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Band 228

 

Das Elysische Fragment

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Intarsien

1. Die Augen Arkons

2. Geheime Pfade

3. Unerwartete Besucher

4. Radikale Lösungen

5. Entrée

6. Elysium

7. Hilfsbereitschaft

8. Was da kommt ...!

9. Chaos auf dem Weg

10. In der Brandung

11. Hilf!

12. Save Our Souls!

13. Unser Leben für Arkon

14. Ein neuer Versuch

15. Audienz

16. Erinnerungen an die Zukunft

17. Jemanden zurücklassen

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Gut fünfzig Jahre nachdem Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen und die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben sich terranische Siedlungen auf verschiedenen Welten entwickelt. Die Solare Union bildet die Basis eines friedlich wachsenden Sternenreichs.

Als aus dem riesigen Imperium der Arkoniden beunruhigende Nachrichten zur Erde dringen, reist Rhodan in den Kugelsternhaufen M 13. Er wird Zeuge einer Revolte, bei der die bisherige Herrscherin gestürzt wird. Mascudar da Gonozal, ein Imperator aus ferner Vergangenheit, schwingt sich zum neuen Machthaber auf. Seine erste Amtshandlung ist, eine Invasionsflotte zusammenzustellen, mit der er die Erde erobern will.

Überraschend erhält Rhodan eine Botschaft von seiner verschollenen Tochter Nathalie. Sie will ihn an einem der geheimnisvollsten Orte im Arkonsystem treffen. Mit seiner Frau Thora bricht Rhodan auf und gerät alsbald in einen Strudel sich überstürzender Ereignisse – Brennpunkt ist DAS ELYSISCHE FRAGMENT ...

Intarsien

 

Es ist nichts zu sehen in dieser allumfassenden Finsternis. Und doch erhebt etwas sein Haupt in der Tiefe dieses furchtbaren Abgrunds. Hunger und Gier treiben es nach oben ans Licht. Das Licht wird es nicht aufhalten können. Wenn wir scheitern, wird nichts und niemand das schaffen.

Ich warte. Dabei ist es so schwer, zu warten, wenn die Finsternis heraufdämmert.

Es ist, als sei sich die Dunkelheit ihrer selbst bewusst geworden. Diese Vorstellung macht mir eine Heidenangst. Trotzdem wird diese Furcht der Realität nicht gerecht; nicht im Mindesten.

Seit es Menschen gibt, fürchten sie die Nacht, und das ist gut so. Was man nicht sieht, kann man nicht abwehren, es tötet, was sich nicht wehrt. Vielleicht tötet es auch, was sich wehrt. Vielleicht tötet es alles.

Häufig hört man, man müsse nichts fürchten, was unbekannt ist. Leute, die im sicheren Schoß einer modernen Zivilisation sitzen, möchten das gern glauben. Das ist jedoch ein Irrtum. Das Sein mag vielleicht nicht böse sein, eins ist es aber ganz sicher: rücksichtslos.

Das gilt auch für die Finsternis, die nun über uns zu kommen droht. Und böse ist zweifellos ein treffendes Wort, um sie zu beschreiben. Wenn die Nacht den Geist umhüllt, verschwindet die Welt, ebenso wie die Hoffnung auf einen nächsten Morgen.

Zurück bleibt nur ...

... die Nacht.

1.

Die Augen Arkons

 

Freischicht.

Tirako Gamno nahm den alten Speicherkristall aus seinem schützenden Behältnis. Natürlich hatte er Kopien davon angefertigt, aber dies war der Originalkristall. Er hatte die gewaltige Schlacht vor vierzig Jahren überstanden und war ein Erinnerungsstück an seinen Vater. Damals waren die Maahks über Arkon hinweggefegt wie ein mörderischer Sturm.

Zugleich war er eine ständige Mahnung an den Abstieg seiner Familie. Nein, es war eher ein Absturz gewesen, der nur Trümmer übrig gelassen hatte. Die Gamnos waren nicht länger jemand, von dem man sprach. Sie waren ... nichts!

