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Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster

ISBN 978-3-492-96593-4
März 2017
© Sergio Bambaren 2016
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Song of Silence«.
Covergestaltung:Mediabureau Patrizia Di Stefano, Berlin
Covermotiv: Lincoln Seligman und Nancy Moniz Charalambous/Bridgeman Images
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Jede Minute, die vergeht,

ist eine Gelegenheit, alles zu verändern,

jeder Augenblick ist eine Chance, alles zu verbessern.

Und deshalb, Leben, verspreche ich Dir:

Ich werde meinem Herzen treu sein.

Ich werde der Hüter meiner Träume sein.

Ich werde alle Meere befahren, um mit eigenen Augen die wundervolle Welt zu sehen, in der wir leben.

Ich werde jede Sekunde meines Lebens festhalten wie einen Schatz, den ich eigentlich nicht verdient habe.

Ich werde tief einatmen,

um meine Lungen nicht nur mit Luft,

sondern auch mit der Magie zu füllen,

die mich umgibt.

Ich werde meinen eigenen Weg gehen, egal, was andere

sagen oder glauben mögen.

Ich bin der Herr über mein eigenes Schicksal,

ich werde meinem Herzen immer treu sein,

und auch meinem eigenen Seelenfrieden.

Und, Leben,

auch das verspreche ich Dir:

Wenn der Augenblick gekommen ist,

um meinen letzten Atemzug zu tun,

um die letzte Welle zu reiten,

um mir einen letzten Traum zu erfüllen,

dann werde ich Dir zulächeln,

Du gütiges, wunderbares Leben,

und Dir für all die Momente danken, die Du mir geschenkt hast,

ohne etwas dafür zu erbitten.

Und das ist mein Versprechen an Dich,

kostbares,

einzigartiges,

wunderschönes

Leben!

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Prolog

Ich bin eine Nachtigall.

Oder anders gesagt: Ich bin das, was die Menschen einen Vogel nennen. Und vor langer Zeit hat mich ein weiser Mann als Nachtigall bezeichnet – fragt mich nicht, warum. Also bin ich nun, damit wir einander verstehen, eine Nachtigall.

Mein ganzes Leben lang habe ich die Menschen vom Himmel aus beobachtet. Von weit oben, wohin sie normalerweise nicht blicken: vom Dach eines Gebäudes aus, von einem Ast, einer Telefonleitung, die von Mast zu Mast verläuft. Ich habe viele verschiedene große und kleine Städte bereist, ja ganze Länder, und nichts kam mir eigenartiger vor als die Willkür, mit der sich Menschen voneinander abgrenzen und sich einreden, sie selbst wären aus mir unverständlichen Gründen anders als jene, die jenseits einer imaginären Grenze leben.

Mein Leben lang beobachte ich nun schon die Menschen. Und bis heute verstehe ich vieles nicht, was sie tun, und auch nicht, wieso sie es tun. Es fällt mir schwer, einen Sinn in ihren Handlungen zu sehen. Aber wahrscheinlich ist dies der Tatsache geschuldet, dass ich nur eine einfache Nachtigall bin. Ich lebe ein schlichtes Leben, es verläuft im Fluss meines Wesens – das weiß ich. Ich könnte also genauso gut sagen, dass es einerlei ist, ob ich die Handlungen der Menschen nachvollziehen kann, und dass ich, als Vogel, der ich bin, sie auch gar nicht nachvollziehen muss. Ich wurde geboren, um im hohen Wind zu segeln, nicht, um wie ein Mensch zu denken oder zu handeln. Warum mir also den Kopf zerbrechen und mir das Leben schwer machen mit Dingen, die ich nicht verstehe?

Doch wir Nachtigallen sind stur. Und so beschloss ich eines Tages, hinunter in die Welt der Menschen zu fliegen und mich unter sie zu mischen.

Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag. Ich segelte in einem starken Wind von Norden, der sich seine winterliche Kälte bewahrt hatte. Doch nach einer ganzen Woche voller dunkler und trister Stürme lugte an jenem Tag die Sonne hinter den Wolken hervor. Dieser erste goldene Sonnenstrahl beschien einen schönen Park, der von einer üppigen, grünen Hecke gesäumt und voller bunter Blumen war, die nun in den ersten Frühlingswochen sprossen. Ich flatterte vom Himmel herab und landete inmitten der satten, grünen Wiese. Von dort aus spazierte ich durch den Park und stellte verschiedenen Leuten Fragen zu ihren Verhaltensweisen, die ich mir nicht erklären konnte. Keiner hat mir eine Antwort gegeben.

Ich gab nicht auf und flog weiter, kam immer wieder von Dächern, Telefonleitungen und Ästen herunter und stellte jedem Menschen, den ich sah, unaufhörlich dieselben Fragen. Und noch immer bekam ich keine einzige Antwort.

Ich weiß bis heute nicht, ob es daran lag, dass sie mich nicht verstehen konnten oder dass ich sie nicht verstand. Wieder und wieder versuchte ich, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, indem ich sie umkreiste und ihnen ein Ständchen brachte, das Lied, mit dem ich das Leben feiere. Aber das Ergebnis war immer das Gleiche – ein dünnes Lächeln oder eine rasche Geste mit der Hand, die besagte: »Hau ab!«

So vergingen einige Jahre, und ich verfolgte weiterhin alles, was die Menschen taten und bemühte mich, sie zu verstehen. Ich dachte, mein Schicksal wäre besiegelt und ich würde sterben, ohne ihre Handlungen zu begreifen.

Doch dann – während einiger glutheißer Tage, in denen die Blumen in dem verzweifelten Versuch, ihre Blütenblätter vor der Hitze zu schützen, die Köpfe hängen ließen – traf ich endlich einen Mann, der nicht nur flüchtig lächelte oder mich gar verscheuchte.

Ich hatte die Nacht auf einem Ast tief in der Krone eines einzelnen Baumes verbracht, der auf einem kleinen Platz stand. Wegen der Hitze blieb ich den Morgen über dort im Schatten und begrüßte mit einem Lied die eben aufgehende Sonne. Denn auch wenn ich unter den hohen Temperaturen litt – nichts kann mich je davon abhalten, mich am Leben zu erfreuen. Ich blieb mir also treu und fing an zu singen.

Der Mann spazierte allein an einer Holzbank vorbei, die unter dem Baum, inmitten des kleinen Platzes mit viel Beton stand. Die kleine Grünfläche daneben war mit mehr Schokoladenpapier und Plastiktüten übersät als mit Blumen. Er hörte mein Lied, blieb stehen und blickte auf. Dann öffnete er seine Hand, streckte sie freundlich nach mir aus und bat mich, zu ihm zu kommen. Er fragte nicht mit Worten, sondern mit einem ehrlichen Lächeln, das so zufrieden wirkte und so von Herzen kam, dass es diesen heruntergekommenen Platz in den schönsten Ort der Welt verwandelte.

Zuerst zögerte ich. Ich kannte die Menschen ja überhaupt nicht. Doch ich wusste, dass ich das Risiko eingehen und diese einmalige Gelegenheit ergreifen musste, nach der ich mich so lange gesehnt hatte. Also flog ich von dem Ast, auf dem ich gesessen hatte, herunter und landete auf der Hand des Mannes.

»Hallo«, sagte ich hoffnungsvoll.

»Guten Morgen«, antwortete er mir.

Und ich konnte es nicht glauben. Endlich ein Mensch, der mich verstand!

So kam es, dass ich endlich den Menschen fand, nach dem ich gesucht hatte. Ich blieb auf seiner Hand sitzen, während er weiterspazierte und sich immer mehr von diesem kleinen Platz entfernte. Als wir zu einem hübschen Bach am Rande einer steilen Klippe in den Außenbezirken des Städtchens kamen, machte der Mann halt und setzte sich auf einen flachen Felsen. Wir blickten zusammen in die schöne Sonne, die von Wolken, so weiß wie Neuschnee, eingerahmt wurde. Ihr warmes Licht spiegelte sich im tiefblauen Wasser und verwandelte das Meer in eine glitzernde und funkelnde Fläche. Die Ruhe wurde nur von den Wellen durchbrochen, die an die Felsen unter uns brandeten, und vom Plätschern des Bachs, der sanft die Klippe hinunterfloss.

