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CHARLOTTE FRITSCH: „Zwischen mir und mir“

1. Auflage, April 2013, Periplaneta Berlin, Edition Blickpunkt

© 2013 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag, Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat & Projektleitung: Michael Tietz
Coverbild: Marcus Rietzsch, www.mr-bilderwelten.de
Modell: VeritaS, www.model-kartei.de/sedcards/model/30932
Satz, Layout & Gestaltung: Thomas Manegold (www.manegold.de)

print ISBN: 978-3-943876-62-8
epub ISBN: 978-3-943876-22-2
E-Book-Version: 1.3


Dieses Jugenddrama ist von tatsächlichen Ereignissen inspiriert. Es enthält autobiografische Elemente. Sämtliche Personen sind frei erfunden bzw. aus verschiedenen Personen der zu Grunde liegenden Szenarien konstruiert. Deren Namen und Orte wurden im Interesse der beteiligten Personen an den zitierten und adaptierten Ereignissen geändert. Parallelen zu tatsächlichen Ereignissen und Personen sind daher rein zufällig.

Charlotte Fritsch

Zwischen mir und mir

 

Sommerferien in der Psychiatrie




Periplaneta

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Edition Blickpunkt

Kapitel 1:
Die Diagnose

„Ich war zehnmal in der Psychiatrie. Viermal in der Geschlossenen. Und das in neun Jahren. Eigentlich war ich meistens weg, als Christin klein war.“ Mama räusperte sich. „Jedes Mal andere Medikamente, jedes Mal andere Nebenwirkungen, dann Elektroschocks. Jahrelang hat nichts geholfen. Aber Christins neunter Geburtstag war der letzte, den sie mit mir in der Psychiatrie feiern musste. Seitdem habe ich die richtigen Medikamente und bin weitgehend stabil, nicht?“

Mama schaute mich an. Ich nickte, lächelte und schwieg.

„Und jetzt? Jetzt macht Christin die gleichen Stimmungsschwankungen durch wie ich.“ Meine Mutter schob ihre Brille zurecht. „Erst wollte ich das nicht wahrhaben. Habe immer gehofft, dass ich ihr die Krankheit nicht vererbt habe. Aber die Gene sind einfach zu stark. Ich bin manisch-depressiv, mein Vater ist es, sein Vater war es und es gibt noch mindestens drei andere Fälle in unserer Familie.“

Die Psychotante, sie hieß Frau Kant, nickte. „Diese familiäre Vorbelastung ist tatsächlich nicht zu unterschätzen. Auch die Symptomatik nicht, die Sie geschildert haben. Es spricht leider wirklich alles dafür, dass Christin manisch-depressiv ist.“

Ich wischte mir durchs Gesicht. Was geschah hier? Diese Tante kannte mich gerade mal eine halbe Stunde und konnte sich schon ein Urteil über mich bilden? Und dann fing sie an, von Medikamenten zu sprechen und Mama hörte nicht auf, ihre beschissene Krankengeschichte zu erzählen. Dass sie schon mit zwölf Jahren depressive und manische Phasen hatte. Dass die Krankheit aber erst mit siebenundzwanzig festgestellt wurde, kurz vor meiner Geburt. Dass ihr viel erspart geblieben wäre, hätte man die Krankheit so früh entdeckt wie bei mir. Dass sie zeitweise mit ihrer Rolle als Mutter überfordert war, unfähig, sich richtig um ihre Kinder zu kümmern – wegen der Krankheit. Dass sie mit dreiunddreißig für drei Monate in die Geschlossene kam – wegen der Krankheit. Dass sie danach aus ihrem geliebten Beruf als Krankenschwester rausgemobbt wurde – wegen der Krankheit. Dass sie gezwungen war, eine Abfindung zu unterschreiben, mit Anfang dreißig in Frührente zu gehen – wegen der Krankheit. Dass ihre Freunde nichts mehr von ihr wissen wollten – wegen der Krankheit. Dass andere Kinder nicht mit ihren Kindern spielen durften – wegen der Krankheit. Dass sie –

Die Psychotante wollte mit mir allein sprechen. Mama verließ nur sehr widerwillig den Raum, fragte mich mehrfach, ob das für mich auch in Ordnung sei.

