Das Landhaus am Rhein, Band 2


Erstes Capitel.

Die Sperlinge auf den Erlen und Weiden am Ufer der Klosterinsel zwitscherten und schetterten lärmend durcheinander; sie mußten sich wunderviel zu sagen haben, was sie heut erlebt, und wer weiß, ob ein Heute für sie nicht ein viel größerer Zeitraum als für uns. Ein von Erfahrung Aufgeblähter – es konnte aber auch ein Weibchen sein, denn er trug bereits das unterschiedslose Alterskleid – saß ruhig in der Ecke eines Astes, bequemlich an den Stamm gelehnt; er berichtete mit nachschmatzendem Behagen, wie herrlich das gewesen drüben im Gasthofsgarten am Ufer unter den kurz gehaltenen schattigen Linden. Da hatten die Kellner lange versäumt, die Reste eines englischen Frühstücks wegzuräumen, und da gab's Kuchen – leider waren die Stücke zu groß – Eier und Honig und Zucker die Menge; es war ein Schmaus ohne Gleichen. Er behauptete, die echte Lebensfreude beginne erst dann, wenn man von allem Andern nichts mehr wissen wolle und nur Freude an Essen und Trinken habe. Das verstünde freilich erst das reifere Alter.

Andere wollten nichts von dem satten Prahlhans wissen, und es gab eine zuchtlose Debatte, ob Salatsamen oder junger Kappis nicht viel besser wären, als alle Menschennahrung. Ein junger Schelm umflatterte eine junge Schelmin und berichtete ihr: hinten am Hause des Fergen hinge ein strotzendes Säckchen voll Hanfsamen am Dachfenster; wenn man nur die Naht ein Bischen aufzutrennen verstünde, könnte man den Leckerbissen allmälig verspeisen, aber man müsse es geheim halten, sonst kämen die Anderen auch, und Hanfsamen wäre doch anerkannt das höchste Gut, was diese Erdkugel zu bieten vermag. Der Schelm behauptete, daß der zierliche Schnabel der Schelmin gerade fein genug sei, um die Naht aufzutrennen; niederträchtig boshaft sei es aber von den Menschen, just die besten Leckerbissen gebunden und verschlossen in die freie Luft zu hängen.

Ein spät Hinzufliegender verkündete, daß die Scheuche, die im Feld stehe, nur ein Stock mit drüber gehängten Kleidern sei.

»Die dummen Menschen meinen, wir seien noch so dumm, an Vogelscheuchen zu glauben,« lachte er und schlug die Flügel auf und nieder vor Staunen und Erbarmen über die Einfalt.

Es war ein toller Lärm auf den Erlen und Weiden und fast ebenso toll war er auf der großen Wiese, wo die Mädchen aus dem Kloster einander haschten, durcheinander plauderten, kicherten, neckten und lachten.

Abseits von den lärmenden Genossinnen und manchmal unter den Erlenbäumen dahinwandelnd, wo es so lustig zuging, schritt ein Mädchen von schlanker Gestalt und von biegsam zierlicher Erscheinung, mit dunklem schwarzem Haar und leuchtenden Augen, neben einer Frau in Ordenstracht, einer hohen herrischen Gestalt, aus deren Mienen ruhige und entschiedene Kraft sprach. Ihre Lippen waren so zusammengepreßt, daß der Mund nur als schmaler rother Streif erschien. Die ganze Stirn war mit einem weißen Tuch bedeckt und so hatte das Gesicht mit den großen Augen, schmalen Brauen, scharfer Nase, dem feinen zusammengepreßten Munde, dazu das scharfe, aber nicht unschöne Kinn etwas Herrschvolles und Unbewegtes.

»Würdige Mutter,« begann das Mädchen, »Sie haben den Brief von Fräulein Perini gelesen?«

Die Nonne – es war die Oberin – wendete nur ein wenig das Antlitz; sie schien zu erwarten, daß das Mädchen – es war Hermanna Sonnenkamp – weiter spreche. Da Manna indeß schwieg, sagte die Oberin:

»Herr von Prancken wird also zum Besuch kommen. Er ist ein Mann aus gutem Hause und von guter Sitte, scheint ein Weltling, ist es aber eigentlich nicht. Freilich hat er noch die Ungeduld derer draußen; ich vertraue indeß, daß er jede Werbung unterläßt, so lange Du noch hier unser Kind bist, daß heißt, das Kind des Herrn.«

Sie sprach sehr gemessen und hielt jetzt an.

