Erstes Kapitel.

Hansei schaute in der niedern Stube zum Fenster hinaus, hielt seine Pfeife mit beiden Händen und schmauchte in den Morgen hinein; nicht weit von ihm spaltete ein Taglöhner eine Fuhre Holz. Hansei schaute ruhig zu, nickte, wenn der Holzspalter gut traf, und lächelte als echter Kenner über den ungeschickten Menschen, wenn er ein Stück mit einem widerspenstigen Ast um und um wenden und vergebens einhacken mußte. Die Großmutter begann das kleingehackte Holz nach der Giebelseite unter das Vordach zu tragen und dort aufzuschichten. Jedesmal, wenn sie ab- und zuging, schaute sie nach Hansei, der aber rührte sich nicht: endlich sagte sie, mit einem Armvoll Holz vor ihm stehen bleibend:

»He! Jo!«

»Freilich!« erwiderte er und paffte weiter. Die Großmutter hatte mit dem kurzen Anrufen sagen wollen: was ist denn das? bist du nur zum Zusehen da? kannst du nicht wenigstens das gespaltene Holz aufschichten?

Der Angeredete hatte verstanden, was in dem Anrufe »He jo« lag, und hatte ganz richtig darauf geantwortet: »Freilich thu' ich nichts, das ist just so mein Wille.«

Die Großmutter war eben dran, einen Armvoll Holz vor seinem Angesicht niederzuwerfen; aber sie besann sich – der Taglöhner draußen braucht das nicht zu sehen. Sie trug das Holz an seine Stelle, dann kam sie in die Stube und sagte:

»Hansei, guck ein, ich will dir was sagen.«

»Ich hör' schon,« erwiderte dieser zum Fenster hinaus.

»Ich weiß nicht, was du vorhast? was bildest dir denn ein?«

Hansei hielt es nicht für nötig, eine Antwort zu geben! er rauchte bequemlich weiter, und die Großmutter fuhr fort:

»Es ist schon Schand genug, daß du dir das Holz vor das Haus führen lassest, und nicht selbst in den Wald gehst und aufladest; bist doch selber Holzhauer. Und jetzt läßt du gar noch einen Holzspälter da herkommen! Das ist nicht geschehen, so lang das Haus dasteht, daß einem fremden Mann die Axt in der Hand warm geworden ist. Schämst du dich denn nicht?«

»Hab's nicht nötig,« erwiderte Hansei, sich ein wenig nach der Stube umwendend.

»Gut, wirst schon wissen, was du nötig hast!« rief die Alte zornig. »Aber ich will nicht zanken, bleib nur so; laß dich verkommen und alles, du wirst allein ausessen müssen, was du einbrockst. O, wenn das meine Walpurga wüßte! die ist in der Fremde für uns, und derweil bist du ...«

»Jetzt hab' ich's genug,« wendete sich Hansei nach der Stube und schloß das Fenster. »Schwiegermutter, ich lege Euch nichts in den Weg, ich lasse Euch wirtschaften, wie Ihr wollt, und so lass' ich mir auch nichts dreinreden.«

»Ich will dir auch nichts dreinreden, du bist Vater und Ehemann.«

»Schöner Ehemann das, dem die Frau auf ein Jahr davongeht.«

»Es kommt ihr vielleicht schwerer an als dir.«

»Kann sein. Aber sie hat Lustbarkeit und Unterhaltung, und was hab' ich? Ich lauf' in der Welt herum wie verloren, und drum sag' ich's gerad', ich schäm' mich nicht – das beste ist, daß es noch Wirtshäuser gibt; da hat man doch noch eine Heimat, wenn man daheim keine mehr hat, und ich hab's einmal nicht mehr nötig, daß ich Holz führe und spalte, ich will auch etwas davon haben, daß meine Frau –«

Hansei konnte nicht weiter reden, die Thür ging auf und Zenza trat herein.

»Was thust du da? Wer hat dich gerufen?« fuhr die Großmutter die Eintretende an. Diese aber erwiderte:

»Schönen guten Morgen. Ich komme nicht zu dir, ich hab' da mit dem Mann zu reden: bist du hier Meister oder der Mann vom Haus?«

»Red nur, was gibt's?« sagte Hansei und winkte seiner Schwiegermutter.

»Ich soll dir einen schönen Gruß ausrichten, und deine Flinte ist oben beim Schmied, sie ist gut im Stand, du sollst sie holen.«

»Also ein Jägdler willst du jetzt auch werden?« fragte die Großmutter, »du willst auf die Jagd gehen?«

»Wenn Ihr mich nicht traget, muß ich wohl gehen,« erwiderte Hansei und lachte laut über seinen Witz.

Die Großmutter ging hinaus und schlug die Thür zu, daß es schallte. Zenza sprang schnell wie eine Katze auf Hansei zu und sagte:

»In der Dämmerung ist sie oben und wartet auf dich.« Laut rief sie dann: »Behüt' dich Gott, Hansei!« und verließ das Haus.

Die Großmutter ging hinaus zu dem Holzhacker und sagte, er solle ja nicht glauben, daß man so verdorbene Menschen wie die Zenza ins Haus ließe, aber sie sei aufdringlich und komme, so oft man sie auch fortwiese, immer wieder, weil sie sich dankbar erzeigen wolle, daß die Walpurga den Thomas bei dem König freigebeten habe; es sei freilich ein dummer Streich gewesen, der rote Thomas sei am besten hinter Schloß und Riegel, aber die Walpurga habe es eben doch gut gemeint.

Der Holzhacker war zufrieden. Er wußte, daß das ein Ehrenhaus war, und ganz zufällig sagte er:

»Wundert mich, daß die Zenza ihre schwarze Esther nicht bei sich hat; sie gehen sonst gern miteinander, so lang es Tag ist.«

In den alten Augen der Großmutter flimmerte es, als sie dies hörte; sie bückte sich aber schnell, lud Holz auf und trug es ans Haus. Als sie nach der Giebelseite kam, war Hansei da, schichtete das Holz auf und pfiff lustig dabei. Die Großmutter trug immer mehr Holz zu und Hansei schichtete es auf und beide sprachen kein Wort miteinander. So kam der Mittag heran, Hansei lohnte den Holzhacker ab und sagte:

»Das andre mach' ich selber klein, brauchst morgen nicht wieder zu kommen.«

Er ist ein braver Mensch, dachte die Großmutter in sich hinein; er kann mit Worten nicht nachgeben, aber nachher thut er doch, was man ihm sagt, er findet das Rechte bald wieder.