Frau Kant lächelte müde. „Wie geht es dir, wenn du von den Sachen hörst, die deine Mutter erlebt hat?“

„Scheiße.“ Ich starrte an die Uhr über der Topfpalme. „Ich will nicht, dass mein Leben genau so wird wie ihres. Aber es wird doch eh alles so kommen.“

„Ich verstehe, dass ihre Krankengeschichte dir Angst macht. Aber wenn du jetzt schon die richtigen Medikamente bekommst und die richtige Therapie, dann muss dein Leben nicht so werden.“

„Was denn bitte für Medikamente?“

„Das kann ich ambulant leider nicht entscheiden.“

„Was heißt das?“

„Dass du um eine stationäre Behandlung nicht herumkommen wirst. Die Stimmungsschwankungen, die du beschreibst, sind sehr stark. Und wir müssen da dringend eingreifen, bevor alles noch viel schlimmer wird. Ich werde nachher gleich auf einer Station anrufen und versuchen, so schnell wie möglich einen Platz für dich zu bekommen.“

„Das geht nicht. Ich habe Sommerferien. Ich fahre nächste Woche mit meinen Freunden in den Urlaub. Die Zugkarten sind schon gekauft.“

„Das ist ja eine schöne Idee, aber deine Gesundheit geht vor. Du bist zurzeit sehr durcheinander, Christin, und das wird immer schlimmer werden, wenn wir nicht schnellstens etwas dagegen unternehmen. Dich in deinem Zustand allein mit deinen Freunden wegfahren zu lassen … Nein. Das ist viel zu gefährlich.“

Gefährlich. Was? Ich?

„Es ist nun mal eine psychische Krankheit. Eine schwere psychische Krankheit. Und du brauchst Hilfe. Dringend Hilfe.“ Und dann sagte sie noch: „So schlimm ist das in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch gar nicht. Ist ein bisschen wie Ferienlager.“

Dreißig Minuten und mein ganzes Leben zerstört. Psychiatrie!

Ich lief aus dem Zimmer, wollte nur weg. Draußen stand meine Mutter. Als sie mich sah, rief sie mir etwas zu, ich hörte nicht hin, sondern rannte los. Die Haare vorm Gesicht, Kapuze auf, Blick nach unten. Ich bin gefährlich – haut alle ab!

Zuhause verkroch ich mich in meinem Zimmer. Das hier war ein schlechter Film. Ich war unfreiwillig in die Hauptrolle gerutscht – in die der sechzehnjährigen Manisch-Depressiven.

„ICH GEH DA NICHT HIN!

DAS KÖNNEN DIE VERGESSEN!“

Ich lachte hysterisch, heulte, schlug gegen die Wand.

„DAS MACH ICH NICHT! Nein!“

Ich ließ mich auf meinen Computerstuhl fallen. Biss mir in die Hand, um mich zu beruhigen.

urlaub wird wohl nix. ich muss in die klapper. 8 wochen…

Ich tippte wütend auf die Tasten.

Meine Mutter kam zu mir. Setzte sich auf den Fußboden. Ihr blauer Kajal war verlaufen. Sie wischte an ihren Augen herum.

Meine Mutter sagte etwas zu mir. Es rauschte an mir vorbei. Unreal. Genau wie diese ganze Situation. Das hier war ein Spiel, eine Verschwörung gegen mich. Ich war ,Game Over’, musste direkt ins Gefängnis. Psychiatrie, Knast – zwei Namen für die gleiche Scheiße.

Das Telefon klingelte. Ich steckte es unter die Bettdecke.

Es hörte nicht auf, also nahm ich es doch.

Ein lauter Schluchzer, zu mehr war ich nicht im Stande.

„Chris? Hallo – bist du dran?“ Sina, meine beste Freundin.

Ich lachte geistesgestört, wie ich ja war.

„Hey Chris? Chris? Was ist denn los?“

Ich presste das Telefon fester an mein Ohr. Musste etwas sagen. Konnte nicht.

„Ich wollte eigentlich wissen, wie das Gespräch mit dieser Psychiaterin war …“ Schweigen.

„Chris? Was ist denn nur? Sag es doch einfach – so schlimm kann es ja nicht sein.“

„Ist es aber …“

„Ja? Was denn, Chris?“ Besorgt klang sie.

