Titelbild
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Für meine Familie

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Decker

ISBN 978-3-492-96576-7

August 2017

© Stephen Aryan 2016

Titel der englischen Originalausgabe: »Bloodmage« Orbit, Little Brown Book Group, London 2016

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Danksagung


Kapitel 1

Als Byrne den Schauplatz des Mordes erreichte, hatte sich eine Menschenmenge auf der Straße versammelt.

»Ich bin der Friedenswächter, lasst mich durch«, rief er und schob die Leute zur Seite. »Also gut, der Spaß ist vorbei. Geht nach Hause.«

Er hielt nicht in seiner Litanei der Plattitüden inne und bemühte sich weiter, die störrische Menge zu vertreiben, obwohl er natürlich wusste, dass es etwas zu sehen gab. Für Straßentheater waren die Bürger von Perizzi immer zu haben.

Von allen Seiten umgaben ihn besorgte und verängstigte Gesichter. Leute, die aus den umliegenden Schenken gekommen waren. Eine große Gruppe von Fischern, die nach einem langen Tag auf dem Meer auf dem Heimweg waren. Ein paar betrunkene Morrin, deren gehörnte Köpfe die Menge überragten. Kaufleute aus der Nachbarschaft. Zwei hochgewachsene Händler aus Seveldrom. Ein unbedeutender Adliger, der von zwei Drassi-Leibwächtern flankiert wurde. Und sogar ein schwarzäugiger Zecorrianer. Er blieb am Rand der Menge stehen und teilte seine Aufmerksamkeit nervös zwischen den Zuschauern und dem Toten. Zwar wurde so mancher finstere Blick in seine Richtung geworfen, aber bis jetzt war noch nichts Drastischeres geschehen.

Es war etwas mehr als ein Jahr vergangen, seit sich der vom Wahnsinnigen König von Zecorria vereinte Westen Seveldrom ergeben hatte. Perizzi, die Hauptstadt von Yerskania, hatte sich in den letzten Tagen des Schlachtens aus eigener Kraft befreit, aber die Narben des Krieges waren noch immer deutlich sichtbar. Unmittelbar nach dem Kampf gingen die Menschen wieder ihrem Alltag nach und taten so, als hätte sich nichts verändert und sie könnten einfach mit ihrem Leben weitermachen: Handel treiben, mit ihrer Arbeit fortfahren, trinken und spielen, lieben und kämpfen. Aber das war nur Lug und Trug. Ein Schattenspiel, bei dem jeder seine Rolle kannte.

Niemand war verschont geblieben. Jeder hatte irgendwelche Narben davongetragen, ob nun innerlich oder äußerlich. Nachdem die Gewalt zunächst wochen- und dann monatelang nicht noch einmal aufgeflammt war, entspannten sich die Bürger von Perizzi endlich wieder. Sie reagierten nicht länger übertrieben heftig auf kleine Feindseligkeiten. Starrten nicht länger jeden Fremden misstrauisch an. Schließlich kehrte ein neuer Rhythmus ein. Man richtete die Aufmerksamkeit auf die Dinge, die wiederaufgebaut werden mussten. Und bei denen es besser war, dass sie geändert wurden. Als man begriff, dass der nächste Konflikt nicht hinter der nächsten Ecke lauerte, fing man endlich wieder an zu leben.

Mehr als ein Jahr war vergangen, und erst jetzt war Byrne der Ansicht, dass das Leben auf der Straße allmälich wieder den Anschein von Normalität annahm. Das bedeutete allerdings auch, dass eine gewisse Zahl an Verbrechen gemeldet wurde. Aber auch damit hatte man rechnen müssen.

Der Handel, das Lebensblut der Stadt, floss weiter. Während des Krieges war er ins Stocken geraten, aber jetzt hatte auch er wieder ein vertrautes Niveau erreicht. Aus ihm gingen Lärm, Chaos, Verkehr und Verbrechen hervor. Die Grenzen waren wieder geöffnet, und Yerskania handelte mit Menschen aller Nationen, selbst mit den wilden Vorga. Aber noch immer gaben viele Zecorria die Schuld dafür, dass es einen verrückten König auf den Thron gelassen und jeden in einen sinnlosen Krieg gezerrt hatte. Die Menschen brauchten eben jemanden, dem sie die Schuld an allem, was geschehen war, geben konnten, und die Zecorrianer hatten den kurzen Strohhalm gezogen.

Byrne erreichte die vordere Reihe der Gaffer und musterte die Menge. Sein Instinkt sagte ihm, dass der Mörder nicht zurückgekehrt war, damit er alles noch einmal erleben oder über die Unfähigkeit der Wächter des Friedens, ihn jemals zu erwischen, spotten konnte.

Neben der Leiche stand eine weitere Wächterin. Tammy Baker war eine Blondine, die jeden auf der Straße überragte. Unterstützt von einem weiteren Wächter versuchte sie die Menge zurückzuhalten, aber damit hatten die beiden Schwierigkeiten, denn schließlich wollte doch jeder einen Blick auf das tote Opfer werfen. Zwar hatte jemand die Leiche mit einem Umhang verhüllt, aber eine geschrumpfte Klaue ragte dennoch unter dem Saum hervor.

Byrne seufzte. Er hatte bereits zwei ähnliche Opfer gesehen. Das war kein gewöhnlicher Mord. Es war etwas anderes, dieses Mal war es schmutzig und allzu gewagt. Dieses Mal hatte sich der Mörder kaum die Mühe gemacht, die Leiche zu verbergen. Eine Abteilung aus sechs weiteren Friedenswächtern traf ein und fing an, die Menge von dem Opfer wegzudrängen.

»Also gut, Zeit nach Hause zu gehen«, verkündete Byrne. »Bewegt euch. Macht schon.«

Die Wächter rückten auf die Menge zu und ein paar Leute verdrückten sich. Byrne nahm einen der Männer beiseite und zeigte auf den nervösen Zecorrianer.

»Findet heraus, wo er wohnt, und geht ein Stück mit. Wenn Ihr Euch davon überzeugt habt, dass Euch keiner folgt, kommt Ihr zurück.«

»Ja, Herr.«

Die Mehrheit der Zuschauer blieb beharrlich stehen.

»Sergeant! Die Leute sollen sich verziehen.«

Die Männer fingen an, die Gaffer einfach umzudrehen und ihnen Stöße zu versetzen, sie ein paar Schritte zurückzuzwingen. Byrne stand lediglich mit verschränkten Armen da und tat nichts, beobachtete bloß in aller Ruhe die Menge. Schließlich begriffen die Zuschauer, dass nichts passieren würde, solange sie hier herumlungerten. Bis auf die Stursten unter ihnen sahen es endlich alle ein und gingen weiter. Erst als sich die Mehrheit in Bewegung gesetzt hatte, wandte sich Byrne der Leiche zu und hob eine Ecke des Umhangs an. Er ging in die Hocke und versuchte, jede Einzelheit in sich aufzunehmen. Und nicht daran zu denken, dass dieses … Ding da einst ein Mensch gewesen war. Die Untersuchung fiel tatsächlich um einiges leichter, wenn er es in Gedanken zu einem Ding machte.