Der Mann sah mich lange an, tief in seiner Erinnerung versunken. Schließlich fragte ich ihn, wer er sei und wie es sein könne, dass er mich verstand. Ich spürte, dass mir die außergewöhnlichste und erfüllendste Erfahrung bevorstand, die einer Nachtigall im Leben vergönnt ist: mit einem ungewöhnlichen Menschen zusammen zu sein, der fernab all der willkürlichen und seltsamen Regeln der Gesellschaft geboren worden war. Ein Mensch, der den Großteil seiner Kindheit zusammen mit seiner Familie in Abgeschiedenheit verbracht hatte, bis er sich schließlich irgendwann der Welt der anderen Menschen stellen musste. Es ist eine wahre Geschichte.

Ich bin eine Nachtigall, und wir Nachtigallen wissen nicht, was eine Lüge ist, daher können wir nicht lügen. Wir sind stur, ja, aber wir lügen nicht. Genauso wenig wie dieser Mann, der als Kind nie gelernt hatte, die Unwahrheit zu sagen. Und der, als er eines Tages hinaus in diese unaufrichtige Welt ziehen musste, nur über eine einzige Waffe verfügte, die sich als ein goldener Schatz entpuppte: die Arglosigkeit.

Islas Guañape

Es war einmal ein Fischer mit Namen Guillermo Sanchez Aranibar. Er war der Vorsteher einer Insel, die reich an Guano war, dem althergebrachten Dünger, den man vor der Entwicklung von Kunstdünger in der Landwirtschaft verwendete. Guano ist nichts anderes als ein Gemenge aus den Exkrementen von Millionen Seevögeln, die den Himmel über den Inseln an der Südostküste des Pazifischen Ozeans bevölkern. Im Lauf der Jahre bildet dieser Dung durch Verwitterung Schichten einer trockenen grauen Masse, die sehr nährstoffreich für den Boden ist. Trotz der Entwicklung vieler Arten von synthetischen Düngern reicht keiner an die Wirksamkeit dieses natürlichen Stoffes heran.

Ein-, zweimal im Jahr werden die Guano-Schichten abgetragen, abgepackt und für den Verkauf mit Booten aufs Festland verschifft. Es braucht ein paar Tausend Männer, um den Guano aus dem massiven Kalkfels zu brechen und ihn zu mahlen, damit man ihn weiterverarbeiten kann. Die größten Mengen dieses reichhaltigen Düngers lagern sich an den höchsten Punkten der Insel ab, die Ernte ist aufwendig und dauert einige Wochen. Danach bleibt auf den Inseln jeweils ein Vorsteher zurück, der dort lebt und die Millionen Seevögel schützt.

Guillermo Sanchez Aranibar war für die kleine Inselgruppe Guañape zuständig. Diese Inseln, etwa zwanzig Kilometer vom Festland entfernt, waren ein kleines Paradies. Das klare blaue Wasser, das die Inseln umgab, war ein Fenster zur pulsierenden Welt des Meereslebens – schillernd bunte Fischschwärme schwammen zwischen Korallen. Die ruhige, glatte Meeresoberfläche wurde nur gelegentlich vom Sprung eines Delfins durchbrochen, der in der Herrlichkeit des Lebens seine Possen trieb.

Ungeachtet all ihrer Schönheit waren die Inseln ein einsamer Ort. Doch Guillermo liebte ihn. Er war zweimal verheiratet gewesen und hatte die Erfahrung gemacht, dass das Leben auf einer abgelegenen Insel nichts für ein Ehepaar ist, wohl aber für ihn selbst. Nach ein paar Ehejahren waren ihm die Frauen davongelaufen, sobald die Pracht der Inseln ihre Anziehungskraft verloren hatte und sie müde und gelangweilt waren von der Eintönigkeit und Abgeschiedenheit, die der Hüter einer Guano-Insel ertragen musste. Also hatte sich Guillermo, der schon in den Fünfzigern war, in sein Schicksal gefügt. Er wollte den Rest seines Lebens allein verbringen und das tun, was er gut konnte.