Ein letzter Lacher, dann: „Ich muss in die Psychiatrie … Ich raff das alles nicht.“

„Ach scheiße … Warte, ich komm zu dir. Ich zieh mich nur schnell an. Warte!“

„Nein – nein, nein!“ Sie hatte schon aufgelegt. Scheiße! Sie durfte mich nicht so sehen! Nicht so, verdammt. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Es war zwecklos. Immer wieder kamen neue. Ich steckte mir eine Zigarette in den trockenen Mund. Feuerzeug dran. Meine Hand zitterte. Asche fiel auf den Boden.

Es klingelte. Ich zuckte zusammen. Schritte eilten zur Tür.

Zwei Stimmen. Meine Mutter begrüßte Sina. Dann stand sie in meiner Tür. Sina. Sie lächelte unsicher. Ich drehte mich weg, warf meine Kippe aus dem Fenster.

Sina nahm mich in den Arm. „Mensch Chris.“

Ich wandte mich von ihr ab. Lief im Zimmer hin und her.

Hin und her.

Sina lies sich auf das Sofa fallen. Schaute mir irritiert zu.

„Du bist ziemlich durcheinander, was?“

Ich lief weiter durch den Raum. Sina stellte sich vor mich.

„Du setzt dich jetzt aufs Bett und beruhigst dich erstmal.“

Ich gehorchte, schnappte meine gelbe Decke, zog sie mir bis zur Nase. Atmete ein paar Mal tief durch, starrte auf das Spiel Therapy auf meinem Bücherschrank und begann zu reden.

Sina hörte sich alles in Ruhe an, mal runzelte sie die Stirn, mal lachte sie ungläubig. Ihre grünen Kulleraugen schauten mich nicht an. Ihre dunkelblonden Haare waren noch nass – sie hatte sich nicht mal Zeit zum Föhnen genommen.

„Mensch, Chris, wenn das so ist, dann ist es eben so. Geh dahin und dann helfen sie dir. Und wenn du Tabletten bekommst … was soll’s? Hauptsache dir geht’s wieder gut.“

„Nein. Ich komme auch so klar. Außerdem will ich in den Urlaub.“

„Ja, das ist wirklich scheiße mit dem Urlaub. Aber du kannst doch noch dein ganzes Leben Urlaub machen. Danach. Wenn das alles so krass ist und das sogar eine Psychiaterin sagt, dann ist es wahrscheinlich das Beste, wenn du da hingehst.“

Ich biss mir auf die Lippe.

„Und nach ein paar Wochen bist du doch wieder draußen. Und dann geht es dir besser.“ Sie lächelte. „Außerdem ist das doch eine interessante Erfahrung. Wer kann schon sagen, dass er seinen Sommer in der Psychiatrie verbracht hat?“

„Ich bin ja ein richtiger Glückspilz.“ Ich kaute genervt auf meinem inzwischen geschmacklosen Kaugummi herum. „Ach scheiße, was soll‘s. Ich werd schon hingehen.“

Eine Woche blieb mir zwischen Gespräch und Einweisung. Ich ging nicht mehr zur Schule. Verbrachte viel Zeit vor meinem PC, um einen Film für die bevorstehende Hochzeit meiner Schwester zusammenzuschneiden. Die Szenen hatte ich schon gedreht. Nichts Spektakuläres, Witze, erzählt von Familienmitgliedern. Aber dieses Projekt war mein Projekt. Ja, der Urlaub fiel flach, aber diesen Film würde ich fertigstellen, dieser Film war das Einzige, was mich noch reizte. Mein Plan für die Sommerferien. Trotz der Klapse. Deshalb versuchte ich so viel wie möglich zu schaffen, solange es noch ging. Ich saß vorm Computer, fluchte laut, wenn etwas nicht gleich funktionierte, und wenn etwas funktionierte, gratulierte ich mir ebenso laut selbst. Die Arbeit lenkte mich ab. Wenn ich den Computer ausschaltete, war die ganze Scheiße aber wieder da. Diese Angst und diese Ausweglosigkeit.

Dann der letzte Abend vor meiner Einweisung. Ich schaltete den Computer aus. Meine Schwester kam vorbei. Wir lächelten uns unsicher an. Standen uns in meinem Zimmer gegenüber. Warfen uns einen kleinen Ball zu. Hin und her. Hin und her. Wir redeten nicht. Nur ab und an hörte man ein Kichern, wenn der Ball knapp am Kopf vorbeiflog. Beinahe hinaus durch das offene Fenster. Hinaus, in eine Welt, die nicht die meine ist.