Was Tote anging, sah dieser da besonders unerfreulich aus. Der Länge und den Händen und Füßen nach zu urteilen war es früher mal ein Mann gewesen. Mehr zu sagen fiel wegen des Zustands allerdings schwer. Obwohl die Leiche weniger als eine Stunde auf dem Boden gelegen hatte, sah sie aus, als wäre sie bereits vor Jahrzehnten verwest. Die Haut spannte sich über die Knochen. Die Augen lagen wie zwei schwarze Rosinen in den großen Höhlen. Die Zunge ähnelte nur noch einem geschrumpften Stück schwarzer Spitze. Der Mund klaffte zu einem stummen Schrei auf, aber Byrne wäre jede Wette eingegangen, dass hier niemand auch nur einen Ton gehört hatte.

Sichtbare Verletzungen waren nämlich nicht zu erkennen. Auf dem Boden lag kein Blut, der Schädel war nicht eingeschlagen oder sonstwie beeinträchtigt.

»Das ist der Dritte in drei Wochen«, sagte Baker. Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Fäuste waren mit alten Narben übersät, eine Hinterlassenschaft ihrer vorherigen Stellung als Vollstreckerin einer der Verbrecherfamilien der Stadt. Ihre ungewöhnliche Größe hatte sie von ihrem Vater, einem Sevel, und ohne die helle Haut, das blonde Haar und die blauen Augen hätte man sie leicht für eine Ausländerin halten können. Byrne unterzog andere Menschen ständig einer genauen Musterung und versuchte ihre Geschichten zu ergründen. Das war heute nicht anders, aber er konnte den Gegenstand seines Interesses nicht befragen, also musste er auf andere Weise Antworten finden.

»Wieder die gleiche Geschichte?« Er studierte den Ort und die umliegenden Gebäude. Die Leiche lag mitten auf einer ziemlich belebten Seitenstraße. Kein halbes Dutzend Schritte entfernt trafen drei Straßen zusammen. Der Weg wurde ständig als Abkürzung zum Hafen und zu den dortigen billigen Schenken und schmierigen Bordellen benutzt. Das war nicht gerade ein abgelegener Ort. Allmählich wurde der Mörder dreist. Oder er war verzweifelt.

»Niemand hat etwas von dem Mord gehört oder gesehen.« Baker schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ein paar Zechern unten vom Hafen gesprochen. Sie haben ein helles Licht am Himmel beobachtet. Beschrieben es als orange oder rot. Sie nahmen an, ein Haus stünde in Flammen.«

Byrne sparte sich jeden Kommentar, denn sie wussten alle, was das bedeutete. Magie.

Er starrte die Leiche an und versuchte sich jede Einzelheit zu merken, bevor man die Beweise fortschaffte. Das Opfer trug einen silbernen Ring an einem Finger und der Geldbeutel in der Tasche war zur Hälfte gefüllt. Aber hier war es niemals um einen Raub gegangen.

Der Klang von Stiefeln, die sich im Gleichschritt näherten, riss Byrne aus seinen Gedanken.

»Was will denn der Alte hier?«, raunte Baker, während die Wächter Haltung annahmen.

»Drei in drei Wochen«, sagte der Khevassar. Sein Schatten fiel auf Byrne.

»Ja, Herr.«

Byrne stand auf und überragte seinen Vorgesetzten. Im Gegensatz zu allen anderen war die rote Uniform des Khevassar mit Silber statt mit Schwarz abgesetzt und er trug keine Waffen. Der alte Mann bot keinen sonderlich beeindruckenden Anblick. Er war ziemlich schmal, hatte weißes Haar und blaue Augen. Aber er war einer der klügsten und gefährlichsten Männer von Perizzi.

Soweit die Erinnerung reichte, benutzte er den Ehrentitel, aber sonst hatte es nichts damit auf sich. Ein paar Wächter hielten ihn für einen Thronerben aus der hintersten Reihe, der seine Stellung für den Dienst am Allgemeinwohl aufgegeben hatte. Andere hatten noch abstrusere Ideen, aber Byrne hatte sich lange mit dem Mann beschäftigt und wusste, dass das nichts als Geschichten waren. Es gab kein Geheimnis. Und es war auch nicht wichtig, wer er zuvor gewesen war. Er definierte sich durch seine Taten und nicht durch seine frühere Stellung.

Der Khevassar wurde von sechs weiteren Angehörigen der Friedenswächter flankiert. Hinten stand ein dicker Wundarzt, der durch das gnadenlose Tempo, das der Alte vorgegeben hatte, noch immer nach Luft schnappte.

»Das Gleiche wie bei den anderen?«, fragte der Khevassar.

»Ausgesaugt. Kein Tropfen Flüssigkeit übrig.« Byrne zeigte auf die Leiche und dann auf die Straße. »Der Mörder kann aus jeder der sechs Richtungen gekommen sein. In dem Straßengewirr fällt es leicht unterzutauchen.«

Vor Jahrhunderten war die Stadt ein Fischerdorf gewesen, dann ein Handelsposten. Im Laufe der Jahre waren die schlichten Holzgebäude am Hafen durch Steinbauten ersetzt worden. Das Dorf war größer und zu einer Kleinstadt geworden, der ersten an der Flussmündung. Die hatte sich weiter landeinwärts ausgebreitet und schließlich zur Großstadt entwickelt. Die ältesten Gebäude befanden sich am Meer und waren immer wieder neu erbaut worden, was die ganze Gegend zu einem Labyrinth hatte werden lassen. Hier ähnelten sich keine zwei Häuser; das Alte stand neben dem Neuen, heruntergekommene Gebäude wurden abgerissen und größer und höher neu gebaut. Es gab viele Gründe, warum die Banden und Rauschgifthändler gerade diese Gegend frequentierten. Hier fand man immer eine dunkle Gasse oder eine Hintertür, falls die Stadtwache einem zu nahe kam.

»Zeugen?«

»Keine«, sagte Baker.

Der Khevassar schürzte die Lippen und bedeutete den beiden Wächtern, ihm zu folgen. Sie gingen ein kurzes Stück zur Seite und gaben dem Wundarzt den nötigen Platz, damit er die Leiche untersuchen und seine Erkenntnisse dokumentieren konnte. Byrne ging davon aus, dass es – genauso wie bei den anderen Toten – auch keine Spuren geben würde, die einen Hinweis auf den Mörder lieferten. Aber schließlich musste man sich an das Protokoll halten.