Zufällig traf er bei einer der seltenen Fahrten zum Festland, wo er Vorräte für sein abgeschiedenes Leben besorgte, ein junges Mädchen, das gerade erst mit der Familie aus den Bergen an die Küste gezogen war. Doch es war nicht irgendein Mädchen – es war Isolina León de Guerra, eine schöne junge Frau mit wallendem rotbraunen Haar, das sanft auf ihre Schultern fiel und ihr herzliches Lächeln und das strahlende Funkeln in ihren Augen einrahmte. Dieses Strahlen zeugte von einer solchen Vitalität, dass es Guillermo in seinen Bann zog und nie wieder losließ. Isolina sah in Guillermo dasselbe. Sie verliebten sich auf der Stelle ineinander.

Auf dem Festland gab es jedoch Regeln, und die Eltern der siebzehnjährigen Isolina erlaubten ihrer Tochter nicht, einen älteren, zweimal geschiedenen Fischer zu heiraten. Verliebt bis über beide Ohren taten Guillermo und Isolina schließlich das Einzige, was ihnen übrigblieb: In einer mondlosen, dunklen Nacht, die nur von glitzernden Sternen gesprenkelt war, schlichen sie sich auf Guillermos Boot, machten es leise vom Kai los und ließen sich langsam zurück zu Guillermos Insel treiben. Nur dort konnten sie frei von den gesellschaftlichen Regeln leben und sich ihrer gegenseitigen Liebe hingeben, deren Zeugen lediglich der ein oder andere Seelöwe, die fröhlichen Delfine, ein paar Humboldt-Pinguine und die unzähligen Seevögel waren, die die kleinen Islas Guañape bewohnten.

Ein Geschenk der Liebe

Von Geschichte und Politik fast vergessen, waren die Guano-Inseln während des Zweiten Weltkrieges durch ihre Abgeschiedenheit ein sicherer Ort. Guillermo und Isolina konnten ihre Liebe leben, ohne gestört oder verurteilt zu werden. Isolinas Familie hatte die Suche nach ihrer Tochter aufgegeben, alle dachten, sie sei mit dem alten Fischer außer Landes gegangen.

Das Paar lebte auf der Südinsel in einer kleinen Hütte nur wenige Meter von der Küste entfernt. Sie erfreuten sich an den beeindruckenden Sonnenuntergängen, die jeden Tag anders waren. Guillermo brachte Isolina bei, was er über die wundervollen Vögel der Insel wusste, über die Inkaseeschwalben, die Guanokormorane, Pelikane und Möwen. Sie lernte alles über deren Wander- und Paarungsverhalten und kümmerte sich um die Jungen, während Guillermo seine geliebten Vögel und deren Eier vor Raubtieren wie dem Andenkondor schützte, dem größten Greifvogel der Welt. Mit seinen drei Metern Flügelspannweite könnte er, auf der Suche nach Nestern, in Windeseile von den Gipfeln des erhabenen Festlandsgebirges zu den Guano-Inseln herabgleiten.

Und dann bauten auch Guillermo und Isolina ein Nest. Ihre Liebe war stark, und ihre Leidenschaft wurde von den Vögeln wohlwollend beobachtet und nie verurteilt. Es gab kein Gerede, kein unschönes Getuschel. Es gab nur Liebe, abgeschirmt von der Kleingeistigkeit eines Festlandes, das unfähig war, Liebe um der Liebe willen zu schätzen.

Im zweiten Jahr auf der Insel gebar Isolina einen gesunden Jungen. Sie war nun neunzehn und noch immer eine anmutige junge Frau, unschuldig, verliebt. Nun war sie Mutter geworden und sehr stolz darauf. Sie nannte ihren Erstgeborenen Antonio.

Antonio kam an einem Ort zur Welt, an dem es keine Regeln gab und an dem man noch nie von Landesgrenzen gehört hatte. Er wurde in eine Welt hineingeboren, in der alles möglich war, weil alles entdeckt oder erfunden werden konnte. Doch vor allem kam Antonio an einem Ort zur Welt, an dem es keine Lügen gab, keinen Klatsch und Tratsch und kein menschengemachtes Richtig oder Falsch.