Ich hatte noch nicht gepackt. Wozu auch? Ich warf meine Klamotten ungeordnet auf mein Bett. Meine Schwester legte sie zusammen, packte sie sorgfältig in eine Reisetasche. Ich ging ins Bad und duschte. Als ich rauskam, war meine Schwester immer noch da, sie las etwas, und als sie mich bemerkte, legte sie das Blatt schnell weg. Meine Mutter hatte ihr eins meiner Gedichte in die Hand gedrückt, eins von den Gedichten, die sie letzte Woche auf meiner Homepage gefunden hatte. Einige düstere, verwirrende Texte hatte sie ausgedruckt, um sie den Leuten in der Psychiatrie zu geben. Ich wollte das nicht, doch sagte nichts.

Meine Schwester ging dann. Ich legte mich ins Bett. Aus dem Wohnzimmer drängten sich mir laute nervöse Fernsehgeräusche auf – Schüsse, Schreie, Hysterie. Auf dem Platz vor unserem Haus grölten Besoffene herum. Auf dem Bildschirm meines Fernsehers sang Fergie „Big girls don‘t cry“, während ich nicht aufhören konnte zu heulen.

Meine Mutter legte sich in mein Bett, nahm mich in den Arm. Mein Körper versteifte sich, ich konnte diese Nähe nicht ertragen. Meine Mutter redete mit mir. Keine Ahnung, worüber. Ich starrte an die Decke. Tränen liefen mir übers Gesicht.

Nachdem sie mich verließ, legte ich mich auf die Seite, versuchte einzuschlafen. Katzenhaare stachen mir in den Arm. Ich drehte mich. Hin und her. Hin und her. Das Bett quietschte. Meine Haare waren fettig, mein Gesicht starr.

Stimmen flüsterten mir etwas zu. Ganz leise, zischend. Versagerin, flüsterten sie. Versagerin.

Ich wollte aufstehen, konnte es aber nicht.

Ich war allein, vollkommen allein.

Bring dich um, flüsterten die Stimmen.

Mein Kopf bewegte sich. Hin und her. Hin und her.

Ich krallte mich am Laken fest.

Bring dich um. Los, mach schon!

Ich drückte meine Ohren zu. Die Stimmen wurden nicht leiser.

Meine Katze sprang aufs Bett, weckte mich.

Meine letzte Nacht in Freiheit verbrachte ich schlaflos.

Kapitel 2:
Das Ferienlager

„Wir müssen bald los“, sagt Mama betrübt.

Zahnpasta spritzt an den Spiegel. Meine dunkelbraunen Augen sind vom Heulen gerötet und geschwollen, meine Pupillen unnatürlich groß. Meine Lippen sind weiß und aufgesprungen. Ich könnte problemlos als Zombie in der Geisterbahn arbeiten.

Ich liege auf dem Sofa, rühre mit dem Löffel in meiner Cornflakes-Schüssel. Meine Mutter und Matthias, ihr Mann, sitzen am Tisch und rauchen. Meine Katze springt auf meinen Bauch. Ich streichele über ihr weißes Fell, habe eine dicke Schicht von Katzenhaaren an meinen schwitzigen Händen kleben.

Die Deckenlampe flackert. Meine Mutter gibt das Startsignal. Jacke an. Taschen schnappen. Ein letztes Mal über das weiche Fell meiner Katze streicheln. Tür zu. Schuhe an. Treppe runter.

Wir fahren eine Dreiviertelstunde. Dann sind wir da. Das Auto hält. Keiner rührt sich. „Wir können nicht ewig hier sitzen bleiben“, sage ich, steige aus und gehe auf das riesige, dreckbraune Klinikgebäude zu. Die Fenster sind vergittert. Überall parkende Autos – vom Trabbi bis zum Mercedes ist alles zu sehen. Bauzäune und Gerüste sind aufgestellt.

Wo bin ich hier nur?

Wir schlängeln uns durch eine verlassene Baustelle, überqueren eine Straße. Biegen links ab und gehen eine alte Steintreppe hoch. In ein Haus rein.

Ich zittere. Meine Mutter schaut mich an. Sie atmet schwer, als sie auf den Klingelknopf drückt.

Eine schlanke junge Frau im weißen Kittel schließt die Tür auf. Wir treten ein. Die Frau schließt hinter uns wieder ab. Wir sollen warten.