Er tat Dienst im Elysischen Gürtel, dem Konglomerat aus Staub und Felsbrocken, die einstmals die Elysische Welt gebildet hatten. Die Wach- und Messstationen, auf denen Leute wie er arbeiteten, sicherten und untersuchten die Relikte. Vierzig Jahre bedeuteten im kosmischen Maßstab nicht mal einen Wimpernschlag, noch immer war alles in Bewegung. Ständig kam es zu Kollisionen der Trümmerasteroiden, und die Zerstörung pflanzte sich fort. Bruchstücke wurden auf komplett neue Bahnen geschleudert, deshalb waren die Überwachungsstationen für die Sicherung der Planeten und der Raumfahrt wichtig. Niemand wollte riskieren, dass Irrläufer die drei verbliebenen Arkonwelten gefährdeten. In früheren, glorreicheren Zeiten hätten Roboteinheiten diese Funktion erfüllt und die Sicherheit von Tiga Ranton garantiert. In der gegenwärtigen Ära allseits knapper Ressourcen jedoch mussten Leute wie Tirako Gamno die demütigenden Tätigkeiten übernehmen, für die simple Automaten ausreichend gewesen wären.

Man hatte sie ausgestoßen, als litten alle Gamnos unter einer ekelhaften Krankheit. Damals, vor vier Jahrzehnten, war die Familie entehrt worden. Das klang wie eine lange Zeit, aber auch für das Gedächtnis der guten Gesellschaft war es nur ein Wimpernschlag.

Carda Gamno, seine Mutter, hatte Tirakos Arbeit im Gürtel hingenommen, wie sie alle Demütigungen davor hingenommen hatte. Reglos, scheinbar unberührt. Bereits der Tod ihres Manns hatte sie bis ins Mark getroffen, auch wenn ein Offizier der Arkonidischen Flotte damit rechnen musste.

»Es ist, wie es ist«, hatte sie später gesagt. »Es hätte sehr viel schlimmer sein können, das weißt du.«

Damit hatte sie recht. Trotzdem nagte es an Tirako Gamnos Selbstbewusstsein. Beinahe wütend starrte er den Kristall an, als sei dieser schuld an der Misere der Familie.

Das war er nicht, allerdings konservierte er die Ursache von allem. Und wie bei einem hohlen Zahn war es Gamno unmöglich, nicht daran zu denken. Er wusste mittlerweile, dass sich Bitterkeit festsetzen konnte. Ein Geschmack, der mehr war als bloße Sensorik.

Er schob den Kristall in ein Wiedergabegerät, wie schon unzählige Male zuvor. Er wusste auswendig, was kommen würde.

Es war wie eine Sucht. Es war selbstzerstörerisch. Aber er konnte sich nicht dagegen wehren.

Die Vergangenheit schlug über ihm zusammen.

 

Die Geräuschkulisse war chaotisch, dazu von einer Lautstärke, die Tirako Gamno direkt ins Gehirn zu dringen schien. Alles vibrierte, alles zitterte, genau wie Gamno selbst.

»Wir erreichen den Sicherheitsbereich von Arkon Eins«, meldete die Positronik. »Ich erhalte keine Anfragen. Der innere Verteidigungsring ist zerstört und arbeitet nur noch punktuell. In zwei Zentitontas passieren wir das Abwehrfort 25-G-Y-3. Keine verständliche Meldung. Keine Antwort auf die vorgeschriebenen Identifikationsprotokolle.«

Vor dem Raumschiff schälte sich eine wuchtige, schwarze Silhouette aus dem Chaos: eine Waffenplattform des inneren Festungsrings. Oder besser das, was von ihr übrig war. Glutnester bedeckten das riesige Relikt. Kleine Explosionen schleuderten Teile der technischen Innereien ins All. Gas und gewaltige Mengen Flüssigkeiten, wahrscheinlich aus den hydraulischen Systemen, bildeten einen Strom, der aus dem Herzen der Plattform quoll. Danach löste er sich in einem Tropfenmeer auf.

Für Gamno sah es so aus, als blute die Festung. Teile des Schutzschirms existierten noch. Sie ähnelten großen Glasscherben, die sich auflösten, erneut bildeten, verschoben. Die wenigsten blieben stabil. Wenn kleine Trümmerteile damit kollidierten, lösten sie sich in grellen Funken auf. Es war ein wahres Feuerwerk. Gamno wusste, dass die Reste der Plattform damit ihre verbliebenen Speicherbanken immer weiter leerten. Schutzschirme fraßen Energie wie ein Krallm kleine Schwarmmenken!