»Laß uns hier weggehen, der Vogellärm da oben läßt ja kaum das eigene Wort hören.«

Sie gingen an dem inmitten der Insel liegenden Kirchhof vorüber nach dem Wäldchen zu einer kleinen Felsenpartie, von den Kindern die Schweiz der Insel genannt; dort setzten sie sich nieder und die Oberin fuhr fort:

»Von Dir, mein Kind, bin ich gewiß, daß Du in schicklicher Weise jedes nach Liebesbekenntniß oder Werbung zielende Wort des Herrn von Prancken ablenken wirst.«

»Sie wissen, würdige Mutter,« entgegnete Manna – sie hatte eine herzbewegende Stimme – »Sie wissen, daß ich gelobt habe, den Schleier zu nehmen.«

»Ich weiß und weiß es auch nicht. Was Du jetzt sagst oder bestimmst, ist für uns wie ein in den Sand geschriebenes Wort, das der Wind und die Fußtritte der Menschen verwischen. Du mußt zuerst wieder hinaus in die Welt, Du mußt die Welt überwunden haben, ehe Du ihr entsagst. Ja, mein Kind! Die ganze Welt muß Dir erscheinen wie Deine Puppen, von denen Du mir erzählt: vergessen, nichtig, todt . . . ein Kinderspiel, kaum denkbar, daß man je so viel Aufmerksamkeit, so viel Liebe daran vergeuden konnte.«

Stille war es geraume Zeit, man hörte nichts als den Sang der Nachtigall im Busche, und auf dem Strome hin flogen in Schaaren die Raben und sangen – die Menschen nennen es krächzen – und schwangen sich ihrer Heimat auf dem Felsenberge zu.

»Mein Kind,« begann die Oberin nach einer Weile, »heut ist der Todestag meiner Mutter, ich habe für ihre Seele, die in der Ewigkeit, gebetet, heut wie damals. Als sie starb, was die Menschen Sterben nennen, was aber nur ein Geborenwerden ist, hat mein Gelübde es mir versagt, an ihrem Todtenbette zu stehen; es kostete mir kaum einen Kampf, denn ob meine Eltern noch draußen in der Welt oder dort oben in der andern, das ist uns gleich. Sieh, die Welle färbt sich jetzt im Abendroth, da stehen nun die Menschen draußen auf Bergen und am Ufer und sprechen voll Entzücken über die Natur, diesen neuen Götzen, den sie sich gemacht, denn sie sind Kinder der Natur; wir aber sollen Gottes Kinder sein, vor dessen Auge die ganze Natur nichtig erscheint, ob so, ob so gefärbt, ob blühend oder im Schnee.«

»Ich glaube, ich fasse das,« stimmte Manna bei; die Oberin fuhr fort:

»Es ist ein Großes, die Welt zu überwinden, sie von sich zu stoßen, ohne je eine Secunde nach ihr zu verlangen, und dafür die ewige Glückseligkeit zu empfangen noch während wir im Leibe wandeln. Ja, mein Kind« – sie legte beide Hände auf das Haupt Manna's: »ich möchte Dir die Kraft geben, meine Kraft . . . nein, nicht die meine, die mir von Gott verliehene . . . Du sollst schwer und redlich mit der Welt gekämpft, Du sollst ausgerungen haben, bevor Du zu uns in den Vorhof des Himmels eintrittst für dieses zeitliche Leben.«

Manna hatte die Augen geschlossen und in ihrem Innern war der einzige Wunsch, daß eine überirdische Gewalt kommen und sie hinwegheben möge über Alles. Als sie aufschaute und die wundersame Pracht des Abendhimmels, den violetten Duft der Berge und den rothglühenden Strom sah, blinzte ihr Auge, und ihre Hand machte eine abwehrende Bewegung, wie wenn sie sagen wollte: ich will Dich nicht, Du sollst für mich untergesunken sein; Du bist nichts als eine Puppe, eine leblose, an die wir unsere Liebe verschwenden.