»Wie war die Stimmung der Schaulustigen?«, fragte der Alte, als sie außer Hörweite waren.

»Nervös, ängstlich«, sagte Baker.

»Gab es Gewalt?«

»Nein, aber wenn das so weitergeht, wird sie unvermeidlich sein.«

Der Khevassar grunzte. »Wir müssen diesen Mörder finden. Schnell und leise.«

»Ich kenne jemanden, der uns bei einer derartigen Sache helfen könnte. Einen Spezialisten«, meinte Byrne.

»Einen Außenseiter?«

»Nein, er kommt schon von hier, aber ist kein Wächter des Friedens und auch kein Angehöriger der Stadtwache.«

Traurig schüttelte der Khevassar den Kopf. »Ein Spezialist? Nennen wir sie jetzt so?«

Baker trat von einem Fuß auf den anderen. Offensichtlich war ihr unbehaglich zumute, aber sie enthielt sich jeder Bemerkung.

Byrne zuckte mit den Schultern. »Die Leute fürchten sich vor Magie, und so etwas ist da nicht gerade hilfreich«, meinte er und zeigte auf den Ermordeten.

»Wie schnell die Leute doch vergessen. Magie hat den Krieg gewonnen.«

»Es gibt viele Bürger mit gefallenen Angehörigen, die das anders sehen würden«, sagte Byrne.

»Dann haben sie ein kurzes Gedächtnis.«

Byrne widersprach nicht. Auf dem Schlachtfeld in Seveldrom waren Tausende Krieger gestorben, mit scharfem Stahl in Stücke gehackt oder von hinterhältigen Fallen zerrissen worden. Am Ende hatte Magie eine große Rolle gespielt, denn der Hexer war durch Balfruss’ Hand gestorben. Aber darüber sprach niemand gern. Oder über den Kriegsmagier. Sein Name hatte einen schlimmeren Klang als jeder Fluch angenommen. Niemand wagte es, ihn laut auszusprechen. Man hatte Angst, er könnte es hören und würde zurückkehren.

Seit jenem Tag hatten die wenigen noch verbliebenen Sucher aufgehört, in Dörfern und Städten nach Kindern Ausschau zu halten, die mit der Fähigkeit geboren worden waren, die Quelle zu spüren. Wer Anzeichen magischer Fähigkeiten zeigte, wurde gemieden, vertrieben und in extremen Fällen auch ermordet. Byrne hatte eine Geschichte über ein Mädchen gehört, das im Fluss ertränkt worden war. Seine Eltern hatten dem Mob angehört. In den Städten hielt man sich gern für zivilisierter, aber auf dem Land, wo die Wache nicht hinkam, da war alles möglich.

Der Hexer hatte die Welt an den Rand der Vernichtung gebracht, und nun betrachtete man jeden, der magische Fähigkeiten besaß, als Bedrohung. Niemand verlor ein Wort über die Kriegsmagier, die im Krieg gestorben waren, weil sie unschuldige Leben beschützt hatten.

Vier Fuß Stahl im Leib waren tödlich, aber das konnte man wenigstens nachvollziehen. Ein Schwert konnte man anfassen und es wog schwer. Jemanden brennen zu lassen, nur indem man ihn ansah, das war etwas Unnatürliches. Das ließ sich nicht durch Logik erklären.

»Wer ist dieser Spezialist?«, fragte der Khevassar. Bei dem Begriff verzog er seine Miene. »Kenne ich ihn?«

»Ja, Herr.«

Der Alte fuhr sich durch das schütter werdende Haar und seufzte. »Können wir ihm vertrauen?«

Byrne zögerte. »Es ist Fray«, sagte er dann.

Baker riss die Augen auf, der Khevassar hob eine Braue. »Ernsthaft?«

»Er ist der richtige Mann für diese Aufgabe.«

»Da habe ich nicht den geringsten Zweifel, aber das müsst Ihr ganz offiziell machen. Nehmt ihn als Wächter des Friedens auf. Ernennt ihn zum Kadetten in der Ausbildung, der Euch begleitet.«

»Was ist mit den nötigen Voraussetzungen und dem Papierkram?«, fragte Byrne.

Der Khevassar winkte ab. »Darum kümmere ich mich. Das ist die geringste meiner Sorgen. Wenn das noch lange so weitergeht, zitiert man mich in den Palast.«

»Ich beneide Euch nicht.«

»Ich wollte gerade das Gleiche sagen«, erwiderte der Khevassar.

Es war nicht schwergefallen, die richtige Person zu finden, die einen Mord mit Magie aufklären konnte. Jetzt musste Byrne Fray nur noch davon überzeugen, Wächter zu werden. Das war der Beruf, dem sein Vater zum Opfer gefallen war.


Kapitel 2

»Es tut mir sehr leid wegen Eures Vaters«, sagte Katja und brachte es hinter sich. Die Morrin hatten rot geweinte Augen, und die Ehefrau wischte sich mit dem Handrücken ständig das Gesicht. Es hatte den Anschein, als wären ihre Tränen nicht willkommen. Vielleicht wollte sie sie auch einfach nicht mit Fremden teilen.

»Vielen Dank … Priesterin.«

Der Ehemann räusperte sich. »Sie ist keine Priesterin.«

»Ihr habt recht. Das bin ich nicht. Katja reicht.«

»Danke, dass Ihr so schnell gekommen seid«, sagte die Frau, schniefte und versuchte die Tränen zurückzuhalten.

»Natürlich, obwohl mich Eure Nachricht etwas überrascht hat.« Katja wählte ihre Worte mit Bedacht. »Seid Ihr keine Anhänger der Gesegneten Mutter?«

Das Wohnzimmer des bescheidenen Hauses wies mit vielen Zeichen deutlich darauf hin, dass sie sogar fromme Gläubige waren. Von der primitiv geschnitzten Statue oben auf dem Kaminsims zu den drei Heiligenbildern der Gesegneten Mutter an den Wänden.

»Das sind wir durchaus, aber mein Vater ist vor vielen Jahren nach Yerskania gekommen, weil er andere Ansichten vertrat. Er hatte sich dem Großen Schöpfer mehr als hundert Jahre lang verschworen.«

»Wird das ein Problem sein? Wollt Ihr mehr Geld?«, fragte der Ehemann, der unbedingt einen Haken zu finden versuchte. Katja konnte ihm seine Vorsicht nicht verübeln, denn die von ihr angebotenen Dienste waren durchaus ungewöhnlich. Sie betrieb das zurzeit einzige Geschäft in der Stadt, das Bestattungen für die Verstorbenen sämtlicher Glaubensrichtungen arrangierte.

