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Jo Zybell

Ein Gott aus der Vergangenheit: Das Zeitalter des Kometen #1

Ein Gott aus der Vergangenheit: Das Zeitalter des Kometen #1


von Jo Zybell


Der Umfang dieses Buchs entspricht 131 Taschenbuchseiten.


Tim Lennox und sein Geschwader sollen den herabstürzenden Kometen beobachten, der die Erde in ein Trümmerfeld verwandeln wird. Aber die Jets werden von den gewaltigen Kräften in das Inferno mit hineingezogen. Als Lennox wieder zu sich kommt, scheint er sich auf der Erde zu befinden, allerdings in einer anderen Zeit, denn die hier lebenden Menschen kämpfen mit Schwertern, Pfeil und Bogen. Und es gibt Gegner, die er nie zuvor gesehen hat. Nur eine Frau scheint ihm völlig zu vertrauen und helfen zu wollen: Marrela.


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de




1

Das Ding sah aus wie ein glühendes, Funken sprühendes Spermium. Innen gleißend weiß und an der Spitze von milchigem Orange. Es zog einen langen, glitzernden Schweif hinter sich her, dessen Licht in alle Richtungen spritzte. Als würde es brennen, das Ding. „Wie ein bengalisches Feuer“, dachte Tim.

„Wahnsinn! Wahnsinn!!“ Die Stimme des Professors gellte in Tims Helm. „Der absolut fetteste Wahnsinn, den ich je gesehen habe!!“

Seine Stimme schraubte sich in hysterische Tonlagen und überschlug sich fast. Wie immer, wenn Blythe erregt war. Und das war er oft. Zu oft für einen leitenden Wissenschaftler der US Air Force, fand Tim.

„Dann schauen Sie genau hin“, knurrte Tim. „Es wird das letzte Naturschauspiel sein, das Sie in Ihrem Leben zu sehen kriegen!“

„Er ist absolut prächtig!“ Der Professor schien ihn gar nicht gehört zu haben. „Er ist absolut schön! Göttlich! Wunderschön! Wahnsinn! Wahnsinn …“

„Wunderschön …“, äffte Tim den Astrophysiker nach. „Göttlich …“ Er hatte schon immer Schwierigkeiten mit Jake Blythes aufgekratzter, abgehobener Art gehabt. In diesem Moment hätte er ihm gern ins Gesicht geschlagen. Doch der Mann saß hinter ihm, im Sessel des Navigators.

Der digitale Balken des Höhenmesser schob sich eben der Siebzigtausend-Fuß-Marke entgegen. Der Mach-Meter stand bei 5,2. Mit fast sechsfacher Schallgeschwindigkeit jagte der Aufklärungsjet durch die Stratosphäre. Eine dichte Wolkendecke verhüllte die Landmasse Nord- und Mitteleuropas. Nur ganz im Süden eine blaue Sichel, in die ein stiefelartiges Gebilde hineinragte: Ein Stück Mittelmeer und Süditalien.

„Schauen Sie sich’s doch an!“, schrie der Professor. „Haben Sie je so etwas Göttliches gesehen?“

„Bullshit, Professor!“ Tim platzte der Kragen. „Das wunderschöne Teufelsding wird in weniger als zwanzig Minuten unsere gute, alte Erde rammen. Und dann wird es nichts mehr geben, was irgendjemand als wunderschön bezeichnen kann!“

Tim brüllte. Die unglaubliche Anspannung der letzten Tage und Stunden machte sich plötzlich Luft. „Weil danach nämlich niemand mehr da sein wird, der irgendetwas wunderschön finden kann!“ Der Kloß, der ihm schon seit Stunden im Hals schwoll, löste sich auf. Tränen stiegen ihm in die Augen. Seine Finger verkrampften sich um den Steuerknüppel.

Er stieß einen Fluch aus – dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er musste die Maschine heil zur Basis zurückbringen. Auch wenn er nicht wusste, was für einen Sinn das noch haben sollte.

Ein Blick zum Head-up Display: 16.23 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Für 16.42 Uhr erwartete man den Einschlag.

Zwei Blicke nach links und rechts zum Cockpit hinaus. Links der kobaltblaue Rumpf eines Jets. Daniels flog in Sichtweite knapp hundert Fuß über ihm. Tim konnte sogar das schwarze Gesicht des Lieutenants erkennen.