Nach dem Essen brachte sie ihm das Kind und sagte:

»Da schau einmal, greif nur, es will schon ein Zahn durch, das ist früh; aber so ist's bei deiner Frau auch gewesen. Schau, wie es seine Händchen schon in den Mund steckt.

Gottlob, daß unser Kind so gedeiht! Seitdem du Heu fütterst und es von der neuen Kuh trinkt, wird das Kind zusehends voller. Wenn unsre Walpurga das Kind nur auch eine Stunde sehen könnte! Nimm das Kind, ich will dir's gut auf den Arm geben. Schau, es lacht dich an, es kennt dich! Ach, lieber Gott, seine Mutter kennt es noch nicht.«

»Ich kann das Kind nicht auf den Arm nehmen, ich fürcht', ich thu' ihm was,« erwiderte Hansei.

»Wenn du dich verderben lässest, dann thust du dem Kind was –« wollte die Großmutter sagen, aber sie hielt es zurück. Man muß, wenn ein Mensch wieder auf dem rechten Weg ist, nicht in ihn hineinpredigen, man muß ihn ruhig allein gehen lassen, sonst verliert er die Lust an der Umkehr – so dachte die Großmutter – sie hatte den Mund schon geöffnet, aber sie schluckte die Worte wieder hinunter.

Hansei blickte unstet um sich und sagte:

»Schwiegermutter, Ihr habt noch was sagen wollen?«

»Ist nicht nötig, daß man alles sagt. Oder doch: du gibst dich herab, wenn du dir von der Zenza Botschaft sagen läßt. Ich hab's dem Holzhacker angesehen, wie er das Maul verzogen hat, weil die Zenza in unserm Haus Zutritt hat. Geh auch nicht da hinauf auf die Windenreuthe, das ist ein verrufenes Nest, da holt man sich keine Ehre. Wenn du doch einmal jagen willst und hast dir eine Flinte angeschafft, kannst sie ja von einem Buben für einen Groschen holen lassen.«

»Ja, ja,« sagte Hansei und lächelte, »die Großmutter hat recht: man braucht nicht alles zu sagen, was man denkt.«

»Jetzt will ich in den Wald,« sagte er. »Ich will dabei sein, wenn mein Holz geladen wird.«

Er nahm Hut und Bergstock, hing sich an den Tragbändern den Weidsack um und steckte noch ein Stück Brot in die Tasche. Die Großmutter gab ihm mit dem Kind auf dem Arm das Geleit bis zum Kirschbaum, von dem jetzt schon einzelne welke Blätter abfielen.

Hansei ging in den Wald. Droben aber, wo er nicht mehr gesehen werden konnte, machte er Kehrtum und schlug den Weg nach Windenreuthe ein.

Es war ihm wunderlich zu Mute auf dem Weg; er hatte gar nicht gewußt, daß er so schwer atmet und so schreckhaft ist. Der Nußhäher, der vom Baume aufflog, die schäkernde Elster, der kreischende Habicht über dem Felsenkamm und die brüllende Kuh auf der Wiese – alles erschreckt ihn.

»Ich soll nicht gehen und ich geh' auch nicht!« rief er und stieß mit der spitzen Zwinge seines Stockes auf den steinigen Weg, daß es Funken gab; dennoch ging er vorwärts. Glücklicherweise zog jetzt ein Nebel die Höhe herauf; er ging in der Wolke, die ihn verbarg, weiter und weiter.

Windenreuthe besteht aus mehreren ärmlichen, zerstreut liegenden Häusern. Am ersten Hause stand Hansei plötzlich wie gefesselt, er erschrak ins Herz hinein, als hatte ihn ein Schuß getroffen, und es war doch eigentlich nichts, was ihn so erschreckte; er hörte nur in dem Hause, vor dem er stand, ein kleines Kind schreien. So schreit auch dein Kind, sprach die Stimme in ihm. Wie wirst du es wiedersehen und hören? wie wirst du es küssen? und wie wirst du sein, wenn du auf dem Rückweg wieder an dem Hause da vorbeikommst? ... Wie wird es sein, wenn im Frühjahr deine Frau heimkommt und du gehst mit ihr, und die schwarze Esther begegnet euch? Und bei jeder Lustbarkeit daheim oder im Wirtshaus kann die schwarze Esther kommen und kann sagen: Platz da! da gehör' ich auch her!

In Hansei wirbelte es; er sah in die künftigen Tage hinein, in alles; er lebte in dem einen Augenblick Tage und Jahre, die erst kommen sollen und wie sie werden können. Und doch ging er weiter; ja er schnalzte plötzlich mit den Fingern und sagte sich: »Du bist ein dummer Kerl, ganz einfältig bist du, dir fehlt der Mut; es sind ja andre auch lustig und leben froh und kümmern sich den Teufel drum und ... was für lustige Geschichten hat der Gemswirt erzählt von dem und jenem, und was für Streiche haben die Jäger berichtet, die sie ausführen... Genießen, was man kann, und liederlich sein, das gilt ja eher für eine Ehre bei denen, die keine Nahrungssorgen haben auf der Welt....«

Er lüftete den Hut, der Kopf brannte ihm; er drückte den Hut wieder gewaltsam auf den Kopf und schritt weiter hinein in das zerstreute Dorf.

Es war Nacht geworden. Die alte Zenza wohnte abseits im Wald in einer sogenannten Wurzhütte; hier hatte ihr verstorbener Mann aus Waldkräutern, besonders aus Enzian, Branntwein bereitet und sein Meisterwurz war noch berühmt.