»Nein. Das wird kein Problem sein und es kostet auch nicht mehr. Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass ein Morrin dem Schöpfer folgt, aber es ist auch nicht neu. Ich kann die Arrangements in einer Kirche des Schöpfers treffen, wenn sie in der Nähe steht. Der Patriarch wird drei Tage lang Totenwache bei Eurem Vater halten. Es sei denn, Ihr habt jemand Bestimmten im Auge?«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte die Frau. Sie brachte ein schmales Lächeln zustande, während ein entrückter Blick in ihre Augen trat. Sie schaute in die Vergangenheit, zweifellos in glücklichere Zeiten, in denen ihr Vater gelebt hatte.

»Macht Ihr das oft?«, fragte der Mann. Katja hob eine Braue. »Habt Ihr hin und wieder mit unseren Landsleuten zu tun?«

Katja zuckte mit den Schultern. »In Perizzi gibt es viele Morrin. Die Städte von Yerskania stehen allen offen, und ich helfe jedem, der um meine Dienste bittet.«

»Und zweifellos stellt Ihr Ausländern höhere Rechnungen.«

»Das reicht jetzt, Ton!« Die Ehefrau schlug mit der Hand auf den Tisch. Der Mann schrumpfte unter ihrem Blick zusammen und ließ die Schultern hängen.

»Es tut mir leid. Ich …« Ton verstummte und senkte den Kopf. »Ich weiß nur nicht, ich habe das noch nie zuvor gemacht.«

Katja legte den Kopf schief und lächelte. »Sobald die Totenwache für Euren Schwiegervater vorbei ist, sorge ich dafür, dass man seine Asche herbringt. Die Stadt erlaubt Euch, sie von jeder Brücke aus zu verstreuen. Oder falls Ihr das vorziehen solltet, auch am Hafen.«

»Ich danke Euch, ich bringe Euch raus«, sagte die Frau und führte Katja zur Haustür. Auf der Straße ergriff die Frau noch einmal das Wort. »Ich entschuldige mich für das Benehmen meines Mannes.«

»Jeder geht anders mit der Trauer um.«

Katja schüttelte der Frau die Hand, schlug die Kapuze ihres Umhangs hoch und trat den Rückweg zu ihrem Laden an. Auf den gewundenen Straßen musterte sie die Gesichter der Menge. Als sie vor etwas mehr als einem Jahr in der Stadt eingetroffen war, war das Misstrauen jedem Fremden gegenüber offensichtlich gewesen. Erst jetzt nahm es langsam ab. Man sah wieder viel mehr Leute aus anderen Nationen, sogar hochgewachsene Sevel und dunkelhäutige Kaufleute aus dem Fernen Osten.

Es hatte Monate harter Arbeit bedurft, um ein zerbrechliches Gleichgewicht herzustellen. Die Behörden hatten ihr Möglichstes getan, Präsenz zu zeigen, ohne bedrohlich zu erscheinen. Die Zahl der Patrouillen der Stadtwache war erhöht worden, vor allem in den beliebten Vierteln, in denen die Ausländer zusammenkamen. Schließlich war wieder ein Gefühl der Sicherheit eingekehrt. Es gab noch immer Stadtteile, in die sich keine Reisenden oder Händler wagten und wo auch die Wache nur kurze Stippvisiten machte, aber die hatte es früher auch schon gegeben.

Katja passierte eine Abteilung der Wache, und ihr fiel die schnittige Uniform auf, ebenso wie der Stolz in ihrem Schritt und die Aufmerksamkeit der Offizierin, die nach Ärger Ausschau hielt. Morganse, die Königin der Yerskani, hatte sofort nach Kriegsende einige neue Erlasse verkündet. Soldaten und Angehörige der Stadtwache erhielten nun eine wesentlich bessere Ausrüstung. Außerdem bekamen sie eine intensive Waffenausbildung in mehreren Disziplinen. Der Sold war auch erhöht worden. Wie erwartet hatte es bei den Rekrutierungsstellen von Armee und Wache einen Andrang gegeben, aber nur die Besten waren genommen worden. Und nur die fähigsten und klügsten dieser Leute durften sich bei den Friedenswächtern bewerben, der Elite der Untersuchungsbeamten.

Königin Morganse konnte Perizzis Tore nicht schließen, denn die Hauptstadt war für ihren freien Zutritt bekannt. Aber man würde sie nicht noch einmal überrumpeln. Die deutlich sichtbaren Veränderungen auf den Straßen waren alles andere als subtil, aber Katja wusste, dass es auch einige Neuerungen gab, die weniger offensichtlich waren.

In der geschäftigsten Hafenstadt der bekannten Welt strömten Waren und, was noch wichtiger war, Informationen von den Kais in die Stadt und dann weiter. Es gab mehr Spione sämtlicher Nationalitäten in Perizzi und dem ganzen Westen als je zuvor. Zu dem Zeitpunkt, da der Krieg geendet hatte und die offiziellen Dokumente unterzeichnet worden waren, machten die Händler mit ihren Geschäften weiter. Es war die vollendete Tarnung gewesen. Katja hatte zu der ersten Gruppe von Spionen gehört, die mit Händlerwagen in dem kurz zuvor befreiten Perizzi eingetroffen war.

Als Spionin im Auftrag von Seveldrom gingen Katjas gesammelte Informationen direkt an Roza, die Anführerin des örtlichen Netzwerks. Das letzte Mal hatte Seveldrom nicht genug getan, um den Krieg zu verhindern. Roza hatte deutlich klargemacht, dass das nicht noch einmal geschehen würde und dass diese Befehle direkt von ganz oben kamen, von Königin Talandra selbst.

Das war Katjas erster Auftrag gewesen, und bis jetzt hatte es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Den größten Teil ihrer Zeit hatte sie mit dem Aufbau ihres Geschäfts verbracht und damit, alle davon zu überzeugen, dass sie auch diejenige war, die sie zu sein vorgab.

Soweit es die meisten Bürger der Stadt betraf, war sie Perizzis erste religiös unabhängige Vollzieherin der Letzten Riten. Diese Position verschaffte dem seveldromschen Netzwerk eine einzigartige Einsicht in ungewöhnliche Todesfälle. Außerdem konnte man sich dank ihr in ganz Perizzi bewegen, ohne Verdacht zu erregen.

Katjas blasse Haut und die schwarzen Haare zeichneten sie als Yerskani aus, wodurch die Ortsansässigen ihr viel leichter vertrauen konnten. Nur wenige wussten, dass sie in Seveldrom zur Welt gekommen und aufgewachsen war. Ihre Loyalität galt ihrer Königin und dem Land ihrer Geburt.