Nightingales Maschine konnte er nirgends entdecken. Der Bordradar aber zeigte Tim an, dass sie auf gleicher Höhe hinter ihm flog.

Zum hundertsten Mal fasste er das aus dem Weltall heranrasende, glühende Spermium ins Auge. Es war jetzt fast so groß, wie eine Kaulquappe. Mit bloßem Auge konnte man seine Eigenbewegung nun schon wahrnehmen. Tim presste die Lippen zusammen. Er hasste das glühende Ding. Als wäre es ein lebendiges Wesen.

Es hieß Alexander-Jonathan. Und war ein Komet. Ein galaktischer Felsbrocken von dreiundzwanzigtausend Meter Durchmesser. Dreiundzwanzig Kilometer. Würde er jetzt auf Mitteleuropa liegen, würde Tims Jet fast seine Oberfläche streifen. Und Tims Maschine flog in der Stratosphäre! Mit einer Geschwindigkeit von annähernd hundertfünfzigtausend Kilometern pro Stunde raste Alexander-Jonathan der Erde entgegen.

Zwei schottische Hobbyastronomen hatte ihn vor ein paar Monaten entdeckt. Zwei Urlauber in der Karibik namens Marc Alexander und Archer Jonathan. Nach ihnen hatte man den Kometen benannt. Zweifelhafter Ruhm, dachte Tim bitter. Die Männer würden sich nicht mehr lange daran freuen können.

Der Teufel mochte wissen, wieso Alexander-Jonathan die Erdbahn kreuzte! Kein astronomisches Fachbuch, keine noch so alten astronomischen Aufzeichnungen beschrieben einen Himmelskörper, mit dem man das glühende Spermium identifizieren konnte. Keine babylonischen, keine chinesischen, keine ägyptischen. Und die Datenbanken der NASA schon gar nicht. Alexander-Jonathan war aus dem Nichts aufgetaucht.

Sie hatten ihn mit Langstreckenraketen beschossen. Raketen mit atomaren Sprengköpfen. Von Arizona, Kasachstan und der Mongolei aus. Tim und seine Staffel sollten die Wirkung beobachten. Messen und filmen. Die Raketen hatten den Kurs des Kometen geringfügig verändert. Weiter nichts.

„Eagle One an Staffel“, funkte Tim an die anderen beiden Maschinen. „Kurs null neun sieben. Geschwindigkeit auf Mach fünf drosseln. Sinkgeschwindigkeit vierzig Fuß pro Sekunde, Neigung, sechzig Grad. Unser Job ist erledigt. Wir fliegen zurück zur Basis.“

„Roger“, kam es zweimal aus dem Helmlautsprecher. Nightingales und Daniels’ Stimme.

„Kommt gar nicht in Frage, Captain!“, protestierte Blythe. „Sie beschleunigen und steigen! Ich bin noch lange nicht fertig mit meinen Messungen!“

Für einen Augenblick verschlug es Tim die Sprache. Der Mann hinter ihm schien den Verstand verloren zu haben.

„Verflucht, Blythe!“, schrie er. „In wenigen Minuten wird das Miststück in die Erdatmosphäre eintauchen! Exakt zweiunddreißig Meilen von unserer derzeitigen Position entfernt! Wissen Sie, was das bedeutet?“

„Dass ich ihn dann ganz genau beobachten kann!“ Blythe war außer sich. „So etwas sieht man nur einmal in siebzig Millionen Jahren! Einmal in siebzig Millionen Jahren – geht das in Ihr Soldatenhirn rein, Lennox?“

„Aber die Strahlung, Sir“, wandte nun eine Frauenstimme vorsichtig ein.

„Die thermische Strahlung kann uns nichts anhaben!“

„Aber die nukleare, Sir!“ Mary-Lou Custers Stimme. Die Astrophysikerin flog bei Nightingale mit. Sie war stellvertretende Leiterin der astronomischen Abteilung der US Air Force. Und Blythe war ihr Chef. „Nach meinen Messungen besteht Alexander-Jonathan zu 59,82 Prozent aus Uranerz …“

„Was ist das für eine Haltung, Dr. Custer?“, bellte Blythe. „Sind Sie Wissenschaftlerin oder nicht?! Einmal in siebzig Millionen Jahren …“

„Sie sind ein Arschloch, Blythe!“, mischte sich Mulroney ein. Der dritte im Wissenschaftlerteam dieses Einsatzes, ein Atomphysiker. „Unten starren acht Milliarden Menschen in den Himmel oder auf die Fernsehschirme. Die meisten zittern vor Angst. Und Sie haben weiter nichts im Sinn, als Ihre idiotischen Messungen!“

„Ich verbitte mir das!“, schrie Blythe.

