VIETNAM BLACK  

Roman

  

Brad Harmer-Barnes


Aus dem Englischen von Andreas Grimm

  

  





Für Charlie und Rey, wie immer.

 





This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com
Title: VIETNAM BLACK. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2017. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum


überarbeitete Ausgabe
Originaltitel: VIETNAM BLACK
Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

      

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Andreas Grimm

        

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

        

ISBN E-Book: 978-3-95835-375-6

        

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.



TEIL 1

 

GOING UP THE COUNTRY*

 

 

 

* »Going up the Country« ist ein Song von Canned Heat (1968) und war zu Zeiten des Vietnamkriegs so etwas wie die inoffizielle Hymne des legendären Woodstock-Festivals. (Anmerkung des Übersetzers)

 

KAPITEL 1

 

Hansons Stiefel versanken in dem schlammigen Pfad, der zur Basis führte. Füße und Reifen hatten den Boden zu einer widerlichen Pampe aufgeweicht, die kein noch so großes Maß an Sonne jemals austrocknen würde. Gelegentlich wehte durch die Luft ein Willkommensgruß zum Trupp herüber und obgleich der Großteil der Worte im Motorenlärm der Jeeps und dem Rotorenheulen eines Helikopters unterging, war es schön, ihre Stimmen zu hören. Natürlich war das Wetter in Vietnam immer heiß, doch heute schien die Hitze noch schlimmer zu sein als gewöhnlich. Nachdem sie drei Tage lang marschiert waren, ohne auch nur den geringsten Feindkontakt gehabt zu haben, lastete das Gewicht ihrer Rucksäcke und Waffen doppelt so schwer auf ihnen. Das Aufregendste, das ihnen auf dieser Patrouille begegnet war, war ein Laster voller Hühner gewesen, der an ihnen vorbeifuhr.

Er lächelte bei sich. Der Lastwagen war wirklich bis in den letzten Winkel mit den Viechern vollgestopft gewesen. Es hätte ihn nicht überrascht, zu sehen, dass ein Huhn am Steuer der verdammten Karre saß.

Warum lächelte er? Das Ganze war überhaupt nicht witzig.

Kacke, offenbar war er sogar noch erschöpfter, als er geglaubt hatte.

Sergeant Reese hielt am Tor, um rasch zu melden, dass sie es ohne Zwischenfälle zurückgeschafft hatten, ehe er sich umdrehte, um sich dem Trupp zuzuwenden. Gerade, als er zu sprechen begann, wurde er vom Dröhnen eines gepanzerten M113-Mannschaftstransporters übertönt. Hanson versuchte sich auf das zu konzentrieren, was der Sergeant sagte, und nach ein paar weiteren Worten gelang es ihm, den Faden aufzugreifen.

»… duscht euch und pennt 'ne Runde. Ich rede unterdessen mit dem Lieutenant, um ihn zu verklickern, dass diesmal tote Hose war, und um zu sehen, ob ich uns 'n bisschen Aufschub verschaffen kann, bevor wir wieder raus auf die Piste müssen.«

Der Sergeant hielt inne, um sich die Stirn abzuwischen und eine Marlboro aus seiner Hemdtasche zu ziehen. »Mit etwas Glück ist dieser Krieg vorbei, ehe wir das nächste Mal ausrücken.«

»Ihr Wort in Gottes Gehörgang«, murmelte Private Turner, ein riesiger Afroamerikaner aus Georgia. Hanson mochte Turner. Verflucht noch eins, er mochte alle, die dem Trupp angehörten, sogar Private Bradley.

»Haut euch hin und ruht euch aus.« Mit einem beifälligen Winken entließ Sergeant Reese sie und machte sich auf den Weg zum Büro des Captains.

»Soll ich Sie begleiten, Sarge?«, fragte Hanson. Er hoffte, zum Sergeant befördert zu werden, sobald Reese' aktuelle Dienstzeit hier durch war, und bis dahin waren es bloß noch fünf kurze Wochen. Vorher wollte er sich so gut auf den neuen Posten vorbereiten, wie möglich.

»Wenn Ihnen daran mehr gelegen ist, als an 'nem Happen zu Essen und 'ner Mütze Schlaf, dann tun Sie sich keinen Zwang an. Teufel, wenn ich könnte, würde ich Sie an meiner Stelle hinschicken, um mir ein wenig Ruhe und Erholung zu gönnen.«

»Hier ist nicht allzu viel mit Ruhe und Erholung, Sarge.«

»Aber doch immerhin mehr als draußen auf Patrouille, oder?«

»Ja, Sir.«

»Dann halten Sie verdammt noch mal die Klappe.«

Als sie das Zelt betraten, saß Lieutenant Nelson Talley schreibend am Tisch. Die Basis war noch relativ neu und die Offiziere schliefen entweder in ihren Büros oder arbeiteten in ihren Schlafzimmern, je nachdem, aus welcher Perspektive man das Ganze betrachtete. Ein elektrischer Ventilator mühte sich kraftlos, die muffige, warme Luft in dem Raum umzuwälzen, ohne dass es auch nur ein bisschen kühler wurde. Vor der vietnamesischen Hitze gab es kein Entkommen. Sie war überall. Man schwitzte immer. Man stank immer. Man hatte immer Durst.