Mit zitternder Stimme bekannte nun Manna, wie sie sich im Innersten zerrissen und verworfen vorkäme; sie habe vor wenigen Tagen die Botschaft des verkündenden Engels gesungen und gesprochen, und dabei hätten schwarze Dämone sie innerlich zerwühlt. Den ganzen Tag habe sie gebetet, daß sie würdig sein möge, solche Botschaft zu verkünden; und da sei ihr in der Dämmerung ein Mann erschienen, und ihr Auge habe mit Wohlgefallen auf ihm geruht; es sei der Versucher gewesen, der ihr nahe gekommen, und die Gestalt habe sie in ihre Träume verfolgt. Sie sei mitten in der Nacht aufgestanden und habe geweint und zu Gott gebetet, er möge sie doch nicht in Sünde und Abfall versinken lassen. Sie verachte die Erscheinung, sie hasse sie; aber die Erscheinung weiche nicht von ihr. Sie bitte nun, daß ihr eine Buße auferlegt werde; es möge ihr gestattet sein, drei Tage zu fasten.

Die Oberin tröstete mild und sagte, sie solle sich nicht solche Vorwürfe machen, denn diese Selbstpeinigung steigere ihre Phantasie und ihre Empfindung. Zur Zeit, wenn der Flieder blüht und die Nachtigall singt, werde ein siebzehnjähriges Mädchen leicht von Träumen heimgesucht; Manna solle über diese Träume nicht weinen, sondern sie nur verspotten.

Manna küßte der Oberin die Hände.

Es war Nacht geworden. Die Sperlinge waren verstummt, die lärmenden Kinder ins Haus zurückgekehrt, nur die Nachtigall sang fort und fort im Gebüsch. Manna kehrte, von der Oberin an der Hand geführt, in das Kloster zurück. Sie ging nach dem großen Schlafsaal, nahm Weihwasser und besprengte sich. In ihrem Bette betete sie noch lange still, und mit gefalteten Händen schlief sie ein.

Der Strom rauschte zu Thal und rauschte an der Villa vorüber, wo Roland mit trotzig aufgeworfener Lippe schlief; er rauschte an dem Städtchen vorüber, wo Erich im Hause des Doctors hin und her gesonnen; er rauschte am Gasthof vorüber, wo Prancken im Fenster liegend nach dem Kloster hinüberschaute.

Der Mond glitzerte auf dem Strom, hüben und drüben sangen die Nachtigallen und in den Häusern schliefen die Tausende von Menschen und vergaßen Leid und Freud, bis der Tag wieder erwacht.

Zehntes Capitel.

»Wo ist Roland?«

Sonnenkamp fragt Joseph, Joseph fragt Bertram, Bertram fragt Lutz, Lutz fragt den Obergärtner, der Obergärtner fragt das Eichhörnchen, das Eichhörnchen fragt die Bauern, die Bauern fragen die Kinder, die Kinder fragen die Luft, Fräulein Perini fragt den Chevalier, der Chevalier fragt die Hunde und Frau Ceres darf von Allem nichts erfahren.

Sonnenkamp reitet eilig zum Major, der Major fragt Fräulein Milch, aber diesmal weiß auch die Alles Wissende nichts. Der Major reitet nach der Burg; in alle Graben und Verließe hinein wird der Name Roland gerufen, es kommt keine Antwort.

Sonnenkamp schickt den Reitknecht zum Krischer, der Krischer ist im Felde und nicht zu finden.

Sonnenkamp reitet nach dem Bahnhof und nimmt Puck, das Pferdchen Rolands, mit, er schaut oft nach dem leeren Sattel. Auf dem Bahnhof fragt er leichthin, wie wenn er ihn von einer Reise erwarte, ob Roland noch nicht angekommen wäre. Man hat nichts von ihm gesehen. Er reitet zurück, an der Villa vorüber und fragt hastig, ob Roland noch nicht da sei, und da man verneint, reitet er nach der nächsten Bahnstation stromauf. Auch hier fragt er, jetzt weniger behutsam, auch hier weiß man nichts.