Die Festung schaufelt sich ihr eigenes Grab!, dachte er, wie immer an dieser Stelle.

»Warnung!«, drang es aus den Akustikfeldern. »Beachten ... Sie, Sie, Sie, Sie ... die ... Abstand! ... Warten! Warten!«

Das alte Hologramm vermittelte den Eindruck, als passiere er das Fort im üblichen Sicherheitsabstand. Eine Akustikaufzeichnung schrie dazwischen: »Bei Irvora, was wird ...« Dann brach die Stimme ab.

Die Antwort kam schnell und furchtbar.

Aus den Resten der Glutwolke schoss ein Schlachtkreuzer. Er war ein Wrack. Im Bereich des Ringwulsts hatte die geschwärzte Außenhaut Blasen geworfen. Teile der oberen Halbkugel lagen offen. Gamno blickte durch ein riesiges Loch direkt ins Innere des Transitionstriebwerks. Die Strukturprojektoren, deren feingliedrige Konstruktion üblicherweise filigranem Flaum glich, waren nur noch ein zusammengebackenes Nest aus groben, metallischen Ästen, von innen durch die Röte der Brandherde beleuchtet. Die Strukturfelder flackerten unstet wie ein in sich zusammenbrechendes Wetterleuchten aus Blau und Violett. Hyperenergie fraß sich in die vierdimensionale Welt. Sie zerstörte, womit auch immer sie zusammentraf. Ein Parakam-Kondensator, der normalerweise das Feld stabilisierte, zerplatzte in greller Glut wie eine Sollkurtfrucht bei Sonnenaufgang.

Das Kampfschiff ist bereits tot!, schoss es Gamno durch den Kopf. Nichts und niemand wird es retten – und niemanden, der bisher überlebt hat!

Wie flackernde Kerzen waren kurze Stöße der Impulstriebwerke zu sehen, die es nicht mehr schafften, den Kreuzer aus seiner Kollisionsbahn zu schieben. Gamno war kein erfahrener Raumfahrer, aber er hatte diese alte Aufzeichnung so häufig abgespielt, dass er sie auswendig kannte. Überraschungen gab es nicht, trotzdem packte ihn die Todesorgie immer wieder. Er wusste, dass solche Tragödien im Weltraum in aller Stille abliefen. In diesem Fall jedoch wurde das Geschehen von dramatischen Tonfolgen begleitet, welche die Katastrophe mit einer akustischen Kakofonie illustrierten.

Jetzt!, dachte Gamno. Er fühlte sich, als sei er damals mit dabei gewesen. Jetzt kommt er!

Ein löchriges, flackerndes Hologramm baute sich auf. Ein geschwärztes, blutverkrustetes Gesicht schrie unverständliche Worte.

Ein Dreiplanetenträger. Sein Vater!

Man sagte Tirako Gamno immer wieder, er gliche ihm bis aufs Haar: schlank, mit schmalem Gesicht, langem, glattem Haar und dunkelroten Iriden. In diesem Augenblick sah Gamno nur eines: den Tod.

Er versucht, den Zentralrechner des Abwehrforts zu kontaktieren ..., dachte Gamno. Die Aussichtslosigkeit presste ihm das Herz zusammen. Es pochte, als wolle es zerspringen.

Der Versuch war zum Scheitern verurteilt. Die Positronik des Festungswerks war zumindest in Teilen zerstört, dasselbe galt für die Kommunikationstechnik. Der Dreiplanetenträger nutzte das, was er zur Verfügung hatte: eine miserable Bildverbindung.

Voller Entsetzen beobachtete Gamno, wie sich aus einem relativ unbeschädigten Teil des Plattformsegments eine der überschweren Thermobatterien schob. Millitontas später eröffnete die Restplattform das Feuer. Der gepulste Thermostrahl, dick wie ein Turm, brach flackernd aus dem Geschütz hervor. Die Glut zerfaserte an den Rändern des Schusskanals. Die einengenden Felder der Strukturprojektoren arbeiteten nicht mehr einwandfrei. Trotzdem erreichte der Strahl sein Ziel. Der Schlachtkreuzer wurde frontal getroffen. Sofort war alles in blendend weißes Licht getaucht. Das Bild des schreienden Dreiplanetenträgers verschwand übergangslos. Sein Vater war tot, daran bestand kein Zweifel.