Talley blickte nicht einmal auf, als Reese und Hanson eintraten und salutierten. Er ging einfach weiter seinen Papierkram durch. »Berichten Sie.«

»Der Echo-Trupp ist von der Patrouille zurück, Sir. Sergeant Reese und Corporal Hanson melden sich zum Rapport, Sir.«

»Ich sagte, berichten Sie.«

»Es gibt nichts zu berichten, Sir. Kein Feindkontakt. Nichts Ungewöhnliches.«

»Sie sind in einem Kampfgebiet und haben nichts Ungewöhnliches gesehen?«, fragte Talley.

»Hier is' keiner außer uns Schissern, Sir«, sagte Hanson. Er spürte, wie der Sergeant neben ihm ein Lächeln zu unterdrücken versuchte.

Schließlich beendete Talley seinen Papierkram, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spielte mit seinem Kugelschreiber. Für einen befehlshabenden Offizier war er noch recht jung – kaum in den Dreißigern −, doch andererseits ließen noch jüngere Männer als er im Dschungel ihr Leben. »Ich hab einen Frischling für Sie. Er wartet draußen.«

Hanson entsann sich, eine Nullnummer vor Talleys Zelt stehen gesehen zu haben, ohne dem Burschen jedoch weitere Beachtung geschenkt zu haben. Es war noch nicht allzu lange her, seit sie Private Jacobs verloren hatten. Er war auch ein Neuer gewesen, doch zumindest hatte er lange genug durchgehalten, dass die anderen sich die Mühe gemacht hatten, sich seinen Namen zu merken.

Reese verzog keine Miene. »Ja, Sir. Danke, Sir.«

Talley nickte beiläufig, ehe er sich auf den Ellbogen vorbeugte. »Sie haben neue Befehle.«

»Sir? Noch eine Patrouille?«

»Nicht wirklich. Eher so was wie 'ne Such- und Rettungsmission.«

Reese und Hanson wechselten einen Blick.

Talley fuhr fort: »Schon seit einer ganzen Weile bekommen wir von einem Kontaktmann im Dorf Hai Trang Informationen über Charlies Bewegungen. Der dortige Doktor, ein Typ namens Bo Xuan, hält uns mittels eines Funkgeräts in seiner Hütte auf dem Laufenden. Natürlich sind die Infos, die er uns liefern kann, begrenzt, aber wir nehmen, was immer wir kriegen.«

Hanson wusste, dass es dem Lieutenant ernst damit war. Die Nordvietnamesische Armee war eine Sache – ihre Leute sahen wie richtige Soldaten aus und verfügten über die entsprechende Ausrüstung. Der Vietcong hingegen – allgemein als »Victor Charlie« oder, häufiger, einfach als »Charlie« bezeichnet – war ein völlig anderes Kaliber. Das war eine Rebellenstreitmacht ohne Uniform. Jeder konnte ein Vietcong-Spitzel sein: Die Nutte, die man in Saigon aufgabelte, oder selbst die kleine alte Lady, der man auf Patrouille begegnete. Ob dem so war, erfuhr man erst, wenn es bereits zu spät war. Sie waren imstande, sich direkt vor aller Augen zu verbergen, und genau das machte sie so furchteinflößend. Einige der Männer fanden, Charlie sei schlimmer, andere plädierten für Nathaniel Victor (die NVA). Hanson hielt sich aus solchen Diskussionen raus. Soweit es ihn betraf, waren sie alle gleich übel.

»Sie wollen, dass wir nach diesem Xuan suchen, Sir?«, fragte Reese.

Talley nickte und warf ein Foto auf den Tisch. Reese nahm es auf und Hanson studierte es über seine Schulter hinweg. Das Bild zeigte einen unscheinbaren Vietnamesen Ende vierzig.

»Genau darum geht's«, fuhr Talley fort. »Mittlerweile haben wir seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört – das ist doppelt so lange wie die längste Funkstille davor. Möglich, dass sein Funkgerät kaputt ist oder er einfach nichts zu berichten hat, doch, na ja, einfach ausgedrückt, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Wir werden der Sache nachgehen, Sir«, sagte Hanson. »Wann rücken wir aus?«

Talley reichte Hanson eine zusammengefaltete Karte. »Hier drauf ist die Position von Hai Trang verzeichnet. Wann können Sie baldmöglichst wieder aufbrechen?«

Reese verzog seine Mundwinkel zu einer Grimasse. »Wir sind gerade erst zurückgekommen, Sir, nach drei Tagen auf der Piste.«

»Dann ruhen Sie sich etwas aus und machen Sie sich morgen früh auf den Weg. Wegtreten.«

»Ja, Sir.«

Hanson folgte Reese nach draußen. Talley hatte sich bereits wieder seinem Papierkram zugewandt, bevor die Tür hinter ihnen auch nur zugefallen war.

»So viel zu Ruhe und Erholung, Sarge«, murmelte Hanson.