Er kehrt nach der Villa zurück, der Major ist da, Fräulein Milch hat ihn geschickt, vielleicht kann er noch etwas beistehen. Der Major behauptet, Roland sei gewiß zu Manna ins Kloster gegangen. Der Major und Sonnenkamp fahren nach dem Telegraphenamt und senden eine Frage nach dem Kloster; sie sind voll Ungeduld, da keine Leitung unmittelbar nach dem Kloster geht, die Rückantwort kann zwei Stunden dauern. Sonnenkamp will hier warten, er schickt den Major nach dem Städtchen, um dort beim Doctor und sonst überall, aber ohne Aufsehen zu erregen, Erkundigungen einzuziehen.

Auf dem Bahnhofe geht er umher und legt die heiße Stirn an die kalten steinernen Säulen; Alles ist still und leer. Er geht in den Wartesaal; er findet, daß die Sitze auf dem Bahnhof gar nicht zum Ausruhen geschaffen sind. In Amerika ist das anders . . . oder ist es nicht? Er geht hinaus; er sieht, wie die Packer einen Lastwagen anfügen, sie thun das so gemächlich; er sieht einem Steinmetzen zu, der Spitzhammer und Breithammer gebraucht; er schaut so starr drein, als müßte er selber das Handwerk lernen. Die Menschen arbeiten alle so geruhig – sie können es, sie haben keinen Sohn verloren. Er betrachtet die Telegraphendrähte, er hat Lust, in alle Welt, auch da, wo es nichts nutzte, hinauszurufen:

Wo ist mein Sohn?

Es wird Nacht.

Der Bahnzug rollt daher und Sonnenkamp schreckt zurück, es ist ihm, als ob die Locomotive gerade auf ihn losstürzen wolle. Er faßt sich, er sucht umher, er strengt sein Auge an, sieht nichts von Roland. Die Menschen zerstreuen sich; wiederum ist Alles still.

Er ging zum Telegraphisten und ließ nochmals anfragen, ob das Telegramm bereits angekommen sei. Die Antwort lautet: Ja. Der Aufschlag des Telegraphenhammers durchzitterte ihn, er fühlte dieselben Schläge in den Adern seiner Schläfe am Kopfe. Er ersuchte den Telegraphisten, die Nacht dazubleiben, man könne nicht wissen, ob nicht eine Botschaft von irgend woher einträfe oder ob man nicht eine abzusenden habe. Aber der Telegraphist weigerte sich, trotzdem ihm eine große Summe angeboten ward; es sei ihm nicht gestattet, ohne höhere Ermächtigung die Ordnung zu ändern. Er befahl dem Telegraphenboten, bei ihm zu bleiben; er verschloß mit Geräusch die Thür des Telegraphenbureaus und ging davon. Er fürchtete sich offenbar vor Sonnenkamp.

Sonnenkamp war wieder allein. Da hörte er Ruderschläge über den Strom daherkommen.

»Sind Sie es, Herr Major?« ruft er in die sternenhelle Nacht hinein.

»Ja.«

»Haben Sie ihn?«

»Nein.«

Der Major steigt aus; er hatte im Städtchen keine Spur von Roland gefunden. Eine Antwort aus dem Kloster kann erst morgen Früh kommen. Jetzt steigt der Gedanke auf, Roland sei vielleicht beim Grafen Wolfsgarten. Ein Bote wird dahin geschickt; man kehrt zur Villa zurück.

Als Sonnenkamp dem Major die Hand zum Einsteigen reichte, sagte dieser:

»Ihre Hand ist heute so kalt.«

Wie ein Pfeil schoß es Sonnenkamp durch das Hirn, daß er den Knaben heute hatte züchtigen wollen. Wenn Roland in den Tod gegangen, in die Fluthen des Rheins?

Der Ring am Daumen preßte sich ihm ins Fleisch, wie wenn er glühte.

Auf dem Wege nach der Villa kam Joseph den Rückkehrenden entgegen.

»Ist er da?« rief der Major.

»Nein; aber die gnädige Frau hat's erfahren.«

Im Dorfe, durch das sie fuhren, standen die Menschen noch in Gruppen beisammen in der linden Frühlingsnacht. Man begegnete dem Geistlichen, der Major bat ihn, mit nach der Villa zu fahren. Sonnenkamp sprach kein Wort.