Mama und ich sitzen lange schweigend und unbeachtet im Flur, bis zwei Frauen auf uns zukommen. Die eine ist klein und schwanger; die andere hat einen blonden Bob und eine weinrote Brille. Auch sie haben weiße Kittel an. Sie führen meine Mutter und mich in einen winzigen Raum, in dem alles außer der Wand grau ist, selbst die Kulis auf dem Tisch. Wir setzen uns. Ich verschränke meine Arme, wackele mit den Füßen. Die Frauen stellen sich vor. Beide sind Psychologinnen. Sie würden hier alles im Team machen, deshalb seien sie gemeinsam hier.

Die Blonde fängt an, mir Fragen zu stellen, macht sich Notizen, während die andere beobachtet.

Ich erzähle ihnen, warum ich da bin. Dass ich mit vierzehn meine erste depressive Phase hatte, vier Wochen damals. Es begann, während ich mit Freunden im Urlaub war. Völlig grundlos. Ich konnte nicht mehr lachen, selbst das Sprechen fiel mir schwer, weil mein Hals so zugeschnürt war, dass ich kaum atmen konnte. Diese Phasen kamen in den letzten zwei Jahren immer wieder, wurden länger, extremer. Immer wieder dachte ich daran, mich umzubringen; ich saß im Unterricht und formulierte im Kopf Abschiedsbriefe. Ich hatte in diesen Phasen keinen Spaß mehr an dem, was ich machte, verlor das Interesse an anderen. Die Wochenenden waren am Schlimmsten, oft verbrachte ich die Zeit damit, im Bett zu liegen und an die Decke zu starren. Ich merkte, dass da was mit mir nicht stimmte.

Ich wusste, seit ich zwölf bin, dass ich genetisch vorbelastet bin, weil meine Mutter manisch-depressiv ist. Die Angst es auch zu sein, wurde mit der Zeit immer größer. Und dann war sie da, die Krankheit. In den letzten sechs Monaten wechselte meine Stimmung so schnell und krass, dass ich und andere nicht mehr hinterher kamen. Im einen Moment lief ich lachend und singend durch die Stadt, im nächsten saß ich weinend im Bett, biss mir in den Arm, kotzte, hasste mich, hasste mein Leben. Kurz vor meinem Gespräch bei der Psychotante waren wir auf Klassenfahrt an der Ostsee. Während die anderen zusammen Karten spielten, kletterte ich allein im Zimmer von Bett zu Bett, tanzte, schrie Lieder, verwüstete alles, dann rannte ich an den Strand. Es regnete, ich zog meine Sachen aus und lief los, auch noch, als es dunkel wurde und wir schon längst im Zimmer sein mussten. Ich redete mit mir selbst, breitete die Arme aus, war mir sicher, dass ich fliegen konnte. Als ich völlig durchnässt in unser Zimmer zurückkam und gleich wieder an den Betten herumkletterte, fragten mich die anderen, ob ich Drogen genommen habe und ich lachte nur. Meiner Mutter schrieb ich eine SMS, dass ich manisch sei und sie machte den Termin bei der Psychotante. Tja, so war das.

Jetzt bin ich hier.

Als die Fragestunde beendet ist, sagen die Psychologinnen, dass sie mich schon wieder ,hinkriegen‘ würden, dann verabschieden sie sich und lassen meine Mutter und mich allein in dem Raum sitzen.

Die Tür bleibt offen.

Nach kurzer Zeit kommt die Schwester rein, die vorhin die Tür aufgeschlossen hat. Sie hat dunkelbraune Locken, die sie kompliziert hochgesteckt trägt. Sie sieht aus, als sei sie direkt einer Haarwäschewerbung entsprungen. Schwester Monika, das Haarmodel. Ich lächele. Sie füllt einen weiteren Fragebogen mit allgemeinen Angaben über mich aus. Sie will wissen, ob ich Piercings oder Tattoos habe oder von irgendwas abhängig sei. Ich verneine alles; sage, dass ich zwar rauche, aber mir das abgewöhnen will. Zum Schluss erwähne ich noch, dass ich kein Fisch esse.