Katja bog um die letzte Ecke und der Laden kam in Sicht. Sie suchte nach heimlichen Beobachtern, denn ein paar Nächte zuvor war ihr ein Mann gefolgt. Er hatte zwar Distanz gehalten und versucht, außer Sicht zu bleiben, aber sie hatte das Geräusch seiner Schuhe gehört und sein Gesicht einmal aus dem Augenwinkel gesehen. Daraus ließ sich ableiten, dass er eine Ausbildung erhalten hatte. Vielleicht war es auch nur eine Fähigkeit, die man auf der Straße erlernte. Ob er harmlos war oder nicht, hatte keine Rolle gespielt, denn sie hatte ihn im Straßenlabyrinth am Hafen abgeschüttelt und seither nicht mehr gesehen. Trotzdem musste man vorsichtig und geduldig sein. Wachsamkeit war unerlässlich.

Nachdem sich Katja vergewissert hatte, dass ihr Geschäft nicht unter Beobachtung stand, überquerte sie die Straße und trat ein. Ein kleines Glöckchen bimmelte beim Öffnen der Tür. Der Laut ließ einen blassen, hageren Mann mit dünnem braunem Haar in einer grauen Robe mit Kapuze aus einem der hinteren Zimmer treten.

»Ich grüße Euch«, sagte er mit einem freundlichen und mitfühlenden Lächeln, bevor er sie erkannte. Das Lächeln verschwand und wurde durch seine übliche gereizte Miene ersetzt. Katja war fest davon überzeugt, dass Gankle seine Entscheidung, in einem Geschäft zu arbeiten, in dem er sich mit Lebenden abgeben musste, täglich bereute. Er schien sich bei den Toten wesentlich wohler zu fühlen. Sie sprachen nicht, und sie kauten auch nicht oder atmeten, was ihn alles gestört hätte. »Was hat denn so lange gedauert?«

»Sie glaubten, ich würde ihnen mehr berechnen.«

»Dann hättest du es vielleicht tun sollen, wenn sie schon damit gerechnet haben.«

Katja zuckte mit den Schultern. »Wir sollen uns um alles kümmern. Kannst du mit dem Patriarchen der Kirche des Schöpfers sprechen?«

Gankles Mine wurde noch düsterer. Um das zu tun, musste er den Laden verlassen und mit anderen Leuten sprechen. Trotzdem neigte er den Kopf. »Ich erledige es.«

Katja folgte ihm in den Besucherraum und warf sich auf einen der großen, bequemen Stühle. Sie legte ein Bein über die Lehne. Gankle nahm mit einstudierter Anmut ihr gegenüber Platz, hob dabei den Saum seiner Robe und strich die Fältchen weg, als befänden sie sich bei Hofe und das Gewand bestünde aus Seide und nicht etwa aus Wolle. Katjas gelangweilter Blick wanderte über die verschiedenen religiösen Symbole, die an der gegenüberliegenden Wand hingen, dann über die Regale mit heiligen Texten und Gedichtbändchen, Aromakerzen, Talismanen und hundert anderen Utensilien, die für ihre Rolle erforderlich waren. Den Hinterbliebenen war eigentlich nur das Ritual wichtig. Es zeigte ihnen im Chaos einen Weg. Ein Floß, auf dem sie in einem endlos erscheinenden Sturm den Kopf über Wasser halten konnten. Trauer schien manche Menschen in tiefe Verlegenheit zu stürzen, als gehörten die Tränen und die Sehnsucht nach jenen, die nicht mehr unter ihnen weilten, nicht zur natürlichsten Sache auf der Welt.

»Das ist in der Zwischenzeit für dich gekommen.« Gankle reichte ihr einen zusammengefalteten Brief mit einem gebrochenen Siegel. »Du musst sofort zu ihr.«

Katja tat so, als hätte er kein Wort gesagt. Sie las den Brief in aller Ruhe, weil sie wusste, dass sie ihn damit ärgern konnte. Gankle war vor Jahren einmal Spion für Seveldrom gewesen, und auch wenn er sich offiziell im Ruhestand befand, schien er doch der Ansicht zu sein, dass ihm sein ehemaliger Status erlaubte, sich in alles einzumischen. Seine einzige Aufgabe bestand darin, Katja mit einer Unterkunft zu versorgen und ihre Position zu untermauern, aber das schien er oft zu vergessen.

»Klingt ziemlich dringend. Ich sollte sofort zu ihr gehen«, sagte Katja. Es kostete sie Mühe, über seine Verärgerung nicht zu grinsen. Sie überließ Gankle seinem Zähneknirschen und verließ den Laden.

Gemäß ihrer Ausbildung nahm Katja einen Umweg und blieb gelegentlich stehen, um in Schaufenster zu blicken. Sie täuschte Interesse für die Auslage vor und hielt dabei im Spiegelbild nach Verfolgern Ausschau.

Dann betrat sie eine Bäckerei und kaufte eine kleine Fischpastete, die sie vor dem Geschäft am Straßenrand aß. Dort lungerten ein paar Kinder herum. Sie stellten einige Fragen über Katjas graue Robe, und als sich die Antworten als langweilig erwiesen, verloren sie schnell das Interesse. Während sich Katja mit den Kindern unterhielt, musterte sie die Passanten und suchte nach jedem, den sie an diesem Morgen möglicherweise schon gesehen hatte. Ein oder zwei Leute schenkten ihr einen neugierigen Blick, aber das war es auch schon. Davon überzeugt, dass sie nicht verfolgt wurde, verschwendete sie keine weitere Zeit.

Sie erreichte den Gewürzladen in dem Augenblick, in dem in einer Kirche des Schöpfers, die sich in der Nähe befand, gerade die Mittagsglocke läutete. Sie stieß die Tür auf. Eine Frau mit rotem Haar schaute hinter der Theke mit einem freundlichen Lächeln auf. Es blieb zwar unverändert bestehen, aber Katja entging nicht, dass sich die Augen der Frau etwas anspannten.

»Willkommen«, sagte die Gewürzhändlerin und zeigte auf die duftenden Kräuter und Gewürze in den bienenkorbähnlichen Regalen. Der berauschende Duft von hundert verschiedenen Gerüchen stieg Katja in die Nase und ließ sie zucken, bevor sie dreimal niesen musste. Dabei trat sie auf die Theke zu, aber die Ladenbesitzerin schüttelte kaum merklich den Kopf und deutete auf die Stühle am Fenster.

Sie suchte Weihrauch und ein paar Kräuter zusammen, wie man sie oft bei Begräbnisriten verwendete, bevor sie in ein Hinterzimmer trat. Katja war sich bewusst, dass jeden Augenblick ein Kunde den Laden betreten konnte, und dass sie einen vernünftigen Vorwand für ihre Anwesenheit brauchten. Je weniger sie lügen musste, umso besser konnte sie die Wahrheit zu ihrem Nutzen verbiegen.