»Was Sie nicht sagen. Die Jungs werden ziemlich angepisst sein.«

»Worauf Sie einen lassen können.«

Sie traten vor das Zelt und musterten den Private, der dort auf sie wartete. Hanson hatte alle Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Der Junge – ihn als Mann zu bezeichnen, wäre reichlich übertrieben gewesen – war etwas über eins-achtzig groß, schien jedoch keinen einzigen Muskel am Leib zu haben. Natürlich war ihm die Redewendung »nur Haut und Knochen sein« geläufig, doch er konnte sich nicht erinnern, jemals jemandem begegnet zu sein, auf den das so sehr zutraf, wie auf diesen Burschen. Sein blondes Haar war beinahe transparent, und Hanson wusste, dass er binnen einer Woche krebsrot sein würde. Das i-Tüpfelchen jedoch war der dünne, fast unsichtbare Oberlippenbart, den sich der Private stehen ließ. Hätte er nicht gewusst, dass das US-Militär seinen Papierkram extrem ernst nahm (worüber es mehr als einen schlechten Witz gab), wäre es ihm schwergefallen, zu glauben, dass der Bengel schon fünfzehn war.

»Okay, bringen wir's hinter uns«, sagte der Sergeant zu dem Private. »Ich bin Sergeant Vincent Reese und das ist Corporal Michael Hanson. Sind Sie Private Falconer?«

»Ja, Sir. Ausgesprochen Faulk-ner, Sir.«

»Wie auch immer, Sie können trotzdem davon ausgehen, dass der Trupp Sie fürs Erste nur Frischling nennen wird.«

»Ähm, wie Sie meinen, Sir.«

Reese wedelte ein fliegendes Insekt vor seinem Gesicht fort. »Ja, das meine ich. Ich sage nicht, dass ich derselben Ansicht bin oder diese Bezeichnung sonderlich höflich ist − ich sage Ihnen bloß, dass der Rest des Trupps das tun wird. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ja, Sir.«

»Ist Ihre Ausrüstung vollständig?«

»Ja, Sir.«

»In Ordnung. Dann lassen Sie uns zu den Baracken gehen. Sie können Jacobs' alte Pritsche haben.«

»Ähm, ja, Sir. Danke, Sir.«

»Es heißt Sarge oder Sergeant Reese. Nicht Sir

»Ja, Sir – Sergeant Reese.«

Reese und Hanson marschierten geradewegs zu den Baracken. Falconer hob sein Gepäck vom Boden auf und lief ihnen nach. Hanson stieß die Tür auf und das Gebrabbel des Trupps spülte über ihn hinweg, begleitet vom Klang von Jimi Hendrix, der aus blechernen Lautsprechern klang. Keiner wusste mit Gewissheit, wie Turner es geschafft hatte, einen Plattenspieler zu besorgen, oder woher, doch letzten Endes scherte es auch niemanden, solange er da war. Turnier spielte gerade Karten mit Bradley, dem anderen Schwarzen des Trupps. Turner war ein großer, unbekümmerter Bursche, während Private Darterrius Bradley auch abgesehen von der Hautfarbe in so ziemlich jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von ihm war. Bradley war hyperaktiv, dürr und ein Unruhestifter. Jeder wusste, dass er auf der Basis Gras und Acid vertickte, doch entweder kümmerte das den Captain und die Lieutenants nicht, oder auch sie gehörten zu seinen Kunden, da keiner irgendwas dagegen unternahm.

Private Walton, der M60-Maschinengewehrschütze des Trupps, lag wie erschlagen auf seiner Pritsche und schlief. Hanson hatte vor, es ihm gleichzutun, sobald es ihm möglich war. Draußen auf der Piste zu pennen war immer ein Problem. Die Aussicht darauf, acht – verdammt, selbst nur fünf – Stunden am Stück auf einer Matratze zu schlafen, versetzte ihn schier in Hochstimmung.

Auch das letzte Mitglied des Trupps, Private Liam Winters, nahm seine Pritsche in Beschlag, doch er schlief nicht. Stattdessen lehnte er mit dem Rücken am Kopfteil und las einen reichlich stockfleckigen Science-Fiction-Roman. Hanson war sich ziemlich sicher, dass Winters das Buch schon mal gelesen hatte, aber wenn ihm das dabei half, zu entspannen, war schwerlich etwas dagegen einzuwenden. Winters war ihr Funker, und sein Job konnte mitunter verdammt stressig werden; glücklicherweise schien Winters vollkommen unerschütterlich zu sein. Es gab keinen gelasseneren Mann in diesem Krieg. Nichts – weder gut, noch schlecht – konnte ihn aus der Ruhe bringen.

»Okay, mal herhören«, sagte Reese. »Das ist unser Neuer. Seid nett zu ihm, dann wird er garantiert auch nett zu euch sein. Frischling, das ist dein Bett. Ruht euch alle 'n bisschen aus. Wir haben Befehl, morgen früh wieder auszurücken.«

Von Bradley und Turner kam Seufzen, Ächzen und Fluchen. Winters schien sich nichts weiter aus dieser Neuigkeit zu machen und Walton schnarchte einfach weiter.