Dann erklärt sie die Hausordnung: Besuchszeit ist täglich von 17-18 Uhr. Mittwochs und am Wochenende länger – bei guter Führung. Nach dem Abendbrot eine Stunde Handy- und Telefonzeit. Die restliche Zeit wird das Handy weggeschlossen. Telefoniert werden darf nur im Flur, nicht auf den Zimmern. Essen und Trinken sind auf dem Zimmer verboten. Auch keine Süßigkeiten. Keine Rasierer, Scheren oder sonstige spitze Gegenstände. Kein Laptop, kein Internet. Nachtruhe einundzwanzig Uhr. Kein aggressives Verhalten gegenüber Mitpatienten, kein intimes Beisammensein, kein Alkohol, keine Zigaretten und keine Drogen. Ich bekomme einen Punkteplan. Jeden Tag kann man sechzehn Punkte erreichen – für Dinge wie das ,Einhalten der Nachtruhe’, ,Hygiene’ und ,angemessenes Verhalten’. Wenn man nicht genug Punkte erreicht oder gegen die Regeln verstößt, wird der Ausgang gestrichen. Andere Sanktionen sind: Handy- und Telefonverbot, Fernsehraumverbot, Zimmerarrest. Wenn jemand eine Krise hat, so kann er sich im Chill-Out-Raum (der Gummizelle!) beruhigen. Wer lange genug mitspielt, bekommt irgendwann einen Einzel- oder Gruppenausgang ohne Begleitung genehmigt.

Ich unterschreibe den Zettel. Bleibt mir ja nichts anderes übrig. Das war das Check-in. Komisch, ich habe noch gar kein Glas Champagner in die Hand gedrückt bekommen, zur Begrüßung …

Ich soll zum Mittagessen. Ich verabschiede mich wortkarg von Mama und gehe, ohne mich noch einmal umzudrehen, in den Speiseraum. Ab jetzt bin ich allein zwischen lauter Gestörten, die ich nicht kenne. Ich laufe mit gesenktem Kopf an meinen Mitpatienten vorbei, die auf drei Vierertische verteilt sind. Elf Kinder und Jugendliche sitzen hier gerade mal. Wie familiär.

Menschengroße Fenster eröffnen den Blick auf eine schlammige Baustelle. In der hinteren linken Ecke des Raums steht ein eichenfarbenes Schränkchen. Radio Top 40 läuft. Dem Schränkchen gegenüber das gleiche Sofa, das auch im Flur steht. Neben dem Sofa klafft in der giftgrünen Wand ein kleines, quadratisches Loch: die Essensausgabe.

Ich stelle mich unsicher davor. Keiner beachtet mich. Ich räuspere mich und frage, ob ich was zu essen bekomme. Die Essensfrau meint, dass mein Hühnerfrikassee erst noch aufgewärmt werden müsse. Es dauert ewig, bis ein Teller in der Luke steht. Ich nehme ihn und setze mich auf den einzigen freien Platz.

Ein Mädchen mit extrem leiser Stimme fragt mich was. Sie muss es dreimal wiederholen, bis ich es verstanden habe. Sie fragt, warum ich hier sei.

Ich sage: „Manisch-depressiv.“

„Ist wohl dein erster Aufenthalt, hm? Ich heiße übrigens Carola.“

Ich nicke und stochere in meinem Essen rum.

Scheiße, ich habe Fischpfanne statt Hühnerfrikassee erwischt. Ich hasse Fisch, habe ich der Schwester doch extra gesagt.

Mir wird kotzübel. Ich kann das nicht essen!

Die Essensfrau stellt meinen eigentlichen Teller ins Fenster und ruft „Christin, dein Essen!“ Dann sieht sie, dass ich schon einen Teller habe, und nölt: „Das ist aber nicht dein Essen, Christin! Was soll das denn? Denkst du etwa, du kannst hier machen, was du willst? Ich habe dir doch gesagt, dein Essen dauert noch eine Weile. Also wenn du so weiter machst … Nee, echt – so jemand haben wir noch gebraucht, ganz toll.“

Was will diese Schlampe eigentlich von mir? Gibt hier nur das Essen aus und darf die Patienten dumm anmachen, oder was?! Ich esse weiter. Ich würge und bekomme Tränen in den Augen; doch ich esse. Um mich vom Fischessen abzulenken, frage ich Carola, warum sie hier ist. Sie sagt, sie sähe Dinge, die nicht da wären. Dann steht sie auf und geht.