Katja ließ sich auf einen der Stühle sinken und starrte aus dem Fenster. Die Gewürzhändlerin kam mit etwas Gebäck und einer Kanne Tee zurück. Die beiden Frauen sprachen erst, nachdem der Tee in zwei Gläser eingeschenkt worden war und sie in einen Würzkuchen gebissen hatten.

»In deiner Nachricht hieß es, es sei dringend«, sagte Katja.

»Ich habe eine beunruhigende Neuigkeit von einer verlässlichen Quelle erhalten«, erwiderte Roza und blies eine Strähne roten Haares aus dem Gesicht. Seufzend löste sie ihr Haar, bevor sie es wieder zu einem festen Pferdeschwanz zurückband. Katja fand, dass ihr das nicht stand. Es betonte ihre Stirn zu sehr, aber vielleicht war das ja auch die Absicht. Richtig gekleidet würden sich Männer nach Roza umdrehen, aber das schmucklose Männerhemd und die locker sitzende Baumwollhose verrieten zusammen mit dem streng zurückgebundenen Haar und der fehlenden Schminke jedem Fremden alles, was er über sie wissen musste.

Sie hatte keine Zeit für Flitter und Tand und ihr Geschäft kam an erster Stelle. Aber in Wahrheit trug Roza an Händen und im Gesicht eine dünne Puderschicht, die ihre rötliche Sevelhaut blasser erscheinen ließ. Niemand kam je nah genug heran, um das zu bemerken. Es gab andere Mädchen, die weitaus hübscher oder zumindest nicht so unnahbar und damit für Männer interessanter sein mochten. Das erlaubte Roza, nicht in der Menge aufzufallen und viel beobachten zu können. Katja fragte sich, ob sie wohl jemals einsam war, dann wurde sie sich bewusst, dass sie ihre Gedanken hatte umherschweifen lassen.

Sie räusperte sich. »Darf ich fragen, wo die Neuigkeiten herkommen?«

Roza schürzte kurz die Lippen, bevor sie sprach. »Von jemandem, der verlässlich ist. Sie stammen von dem Metzger.«

Katja schluckte und trank einen Schluck Tee, der plötzlich bitter schmeckte. Über den Metzger waren viele Geschichten im Umlauf, und sie waren alle außerordentlich brutal. Noch vor einem Jahr hatte nie jemand von ihm gehört, aber jetzt war er als skrupelloser Verbrecheranführer in der Unterwelt bekannt. Niemand wagte es, ihn hereinzulegen. Jeder Versuch, ihm sein Territorium streitig zu machen, endete blutig. Manchmal begnügte er sich damit, jemandem beide Füße abzuhacken, aber wenn er die Beleidigung als schwer genug betrachtete, nahm er auch die Hände. Die Opfer lebten dann noch immer und schrien vor Schmerzen oder bettelten um den Tod, wenn man sie fand.

Als Katja sich nach ihm erkundigt hatte, hatte Roza ihr lediglich mitgeteilt, er stünde loyal zu Königin Talandra. Jede Frage nach seiner Identität wurde mit steinernem Schweigen beantwortet.

»Wie besorgt sollte ich sein?«

»Sehr besorgt«, antwortete Roza und ließ kurz die Maske fallen, um das Ausmaß ihrer Beunruhigung zu zeigen. »Es gibt Gerüchte über einen Plan, Königin Talandra bei ihrem Staatsbesuch zu ermorden.«

Unheilvoll hingen die Worte zwischen ihnen in der Luft. Ihre Königin war noch eine recht junge Frau, die erst kurze Zeit auf dem Thron saß. Sie hatte ihn von ihrem Vater übernommen, der im Krieg ermordet worden war. Trotzdem hatte sie in diesem Jahr viel erreicht. Die Beziehungen zwischen Seveldrom und dem Westen waren stärker als je zuvor, insbesondere diejenigen mit Yerskania. Der Handel hatte wieder den Vorkriegsstand erreicht, und die Königin hatte schwer dafür gearbeitet, trotz einiger schwieriger Phasen den Frieden zu bewahren. Sie hatte mehrere Verträge ausgehandelt, Krieger und Hilfe nach Shael geschickt und sogar den Morrin die Hand ausgestreckt – mit dem Angebot, bei ihren Problemen zu helfen.

Außerdem hatte die Königin zwei Attentatsversuche überstanden, ohne jemanden dafür öffentlich zu beschuldigen, obwohl es genug Gerüchte gegeben hatte, dass die Attentäter aus Zecorria oder Morrinow gekommen waren. Im Westen liebten sie viele für das, was sie im Krieg und seitdem erreicht hatte. Jeder, der einen Funken Menschlichkeit oder zumindest gesunden Menschenverstand besaß, würde Mühe haben, einen Grund zu finden, um sie zu hassen. Leider gab es genug, denen es an beidem mangelte.

Einige lächerliche Geschichten kursierten über Talandra. Geschichten von Ritualmorden, Folter, Korruption und Erpressung, um Leute ihrem Willen zu unterwerfen. Im Westen wollte jemand Talandra und ihre hervorragende Arbeit um jeden Preis unterminieren. Zum Teil hatte Katjas Auftrag im vergangenen Jahr darin bestanden, diese Geschichten zu verfolgen und die Ergebnisse an Roza weiterzugeben. Dann wurde jemand losgeschickt, um die Geschichten an der Quelle zu ersticken. Eine Weile hatte es tatsächlich keine neuen Gerüchte gegeben, aber jetzt war eben doch eine neue Bedrohung aufgetaucht.

»Haben wir eine Ahnung, wer dahintersteckt?«, fragte Katja.

»Das ist das Problem. Ich habe jeden darauf angesetzt, aber die Ergebnisse sind widersprüchlich. Eine Quelle behauptet, es handele sich um eine Gruppe morrinowscher Extremisten, die Seveldrom unbedingt vernichten wollen. Sie machen unsere Königin dafür verantwortlich, dass ihre Heimat nicht zur Ruhe kommt. In Morrinow tobt noch immer der Bürgerkrieg und viele sind gestorben.«

Katja verzog das Gesicht. Das war noch mehr Unsinn, der das Ansehen der Königin beschmutzen sollte.