In der Villa sah man durch die hohen Fenster Lichter hin und her gehen. Jetzt hörte man einen Schrei; Sonnenkamp eilte hinauf. Im großen Saale lag Frau Ceres im Nachtgewande kniend vor einem Stuhle und drückte ihr Gesicht in die Kissen. Fräulein Perini stand neben ihr und schüttete ein Brausepulver in ein Glas. Sonnenkamp eilte auf seine Frau zu, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte:

»Ceres, sei ruhig!«

Die Frau wandte sich um und sah ihn mit glühenden Augen an, dann sprang sie auf, riß ihm das Gewand an der Brust auf und schrie:

»Gib mir meinen Sohn! Du hast auch Roland in den Tod gejagt, Du . . .«

Rasch hielt ihr Sonnenkamp seine breite Hand vor den Mund, sie suchte ihn zu beißen, aber er hielt ihr den Mund fest zu und sie war still.

Sonnenkamp bat den Geistlichen und Fräulein Perini, ihn mit seiner Frau allein zu lassen; Fräulein Perini zögerte, aber ein Wink mit der Hand bedeutete ihr entschieden, daß sie gehen solle. Sie ging mit dem Geistlichen. Jetzt nahm Sonnenkamp seine Frau auf den Arm wie ein Kind, trug sie in ihr Schlafgemach und legte sie auf das Bett. Ihre Füße waren kalt; er umhüllte sie mit einem Tuche und wickelte sie so, daß sie fest waren. Nach einer Weile war's, als ob Frau Ceres schliefe, oder heuchelte sie es nur? Es war genug. Sonnenkamp ging hinaus in das Balconzimmer, wo der Geistliche, der Major und Fräulein Perini beisammen saßen. Er bat den Geistlichen, sehr verbindlich dankend, er möge sich zur Ruhe begeben, das Gleiche sagte er Fräulein Perini mit einer seltsam höflichen und befehlerischen Art; den Major bat er, bei ihm zu bleiben.

Eine Stunde noch saß er mit dem Major an der offenen Balconthür, er schaute hinauf zu dem Sternenhimmel und horchte hinaus nach dem Rauschen des Rheinstroms. Nun wünschte er, daß auch der Major sich zur Ruhe begebe; der Tag werde schon wieder festes Verfahren bieten. Er selbst legte sich im Vorgemach zum Schlafzimmer seiner Frau nieder; er ging zuvor nochmals leise, die Hand vor das Licht haltend, an ihr Bett; sie schlief ruhig mit glühenden Wangen.

Auf der Villa war Alles still. Sonnenkamp wurde gerufen, der Bote war von Wolfsgarten zurückgekommen; auch dort wußte man nichts von Roland.

»Kommt Herr von Prancken?« fragte Sonnenkamp. Der Bote wußte keine Antwort.

Sonnenkamp war müde und überwacht, aber er konnte keine Ruhe finden; er stand bald wieder auf dem Balcon und hörte, wie die Vögel sangen und der Strom rauschte, er sah die Sonne am Himmel aufgehen, er hörte die Glocken läuten, die ganze Welt, so schön und frisch, erschien ihm als das Chaos.

Er ging hinab in den Park; die Bäume standen still schauernd in der ersten Morgenfrühe, durch die Blätter ging ein Säuseln und Flüstern, als gewänne der erste Morgenstrahl Ton und Bewegung. Die Vögel jauchzten, sie hatten ihre Heimat, ihre Familie, ihnen fehlte kein Kind . . .

Hin und her wandelte Sonnenkamp. Dieser Boden ist sein eigen, diese Bäume sind sein, Alles grünt und blüht und athmet frisch. Athmet auch der noch, für den dies Alles Leben hatte, für den es leben soll, für den es gepflanzt und geordnet ist?

Er kam in den Obstgarten. Da standen die Bäume, deren Zweigen er die Richtung seines Willens gegeben hatte; sie standen in Blüthe und jetzt im ersten Morgenstrahle fielen die Blüthenblätter wie ein leise rieselnder Regen nieder und bedeckten den Boden schneeweiß.