„Schluss jetzt!“, blaffte Tim ins Mikro. „Ich bin der Einsatzleiter! Wir fliegen zurück nach Ramstein!“

„Irrtum, Captain!“ Blythes meckernde Stimme. „Sie mögen der militärische Einsatzleiter sein, aber ich bin der wissenschaftliche Leiter hier! Und dies ist keine militärische, sondern eine wissenschaftliche Mission! Also fliegen Sie jetzt Vektor eins acht vier und erhöhen Geschwindigkeit und Flughöhe!“

„Bitte, Sir …“ Wieder Dr. Custers Stimme. „Die Strahlung ist jetzt schon so stark, dass wir keine Funkverbindung mehr zur Luftwaffenbasis haben!“ Die Frau versuchte es auf die sachliche Tour. Nichts, womit man Blythe beeindrucken konnte.

„Das Risiko geh’ ich ein!“

„Aber ich nicht!“, unterbrach Tim barsch. „ Kurs null neun sieben. Mach fünf, vierzig Fuß pro Sekunde, sechzig Grad! Wir fliegen zurück. Punkt.“

„Ich werde Sie vor ein Militärgericht stellen!“, schrie Blythe.

„Tun Sie es – wenn Sie noch eins finden!“ Die Maschinen kippten nach rechts ab und flogen eine langgezogene Hundertachtzig-Grad-Schleife.

„Seht euch das an!“ In Tims Kopfhörern dröhnte der raue Bass von Hank Daniels. Tim sah nach oben. Das blasse Orange an der Spitze des Kometen hatte sich in glühendes Rot verwandelt. Alexander-Jonathan trat eben in die Erdatmosphäre ein!

Sekundenlange herrschte Stille in Tims Helm. Die rote Glutkuppel, die Alexander-Jonathan vor sich herschob, blähte sich zu einer gewaltigen Kugel auf. Dumpfes Rauschen schwoll zu brüllendem Tosen an. Ein strahlendes Orange flutete den Himmel und spannte sich von Horizont zu Horizont.

Tim rang nach Luft – sein Herz trommelte ihm von innen gegen Brustbein und Rippen, als würde es verzweifelt nach einem Ausgang suchen.

„O Gott …“, hörte er Mary-Lou Custer im Kopfhörer wimmern. „O Gott, o Gott …“

„Warum?“, schrie Lieutenant Clarence Nightingale. „Warum?! Warum …“

Und Hank Daniels fing an zu beten. „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …“ Die Stimmen wurden schwächer. Unerträgliches Knistern begann Tims Trommelfelle zu quälen.

Seine Hände am Steuerknüppel zitterten. Der Captain hat Angst, schoss es ihm durch den Kopf. Aber es war nicht nur die Angst: Der Steuerknüppel wackelte, die ganze Maschine vibrierte. Wie heller Glockenschlag dröhnte plötzlich der Rumpf.

„Dass ich das erleben darf!“ Blythes Stimme überschlug sich. „Dass ich das erleben darf …“

Wie eine abstürzende Sonne fauchte der Komet durch die Atmosphäre. Immer noch hoch über der Jet-Staffel bohrte er sich der Erde entgegen, ein unermesslicher roter Feuerball, dessen Kern weiß loderte.

Tim wandte geblendet das Gesicht ab. „Das ist nicht die Wirklichkeit“, schrie eine Stimme in seinem Kopf. „Das ist ein Film, ein LSD-Trip, ein Fiebertraum …“

Doch dann sah er, wie die orange glühende Wolkendecke unter ihm aufriss. Nach allen Himmelsrichtungen fegten die Wolken davon – wie von einer unsichtbaren Hand weggewischt. Und Mitteleuropa lag unter ihm – die Alpen, der Rhein, der Schwarzwald, die Schweizer Seen: Alles in gespenstisches Orange getaucht. Und als würde die Nacht über diesen Teil der Welt herfallen, breitete sich ein riesiger dunkler Schatten über das Antlitz der Erde aus.

„Weg hier!“, brüllte Tim.