Auch das Relikt der Waffenplattform war dem Untergang geweiht. Die abschirmenden Flaschenfelder, welche die Fusion in den Meilern unter Kontrolle hielten, versagten. Die Reaktoren explodierten. Die Plattform verging und versetzte dem Schlachtkreuzer endgültig den Todesstoß. Die frei werdenden Energien brandeten an das Schiff wie wütende Brecher. Sonnenheißes Feuer leckte über den wracken Rumpf und hinterließ nur ausgeglühtes Metall. Gamno glaubte, den Geruch wahrzunehmen: heißer Stahl, Ozon, Kohlenstoff, dazu schmorende Kunststoffe.

Gamno wandte sich um. Hinter ihm brannte der Weltraum. Dort herrschte neben dem Chaos nun der Tod. Absolut. Auch wenn alles nur virtuell war.

Der verzweifelte Versuch seines Vaters, das Schicksal abzuwenden, war ein Symbol für alles, was geschah. Gamno dachte deprimiert daran, dass in diesem Augenblick das Verhängnis nicht nur seinen Vater getroffen hatte, sondern die gesamte Familie.

Tirako Gamno verfolgte den Abzug der Maahks. Das Feuer, das ihnen von den Monden Iprasas entgegengeschlagen war, hatte Teile der Invasionsflotte zerstört. Erst nachdem der Feind das System räumte, erlosch das Fünffeuer.

Die Altväter haben uns gerettet!, dachte Gamno. In weiser Voraussicht haben sie das Fünffeuer erschaffen. Wir sind unwürdige Söhne. Sie haben uns etwas hinterlassen, eine großartige Welt, Ruhm, ein Monument von Macht und Größe. Wir haben es zuschanden gehen lassen. Die Schmach trifft uns zu Recht. Trotz ihrer Hilfe konnten wir unser Erbe nicht erhalten. Wenn er geschwiegen hätte ...

Anonymität hätte die Familie geschützt. Aber sein Vater war sichtbar geworden und damit zum perfekten Sündenträger. So wie seine Familie.

Unverändert tönte das Pfeifen in Gamnos Ohren, bis er merkte, dass es aus der Realität zu ihm drang. Er desaktivierte das alte Holo und tauchte in das Chaos der Gegenwart ein.

 

Das vereinzelte Piepen der Warnpfeifen wurde zu einem lauten Schrillen. Es klang geradezu hysterisch.

Alarmzustand?

Was war geschehen? Normalerweise verlief die Überwachung des Gürtels ziemlich ereignislos. Langeweile war eher die Regel als die Ausnahme. Man sicherte ausbrechende Trümmer mit Gravitationsankern oder brachte sie auf einen ungefährlichen Orbit. Aber das da ...

Übergangslos fühlte sich Tirako Gamno, als stünde er unter Strom, eine Wirkung des ausgeschütteten Adrenalins.

»Die Anzahl der Kollisionskontakte steigt exponentiell an«, meldete die Stationspositronik. Ihr Tonfall bildete dabei einen größtmöglichen Kontrast zum Inhalt ihrer Botschaft. Er war ruhig, gelassen, beinahe gelangweilt.

Alles nur Schein, dachte Gamno. Unsere Positroniken sind keine Personen ... auch wenn sie so tun, als ob. Ich habe aber gehört, dass andere Völker und Zivilisationen ihren Künstlichen Intelligenzen tatsächlich die Entwicklung wahren Bewusstseins gestatten.

Er riss sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, sich in der Vergangenheit zu suhlen. »Anpassung der Parameter an die aktuellen Belastungswerte!«, befahl er laut. Das war in dieser Form selbstverständlich nicht notwendig. Die Positronik würde auf eine Änderung der Gefahrenlage auch selbstständig reagieren – das entsprach ihrer Programmierung. Das Ganze war lediglich eine Art Theateraufführung, die es dem Arkoniden gestattete, die Illusion von Führung beizubehalten.

»Stationsleiter Gamno in die Zentrale!«, forderte ein Akustikfeld. Er konnte nicht sagen, ob es die Stimme von da Wallkroyan oder da Semur war.