Je höher der Morgen stieg, um so mehr war es Sonnenkamp wie eine Sicherheit, daß Roland todt dort in den Wellen schwimme, die sich jetzt purpurn färben, ein blutiger Strom. Nichts als Blut die weiten Wellen! Er stöhnte tief und streckte die Hand aus, wie wenn er etwas packen und würgen müsse. Er faßte einen Baum und schüttelte ihn fort und fort, daß auch kein Blüthenblatt mehr an ihm war; er stand von Blüthenblättern über und über bedeckt. Und jetzt lachte er höhnisch auf.

»Ich sollte keine Kinder haben! Alleinsein! Allein und stark!«

In diesem Augenblicke sah er eine weiße Gestalt mit seltsamer Kopfverhüllung durch den Garten schleichen und hinter Bäumen verschwinden. Was ist das? Er rieb sich die Augen. War das bloße Einbildung oder Wirklichkeit?

Er ging der Erscheinung nach.

»Halt,« rief er, »dort sind Fußangeln.«

Eine Frauenstimme schrie ängstlich. Sonnenkamp trat näher, Fräulein Milch stand vor ihm und sagte:

»Ich wollte zum Herrn Major.«

»Er schläft noch.«

»Ich kann es auch Ihnen sagen,« begann Fräulein Milch sich fassend, »es läßt mir keine Ruhe.«

»Nur heraus . . . keine Einleitung!«

Fräulein Milch erhob sich stolz und sagte:

»Wenn Sie barsch sind, kann ich wieder gehen.«

»Entschuldigen Sie, was wünschen Sie denn?« fragte er sanft.

»Ich glaube zu wissen, wo Roland ist.«

Sonnenkamp brach in Ungeduld einen Blüthenzweig ab. Fräulein Milch fuhr fort: es sei ihr unbegreiflich, wie man nicht sofort daran gedacht habe, daß Roland zum Hauptmann Dournay gereist sei; man solle sich telegraphisch an ihn wenden.

Sonnenkamp dankte mit heiserer Stimme und sagte, er wolle den Major wecken und in den Garten schicken; Fräulein Milch bat, daß man ihm ruhig seinen Schlaf lasse. Sie kehrte nach Hause zurück und Sonnenkamp machte einen weiteren Gang durch den Park.

Die Rosen waren aufgeblüht über Nacht, von Stämmen und Büschen sandten sie den Duft dem Herrn des Gartens, er aber war nicht erquickt davon.

Da ist der Park, das Haus, da sind die Bäume: das Alles ist zu erwerben, zu gewinnen. Aber Eines läßt sich nicht durch Willenskraft gewinnen: ein Leben, ein Kindesleben, ein Kindesherz, ein Zusammenhang von Seele zu Seele, ein unzertrennlicher und unerschöpflicher.

Und wieder kam ihm jetzt jenes scharfe Wort: Ihr habt in Euren Mitmenschen das Gefühl von Vater und Mutter und Kind getödtet. Nun trifft's Euch!

Warum umschwebte ihn heut das Wort jenes Kämpfers in der neuen Welt, heut wie gestern? Ist vielleicht jener Mann auf dem Schiffe, das mit der ersten Morgenfrühe jetzt stromaufwärts steuert?

Er konnte nicht ahnen, daß jetzt das Kind des Doctor Fritz mit Roland im Walde sprach . . .

Elftes Capitel.

In der Nacht brachen die Blüthen auf im Garten und in der Seele des Jünglings.

Zu Erich! sprach Roland, aber kein Ton wurde laut, er sprach es nur sich. Die Nacht war sternenhell, am Himmel stand der abnehmende Mond, er leuchtete mild und Roland war von einem Frohgefühl durchdrungen, daß er oft die Arme ausbreitete, als müsse er auffliegen können. Er ging eilig, als würde er verfolgt; er hörte Schritte hinter sich, er hielt an; es war sein eigener Schritt gewesen.

In der Ferne zeigte sich eine Gruppe stillstehender Männer, die auf ihn zu warten schienen. Er kam näher; es waren Holzpfähle, die zur Einhegung eines Weinberges dienten. Er mäßigte seinen Schritt; er wollte singen, aber er fürchtete, sich durch einen Laut zu verrathen. Auf einer Anhöhe stand er still; er hörte weit drunten auf dem Strome einen Schleppdampfer keuchen, sah die Lichter auf den Mastbäumen der angehängten Schiffe, die Lichter bewegten sich so wundersam fort; Roland zählte sie, es waren sieben.