„Ich möchte wissen, wo er aufschlägt!“ Blythes jubilierende Stimme. „Die Raketen haben ihn doch aus dem Kurs geworfen. Ich möchte wissen, wo das Wahnsinnsding …“

„Vektor null acht drei!“ Tim reagierte nur noch wie ein Automat. „Fliegt, so hoch ihr könnt!!“

Die Stimmen der anderen nur noch undeutliches Geraune in seinen Kopfhörern. „… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben …“

„Wenn wir in seinen Sog geraten, ist es aus!“ Vor sich sah Tim den kobaltblauen Rumpf eines Jets durch die in leuchtendes Orange getauchte Stratosphäre trudeln. Und schon wurde sein eigener Jet von gewaltigen Kräften aus dem Kurs geworfen.

Das Dröhnen der Maschine, das hysterische Geschrei Blythes, das Knistern in den Kopfhörern und das Brüllen des Kometen – Tims Trommelfelle drohten zu platzen. Er ließ den Steuerknüppel los und versuchte sich den Helm vom Kopf zu zerren.

Alexander-Jonathan durchschnitt die Flugebene der Staffel, jagte in flachem Winkel der Erdoberfläche entgegen. Wie ein feuriger Arm sah er aus. Seine schmelzende Faust schob eine riesige Blase komprimierter und rot glühender Luft vor sich her. An seinem Ende zerfaserter der Feuerarm in Millionen kleiner Sterne und zog schließlich in einer schwarze Wolke einen gewaltigen Schwarm von Gesteinsbrocken hinter sich her.

Der Feuerarm schien zu rotieren – Tim sah ihn von unten, von oben, sah den rotglühenden Himmel über sich, sah die sich verdunkelnde Erde über sich. Doch nicht der Komet rotierte: Tims Jet drehte sich um seine Längsachse.

Tims Finger glitten über die Armaturen, fassten Schalter, drückten Knöpfe, immer wieder entglitt ihm der Steuerknüppel. Er wollte schreien, aber kein Ton drang aus seiner Kehle.

Als würde er in einer Zentrifuge sitzen sah er Himmel, Erde und den Kometen um sich herumwirbeln. Dazwischen das aufblitzende Blau eines anderen Jets, die plötzlich in grün getauchte Sichel des Mittelmeeres, die rot flammenden Alpengipfel und violette Flussläufe …

Alexander-Jonathan jagte nach Osten, verschwand hinter dem östlichen Horizont, und für einen Moment huschte der orange Schatten von der Erdoberfläche. Sekundenlang erschienen Berge Flüsse, Ebenen fast in ihren ursprünglichen Farben. Nur der Himmel wollte sich nicht mehr aufhellen. Dann explodierte der Horizont …

Blythe kreischte wie ein Besessener, stakkatoartig und schrill. Tims Brustkorb schien zu platzen und ein Blitz seinen Schädel zu durchbohren. Der Jet hatte plötzlich zwei Spitzen, am südlichen Horizont leuchteten zwei grüne Sicheln, neben zwei stiefelartigen Landmassen. Sämtliche Kontrolllampen schienen sich verdoppelt zu haben. Selbst die eigenen Hände sah Tim doppelt.

Und vom östlichen Horizont her rasten zwei gewaltige, ringförmige Wände aus Feuer und Staub nach Westen, Süden und Norden.

Tim kniff die stechenden Augen zusammen, riss sie wieder auf – und erkannte keine Landschaftskonturen mehr unter sich, sah nur noch Staub und Glut.

Dunkelheit legte sich wie eine Bleischürze auf sein Hirn. Er sah noch die Konturen zweier gigantischer Pilze in den Himmel schießen. Er registrierte noch, dass Blythes Gekreische verstummte. Er nahm noch das rote Blinken auf seiner Instrumentenzentrale wahr. Dann saugte finsterste Nacht sein Bewusstsein ins Nichts!



2

„Marrela“, flüsterte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Marrela, komm zu mir.“

Hände legten sich auf ihre Schultern, ihren Rücken. „Barloor ruft dich. Geh zu ihm.“ Die tiefe, knurrende Stimme des Hauptmanns. Marrela konnte seine riesige Gestalt nicht sehen. Genauso wenig wie all die anderen. Aber sie roch die scharfe, säuerliche Ausdünstung seiner Haut. Sorban hockte in der ersten Reihe der Horde. Irgendwo seitlich vor ihr.

Der Druck der Hände auf ihren Schultern und ihrem Rücken nahm zu. Halb von den anderen geschoben löste sie sich aus dem eng zusammengekauerten Knäuel von Menschenleibern.