Er lief los und erreichte das bestuhlte Transportband, das zur Stationszentrale führte. Teile von CELIS-387 verfügten nur über die natürliche Gravitation, die sich aus der Masse des Trümmerstücks ergab. Künstliche Normschwerkraft stellte die Station nicht überall zur Verfügung. Größere Entfernungen legte man daher im Sitzen zurück – das war effektiver. Er schwang sich in einen Sessel, registrierte, wie sich die Haltesysteme aktivierten. Nur wenige Bänder waren derart luxuriös ausgestattet. Die Sitzgelegenheiten klappten sich zusammen, wenn man sie nicht benötigte.

Die Kontrollstation CELIS-387 war in einem kleinen, ausgehöhlten Bruchstück der Elysischen Welt installiert, um den technologischen Aufwand möglichst gering zu halten; das war in Zeiten der Knappheit oberstes Gebot. Gamno diente dort als Ark'an Celis, als »Auge Arkons«, er war sogar der Stationskommandant.

Die Zerstörung des mythischen Halbkugelplaneten durch die Militärschläge der Maahks hatte nicht nur einen Trümmerring geschaffen, sie hatte die Seele eines jeden Arkoniden verletzt. Die Elysische Welt war ein Symbol der Glorie gewesen, ein Zeichen der Größe des Imperiums: Lenim Ranton, eine gewaltige Konstruktion aus vier Planeten. Geblieben war bloß Tiga Ranton, das System der drei Welten Arkon I, II und III, die ihre Sonne auf derselben Orbitalbahn umkreisten.

So wird aus etwas Großartigem etwas Verstümmeltes, dachte Gamno. Alle anderen Lebewesen wären schon allein von den drei Synchronwelten beeindruckt. Was sagt es über uns aus, dass uns das nicht reicht?

Das Schrillen erlosch. Dafür verstärkte sich das Wummern der Meiler. Die Fusionsreaktoren pumpten jede Menge Energie in die Prallfelder und -schirme.

Er war am Ziel. Vor ihm lag der Durchgang zur Zentrale. Die ankommenden Sitze des Transportbands wurden in einem mechanischen Umlenkverfahren auf ihren neuen Weg gebracht. Das dicke Doppelschott, das die Zentrale vor Druckverlusten schützen sollte, fuhr auf. Gamno sah Lask da Wallkroyan an und in den holografischen Kontrollen arbeiten. Soweit Gamno wusste, war der Arkonide – neben zwei uralten Ohmen und einer noch älteren Muhme – der Letzte seines Khasurns. Was genau ihn nach CELIS-387 gebracht hatte, wusste Gamno dagegen nicht.

Gamno tauchte selbst in ein Holo ein. Sofort war er umgeben von einem Blitzlichtgewitter. Jeder aufglühende Funken stand für kleine und kleinste Planetentrümmer, bis hin zu Partikeln, die kaum größer waren als Staubflocken.

»Triebwerke aktivieren und Ausweichroute durch eine Zone geringerer Trümmerdichte wählen!«, befahl er.

Hochenergetische Schirmfelder bewahrten die Ark'an Celis davor, von dem Bombardement zerfetzt zu werden, das gegenwärtig auf die Station einprasselte. Üblicherweise beließ es die Stationspositronik bei niederenergetischen Prallfeldern. Höherwertige Schutzschirme baute sie nur in Notsituationen auf. Sie waren extrem energieintensiv und auf dem relativ sicheren Standardkurs, den die Wachstation steuerte, nicht erforderlich. Nun zündeten die uralten Impulstriebwerke, die die Station mobil machten. Für die Verwendung auf einem Kampfschiff der imperialen Flotte waren die ausgemusterten Antriebe nicht mehr leistungsfähig genug gewesen. Für eine Gürtelüberwachungsstation indes reichten sie allemal.

Wir sind ein Schrottlager, dachte Gamno. Nicht mehr!

Langsam erlosch der Funkenregen. Die CELIS-387 verließ den trümmerreichen Gürtelsektor.

»Wir erreichen sicheres Terrain in zwei Komma vier Zentitontas«, meldete die Positronik.

Gamno nahm die Normalisierung der Lautstärke erleichtert zur Kenntnis. Er war eins der Augen Arkons; so hießen sowohl die Stationen im Elysischen Gürtel als auch die Angehörigen des Personals, das dort Dienst tat.

Man sollte glauben, ein solcher Name und die damit verbundene Aufgabe würden jeden stolz machen, dachte er bitter. Dabei ist es in Wahrheit ein Schimpfwort. Auch darunter muss meine Mutter leiden. Als ob sie nicht bereits genug ertragen hätte.