»Die dort wachen auch,« sprach er laut vor sich hin, und zum ersten Mal ging ihm auf, daß Menschen zu ihrem Lebensunterhalt die Nacht durchwachen und arbeiten müssen, die dort bei der Maschine im Schleppschiff und die Steuerleute und die Schiffer auf den angehängten großen Kähnen.

Warum ist das? Was drängt die Menschen?

Unwillig schüttelte er den Kopf. Was ficht das ihn an?

Er wanderte weiter auf der Hochebene und stieg einen Berg hinter derselben hinan. Er freute sich kindisch, daß sein Schatten mit ihm ging. Er hielt sich stets in Mitte der Straße, die Gräben an den Wegen hatten etwas unheimlich Lauerndes; er sah befremdet nach den Schatten, den die Bäume im Mondesschein warfen, er freute sich, wo es wieder hell und licht war. Nahte er sich einem Dorfe, fühlte er sich geborgen, obgleich Alles schlief; man ist doch unter Menschen. Man hatte ihm stets gesagt: in der Nacht wandeln auf allen Straßen Diebe und Mörder und suchen zu rauben und zu tödten. Was hatte er bei sich, das sie ihm rauben konnten? Seine Uhr an der Kette. Er that sie heraus, er wollte sie verstecken.

»Schäme Dich,« sagte er plötzlich laut. Er war inne geworden, wie er sich im Grunde der Seele fürchte; das wollte er nicht. Mit herausfordernder Kühnheit dachte er sich vielmehr Gefahren aus, die er bestehen wolle; er freute sich ihrer und rief:

»Kommt nur! ich bin dabei und der Satan auch! Nicht wahr, Satan? Sie sollen nur kommen,« schmeichelte er dem Hunde. Der Hund sprang an ihm empor.

Er kam durch ein Dorf, Alles schlief, da und dort bellte ein Hund, der die Nähe des fremden Hundes witterte. Roland gebot Satan zu schweigen; der Hund gehorchte. Der Knabe erkannte das Dorf, hier war er ja am Sonntag mit dem Doctor und Erich gewesen, hier war das Haus, wo der Mann gestorben, auf der andern Seite war der Turnplatz, wo er mit Erich geturnt hatte. Endlich kam er an das Haus des Siebenpfeifers, da schlief jetzt das ganze Orchester. Eine Weile stand er still, ob er nicht einen aus dem Hause wecken, mitnehmen oder zu seinem Vater schicken solle. Er verwarf Beides und ging weiter.

Die Nacht war still, nur bisweilen hörte er noch von Ferne das Bellen eines Hundes wie aus dem Schlafe. Ein Bach rieselte am Wege, das tönte so wundersam, der Bach ging eine Weile wie plaudernd mit, bald aber verlor er sich und wieder war Alles still. Er kam durch eine Schlucht, wo es von hohen Bäumen hüben und drüben so dunkel war, daß er den Weg zu seinen Füßen nicht sah; ruhig sich fassend ging er vorwärts und dachte sich, wie schön das am hellen Tage sein müsse. Er kam aus der Schlucht hervor und freute sich wieder des offenen Weges. Ueber dem Sattel eines Berges erschien ein Stern, so groß, so glänzend, der Stern stieg immer höher und glänzte so funkelnd. Ob wol Manna diesen Stern kennt?

Im ersten Hause eines Dorfes war Licht; er hielt an. Er hörte sprechen. Drinnen klagte und jammerte die Frau, daß morgen die einzige Kuh verkauft werden solle. Schnell entschlossen legte Roland mehrere Goldstücke auf das Fenstersims der niedern Stube, pochte an die Scheiben und rief:

»Ihr Leute, es liegt Geld für die Kuh auf dem Sims.«

Athemlos rannte er davon, eine Angst befiel ihn, als wäre er ein Dieb; erst draußen vor dem Dorfe hielt er an, sich in einen Graben niederduckend. Er wußte nicht, warum er davon gerannt war. Wie er nun so sich niederduckte und aufhorchte, ob die Beschenkten ihm nachfolgten, kicherte er in sich hinein, wie ein Geist thun müßte, der umwandelt, das Leid der Menschen heilt und sich dem Dank entzieht. Es kam Niemand. Rüstig schritt er weiter, und beseligt im Gedanken dessen, was er gethan, dachte er sich aus, wie es wäre, wenn man mit viel Geld ungesehen so in der Welt umherwandelte und wo man hinkäme, Alles glücklich machte.