Aus der offenen Hausthür der Wurzhütte leuchtete eine hohe Flamme, und jetzt trat eine Gestalt unter die Thür und lehnte sich an den Pfosten. Die Gestalt war schön, wild und mächtig anzuschauen; hinter ihr loderte hell das Feuer. Von dem Schreck in jener Nacht, da er an das Märchen von den Wildweibern geglaubt hatte, spürte Hansei nichts mehr. Jetzt legte die Gestalt die Hand an die Wange und that einen schrillen Juchzer, es war wie eine Tonrakete, die in die Luft emporschnellte und oben auseinanderprasselte in allerlei Jodlern. Hansei zitterte. Jetzt hörte er die Zenza sagen:

»Brauchst nicht so zu juchzen, schrei nicht in die Welt hinein, daß du daheim bist. Wart' bis der Gaul im Stall ...«

»Holla!« dachte Hansei und stand zitternd still, »holla – die hält dich gefangen; die zieht dir jeden Kreuzer aus der Tasche, wenn du dich gemein machst und schlecht wirst – die macht dich zum Bettelmann und zum verachteten Mann noch dazu! Nein, ich lasse mir mein Geld nicht von dir rauben, ich geb' mich nicht in deine Hände. Ich will nicht! du sollst nicht vor meine Frau hinstehen und sie ansehen und anreden können, und ich muß dir noch danken, wenn du's nicht thust. Nein, und siebentausendmal nein, ich will nicht schlecht sein, eher soll mich ...«

Mit mächtigen Sätzen, als ob ein Feind hinter ihm dreinjage, floh Hansei zurück und die junge ungeschälte Eiche, die er mit beiden Händen hielt, diente ihm als Stütze, daß er fliegen konnte. So hatte er sich lange nicht geschwungen, so mächtig und unablässig. Er kam wieder an dem Hause vorbei, wo er vorhin das Kind hatte schreien hören: es schrie noch, aber der Hörer war ein andrer als vorhin. Immer weiter, wie gejagt, floh Hansei davon, der Schweiß lief die Wangen herab und tropfte ihm bei neuem Einsatz auf die Hände, die den Stock faßten, aber er hielt nicht still – die Zenza und die schwarze Esther und der rote Thomas sind hinter ihm drein, sie jagen, sie fassen ihn, sie reißen ihm die Kleider vom Leib. Erst tief im Walde wagte er es, sich auf einen Baumstumpf zu setzen. Er war so müd, als ob er zehn Stunden gelaufen wäre; er legte die Hände auf seine nackten Kniee, es war ihm, als fasse er einen fremden Körper. Er berührte die Strümpfe, die Walpurga gestrickt hat, und sein erstes Wort war: »Walpurga, es soll einmal gewesen sein, daß ich einen solchen Weg gegangen bin und nimmermehr! Da schwör' ich's, da leg' ich deinen Brief – er hatte den letzten bei sich – da leg' ich deinen Brief in meinen Schuh und diese Füße sollen keinen schlechten Weg mehr gehen. Gottlob, daß ich nur in Gedanken schlecht gewesen bin!« Er zog den Schuh aus und legte den Brief hinein, und eben als er sich wieder aufrichtete, hörte er nochmals den hellen Juchzer vom Hause der Zenza.

»Schrei nur, so viel du magst!« sagte er vor sich hin und schritt waldeinwärts. Er wollte seine Pfeife anzünden, aber er schlug sich immer mit dem Stahl auf die Finger und der Zunder war naß. »Du brauchst kein Feuer, du schlechter Kerl,« sagte er endlich, die Pfeife im Zorn einsteckend, »du brauchst gar kein Feuer, da droben brennt eines und das wär' deine Hölle geworden. Sei froh, daß du heraus bist, du verdienst's nicht.«

Wenn Hansei jetzt den Hansei von früher vor sich gehabt hätte, er hatte ihn in Zorn und Rache erwürgt.

Der Nebel war immer dichter geworden, es war fast wie feiner Regen; der Wald wurde immer größer und nirgends ein Weg.

»Geschieht dir recht, daß du verirrt bist,« höhnte sich Hansei, »du gehörst gar nicht mehr unter Menschen, du verdorbener Gesell du! Nur schade, daß deine Frau und das Kind unschuldig darunter leiden müssen ...«

Es gingen zwei Menschen im Nebel in der Irre und doch hatten sie nur einen Schritt. Hansei fluchte und schimpfte sich, aber bald erschrak er wieder davor, und alle Sagen von Irrgeistern, die den einsamen Wanderer bergauf und bergab führen, die ganze Nacht im Kreise herum, stiegen in ihm auf. Er wollte wieder umkehren – den Weg nach Windenreuthe findet er eher.

»Wart', du verfluchter Teufel!« sagte er aber zu dem unsichtbaren Kameraden, der ihm das anriet. »Du willst mich nur wieder dort haben? Nein, du kriegst mich nicht.«

Er versuchte nochmals Feuer zu schlagen, und jetzt brannte es, und als er die ersten Züge that, da hörte er die Glocke. Er griff sich an die Stirne, die Töne trafen ihn, als ob ihm der Schwengel unmittelbar an dem Kopf schlage.

»Das ist das Abendläuten von der Kirche am See. Es klingt so nahe – bist du denn auf dieser Seite? Nein, das ist vom Nebel, da klingt's so ...«

Alle weiteren Gedanken abwehrend, zog er den Hut ab, umklammerte mit beiden Händen heftig den Stock, der sich tief in die Erde eingrub, und betete still.