»Allerdings gibt's auch gute Nachrichten, Sarge«, sagte Hanson.

»Und welche genau wären das, Corporal?«

»Wenigstens hat er nicht gesagt, als Erstes am Morgen. Was bedeutet, wir können noch in der Basis frühstücken, bevor wir aufbrechen.«

»Ausgezeichnet. Pampige Eier, kalter Speck und ungenießbarer Kaffee. Da will man doch am liebsten vor Begeisterung abspritzen. Wie auch immer, ich schieb mir jetzt was hinter die Kiemen. Möchten Sie mir Gesellschaft leisten, Corporal?«

»Nein, danke, Sarge. Ich denke, ich folge Waltons Beispiel. Momentan kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als eine Mütze Schlaf.«

»In Ordnung. Dann machen wir Schluss für heute und sehen uns morgen früh um sieben beim Frühstück.«

»So viel zum Thema Auspennen, hm, Sarge?«

»Schaffen Sie Ihren Arsch ins Bett, Hanson.«

Mittlerweile hatte Falconer seine Taschen in der Truhe am Fußende seiner Pritsche verstaut. Seine Koje war die neben Winters, und er versuchte, einen Blick auf den Umschlag des Buches zu erhaschen, um zu sehen, was der Funker las. Das Cover war in kräftigen Farben gehalten und zeigte so eine Art Raumschiff.

»Hey, ich bin Alex. Alex Falconer. Was liest du da?«

Winters schien überrascht, dass der Neuling mit ihm redete. »Oh, ähm … H. G. Wells' Die ersten Menschen auf dem Mond. Kennst du das Buch?«

»Nein, leider nicht. Geht's darin um die Mondlandung?«

»Oh, nein. Wells hat das im 19. Jahrhundert geschrieben. Da kann man nicht erwarten, dass es besonders zutreffend ist. Heutzutage wissen wir schließlich einiges mehr über den Mond, als die Menschen damals.«

»Hast du das Buch schon mal gelesen?«

»Öfter, als ich zählen kann. Als Kind hab ich es geliebt, und jetzt … na ja … jetzt erinnert es mich daran, wie es war, ein Kind zu sein.«

Falconer lächelte. »Das macht Sinn, Mann.«

Winters wandte sich wieder seinem Buch zu. Es war offensichtlich, dass er die Unterhaltung als beendet ansah, und Falconer wusste nicht, wie er sie wieder in Schwung bringen sollte. Zumal er sich nicht völlig sicher war, ob er das überhaupt wollte.

Von der Pritsche gegenüber von Winters richtete Hanson das Wort an ihn. »Mach dir keine Gedanken wegen Winters, Frischling. Er ist unser ganz persönlicher Robbie der Roboter. Ein gottverdammtes Genie, aber mit ihm zu quatschen, ist nicht immer ganz einfach, wenn du verstehst, was ich meine?«

»Ja, Corporal.«

»Hanson genügt.«

»Ähm … okay, Hanson.«

Nur Augenblicke später schnarchte Hanson bereits, in einem Rhythmus, der ein bisschen schneller war als der von Walton in der Ecke. Da er sich ein bisschen wie das fünfte Rad am Wagen vorkam, ging Falconer rüber zu Bradley und Turner, die immer noch Karten spielten. »Hey. Ich bin Falconer.«

»Ich weiß, Mann, ist ja auf dein Hemd gestickt«, sagte Turner, der einige weitere Zigaretten auf den Stapel in der Mitte des Tisches warf, der den Pott bildete. »Bist du Vogelführer oder so was?«

Ȁhm, nein. Wie schon gesagt, es spricht sich Faulk-ner

Turner zündete sich eine Zigarette an und musterte ihn skeptisch. »Es spricht sich Frisch-ling, es sei denn, du legst Wert drauf, dass wir dich stattdessen den Vogelmann nennen?«

»Nicht besonders, nein.«

»Dann halt verdammt noch mal die Fresse, Frischling. Wir versuchen, hier zu zocken«, warf Bradley mit schriller, übermütiger Stimme ein.

»Hey, ich will doch bloß nett sein, Leute.«

»Wenn du nett sein willst, geh rüber zu Walton und mach mit ihm Löffelchen. Aber lass uns in Ruhe.«

Falconer spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, doch er war klug genug, nicht gleich an seinem ersten Tag einen Streit in der Baracke vom Zaun zu brechen – ganz zu schweigen in seinen ersten fünfzehn Minuten. Er schluckte seinen Unmut runter und lehnte sich auf seiner Pritsche zurück. Nach einigen Minuten holte er Block und Kugelschreiber hervor und beschloss, einige Briefe nach Hause zu schreiben.

 

Hi Mom,

 

ich bin gerade hier angekommen und habe schon einige neue Freunde gefunden. Bislang hatte ich noch keine Gelegenheit, mit dem Sarge zu reden, aber der Corporal unseres Trupps (das ist der Stellvertreter des befehlshabenden Offiziers) scheint sehr freundlich zu sein. Der Typ in der Pritsche neben mir wirkt auch recht nett. Wir haben uns über ein Buch unterhalten, das er gerade liest.