Er verfolgte, wie sich CELIS-387 in einen weniger dichten Bereich des sich ständig ausweitenden Trümmergürtels schob. Das Zentralsegment des Elysischen Gürtels formte eine lang gestreckte Sichel mit aufgeblähter Mitte, die sich momentan über etwa ein Drittel seiner Orbitalbahn zog. Die Wucht der Explosion vor vierzig Jahren hatte die Elysische Welt nicht nur zerrissen, sondern die übrig gebliebenen Brocken in alle Richtungen beschleunigt. Irgendwann würden die Reste einen geschlossenen Asteroidenring rund um das Zentralgestirn bilden, der wie die ehemalige Bahn der Elysischen Welt senkrecht zur Ekliptikebene des Arkonsystems stand. Das würde aber noch Jahrhunderte, wahrscheinlich Jahrtausende dauern.

Ein kurzer Schub, und die CELIS-387 wich einem letzten größeren Trümmerteil aus. Solche Manöver fanden immer wieder statt.

Es ist nicht mehr wie früher!, dachte Gamno. Damals, in den glorreichen Zeiten, hätte Arkon nichts hiervon der Natur überlassen. Man hätte aktiv für Ordnung gesorgt und alle Regionen freigeräumt, die anderweitig wichtig waren. Die Zerstörungen danach haben uns das Mark aus den Knochen gesaugt. Die Maahks waren schon immer unsere Nemesis.

Gamno wusste nur zu gut, dass dies für ihn selbst in besonderem Maße galt. Sein Vater hatte seinerzeit versagt. Erst das Fünffeuer der Mondkanonen hatte die wasserstoffatmenden Horden und das Verderben aufgehalten, nicht die Arkonidische Flotte. Die Weitsicht der Urväter hatte die iprasischen Bastionen geschaffen, den Nachkommen war nur die Schande geblieben.

Sein Vater war dabei gewesen. Und Tirako Gamno war der ruhmlose Spross eines ehrlosen Vaters.

Sippenhaftung war in der arkonidischen Kultur nicht selten, obwohl niemand das zugeben würde. Der Nutzen gab den Ausschlag. Der erzieherische Wert für alle anderen war enorm. »Mein Leben für Arkon« war nicht nur ein Motto, eine Parole, es war ein Glaubensbekenntnis. Wer es verletzte, trug die Konsequenzen.

Nein, dachte Gamno. Es ist anders. Er ist gestorben, wie Arkon das verlangte, aber Arkon war das nicht genug. Überleben ist nicht das Wichtigste. Aber mein Vater versagte, und wir alle tragen seine Schuld mit.

Die Aufgabe der Ark'an Celis mochte notwendig, ja sogar wichtig sein, aber sie war eindeutig nicht ruhmreich. In den Trümmern der Vergangenheit taten nur diejenigen ihren Dienst, die keinen Anspruch auf ehrenvolle Aufgaben mehr hatten. Ob aus persönlichem Versagen oder nicht, spielte dabei kaum eine Rolle.

Niemand wollte Genaueres wissen über die Vorgänge in dieser stellaren Trümmerwüste; niemand wollte die Ruinen der Vergangenheit dauernd vor Augen haben. Arkons Gesellschaft ignorierte diesen Schandfleck, so gut es eben ging. Man sorgte dafür, dass die kläglichen Reste der Elysischen Welt niemanden gefährdeten, kein Raumschiff, keine Planeten, Monde oder andere relevanten Himmelskörper. Ansonsten blendete man alles aus, was damit zu tun hatte.

So wie uns, dachte Gamno. So wie mich.

Gleichzeitig bekam auf einem solchen Posten niemand Gelegenheit, sich und die Seinen zu rehabilitieren. Gamno war für den Dienst in der imperialen Flotte untauglich erklärt worden. Das lag keinesfalls an mangelnder Qualifikation, sondern am »Fehlen charakterlicher Eignung«. So lautete die offizielle Bewertung, die über alle öffentlichen Kommunikationsnetze und -kanäle einsehbar war.