»Einer anderen Quelle zufolge war es eine Gruppe Auserwählter aus Zecorria, die der Säuberung entkommen waren. Auch wenn der wahre Täter unbekannt blieb, glauben sie, dass Talandra ihren König getötet hat.«

Obwohl die Auserwählten von jeder Nation verfolgt wurden, gab es in Zecorria noch immer eine kleine Gruppe von ihnen. Der fanatische Kult, der im Krieg entstanden war, glaubte nach wie vor daran, dass ihr verstorbener König Taikon ein Prophet und lebender Gott gewesen war, der wiederauferstehen würde. An der Oberfläche erschien Zecorria ruhig; die Nation trieb wieder zaghaften Handel mit ihren Nachbarn, aber innerhalb ihrer Grenzen sah es ganz anders aus. Noch immer gab es Aufmärsche, und Leute, die sich zu Auserwählten erklärten, sprachen sich in aller Öffentlichkeit gegen den neuen Regenten aus. Bis jetzt hatte es allerdings nicht viel Gewalt gegeben. Roza und andere Agenten waren der Ansicht, dass die Lautesten von ihnen lediglich das Sprachrohr echter Auserwählter waren, die man in den Untergrund getrieben hatte.

»Sollte unsere Königin hier ermordet werden, würden die Toten die Straßen verstopfen.« Roza knirschte mit den Zähnen. »Es würde kein Vergleich zu dem sein, was mit Shael passiert ist. Der Westen würde sich auf der Suche nach ihrem Mörder selbst zerfleischen und jeder Sevel würde rachsüchtig in den Krieg ziehen.«

Ein Jahr war keine lange Zeit. Die Furcht vor dem Krieg mochte begraben sein, aber sie war keineswegs aus der Welt. Der winzigste Funke konnte die Nationen des Westens wieder gegeneinanderhetzen.

»Was soll ich tun?«, fragte Katja.

»Finde heraus, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprechen. Gibt es wirklich eine Verschwörung, oder sind das nur verärgerte Leute im Norden? Löse jeden Gefallen ein, sprich mit jedem deiner Kontaktleute, aber finde es heraus.«

»Wie viel Zeit habe ich?«

Roza schüttelte den Kopf. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in ihre Stirn gegraben. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein paar Tage. Der Termin für den Staatsbesuch ist noch nicht endgültig festgelegt worden, aber es ist eine ziemlich lange Reise von Seveldrom. Falls wir also keine überzeugenden Beweise finden, um die Königin davon abzubringen, wird sie bald aufbrechen.«

»Und falls ich herausfinde, wer diesen Plan schmiedet, was dann?«

»Um etwas so Großes in die Wege zu leiten, braucht man viel Geld und Ressourcen. Falls du die verantwortliche Gruppe finden solltest, dann grab so lange weiter, bis du herausfindest, wer sie finanziert. Bevor wir etwas unternehmen, müssen wir sicher sein, das ganze Netzwerk aufgespürt zu haben.«

»Was wollen wir denn unternehmen?«

Rozas Lächeln zeigte zu viele Zähne. »Wir töten jeden Einzelnen von ihnen, bis die Straßen rot vor Blut sind.«


Kapitel 3

Hundert vertraute Gerüche schlugen Choss beim Betreten des umgebauten Lagerhauses entgegen. Abgestandener Schweiß, verschüttetes Bier und Blut waren die stärksten. Sie vermischten sich und erschufen etwas, das wie ein Willkommensgruß erschien. Und sie brachten einen ganzen Strom von Erinnerungen mit sich. Die zahllosen Stunden der Körperertüchtigung, das Krachen aufeinanderprallender Knochen, das Klatschen von Fleisch, das auf Segeltuch krachte. Vor allem aber das Brüllen der Menge, die seinen Namen sang. Der Laut hatte ihn stets ausgefüllt, bis er glaubte, seine Ohren würden gleich platzen.

Ruhmreiche Tage.

Ein Nachzügler auf dem Weg zum Kampf rempelte ihn an und das warme Gefühl verblich. Er schüttelte den Kopf, verdrängte die Erinnerungen und ging tiefer in die Arena hinein. So nannte er sie. Die meisten bezeichneten sie nur als einen Ring oder als die Grube. Aber er versuchte seit einigen Jahren, sie davon abzubringen. Sich von den finsteren alten Tagen zu entfernen, in denen zwei Männer den Ring betraten und nur einer auf eigenen Füßen wieder herauskam. Und davor war es sogar noch schlimmer gewesen. Einer verließ ihn blutüberströmt und der andere war nur noch ein kalter Haufen totes Fleisch.

Choss ging einen der schmalen Durchgänge zwischen den abgestuften Sitzen nach unten und blieb kurz vor der ersten Reihe stehen. Er wollte nicht gesehen werden. Trotzdem fiel er ein paar Zuschauern auf und die Nachricht verbreitete sich. Er schüttelte Hände, lächelte freundlich und neigte zurückhaltend den Kopf, wenn ihn eine Frau auf den Mund küssen wollte und sich mit der Wange zufriedengeben musste. Ein schneller Blick in die Umgebung zeigte, dass es nicht viele freie Plätze gab. Der Ausrufer im Ring feuerte die Menge an, und Choss fühlte, wie sich eine gespannte Aufmerksamkeit ausbreitete.

Er tauchte in die Schatten ein und näherte sich einer Tür, die von einem stiernackigen Mann namens Jakka bewacht wurde. Man hätte annehmen sollen, dass er mit seinem Kahlkopf von der Größe einer Melone und den winzigen Ohren ein beliebtes Ziel für Scherze aller Art war. Bis einem auffiel, wie breit seine Arme und Schultern waren. Bis einem auffiel, wie groß seine Hände waren, voller Narben und eingesunkener Knöchel. Jakka hatte zwar einen kleinen Bauch, aber selbst der hochmütigste Kerl wandte sich nur mit Respekt an den alten Kämpfer.

»Ein gutes Publikum heute Abend, Champion«, sagte Jakka, ohne von seinem Buch aufzusehen.

»Das dachte ich gerade auch.«

Jakka nahm die winzige Brille von der Nase und zeigte seine Zahnlücken bei einem Grinsen. »Bringt das nicht viele Erinnerungen zurück?« Choss grunzte nur. »Keine Lust, wieder mitzumachen?«

Choss dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann hier draußen mehr erreichen. Für uns alle.«

»Ich bewundere dein Temperament, Junge, das habe ich immer schon getan. Das hat dich schließlich zum Champion gemacht. Und ich tue, was ich kann, um dir zu helfen, aber du kennst meine Einstellung. Die Aristokratie will uns nicht.«

Das hatte Choss auch schon von Jakka und vielen anderen gehört. Immer wieder. Tatsächlich tat das sogar ein klein bisschen weh. Um zu zeigen, dass er das dem großen Mann nicht übel nahm, schlug er ihm beim Vorbeigehen auf die Schulter.