Wir rücken morgen zu einer Mission aus, was sehr aufregend ist. Ich weiß noch nicht, worum es dabei geht, aber keine Sorge, ich bin sicher, dass sie mich an meinem ersten Tag nicht gleich irgendwo hinschicken, wo es gefährlich ist.

Hier ist es unvorstellbar heiß. In jedem Raum gibt es einen Ventilator, doch der bringt überhaupt nichts. Das Einzige, das hilft, ist, sich das Hemd auszuziehen, im Schatten zu sitzen und Wasser zu trinken. Mach dir keine Gedanken, ich werde kein Bier anrühren, bevor ich einundzwanzig bin, wie ich es versprochen habe. Bis dahin sind es ja ohnehin nur noch ein paar Monate.

Ich vermisse dich und die kleine Marianne. Doch ich hoffe, dass dies alles noch vor Weihnachten zu Ende ist und wir zuhause gemeinsam das neue Jahr begrüßen können.

 

Ich liebe dich von ganzem Herzen,
Alex

 

Er wusste, dass er Audrey eigentlich ebenfalls schreiben sollte, aber er wusste nicht, was. Ohnehin war die Gefahr groß, dass sie ihn bereits vergessen hatte. Er bettete seinen Kopf aufs Kissen und versuchte, nicht daran zu denken, was dem letzten Mann zugestoßen war, der hier gelegen hatte.

 

KAPITEL 2

 

Hanson schwebte allmählich aus dem Schlaf empor, geweckt vom Klang von Big Brother and the Holding Company auf dem Plattenteller. Das musste Turner sein. Aus irgendeinem Grund hatte der Mann Angst, irgendwas ohne Musik zu machen, ganz gleich, was seine Kameraden gerade trieben. Hanson nahm seine Uhr von dem kleinen Nachttisch und stellte fest, dass es kurz nach halb sieben abends war – er hatte einige Stunden geschlafen. Mit einer einzigen Bewegung setzte er sich auf und schwang seine Beine aus dem Bett. Dann rieb er sich seine stechenden Augen und ließ den Blick über seine Truppenkameraden schweifen. Seit er eingepennt war, hatte sich nicht viel verändert. Walton war aufgewacht, saß aufrecht im Bett und rauchte eine Zigarette – jedenfalls beschloss Hanson, anzunehmen, es sei bloß eine Zigarette, da er nicht in der Stimmung war, sich mit irgendwas anderem auseinanderzusetzen.

Turner und Bradley spielten immer noch Karten. Winters war beim Lesen eingeschlafen und sein Taschenbuch lag da, wo es zu Boden gefallen war. Der Neuling ruhte ebenfalls auf seiner Pritsche, doch Hanson vermochte nicht zu sagen, ob er schlief oder nur versuchte, sich zu entspannen.

Die Luft in der Baracke war stickig und die elektrischen Ventilatoren trugen absolut nichts dazu bei, das zu ändern. Sein Magen knurrte und er kam zu dem Schluss, dass er hungrig genug war, um sich mit dem Basisessen zufriedenzugeben.

Außerhalb der schäbigen Holz-und-Segeltuch-Baracke war es sogar noch heißer als drinnen. Im Zelt war die Luft erdrückend, doch zumindest war man dort nicht dem prallen Sonnenschein ausgesetzt. Drinnen wurde man gedünstet. Draußen wurde man gebraten. Auf der Basis herrschte dieselbe Betriebsamkeit wie immer. Jeeps, gepanzerte M113-Mannschaftstransporter und das stete Stimmengewirr von Gesprächen sorgten auch am frühen Abend für eine konstante Lärmkulisse, und wahrscheinlich würde das noch bis spät nachts so weitergehen – wenn nicht gar bis zum nächsten Morgen. Der Krieg schlief nie.

In der Kantine war nicht so viel los, wie er es angesichts der Tatsache, dass schon fast reguläre Essenszeit war, erwartet hatte. Fünfzehn, vielleicht zwanzig Leute waren zugegen, allesamt in kleinen Grüppchen verteilt, und unterhielten sich leise. Sergeant Reese saß allein an einem Tisch und rieb sich müde die Augen. Hanson lud sich etwas auf seinen Teller, das wie Chili und Reis aussah, und gesellte sich zum Sarge. »Sie sehen aus, als hätten Sie gerade zehn Runden gegen Floyd Patterson hinter sich.«

»Genauso fühl' ich mich auch. Nur noch fünf Wochen, dann bin ich wieder zuhause. Eigentlich hatte ich gehofft, diese Zeit mit ein paar hübschen, ruhigen, kleinen Schwachsinnsjobs auf der Basis rumzukriegen. Stattdessen muss ich jetzt tief in den Dschungel marschieren, um mit diesem Charlie-Informanten zu reden. So wollte ich meinen Dienst hier nicht unbedingt beenden, wissen Sie?«

