieferwagen fährt durch einen Seiteneingang in den Zoo hinein. Wenige Sekunden später schließt sich das Tor wieder. Durchs Blätterdach sieht Raoul den Wagen. Die Katze ist verschwunden und die Hunde rennen, ihr hinterherbellend, die Mauer entlang.

Wenige Minuten später fährt der Lieferwagen abermals durch das Tor und gleitet surrend vorbei. Die Bäume. Die Dächer der Wildkatzengehege.

Raoul nimmt seine Aktentasche und verlässt das Zimmer.

Raoul passiert die gefurchten Innensäulen unter dem Frontispiz und nimmt die Marmortreppe nach unten. Im großen Saal bleibt er unter der grob verputzten Decke stehen, die durch ihre Bemalung echten Stein vortäuscht. Wie immer müssen sich seine Augen erst an das Licht der Terrarien gewöhnen, die dunkleren Löcher in den Nischen. Er geht zur Ptyas mucosa: ein mit Mulch umrandetes Wasserbecken, Wurzeln, Blätter, die die Rattenschlange unsichtbar machen. Die linke Seite der Scheibe ist beschlagen.

Leute kommen allein oder zu zweit die Treppe herunter, mit gedämpften Stimmen, schieben sich an den Nischen entlang. Manchmal bleibt jemand stehen, verlagert sein Gewicht vom linken auf das rechte Bein, Gesicht und Arme in einer weichen Glut, wie von innen erleuchtet – Jochbeine, Augenhöhlen, Stirnen. Die Schlangen haben sich um die Baumstümpfe gewunden oder tasten träge, mit zischelnden Zungen, den Boden ab. Die weißen Steine phosphoreszieren. Es gibt keine Bänke, auf denen man stundenlang in dieses träge Licht untertauchen könnte.

Raoul betrachtet die Felsstruktur, die Grotte, in der Wasser aus den Bodenfliesen quillt, schwarzglänzende Pfützen, die jede Stunde aufgewischt werden. Über der Grotte erhebt sich ein griechischer Tempel; auf Säulen wie die Klauen eines Vogels, der jeden Augenblick die Grotte aus der Erde ziehen wird. Die Luft ist feucht. In seiner rechten Hand hält er die Aktentasche. Er spaziert auf die andere Seite des Saals und zählt dabei die Schritte. Eine Frau stellt sich vor die Nische mit den Pythons, das Licht bildet eine Aureole um ihre Haare.

Das Klappern eines Eimers. Jemand vom Reinigungspersonal putzt in einer Ecke des Raums, nimmt den Lappen vom Schrubber und wringt ihn aus. Nach einigen Minuten hat er die Rautenpythons erreicht. Während er den Lappen über den Schrubber legt, sagt er: „Achtzehn.“ Raoul zählt bis zwanzig, geht zu den Treppen und verschwindet.

„Achtzehn, genau“, nickt Raoul bestätigend an der Hotelrezeption. Er klemmt den Hörer zwischen Schulter und Wange und legt die Aktentasche auf die Ablage. „Können Sie das bitte noch einmal wiederholen?“ Er beißt sich auf die Unterlippe. „Vielen Dank.“ Er legt den Hörer auf und geht weg.

Wenig später klopft es an der Tür seines Hotelzimmers.

„Ihre Tasche, mein Herr.“

„Natürlich. Wie dumm von mir.“

Die Frau bleibt in der Türöffnung stehen. Betrachtet seine Augen.

„Möchten Sie hereinkommen?“

„Nein, ich muss noch …“

Mit wenigen Schritten ist er bei ihr. „Sind noch andere Leute im Hotel?“

Sie schüttelt den Kopf. Was hat es nur mit seinen Augen auf sich?

Durch die Ritzen der Läden sieht er das Türmchen auf dem Gehege der Katzenartigen. Er kniet sich hin und holt unter dem Bett eine zweite Aktentasche hervor. Wenig später sitzt er am Tisch mit einem Stapel Personalausweise in den Farben der schwedischen Flagge. Achtzehn, in zwei Päckchen zu je neun. Er steht vom Stuhl auf und presst sein Ohr an die Wand. Rasch nimmt er die Ausweise vom Tisch, schiebt sie unter sein Kissen und legt sich aufs Bett.

Es klopft.

Die Frau steht im Halbdunkel und hält ein Tablett in den Händen, geht am Bett entlang zum Tisch und stellt Kaffeekanne und Tasse nebeneinander ab.

Raoul steht beim Affengehege und trägt eine Plastiktüte unter dem Arm. Er raucht. Nach einer Weile kommt jemand dazu und beginnt neben ihm zu fegen. Raoul stellt die Plastiktüte auf dem Boden ab.

Der Mann hält den Besen still: „Heute Abend?“

Raoul wirft die Kippe auf den Boden und schiebt sie mit dem Schuh in Richtung der Borsten.

Der Mann mit dem Besen deutet mit einem Kopfnicken auf einen Wächter.

„Aber …“

„Kein aber“, sagt Raoul und geht weg.