»Damit es jeder mitbekommt. Wir eskortieren Trümmer in einem Asteroidenfeld«, murmelte Gamno. »Da ist ja sogar ein Müllwerker besser dran.«

»Schon wieder deprimiert?«, fragte da Wallkroyan. »Ob du's glaubst oder nicht: Sogar daran gewöhnt man sich. Irgendwann zumindest.«

»Soll mich das trösten?«, ärgerte sich Gamno.

Da Wallkroyan kicherte. »Nie im Leben. Das fiele mir nicht im Traum ein.«

»Also«, fragte Gamno. »Was ist passiert?«

Da Wallkroyan fuhr sich mit den dicken Fingern durch die halblange Krastolwy-Frisur, die irgendwann vor Jahren mal modern gewesen war. »Du hast es bemerkt?«

Gamno seufzte resigniert. Da Wallkroyan machte aus allem ein Drama. »Hab ich. War ja auch schwer zu übersehen! Wie groß ist die Kursänderung? Die hohe Partikeldichte vorhin war ziemlich ungewöhnlich.«

»Das liegt daran, dass wir den Kurs ungeplant geändert hatten. Das hast du aber wohl nicht mitbekommen. Es war nur ein kleiner Schub, die Umlenkung wurde von der Positronik selbst initiiert. Die Prüfroutinen wurden angesprochen.«

Gamno machte aus seiner Ratlosigkeit keinen Hehl. »Wodurch, bei Irvoras eiskaltem Arsch? Hier ist doch nichts. Staub, Steine ... das war's.«

»Ha!«, machte da Wallkroyan. »Das dachte ich auch.«

Ein Kommunikationshologramm leuchtete auf. Der dritte Arkonide, der auf CELIS-387 Dienst tat, wurde darin sichtbar: Jollk da Semur.

Ich kann ihn einfach nicht leiden! Auch nach all der Zeit konnte Gamno seine Abneigung nicht unterdrücken.

Da Semur sah aus, als habe er seit seiner Geburt nur die tägliche Minimalkalorienzahl erhalten, die ein Arkonide zum Überleben benötigte. Er war derart dürr, dass man glaubte, jeden einzelnen Knochen sehen zu können, den er im Körper hatte. Das Kopfhaar war dünn, es hing wie welkes Unkraut nach unten. Daraus eine Frisur machen zu wollen, war komplett aussichtslos.

»Der Ursprung des Signals konnte trianguliert werden«, sagte er mit einer Stimme, die Tarrkmilch sauer werden lassen konnte. »Wir haben das Fragment bestimmt.«

»Und verrätst du uns das Ergebnis heute noch?«, erkundigte sich da Wallkroyan spitz.

Da Semur war humorfrei. »Natürlich warte ich damit nicht bis morgen. Es handelt sich eindeutig um CORS-VII-4.«

Das war ja klar, dachte Gamno. Warum bei allen Sternenteufeln muss es ausgerechnet CORS-VII-4 sein?

Das Fragment gehörte zum CORS-Bewegungshaufen und fiel durch etliche Besonderheiten auf: zum Beispiel durch erratische Bahnabweichungen, die man bisher nicht hatte erklären können. Dazu kamen zum Teil bizarre Emanationen, die ebenso rätselhaft waren.

»Als wollte dieses verdammte Ding die Tradition der Elysischen Welt fortführen«, murmelte da Wallkroyan.

Da Semur starrte ihn an. »Trümmerstücke haben keine Tradition, die sie pflegen könnten. Und dass sie etwas wollen, ist unmöglich. Sie leben nicht und haben kein Bewusstsein.«

Der macht mich wahnsinnig, dachte Gamno, sagte aber nichts. Er empfand da Semurs Unfähigkeit, Metaphern zu verstehen, als extrem anstrengend.

Das Außenbeobachtungsholo präsentierte unvermittelt ein eindrucksvolles Spektakel. Drei größere Trümmerstücke kollidierten und zerfetzten einander. Eine Explosion von Licht ließ die Positronik die Filter verstärken. Der Brockenreigen tanzte in einer bizarren Choreografie aus Staub, Licht und Reflektionen um den Nullpunkt des Zusammenstoßes. Der Kurs von CELIS-387 führte in einiger Entfernung daran vorbei.

»Keine Kollisionswarnung«, stellte da Semur fest.

Er hat nicht nur keinen Sinn für Humor, konstatierte Gamno. Der für Schönheit geht ihm ebenfalls völlig ab.