Die wohlige Wärme der anderen blieb hinter ihr zurück, Kälte griff nach ihr. Sie zog den Fellmantel um ihren Körper zusammen. Auf den Knien rutschte sie über Eis und Stein. Mit der Rechten tastete sie sich an der vereisten Wand entlang durch die Finsternis. Bis zum Eingang der niedrigen Höhle.

Dort atmete jemand. Keuchend und schnell. Barloor. Der Göttersprecher. Er war erregt. Wie immer, wenn er die Geister beschwor. Oder mit einem der Götter redete.

Marrela hörte sein steifes Lederzeug knarren. Durch ein kleines Loch fiel plötzlich ein feiner Lichtstrahl in die Höhle. Barloors haarloses Gesicht wurde sichtbar.

Es war so weiß wie der Schnee, mit dem der Hauptmann und er den schmalen Spalt vor der Höhle verschlossen hatten. Seine Augen funkelten rot. Tausendfach zerfurchte Haut spannte sich über spitze Kiefer- und Wangenknochen und über große Augenhöhlen. Lange, gelbliche Zähne ragten aus dem fast lippenlosen Mund.

„Ich will, dass du lauscht“, zischte er. Sein schmaler Schädel war mit braunem Leder bedeckt. Mit einem schmalen Gurt um die Stirn zusammengebunden lappte es fransenartig über seine knochigen Schultern.

Sein Oberkörper steckte ebenfalls in Leder. In einer Art Poncho. Auch an den Beinen Leder. Eng anliegende Stiefel, die weit über die Knie reichten und mit Lederriemen zusammengebunden waren. Leder – in Marrelas Volk kannte man Leder nicht. In dem Volk, zu dem Sorbans Horde gehörte, trugen alle Göttersprecher Leder.

„Lausche!“, befahl Barloor noch einmal. Dann legte er die gespreizten Finger an die Schneewand – auch seine Hände waren teilweise mit Leder umwickelt – und presste sein Gesicht wieder gegen das Guckloch.

Der Lichtstrahl erlosch. Vollkommene Dunkelheit kehrte zurück. Im hinteren Teil der Höhle wimmerte ein Kind. Zwei, drei andere stimmten ein. Mütter tuschelten. Einer der Krieger knurrte. Die Kinder verstummten.

Marrela beugte sich über ihre Schenkel, steckte den Kopf zwischen die Knie, und lauschte. Sie war die einzige in Sorbans Horde, die lauschen konnte. Wahrscheinlich war sie nur deswegen noch am Leben. Und weil sie gut mit Schwert und Bogen umgehen konnte.

Sorban brauchte jeden, der mit Schwert und Bogen umgehen konnte. Mann oder Frau. Oder Kind. Und er brauchte einen Lauscher. Soweit sie wusste, gab in keiner Horde der wandernden Völker Lauscher. In ihrem eigenen Volk konnten viele lauschen. Doch Marrelas Erinnerung daran war mehr als blass.

Sie schloss die Augen und presste die Hände auf die Ohren. Ihr Herz pochte langsam und ruhig. Sie wiegte ihren Oberkörper sanft hin und her. Aus der Höhle nahm sie das Raunen vieler anderer Herzen wahr. Sorbans Horde.

Sie spürte Angst, Zorn und Hunger. Dann ein fiebriges Gestammel. Ganz in ihrer Nähe. Barloor. Blitze zuckten über ihre Netzhäute. Marrela sah Bilder: Schwerter und Pfeile schlugen in pelzige Körper ein, Eisspalten taten sich auf, und die pelzigen Körper stürzten hinein. Die Bilder beschleunigten Marrelas Atem und ihren Herzschlag.

Es war Barloors Herz, das sie belauscht hatte. Er rief die Götter an, beschwor Orguudoo, den Dämonen der finsteren Tiefe, und verfluchte die Taratzen. Immer, wenn Marrela den Göttersprecher belauschte, griff diese Kälte nach ihr, diese bohrende Spannung.

Marrela riss ihren Geist von ihm los und lauschte zur Höhle hinaus. Und da war es! Ein Gefühl, als würden sich viele kleine Pfeile unter ihre Kopfhaut bohren. Hass, Gier nach Blut und Fleisch, Angriffslust und Zerstörungswut. Die Taratzen! Sie waren ganz nah! Marrela schüttelte sich vor Ekel. „Sie sind da“, flüsterte sie.