O Gott, denkt etwas in ihm neben dem Gebetworte, o Gott, das kannst du doch wieder und konntest dich so vergessen und verirren? –

Es liegt ein unerschöpflicher Segen darin, daß es ewige Worte, Wegweiser gibt, die vor Jahrtausenden von einem erhabenen Geiste aus der Tiefe des Menschenherzens und seinen ewigen Kämpfen geschöpft wurden, und diese Worte führen den einsamen Wanderer durch nächtigen Nebel des Waldes und lenken seinen Schritt aus der Irre. Die Glocke ruft, sie spricht keine Worte, aber sie ruft die Worte in der Seele an, und die Worte werden zum Stabe in der Hand des Müden und zum Wegweiser vor den Augen des Verirrten. Es läutete noch, als Hansei sein Gebet vollendet hatte, und der Glockenton war, als ob ihm sein ganzes Dorf, alle Seelen darin riefen und vor allem sein Weib und sein Kind. Nun fand er den Weg. Im ausgetrockneten steinigen Bett eines Waldbachs ging er zu Thal. Er war aber doch seltsam irre gegangen, denn er kam hinter dem Gemswirtshaus den Berg herab. Auf schlechte Begier, auf Schreck und Furcht, auf Andacht und Verirrung fühlte jetzt Hansei mächtigen Hunger und Durst.

»Ah, grüß' Gott, Hansei!« rief ihm der Gemswirt entgegen.

»Grüß' Gott, behüt's Gott!« stammelte Hansei verwirrt.

»Was ist dir? Du siehst ja totenbleich aus. Was ist dir geschehen? Woher kommst du?« fragte der Gemswirt in schneller Redseligkeit.

»Nachher will ich dir alles erzählen,« erwiderte Hansei, sich fassend. »Jetzt gib mir zuerst einen Schoppen Wein.«

Der Wein kam und Hansei schaute verwundert um.

Er kam wie aus einer andern Welt.

Erst als er Salz und Brot gegessen hatte, erzählte er, es sei ihm heute wunderlich ergangen; er habe hinaus in den Wald gewollt zum Holzaufladen, und da sei er verirrt und bis gegen Windenreuthe gekommen – er sagte das absichtlich, er wollte vorbeugen, wenn ihn vielleicht doch jemand da oben gesehen. Man sprach vom Glauben an Gespenster, der Gemswirt spottete über die Ammenmärchen. Hansei that keine Einrede. Sehr klug setzte der Gemswirt hinzu: »Du bist jetzt eben oftmals nicht bei dir, weil du deine Walpurga nicht bei dir hast; da denkst du eben viel an sie und siehst den Weg nicht.«

»Ja, kann schon sein. Es ist so.«

»Weißt du, wie sie dich jetzt heißen im Dorf?«

»Wie denn?«

»Den Ammerich. Weil deine Frau die Amme des Kronprinzen ist, bist du der Ammerich.«

Hansei lachte aus vollem Halse.

»Jetzt sag, was kriegt deine Frau Lohn?« fragte der Spinner-Wastl.

»Das sag' ich nicht,« erwiderte Hansei und that sehr geheimnisvoll.

»Hast schon lang keinen Brief von deiner Frau?« fragte der Gemswirt.

»Nein, ich erwarte jede Stunde einen.« Noch hatte er das nicht ausgesprochen, als der Briefbote eintrat und sagte: »So? da bist, Hansei? Ich bin heut mittag zweimal in deinem Haus gewesen, ich hab' einen Geldbrief an dich.«

»Gib her,« sagte Hansei und erbrach mit zitternden Händen die fünf Siegel.

»Du gehst schön mit dem Geld um,« sagte der Gemswirt und hob einen Hundertguldenschein vom Boden auf, »das ist mir lieb, ich brauch' einen, ich geb' dir hartes Geld dafür.«

»Ist recht,« sagte Hansei, und überließ dem Gemswirt das Papiergeld, dann las er:

»Lieber Hansei, diesmal schreib' ich dir ganz allein. Da sind hundert Gulden, die hat mir die Königin zum besonderen Geschenk gemacht, weil du nicht zu mir gekommen bist. Ich muß dir aber erzählen, daß du's recht verstehst. Die Königin, du glaubst gar nicht, was das für eine gute Seele ist, schließe sie nur recht in dein Gebet ein, wir sitzen oft stundenlang bei einander, und sie kann alles gar schön auf Papier abnehmen, die Bäume und alles, und da reden wir, als ob wir miteinander in die Schule gegangen wären, sie ist aber lutherisch und ist gar brav und fromm und hat zu allem so gar herzgetreue Gedanken, die könnte gar kein unschönes Wort auf die Zunge nehmen. Wenn sie nicht lutherisch wäre, so könnte sie eine Heilige werden, aber in den Himmel kommt sie doch. Das glaub' ich und glaub du's nur auch; brauchst's aber niemand zu sagen.

Ja, also die Königin hat mir eine Freude machen wollen, die möchte gern die ganze Welt glücklich machen. So müssen in alten Zeiten die Heiligen gewesen sein. Die Königin hat mir also eine Freude machen wollen, weil ihr Mann wieder gesund heimkommen ist, und die haben einander so lieb und sie hat mir dich kommen lassen wollen und unser Kind und die Großmutter auf ein oder zwei Tage, denn die merkt alles, die sieht einem tief ins Herz hinein, und ich hab' oft Heimweh nach euch und ja, wie die Königin euch will kommen lassen, da sag' ich: das wäre schon recht schön, aber das kostet so viel Geld, und da habe ich mir das Geld schenken lassen dafür, und wir können's schon besser brauchen. Und ihr hättet ja auch nicht die Kleider dazu, und die Menschen sind hier gar spöttisch. Jetzt wär' ich aber nicht zu dem Geld gekommen, denn das ist ihr nichts, gar nichts, an so was denkt sie gar nicht, die hat noch nie in ihrem Leben Geld gezählt, und ich glaub' gar nicht, daß sie rechnen kann; das thut alles der Hofzahlmeister. Hier ist für jede Sach' ein besonderer Bedienter; da gibt's Tafeldecker und Silberschließer und alles. Jetzt ist aber meine gute Gräfin wiederkommen, die ist bei ihrem Vater gewesen, das soll aber so eine Art Einsiedel sein, der von der ganzen Welt nichts wissen will, und meiner Gräfin danke ich's, daß ich doch zu dem Geld kommen bin, denn die weiß alles zu machen. Und so schicke ich dir hier das Geld, leg's gut an, nimm aber auch etwas davon und mach dir und unserm Kind und der Großmutter einen guten Tag.