»Absolut.«

»Fünf Wochen und weg.«

»Genau.«

Sie schwiegen für einen Moment und stocherten in dem Essen auf ihren Tellern herum. Schließlich riskierte Hanson einen Bissen. Das Fleisch war gar nicht so übel, doch er wollte nicht daran denken, um was genau es sich dabei handelte. Es schmeckte wie Rind; allerdings hatte er in der Nähe der Basis bislang nicht eine einzige Kuh gesehen. »Was werden Sie als Erstes machen, wenn Sie wieder daheim sind?«

»Meine Frau küssen und mir 'nen Milchshake genehmigen.«

Hanson lächelte. »Die einfachen Freuden des Lebens vermisst man am meisten, stimmt's?«

»Wohl wahr.«

»Was halten Sie von dem Frischling?«

Reese zuckte mit den Schultern. »Dasselbe wie von allen anderen vor ihm. Er sieht aus, als hätte irgendwer fünf Pfund Stroh in eine Uniform gestopft und einen Schnurrbart drangeklebt. Doch was in ihm steckt, wissen wir erst, wenn wir ihn in Aktion erleben. Möglich, dass er hopsgeht, zehn Minuten, nachdem wir morgen aus dem Tor raus sind. Möglich, dass er der größte Kriegsheld diesseits von Iwo Jima ist. Vorher kann man das einfach nicht sagen, Mann.«

»Stimmt.«

»Hören Sie, mir sind schon eine Menge von beiden Arten untergekommen, und ich sage Ihnen, man weiß nie, aus welchem Holz diese Jungs geschnitzt sind, bis es drauf ankommt. Da gab's diesen einen Kerl, der aussah wie der verfluchte Marciano, dieser Boxer, der sich wie ein Baby zusammenrollte und zu heulen anfing, als er den ersten Schuss hörte. Irgendwo im Dschungel, vielleicht fünfhundert Yards entfernt, ging ein Gewehr los, das nicht mal auf ihn gerichtet war, aber das genügte, um ihn komplett fertigzumachen.«

Hanson schluckte etwas klebrigen Reis hinunter, der – um dem Koch gegenüber fair zu sein – gar nicht so schlecht schmeckte. »Was wurde schließlich aus ihm?«

»Ist in 'ne Fallgrube geraten.«

»Stöcke?«

»Genau. Manchmal höre ich ihn immer noch schreien. Die haben ihn nach Hause geschickt; keine Ahnung, wie's danach weiterging.«

Hanson nickte. Punji-Stöcke gehörten zu den Lieblingsfallen der Vietcong. Die Konstruktion war simpel, und obwohl diese Art von Falle nicht sofort tötete, war sie dennoch hochgefährlich. Er hatte mal einen Typen gesehen, der in eine Fallgrube gestürzt war, in dessen Seiten angespitzte Bambusstücke steckten, mit den Spitzen nach unten, was bedeutete, dass sich der arme Teufel sein Bein nicht befreien konnte, ohne sich dabei noch mehr zu verletzen. Sie brauchten über eine Stunde, um ihn auszugraben; und genau darum ging es bei Charlies Fallen. Erledigten sie einen Mann mit einer Kugel, fand der Rest des Trupps sie, erwiderte das Feuer und marschierte anschließend weiter. Verwundeten sie hingegen einen Mann, war der ganze Zug gezwungen, zu stoppen und sich um den Verletzten zu kümmern. So schaffte man sich nicht bloß einen, sondern gleich zehn Männer vom Hals – jedenfalls vorübergehend. Historisch betrachtet mochte das vielleicht keine neue Strategie sein, doch sie war effektiv.

Der Sergeant trank einen Schluck Wasser aus einem fast sauberen Becher.

»Dann war da dieser Zaunpfahl, ein echtes Strichmännchen, so wie unser Frischling. Als wir das erste Mal auf Schwierigkeiten stießen, drehte er komplett durch.«

»Wie meinen Sie das?«

Sergeant Reese zuckte mit den Schultern. »So, wie ich's sage, Mann. Er drehte durch. Wir waren in einem kleinen Dorf, so wie dem, zu dem wir morgen aufbrechen. Als wir dort ankamen, entdeckten wir ein Waffen- und Munitionslager, und plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Charlie auf und von einem Moment zum nächsten steckten wir mitten in diesem absolut beschissenen Feuergefecht. Doch Sie wissen ja, wie das ist – ich konnte nicht alle im Auge behalten.«

»Klar.«

»Nachdem sich der Rauch gelegt und der Staub gesetzt hatten, ist da dieser Kerl – Moore war sein Name – und er ist vollkommen blutüberströmt … doch kein einziger Tropfen davon war sein eigenes. Zu seinen Füßen liegen drei tote Vietcong, und er ist über und über mit Blut bedeckt.«

»Scheiße.«

»Das war noch nicht das Kränkste, Mann. Das Kränkste war, dass sein Messer sauber und sein Gewehr kalt waren.«

Hanson spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten. »Sie meinen, er …«

»Mit bloßen Händen, Mann. Und das war genau so 'n halbes Hemd wie unser Frischling.«