In dem Korridor berührten seine breiten Schultern die Wände. Am anderen Ende gab es zwei Türen. Hinter der einen waren leise Gesprächsfetzen zu hören. Kämpfer, die sich auf ihren Kampf im Ring vorbereiteten. Hinter der anderen ertönte die scharfe, krächzende Stimme Vinnecks, der gerade jemanden belehrte. Eine jüngere Stimme wollte etwas einwerfen, aber Vinneck unterbrach sie. Diesen Tonfall kannte Choss zur Genüge, also wartete er draußen. Einen Augenblick später flog die Tür auf und ein junger Mann mit roten Haaren stürmte in den Korridor.

»Wer ist der Nächste?«, rief Vinneck.

Choss trat ein und schloss hinter sich die Tür. »Nur ich, Vinny.«

»Dem Schöpfer sei Dank«, krächzte Vinny. Er schenkte sich eine weitere Tasse stinkenden Kräutertee ein. Sie waren jetzt seit zwei Jahren Partner in diesem Geschäft, aber davor hatte Vinny die Kämpfe mit anderen Leuten geleitet. Sie waren alle auf der Strecke geblieben; ein paar hatten sich der Trunksucht ergeben, andere dem Venthe. Aber einige hatten sich irgendwann auch nur gelangweilt und wollten raus aus diesem Geschäft. Einer hatte sogar versucht, Vinny und seine Kämpfer um ihr Geld zu betrügen.

Damals hatte Choss noch im Ring gestanden, war ein neues Gesicht gewesen, das sich nach oben kämpfte. Glücklicherweise hatten sie den Dieb erwischt, bevor er die Stadt verlassen konnte. Man hatte ihn zwar leben lassen, aber Choss wusste nicht, wie man ihn betraft hatte. Vermutlich war er nun für den Rest seines Lebens ein Krüppel oder er war später doch an den Folgen seiner Prügel gestorben.

Die langen Jahre hatten bei Vinny ihren Preis gefordert, vielleicht waren es auch die vielen schäbigen Geschäfte gewesen. Er sah alt und verbraucht aus. Seine Haut war wie altes Leder und er wirkte so dünn wie ein Besenstiel. Die wenigen Haare auf seinem Hinterkopf waren aschgrau. Oben war die nackte Kopfhaut mit braunen Flecken übersät. Er erschien schwach – bis man ihm in die Augen blickte. Jeder Kämpfer vermochte ihn in zwei Stücke zu brechen, man hätte das nicht einmal als Kampf bezeichnen können, aber keiner von ihnen hatte auch nur ein Zehntel seines Verstandes.

»Diese Jungen, sie wollen zwar mehr, aber weniger dafür tun.« Vinny deutete mit dem Kopf auf den Umkleideraum.

»Hast du Lostram darum rausgeworfen?«

»Er hatte alle Anzeichen.« Vinny warf zwei Stücke Zucker in den Tee. Er probierte einen Schluck, verzog das Gesicht, dann fügte er noch ein Stück hinzu. Ein paar Ärzte und selbst diverse teure Chirurgen hatten sich seinen Magen angesehen. Zuerst war man von der Annahme ausgegangen, er hätte etwas Falsches gegessen, oder dass es sich vielleicht um das Schleichende Leiden handelte, das Menschen in wenigen Monaten oder manchmal auch nur in ein paar Tagen auszehrte. Aber Vinny hatte weitergelebt, also hatten sie schließlich nur den Kopf geschüttelt und ihn weggeschickt. Ein alter Kräuterarzt hatte ihm dann das Rezept für den Tee gegeben und der schien eine Weile gegen den Schmerz zu helfen.

»Der Junge hat Talent, aber er ist ungeduldig. Er will Reichtümer und Frauen. Will die Welt bereisen.«

»Was das angeht …«

»Nicht.« Vinny hielt eine krallenähnliche Hand in die Höhe. »Ich weiß, was du sagen willst. Aber bitte, lass es.«

Choss’ Temperament flammte auf, doch er biss die Zähne zusammen und wartete, bis das Feuer erloschen war. Er zählte in Gedanken, bis er sich wieder ausgeglichen fühlte. »Ich höre damit nicht auf.«

»Ich weiß, und ich auch nicht.«

»Ein Jahr ist vergangen.«

Vinny seufzte. »Dir mag das ja als lange Zeit erscheinen, aber die Leute haben noch immer Angst. Du hast gesehen, wie sie auf einen schwarzäugigen Zecorrianer auf der Straße reagieren. Man hat sogar einen großen Bogen um einige Morrin gemacht. Es wird noch Jahre dauern, bis wir wieder anderswo Kämpfe arrangieren oder Champions von außerhalb ins Land holen können.«

»Aber was ist damit, das Geschäft aus den Schatten herauszubringen? Wie wäre es mit einer richtigen Arena?«

Vinny zeigte ein seltenes Lächeln. »Versprich dir nicht zu viel davon, aber Dońa Jarrow hat alle möglichen Leute becirct. Ein paar haben nun zugesagt, einen Kampf zu besuchen.«

»Was für Leute?«

»Leute mit Geld, aber auch mit Einfluss, was noch wichtiger ist. Die Sorte, die etwas ins richtige Ohr flüstern kann. Vielleicht sogar im Palast.«

Choss fühlte, wie etwas in seiner Brust anschwoll. Darauf hatte er immer gehofft. Die meisten Leute hielten Kämpfer für nichts als Schläger und Metzger, die so lange aufeinander einprügelten, bis sie bluteten. Sie interessierten sich nicht für Geschick und Ausdauer, das jahrelange Training und die Hingabe, die Opfer, die man bringen musste. Sie waren der Ansicht, dass die Kämpfe lediglich eine primitive Unterhaltung darstellten, die im Untergrund bleiben sollte. Aber Choss hatte bei jedem Kampf Menschen aus allen Vierteln der Stadt gesehen. Die Reichen standen neben den Armen, und ein- oder zweimal waren da auch Leute mit Kapuzen gewesen, die von Soldaten ohne Uniform umgeben wurden. Vor dem Krieg war der Prinz gelegentlich dabei gewesen, vielleicht fünf- oder sechsmal im Jahr. Bis sie ihm die Eier abgeschnitten hatten, um Königin Morganse für ihre Rebellion zu bestrafen.

Manchmal kamen Frauen zu den Kämpfern, weil sie sie berühren oder auch nur einen Moment lang ein Teil von allem sein wollten. Manchmal führten die Berührungen auch zu mehr, aber das geschah alles freiwillig. Andere wollten den Kämpfern nur Geschenke machen, Geld oder ihre Gunst, für gewöhnlich ein Stück Stoff, das beim Kampf getragen wurde. Man konnte viele Geschäfte machen, unter dem Tisch oder auch darüber. Alles, was sie brauchten, um die Kämpfe weiter auszubauen, war nur eine Chance.

»Stell dir nur vor, wir könnten einen großen Sponsor bekommen. Jemanden, der sich in der Stadt einen Namen gemacht hat«, sagte Choss.