Ach, guter Hansei, es sind aber nicht lauter Heilige und lauter getreue Menschen so in einem Schloß, wie ich früher gemeint hab'. Da wird gestohlen und Hinterlist getrieben. Der Vater von meiner Mamsell Kramer ist ein ehrbarer alter Mann, er ist hier Kastellan, der hat mir viel erzählt. Aber auch brav sein kann man überall, im Schloß oder in der Gstadelhütte am See. Jetzt bitt' ich dich nur, lieber Hansei, ich sag' immer lieber Hansei, so oft ich an dich denk', ich denk' oft an dich, und in der letzten Nacht hab' ich von dir geträumt, aber ich will dir's nicht erzählen, man muß nicht an Träume glauben. Jetzt schreib mir aber recht bald, wie dir's geht, aber recht deutlich einen recht langen Brief, und laß dir die Zeit nicht lang werden, bis wir wieder beisammen sind, und denk auch immer so gut an mich, ich denk' auch immer so gut an dich.

Bis in den Tod deine getreue

Walpurga.«

Hansei sagte trotz alles Bedrängens niemand ein Wort aus dem Briefe. Er ging still heim und küßte sein schlafendes Kind. Es war ihm gar wohl zu Mute, daß er wieder so daheim sein dürfe und das Haus ihn nicht hinaus werfe. Der Angstschweiß überlief ihn, wenn er wieder dachte, daß er in diesem Bette schliefe und er wäre anders geworden. Er griff hinüber nach dem Bette, wo sonst seine Frau schlief, und in stiller heimlicher Nacht küßte er ihr Kopfkissen.

»Jetzt bin ich erst ein rechter Mann!« sagte er. Er stand wieder auf und machte Licht. Er nahm den Brief, den er heute hineingelegt, aus dem Schuh, schnitt aus dem letzten die Stelle mit den Worten: »Bis in den Tod deine getreue Walpurga«, löste die innere Sohle ab, schob den Zettel darunter und verklebte die Sohle wieder. Erst jetzt schlief er ruhig ein.

Zweites Kapitel.

»Majestät,« sagte eines Tages Gräfin Irma zum König, als sie mit ihm in der Veranda auf und ab ging – im Musiksaal übte die Königin mit ihrer Kammervirtuosin ein klassisches Stück – »Majestät, es ist doch rätselhaft, manche Menschen sind uns um so bedeutender und liebenswerter, wenn wir fern von ihnen nur ein Erinnerungsbild in der Seele haben; andre dagegen erscheinen uns um so tiefer und anmutender im persönlichen, alltäglichen Umgänge, und wenn wir von ihnen entfernt sind, haben wir kaum eine rechte Vorstellung von ihnen, können denen, die ihre persönliche Bekanntschaft nicht haben, kein Bild ihres Wesens geben, ja nicht einmal der Erscheinung. Worin liegt das?«

»Ich meine,« erwiderte der König, – »aber ich muß gestehen, ich habe noch nie darüber nachgedacht – ich meine, daß die einen mehr Detailnaturen sind mit lauter kleinen Zügen, die andern dagegen haben eine gesamte ganze Physiognomie. Oder auch: diejenigen sind uns in der Ferne bedeutsamer, in deren Wesen noch ein Problem für uns ist und uns dadurch mehr zu denken gibt. Meinen Sie nicht auch?«

»Allerdings. Aber ich möchte doch auch sagen: Die einen sind imponierende und dadurch schon in der Gegenwart ferngerückte historische Menschen; sie können sterben und bleiben. – Wenn jemand fern von uns ist, ist er schon wie ein Stück gestorben – ; die andern dagegen leben nur, solange sie atmen, und leben für uns nur, solange wir in einer Atmosphäre mit ihnen atmen.«

»Konnten Sie mir Beispiele zu diesen imponierend historischen und zu den Momentfiguren nennen?«

»Ich wüßte im Augenblick nur die eine Art, die historische, zu nennen.«

Ein leises Rot fuhr über die Stirn des Königs. »Nun?« fragte er, da Irma zögerte, »ich bitte –«

»Zu der ersten Gattung rechne ich vor allen meinen Vater. Ich kann Euer Majestät nicht sagen, wie mir sein großes Wesen stets vor Augen steht.«

»Ja, ich höre allgemein, er soll ein höchst bedeutender Mann sein. Es ist für ihn und noch mehr für uns zu beklagen, daß er unsre ganze Staatsbildung negiert. Und wohin würden Sie mich rechnen? Ich traue Ihnen Wahrhaftigkeit genug zu, daß Sie mir das geradezu sagen, und Sie sind meiner ... meiner ... Verehrung so sicher, daß Sie alles unumwunden aussprechen können.«

»Majestät sind ein Anwesender,« erwiderte Irma, »und doch zugleich auch ein Abwesender, denn die Höhe Ihrer Stellung hebt Sie immer über uns andre hinweg.«

»Aber die Freundschaft wohnt nicht auf dem Thron, sie ist hier, wo wir auf gleichem Boden stehen, liebe Gräfin.«

»Die Freundschaft urteilt aber auch nicht,« erwiderte die Gräfin, »sie hat kein Richteramt. Nichts finde ich empörender, als wenn Menschen, die einander etwas sein wollen, immer miteinander abrechnen: so viel bist du und so viel bin ich wert, das ist dein und das ist mein –«

»Ach, diese Staatsgeschäfte!« unterbrach der König, da ein Lakai die Ankunft des Ministers meldete. »Wir setzen das Thema fort,« fügte er hinzu, verabschiedete sich bei Irma, grüßte unterwegs höflich die begegnenden Herren und Damen und reichte dem Ministerpräsidenten die Hand; er ging mit ihm in das Innere des Schlosses.

Seit der Rückkehr Irmas hatte ihre freundliche Beziehung zum König neue Frische gewonnen. Ihre tägliche Begrüßung war die Freude des Wiedersehens und Willkomm nach langer Trennung.