»Was schaust du mich so an?«, fragte da Semur. »Ich habe deine Frage nicht vergessen.«

»Wir haben das Ziel vor uns«, mischte sich da Wallkroyan ein. »Direkter Kurs auf CORS-VII-4 liegt an.« Er projizierte das Bild in die Mitte der Zentrale.

CORS-VII-4 war ein gewaltiger Brocken, er gehörte zu den zehn größten Trümmerstücken, die von der Elysischen Welt übrig geblieben waren. Es hatte sogar Reste der Atmosphäre halten können – das lag allerdings nicht an der Gravitation, sondern an einem schwachen Energie- oder Prallfeld, das ihn umgab. Die Elysische Welt war in vielerlei Hinsicht ein Rätsel. Das hatte sich seit ihrer Zerstörung nicht geändert. Sicherlich wussten der Imperator und zumindest der Hohe Adel sehr viel mehr darüber, aber dass auf dieser Welt geheimnisvolle Anlagen existiert hatten, hatten sogar die dümmsten Essoya mitbekommen.

Die Lufthülle war noch nicht mal die größte Auffälligkeit des Planetenfragments. Eine gewaltige Schlucht schnitt sich in das Trümmerstück. Sie war nicht beim Auseinanderbrechen entstanden, sondern sehr viel älter. Dieses Detail konnte man den Dossiers entnehmen, die Gamno und seinen Kollegen zur Verfügung standen. Warum man darin eine Erwähnung überhaupt für notwendig gehalten hatte, war Gamno nicht klar, bis er die ersten Bilder sah. Wie mit einem Vibratormesser in weiches Fett geschnitten, zog sich der Spalt tief in den Untergrund. Eine Kluftwand war vollkommen glatt, als hätten Gletscher sie jahrhunderttausendelang geschliffen und poliert.

»Warum ist der verdammte Brocken nicht an dieser Stelle auseinandergerissen?«, rätselte Gamno leise. »Das ist die perfekte Sollbruchstelle.«

»Keine Ahnung«, antwortete da Semur. »Von Geologie und Statik verstehe ich nicht sehr viel. Aber es ist, wie es ist. Die Elysische Welt war nie normal – warum sollte das bei CORS-VII-4 anders sein?«

Ja, so einfach kann man sich's auch machen!, dachte Gamno. Keine Antwort, aber wenigstens hat man was zum Thema gesagt.

Das Bruchstück ähnelte einer Gelenkkugel. Als Kind war er während einer Familienreise auf einer Kolonialwelt Zeuge einer Schlachtung geworden. Der Anblick, wie ein Roboter das Tier routiniert zerlegte, hatte ihn schwer beeindruckt, ganz besonders ein Kugelgelenk, das dabei zutage getreten war und sich wie noch lebend bewegt hatte. Vor seinem geistigen Auge war es wieder da. Er glaubte, wieder zu spüren, wie sich ihm die Hand seines Vaters auf die Schulter legte und ihm Sicherheit und Halt bot.

Heute halte ich mich häufiger in der Vergangenheit auf als in der Realität, rügte er sich. Es geschah meist, wenn er sich aus irgendeinem Grund unwohl fühlte.

»Seht ihr das?«, fragte da Wallkroyan und deutete auf einen Teil des Hologramms, das einen näheren, recht guten Blick auf die Oberfläche gestattete.

Schatten zogen über den felsigen Untergrund, für die es keine Ursache zu geben schien. Sie widersprachen der Beleuchtungssituation und dem Lichteinfall der Sonne Arkon.

»Ich nehme an, das kannst du uns ebenfalls nicht erklären, oder?«, erkundigte sich Gamno ironisch.

Da Semur reagierte auf den anzüglichen Tonfall wie immer: überhaupt nicht. »Nein. Kann ich nicht. Die Bildanalyse weist auf die Diskrepanzen hin, liefert aber keine Ursache. Es könnte an Sensorfehlern der Außenbeobachtungssysteme oder externen Störeinflüssen unserer Tasterstrahlen liegen. Das hatten wir in jüngster Zeit häufiger.«

»Nicht in dieser Form«, widersprach Gamno. »Eigentlich sind wir für solche Aussetzer zu nah dran, oder?«

Da Semur verzog nur die Mundwinkel.

»Du hattest ein Signal erwähnt«, sagte da Wallkroyan. »Kannst du uns darüber etwas verraten?«