»Kacke.«

Reese schob sein Tablett beiseite, zündete sich eine Zigarette an und hielt Hanson das Päckchen hin, der sich dankbar eine nahm. »Wie schon gesagt, Corporal, man weiß nie, was in einem Mann steckt, bis es darauf ankommt. Ein Riesenkerl – ich meine, sogar noch größer als Walton – heult wie 'n Baby und ein Stecken wie der Neue reißen Männer mit ihren Fingernägeln auseinander. Der Krieg verändert die Menschen, und man weiß erst, welche Wirkung er auf die Leute hat, bis man es mit seinen eigenen zwei Augen sieht.«

Hanson nickte und rieb sich die Lider. »Mann, ich bin immer noch so verflucht müde.«

»Ich will, dass alle früh zu Bett gehen, okay? Ich werde eure jämmerlichen Ärsche jedenfalls nicht tragen, falls einer von euch beschließt, unterwegs ein Nickerchen zu machen.«

Hanson gluckste. »Was immer Sie sagen, Sarge.«

 

Falconer schreckte aus dem Schlaf auf und brauchte einen Moment, bis ihm einfiel, wo er war. Die Sonne berührte gerade den Horizont und durch und rings um die Vorhänge, die vor die Plexiglasfenster gezogen waren, sah man gerade noch so einen merkwürdigen orangefarbenen Lichtschimmer. Er schaute sich in der Baracke um und die Ereignisse des vergangenen Tages kamen ihm wieder in den Sinn. Bradley und Turner spielten immer noch Karten um Zigaretten. Winters – der Funker, der Science-Fiction mochte – schlief und schnarchte leise vor sich hin. Corporal Hanson, Sergeant Reese und der große Kerl, der gepennt hatte, als er angekommen war, waren fort. Schwankend kam er auf die Füße. Sein ganzer Körper fühlte sich vom Schweiß glitschig und klebrig an und er roch wie ranzige Kohlsuppe. Er fische ein Handtuch aus seinem Beutel und machte sich auf die Suche nach den Duschen.

»Nach rechts, drei Zelte weiter«, sagte Bradley, ohne auch nur von seinem Pokerspiel aufzuschauen.

»Danke.«

»Immer gern, Frischling.«

Auf der Basis war es ruhiger als bei seiner Ankunft, auch wenn nach wie vor einige Betriebsamkeit herrschte. Doch jetzt waren die Gespräche gedämpft, die Jeeps weniger zahlreich und keine Helikopter in Hörweite. Er stieß die Tür zu den Duschen auf und stellte fest, dass außer ihm nur noch ein anderer hier war – Walton, dieser große Typ. Zwar war Falconer bereits aufgefallen, dass der Bursche ziemlich groß war, doch darauf, wie riesig er tatsächlich war, war er nicht vorbereitet. Er war mindestens eins-fünfundneunzig groß und verdammt muskulös – nicht übertrieben wie ein Bodybuilder, sondern stark und kräftig. »Hey«, sagte er. »Du bist der Neue, richtig?«

»Äh, ja. Walton?«

»Richtig.« Der Mann streckte ihm über die brusthohe Wand, die die Duschen voneinander trennte, die Hand hin, und Falconer schüttelte sie dankbar. Es kam ihm vor, als würde er zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Vietnam wie ein Mensch behandelt werden. »Ich bin der M60-Schütze. Das heißt, ich bin für die ganze Schlepperei und den schweren Beschuss zuständig.«

»Ja, ich hab während der Grundausbildung mal versucht, mit einem dieser Dinger zu feuern. Sie sind echt ziemlich schwer, aber damit rumzuballern, macht ziemlich Laune.«

»Da hast du wohl recht. Um ehrlich zu sein, macht's mir auch nichts aus, die Extrakilos zu wuchten. Aber, ja. Ich bin Walton. Martin Walton.«

»Alex Falconer.«

Falconer trat in die Duschkabine und zog an der Kette. Das Wasser war bloß lauwarm, doch um ehrlich zu sein, war das in seiner gegenwärtigen Umgebung genau richtig. Wer wollte schon in heißem Wasser baden, wenn die Luft ohnehin so dickflüssig wie Suppe war? Dann kam man verschwitzt rein und ging verschwitzt wieder raus.

»Alle werden dich bloß Frischling nennen.«

»Ja, ist mir auch schon aufgefallen. Zuerst dachte ich deshalb, ich wär' irgendwem auf die Zehen getreten.«

Walton massierte Shampoo in seinen rappelkurzen Bürstenschnitt. Er hatte sich viel zu viel von dem Zeug in die Hand gespritzt, sodass sein Schopf jetzt unter einem Berg aus Schaum verschwand. »Nee, Mann. Das ist nichts Persönliches. Es ist nur … versprichst du mir, dass du nicht sauer wirst, wenn ich's dir sage?«

Falconer war sich darüber im Klaren, dass das eine leere Versprechung war, zuckte aber dennoch mit den Schultern, weil man das in solchen Situationen eben so machte. »Ähm, klar. Raus damit.«

»Sie glauben nicht, dass es sich lohnt, deinen Namen zu kennen, weil sie nicht denken, dass du hier allzu lange durchhalten wirst.«