Wenn der König: guten Morgen, Gräfin! sagte und Irma antwortete: ich danke Majestät! so lag in diesen einfachen alltäglichen Worten eine unausgesprochene Gedankenreihe. – Der König war voll Laune und milden, schönen Geistes, wie noch nie. Und Irma? Man sagte mit Recht, sie bringe den Atem des Hochgebirges mit. Die Königin vor allen war's, die bald zu einer Hofdame, bald zu einem Kavalier ihre Freude über diese waldfrische Natur ausdrückte, die doch von dem höchsten Geiste belebt war.

Wie in tiefer Seele vernommene Melodien, die erst nach und nach wiederkehren und harmonisch sich fügen, so gingen jetzt Irma die Worte und Gedanken ihres Vaters auf. Sie war wochenlang in einer strengen Denkerschule gewesen, wo kein müßiges Plaudern und Tändeln galt, alles mußte fest und klar sein. Vordem hatte man Irma wie ein Naturkind betrachtet, das eben heraussprudelt, was ihm in den Sinn kommt; jetzt erkannte man einen Geist, der aus einem Hintergrund umfassender Weltbetrachtung entsprang und dabei den einfachen Naturmut behielt. Sie war voll teilnehmender Güte, fragte aber nichts nach dem modisch Geltenden, sie sprach aus, was ihr anmutend und was ihr zuwider war, und man mußte anerkennen, daß hier nicht bloß eine Originalität, ein naiver Springinsfeld war, sondern auch ein starkes geistiges Selbstbewußtsein.

Irma veränderte oftmals ihre Frisur. Das schalt man natürlich Koketterie, sie wolle die Blicke auf sich ziehen; es war aber bei ihr einfach die Lust, alle Tage neu auf die Welt zu kommen und sei es auch in einer ganz untergeordneten Sache.

Jetzt kam es Irma sehr zu gute, daß sie sich so eng an Walpurga angeschlossen, denn die Königin ließ Walpurga in den sonnigen Mittagsstunden fast nie von sich, und da saß auch Irma dabei und las der Königin bisweilen vor, oder sang mit Walpurga schöne Lieder aus dem Gebirge.

In freudigem Glanze leuchteten die Augen des Königs, wenn er zu solcher Stunde kam und Irma mit seiner Gattin sah.

»Du siehst betrübt aus,« sagte die Königin, als der König eben jetzt aus dem Ministerrate zu ihr und Irma in den Park trat.

»Ich bin es auch.«

»Darf ich wissen?«

Irma wollte sich entfernen, aber der König sagte:

»Bleiben Sie nur, Gräfin; es handelt sich um eine Angelegenheit, die durch Ihre Freundin Emmy jetzt zur Entscheidung gebracht wird. Hat dir,« wendete er sich zur Königin, »unsre Gräfin von dem gräßlichen Geschick ihrer Freundin erzählt?«

»Allerdings, und wenn ich daran denke, habe ich das Gefühl, als stünde ich vor einem Abgrund.«

Der König hatte seltsamerweise noch nichts von der Sache mit Irma gesprochen und auch ihres Briefes keine Erwähnung gethan. Irma hatte in den Zerstreuungen seit ihrer Rückkehr auch kaum mehr daran gedacht.

»Unsre Freundin,« begann der König wieder, »hat auch mir die Sache mitgeteilt, und ich danke ihrem Zartgefühl, daß sie jedes weitere Drängen zurückhielt; denn in Staatsgeschäften dürfen uns keinerlei persönliche Sympathien leiten. Die Freude, sich in seiner Ehre von Befreundeten gewahrt zu sehen, bleibt aber eine der schönsten.«

Irma schaute vor sich nieder, Er fuhr fort: »Ein Fürst muß es seinen Freunden danken, wenn sie ihn von den Thatsachen des Lebens benachrichtigen, aber in der Entschließung darf kein Einfluß, auch der beste nicht, sich geltend machen.«

Irma wagte noch immer nicht, den Blick aufzuheben.

»Die Sache liegt so,« fuhr der König fort: »Wir haben die Befugnis zur Aufnahme neuer Nonnen vorläufig suspendiert. Die Minister verlangen nun von mir, daß ich meine Genehmigung zu einer Gesetzesvorlage an die nächstens zusammentretenden Stände gebe, wodurch vor allen das Kloster Frauenwörth endgültig auf den Aussterbe-Etat gesetzt werde. Die Minister glauben nur damit, natürlich neben manchem andern, gegen die immer stärker werdende Opposition standhalten zu können.«

Der König schaute bei diesen Worten auf Irma und diese fragte:

»Und Majestät haben dem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung gegeben?«

»Noch nicht. Ich habe keine besondere Neigung für Erhaltung der Klöster, aber ich kann doch nicht so leicht die Art an einen Raum legen, der durch Jahrtausende erwachsen ist. Es ist die besondere Aufgabe des Königtums, Dinge zu pflanzen und zu erhalten, die über die Zeitdauer eines Geschlechts und eines Jahrhunderts hinausgehen. Und ein Frauenkloster – wie denkst du darüber, Mathilde?«

»Ich meine, daß es einem Frauenherzen, das alles verloren hat, nicht verwehrt sein sollte, sich der Einsamkeit und Andacht zu widmen. Doch darf ich mir vielleicht nicht erlauben, darüber zu urteilen. Vom Klosterleben habe ich Jugendeindrücke oder vielmehr Jugendlehren erhalten, die nicht immer gerecht sein mochten. Ueber das Bestehen eines Frauenklosters sollten wohl nur Frauen bestimmen dürfen. Wie meinen Sie, Gräfin Irma? Sie sind ja in einem Kloster erzogen, und Emmy ist Ihre Freundin.«

»Ja,« nahm Irma auf, »ich war bei meiner Freundin in Frauenwörth, wo sie leben oder vielmehr sterben will, denn das Leben dort ist tägliches Warten auf den Tod. Es erschreckte mich auch, daß man eine vielleicht nur vorübergehende Stimmung zum unabänderlichen Lebensgesetze, ja zur Lebensbestimmung machen soll, aus der es keine Rettung mehr gibt; und doch sind viele andre heilige Institute dasselbe. Ich sehe nun, welch ein hoher, schwerer Beruf es ist, König zu sein. Sollte ich jetzt bestimmen, ein Gesetz geben, ich gestehe, ich wüßte mich nicht zu entscheiden. Wenn je, so sehe ich nun, daß wir Frauen nicht zum Herrschen geboren sind.«

Die sonst so klare und feste Stimme Irmas war verschleiert und zitternd. Sie war auf einen Gipfel gestellt, wo sie nicht festen Fuß fassen konnte. Sie schaute zum König auf, wie zu einem höheren Wesen. Seine Haltung war so fest, sein Auge so klar. Sie wäre gern vor ihm niedergekniet.