Der Speisesaal leert sich. Ich quäle mir die letzten Bissen rein. Die Essensfrau schimpft, ich solle mich gefälligst beeilen. Ich gebe den Teller ab und gehe aufs Klo.

Dort würge ich, doch es kommt nichts. Ich stecke mir den Finger in den Hals, doch das klappt auch nicht. Ich heule, wenigstens das klappt.

Nachdem ich mich etwas beruhigt habe, verlasse ich das Klo. Hustend, mit verheulten Augen und rotem Gesicht. Die Essensfrau steht schon – die Hände in den Hüften – im Flur und wartet auf mich. Es stellt sich heraus, dass die Essensfrau eine Schwester ist. Schwester Kerstin heißt sie.

Sie holt mit mir meine Taschen und bringt mich in ein Zimmer.

Ein großes Dreierzimmer. Das Schuhregal gleich neben der Tür ist mit dutzenden unordentlich eingeräumten Stiefeln, Sandalen, High Heels, Turnschuhen und Flip-Flops vollgestopft. Na toll, Tussis.

Gegenüber der Tür sind zwei große Fenster, beide angekippt. Man sieht die alte Steintreppe, die mich hier reingeführt hat und die ich in den nächsten Wochen wohl nicht betreten darf.

Vorm Fenster steht ein quadratischer Tisch aus hellem Holz, der mit mindestens zwanzig verschiedenen Nagellackfläschchen zugemüllt ist. Zwei weitere Tische stehen an den Wänden – der einzige leergeräumte ist winzig. An der rechten Wand zwei Betten, an der linken eins. Ein Kleiderschrank für drei Leute; ein weiteres Regal ist vollgestopft mit Schminkutensilien, Socken und vollgerotzten Taschentüchern. Ordnungspunkte kriegen die hier sicher nicht. Rechts neben dem Regal ist eine kleine Waschnische mit verschmierter Stahlplatte als Spiegel. Über den Betten hängen Pinnwände, die mit Postern irgendwelcher Teenageridole zugekleistert sind.

Auf den beiden hinteren Betten haben es sich zwei Mädchen bequem gemacht. Sie sind gerade heftig am Feiern, als die Schwester und ich den Raum betreten. Sehen nach Dorftussis aus.

„Musik leiser, aber zackig!“, ruft Schwester Kerstin.

Das Mädchen, das sich auf ihr Bett stellt, um das Radio auf dem Holzbrett an der Wand leiser zu drehen, hat lange braune Haare und trägt einen Blümchenminirock mit einem bauchfreien blauen Armee-Top. Was für eine Kombination …

Als das Radio leiser ist, lässt sich die Sachen-Kombi-Dorftussi zurück auf ihr Bett plumpsen. Sie und die andere tauschen Blicke aus, die ich nicht deuten kann, setzen sich auf und schauen dabei zu, wie meine Reisetasche ausgeräumt wird. Scheint ja nicht so viele Attraktionen hier zu geben.

Die Schwester breitet den Inhalt meiner Tasche auf dem Bett aus. Sie krempelt jede Hosentasche um, um zu schauen, ob darin etwas versteckt ist, zieht jeden noch so kleinen Reißverschluss auf. Sie schaut sogar in die ungeöffnete Tamponschachtel. Man kann es auch übertreiben, oder? Bin ich im Knast?

Als sie mit der Aussage „Gut“ ihren Suchvorgang abschließt, fordert sie mich dazu auf, Handy, Portemonnaie, Schlüssel und Feuerzeug abzugeben. Sie ist sehr klein, geht mir gerade bis zu den Schultern, dennoch habe ich Respekt vor ihr. Ich glaube, mit der sollte man sich besser nicht anlegen.

Mit den eingesackten Sachen im Arm und zufriedenem Gesichtsausdruck verlässt die Schwester den Raum.

Und dann geht es los. Die zwei Dorftussis, die die ganze Zeit über gekichert, aber nichts gesagt haben, überhäufen mich sofort mit tausend Fragen: „Wie heißt du?“, „Wie alt bist du? „Warum bist du hier?“, „Was hörst du für Musik?“, „Rauchst du?“, „Machst du heute Abend mit uns durch?“, „Stehst du auch so auf Titanic?“

Die Fragerei nervt mich. Ich unterhalte mich nicht gern mit Fremden. Ich packe meine Sachen aus und lege mich aufs Bett.