Falconer wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. Er erstarrte einige Sekunden lang, bevor er murmelte: »W-was?«

»Wie schon gesagt, das ist nichts Persönliches. Da mussten wir alle durch. Solange du nicht ein paar Wochen hier warst – mindestens –, werden die Leute sich nicht die Mühe machen, sich deinen Namen zu merken.«

Bei diesen Worten wurde Falconer innerlich ganz kalt. »Scheiße. Wie übel ist es da draußen, Mann?«

Walton zuckte die Achseln und spülte mit geschlossenen Augen sein Haar aus. »So übel, dass die meisten keine zwei Wochen überleben. So ist das nun mal als Frischling.«

»Okay.«

Walton trat aus der Dusche, schlang ein Handtuch um sich und nahm seinen Beutel auf. »Sehen wir uns in der Baracke?«

»Ja. Klar. Ähm, Walton?«

»Ja?«

»Sind Frischlinge nicht eigentlich junge Wildschweine?«

»Genau. Junge Wildschweine, die sich leicht abknallen lassen.« Walton grinste. »Also, bis später.«

»Ähm … ja. Bis später.«

Gegen neun kehrten Hanson und Reese in die Baracke zurück. Der Corporal schnippte Turner scherzhaft gegen ein Ohr. »Turner, warum spielt ihr zwei immer noch Karten? Ihr seid jetzt schon seit sechs Stunden dabei. Müsst ihr nicht mal was essen oder schlafen oder kacken oder so was?«

»Hey, Mann«, entgegnete Turner in seinem lakonischen Bariton. »Wenn man so einen Lauf hat wie ich gerade, steht man nicht einfach grundlos vom Tisch auf. Abgesehen davon, was soll ich 'n sonst machen? Waltons Geschnarche lauschen oder in dieser verfluchten Kantine irgendwelchen gebratenen Reis-Mist runterwürgen? Nee, wenn's euch nichts ausmacht, bleibe ich lieber hier sitzen.«

»Mann, so toll ist dein Lauf nun auch wieder nicht«, sagte Bradley, sein schrilles Wimmern ein krasser Kontrast zur Stimme seines Gegenübers. »Du bist einfach bloß froh, dass ich dich ausnahmsweise mal nicht in die Tasche stecke.«

»Du hast mich zweimal in die Tasche gesteckt, Mann, und das wird nicht noch mal passieren. Abgesehen davon stinkt's da drin tierisch nach Gras.«

Hanson hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Hey, ich bin nicht eure Mutter, okay? Ich gebe euch bloß den guten Rat, euch heute Nacht eine ordentliche Mütze Schlaf zu gönnen. Der Sarge und ich wollen, dass morgen alle wach und wachsam sind.«

»Ja, Sarge«, erwiderten alle beide.

Hanson und Reese ließen sich auf ihre Pritschen fallen und Turner und Bradley setzten ihr Pokerspiel im Flüsterton fort.

»Ich wette, du hast 'n Scheißdreck«, raunte Bradley. »Ich bring' deine fünf und erhöhe um drei.«

»Pass bloß auf, dass ich dir dein verdammtes Geld nicht in dein verdammtes Maul stopfe«, sagte Turner.

»Hey«, ertönte neben ihrem Tisch ein Flüstern. Als sie aufschauten, sahen Sie Falconer vor sich stehen.

»Du mich auch«, sagte Turner. »Sind wir zu laut für dich?«

Der Frischling wirkte irgendwie verlegen und nervös. »Äh, nein. Das nicht. Ähm … ich hab' zufällig gehört, was ihr eben gesagt habt und … also, habt ihr Jungs irgendwelches Gras?«

Turner unterdrückte ein Lachen. »Da bist du genau bei den Richtigen gelandet, Neuer. Mr. Darterrius Bradley hier ist der Mann, der weiß, wie man hier an bestimmte Sachen rankommt.«

»Habt ihr gerade welches da? Ich kann nicht schlafen und früher hat's mir beim Einpennen geholfen.«

Bradley musterte ihn für einen Moment.

»Ich hab Geld«, fügte der Frischling ein bisschen zu eifrig hinzu. Jetzt klang er wie ein kleiner Highschool-Junge, der mit einem gefälschten Ausweis Bier kaufen will. »Wie viel willst du?«

»Wie viel willst du, Neuer?«, fragte Bradley.

»Ich … keine Ahnung, Mann. Ich hab noch nie selbst welches gekauft, okay? Ich bin einfach bloß ziemlich durch den Wind, das ist alles.«

Turner und Bradley tauschten einen Blick und brachen in gedämpftes Gelächter aus, bemüht, den Rest des Trupps nicht aufzuwecken.

»Hab ich irgendwas Komisches gesagt?«, fragte Falconer, der jetzt langsam wirklich verärgert war.

Bradley winkte ab und langte in seine Hemdtasche. »Nee, Mann. Alles bestens.« Er reichte ihm einen gerollten Joint. »Hier, nimm.«

»Danke. Wie viel schulde ich …«