»Kommen Sie näher, Graf Wildenort,« rief der König jetzt.

Irma erschrak. Ist ihr Vater da? In dieser Erregung schien ihr alles möglich.

Sie hatte in dem Augenblick ganz vergessen, daß ihr Bruder Bruno Flügeladjutant des Königs sei. Er hatte in einiger Entfernung gestanden und trat jetzt näher, um sich bei der Königin zu verabschieden, da er auf einige Zeit verreiste.

Der König ging mit der Königin davon, Irma mit ihrem Bruder. –

Das Benehmen des Königs war rätselhaft, aber er selbst hatte dafür seine Erklärungsgründe; der erste und mächtigste war ein unzerstörbares Mißtrauen. »Allen und jedem mißtrauen« – das war die große Lehre, die ihm von Jugend auf eingeflößt worden. – »Man kann nie wissen, welche egoistische Absichten die Menschen bei allem edlen Anschein haben.« Diese Lehre entsprach einem Charakterzug im Wesen des Königs; er wollte selbst sein, sich von niemand in seinen Entschlüssen bestimmen lassen. Das ist der Kernpunkt der heroischen Natur. Darum ist ihm auch bei aller Freiheitsliebe der Konstitutionalismus zuwider; er hebt die große, in sich machtbegabte Persönlichkeit auf, man soll nur Träger des Zeitgeistes oder, noch tiefer, Vollstrecker der öffentlichen Meinung sein. Das widersprach seinem starken persönlichen Bewußtsein. Wenn nun irgend jemand ihn zu einer Meinung und Entschließung drängen wollte, war er mißtrauisch, er war es selbst gegen Irma. Sie weiß es gewiß selbst nicht, daß sie Werkzeug einer Partei ist, aber sie ist es, wahrscheinlich, ja gewiß; man hat ausgekundschaftet, daß sie viel bei ihm gilt und nun den Klostereintritt Emmys benützt, um ihn zur Entscheidung zu drängen. Das will er nicht dulden, selbst Irma sollte fühlen, daß er sich zu nichts von einem fremden Menschen bestimmen lasse, auch von der schönen Freundin nicht. Alte Zeiten können nicht wiederkehren; sie finden einen neuen Menschen in ihm, der keinen Fraueneinfluß auf die Staatsgeschäfte duldet.

Aus diesen ineinander laufenden Erwägungen von Mißtrauen und Selbstherrlichkeit hatte der König bis jetzt von dem an ihn gerichteten Briefe Irmas geschwiegen, und nun endlich in der eben vernommenen Weise gesprochen.

Auf dem Wege mit seiner Gattin genoß der König noch den Triumph, den er über die Frauen errungen, selbst über die, die er so starken Geistes glaubte. Er sprach wiederholt von den Bitten Irmas wegen ihrer Freundin und wie er sich dadurch nicht bestimmen lasse; es schimmerte eine Mißlaune gegen Irma durch. Die Königin pries die Freundin mit innigen Worten. Der König lächelte.

Elftes Kapitel.

Der Karneval am Hofe war diesmal still; man hatte indes schon im voraus sein gut Teil Festlichkeiten eingeheimst.

Die Königin war krank.

Die Gemütsbewegungen der letzten Wochen hatten ihre Kraft erschüttert. Man fürchtete für ihr Leben.

Irma kam selten zu Walpurga. Sie war meist in den Gemächern der Königin, und wenn sie kam, sah sie bleich und abgehärmt aus.

Walpurga spann ruhig weiter und das Kind an ihrer Brust gedieh.

»O, wie wahr hat unsre gute Königin gesprochen. Gott Lob und Dank, hat sie einmal zum Prinzen gesagt, Gott Lob und Dank, daß du gesund und los von mir bist, mein Kind; du lebst jetzt für dich allein fort. Ja, sie hat allem ins innerste Herz hineingesehen, und ich meine, sie wäre zu gut für diese Welt. Meine Mutter hat's tausendmal gesagt: Menschen, die gar so arg gut sind und nicht einmal so rechtschaffen zornig und bös werden können und um sich hauen, die holt unser Herrgott bald zu sich. Ach, wenn ich nur meinen Prinzen mit heimnehmen könnte! Jetzt kommt bald das Frühjahr. Du lieber Gott, wenn er da seine Mutter verlieren sollte und mich dazu –«

So klagte Walpurga zu Mamsell Kramer, und diese hatte schwere Mühe, sie zu trösten.

Baum wußte es einzurichten, daß er immer etwas in den Gemächern des Kronprinzen zu bestellen und herzurichten hatte. Er war nicht mehr zudringlich gegen Walpurga, er zeigte sich ihr nur sehr dankbar und gefällig. Er mußte ihre Teilnahme gewinnen, das ist mehr wert, als alles andre. Als nun Walpurga auch ihm klagte, fragte er:

»Mein' ich's gut mit dir?«

»Ja, das kann ich nicht anders sagen,« entgegnete Walpurga.

»So merk auf, was ich dir sage: Es gibt nichts Langweiligeres, Kargeres und Geizigeres, als so eine einfältige gute Ehe, was man so eine gute Ehe heißt. Was hat man denn davon? Seinen Lohn und einmal ein Trinkgeld von einer fremden Herrschaft und ein paar Flaschen Wein, die man stipitzen kann. Zu Zeiten der Baronin von Steigeneck war's anders, da sind die Kammerdiener und alles, was um sie gewesen, reich geworden und haben Häuser in der Stadt und Hypotheken und Rittergüter. Nun, Gottlob, jetzt wird's auch wieder anders.«

»Ich weiß nicht, was du meinst,« sagte Walpurga.

»Ich wollte,« entgegnete Baum, »ich wäre nur eine Stunde lang an deiner Stelle; auf dich hält sie ja am meisten, und bei dir haben sie sich ja verständigt, und wenn du willst, kannst du Geld genug und ein Gut mit Wald und Feld und Wiesen haben. Für mich bitte ich dich nur um die Stelle als Kastellan auf der Sommerburg.«

»Ich soll das alles können? Bei wem denn und wie denn?«

»O du – ,« lachte Baum. »Merkst denn nichts? Hast denn keine Augen im Kopf? Wenn die Königin stirbt, heiratet der König deine Gräfin, sie ist eine reichsfreie Gräfin und kann jeden König heiraten; und wenn die Königin nicht stirbt, ist's auch gut.«

»Ich möchte dir die Faust ins Gesicht schlagen, weil du so was sagst, und da gehst du nachher wieder hin und machst einen Katzenbuckel? Wie kannst du so etwas sagen?«

»Wenn's aber wahr ist?«

»Es ist aber nicht wahr!«

»Wenn's aber doch wäre?«

»Es kann nicht sein!«

»Und ich sag' dir, es ist!«

»Und wenn's wäre – o verzeih', gute Gräfin, aber ich denk's ja nicht, der da sagt's nur, und wenn's wäre, ehe thäte ich meinen Mund auf einen Stein aufschlagen, eh' ich um einen Sündenlohn bitten möcht'. Du bist aber schlecht, und wenn du noch einmal so was sagst, geb' ich dich an, verlaß dich drauf!«

Baum that, als ob er nur Spaß gemacht, aber Walpurga wollte darin auch keinen Spaß verstehen, und er war froh, als sie ihm endlich versprach, wenigstens still zu sein, und schließlich braucht er keinen Vermittler, er wird schon für sich selbst sorgen ...

Die Zimmer der Gräfin Irma waren gerade unter denen des Kronprinzen und Walpurgas, nur durch den Boden getrennt. Hier unten ging während dessen eine Scene ganz andrer Art vor.

Bruno saß bei seiner Schwester und sagte:

»Das ist ein Malheur, und ich kann dir leider nicht verhehlen, daß du daran schuld bist: Mutter Sylphe ist mir auf den Hals gekommen und geniert mich entsetzlich.«

»Wer denn?«

»Meine Schwiegermutter ist da und hat mir lachenden Mundes zu verstehen gegeben: Da meine Schwester ... so könnte sie nun auch hier sein.«

Irma bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen.

»So glaubst auch du?« »Was liegt dir an meinem Glauben? Man spricht davon. Das ist genug.«

»Das ist nicht genug. Ich werde die Menschen lehren anders zu sprechen.«

»Gut, geh von Haus zu Haus, von Frau zu Frau, von Mann zu Mann und sage ihnen, sie sollen anders denken. Aber es gibt ein Mittel, wie du das kannst – darf ich's nennen?«

Irma nickte schweigend.

»Der Intendant hat, ich weiß das, im vorigen Sommer offen um deine Hand geworben. Es wird ihm eine Ehre sein, dich seine Frau zu nennen. Entschließe dich!«

Ein Diener trat ein und meldete den Intendanten.

»Wunderbares Zusammentreffen! Entschließe dich schnell!«

Der Intendant erschien. Bruno begrüßte ihn mit besonderer Vertraulichkeit. Auch Irma war freundlich.

Nach einer Weile entfernte sich Bruno. Der Intendant überreichte Irma ein Bühnenmanuskript und bat, es zu lesen, um ihr Urteil darüber abzugeben. Sie empfing es dankend und legte es auf einen Tisch.

»Ach, wenn der Frühling kommt, will ich gar nichts mehr vom Theater hören. Unser Theater ist eine Winterpflanze.«

»Das Stück ist auch für die nächste Wintersaison.«

»Ich kann nicht sagen, wie ich mich auf den Sommer freue, wenn alles so kahl und öde ist, glaubt man gar nicht, daß einmal die Sonne schien und die Bäume grünten und der See blinkte. Denken Sie an den sonnenduftigen Tag, als wir uns im vorigen Sommer auf dem See trafen?«

»O, wohl denke ich dran.«

Es trat eine längere Pause ein.

Irma wartete auf eine weitere Rede des Intendanten, aber er schwieg und man hörte nichts, als das Klettern des Papageis im Käfig und wie er, jetzt seinen Schnabel in das goldene Gitter einhackend, in sich hinein knurrte.

»Ich sehne mich danach,« begann Irma wieder, »im Sommer meine Freundin Emmy zu besuchen, ich will mich in Einsamkeit baden. Dieser Winter war doch zu lärmend und unruhvoll.«

»Ja, und dazu die Krankheit der Königin.«

Der Papagei zerrte am goldenen Gitter und Irma lockerte etwas das rote Sammetband an ihrem Morgenkleid. »Werden Sie wieder nach dem See gehen?« stieß Irma bebend heraus.

»Nein, teure Gräfin. Ich werde die deutschen Theater besuchen, um einen zweiten Baß, vor allem aber einen jugendlichen Liebhaber zu engagieren. Sie glauben gar nicht, welch ein Mangel an jugendlichen Liebhabern in der deutschen Welt ist.«

Irma lachte hell, aber alles Blut stieg ihr zu Kopfe, sie meinte, sie müsse umsinken.

Der Diener meldete die Baronin Steigeneck.

»Ich bin nicht zu Hause,« erwiderte Irma rasch. »Bleiben Sie noch einen Augenblick,« sagte sie zum Intendanten.