Als er jetzt den Blick wieder auf die Straße heftete, sah er auf dem Felde am Wege einen abenteuerlich aussehenden Mann stehen, der eine Waffe geradezu auf ihn gerichtet hielt. Bebend stand er still und forderte den Mann auf zu sagen, was er wolle; der Mann rührte sich nicht. Er hetzte den Hund nach ihm, der Hund kam zurück und schüttelte den Kopf. Roland trat auf die Erscheinung zu und lachte und zitterte zugleich; die Erscheinung war nichts als eine Vogelscheuche.

Ein schwer knarrendes Fuhrwerk kam auf der Straße heran, näher und näher. Es war ein seltsames Schettern und Klappern, wie der Wagen auf den Achsen sich hin und her bewegte und die Räder, Steine zermalmend, knarrten. Roland glaubte bestimmt unterscheiden zu können, daß der Wagen nur zwei Räder habe und mit Einem Pferde bespannt sei. Er hielt an, um das genau herauszubringen; dann aber hörte er wieder verschiedenen Hufschlag. Er stellte sich hinter einen Baum und wartete das Herannahen des Wagens ab, er sah, daß zwei Pferde der Länge nach vor einen in der That nur zweiräderigen Wagen gespannt waren; der Fuhrmann ging pfeifend und mit der Peitsche knallend neben her. Als der Wagen vorüber, wanderte Roland, eine Strecke sich entfernt haltend, dem Fuhrwerke nach. Eine Bangigkeit hatte den jugendlichen Wanderer in der Nacht ergriffen, jetzt wußte er sich in der Nähe eines wachenden Menschen; wenn eine Gefahr drohte, konnte er ihn anrufen.

Er erschrak, als er plötzlich nichts mehr von dem Fuhrwerk hörte; der Fuhrmann hatte Halt machen müssen, um das Weggeld zu bezahlen. Als es nun wieder knarrte, war Roland wohlgemuther. Am ersten Hause des nächsten Dorfes hielt der Wagen an. Der Hausknecht, der auf den Fuhrmann gewartet zu haben schien, war nicht wenig erstaunt, beim Scheine der Laterne, mit der er herauskam, auch einen schönen Knaben mit funkelnden Augen zu erblicken.

»He! Wer ist denn das?« rief der Hausknecht und brachte vor Staunen und Schreck den Mund nicht mehr zusammen, denn der große Hund umschnüffelte die Beine des Hausknechts, stellte sich dann vor den Erschreckten, zeigte seine gesunden Zähne und blinzelte nach seinem Herrn zurück, nur auf den Anruf wartend: »Faß ihn!«

Roland befahl dem Hunde, zurückzutreten. Seine Stimme mußte etwas haben, das dem Fuhrmann und dem Hausknecht Respect einflößte.

Sie fragten, ob er auch einen Schoppen trinken wolle; Roland bejahte. Und so saß er nun bei dem einsamen Oellicht mit dem Fuhrmann hinter dem Tische und stieß mit ihm an. Der Hausknecht war neugierig; schmunzelnd auf Rolands feine Hand deutend, sagte er:

»Das ist ein schöner Fingerring; da ist ja ein Stein drin, der glänzt! Der ist wol viel werth? Thu mir einen Gefallen! Du, schenk mir den Ring.«

Der Wirth in der Kammer, der das gehört hatte, kam, gespensterhaft anzuschauen, nur mit Hemd und Unterkleidern angethan, auch herbei. Roland wurde nun gefragt, wer er sei, woher er käme, wohin er wolle. Er gab ausweichenden Bescheid.

Der Fuhrmann machte sich wieder davon, Roland ging neben her und vernahm, daß auf dem Wagen frische irdene Krüge waren, die nach einem nahen Heilbrunnen gebracht wurden, um dann in die weite Welt bis nach Holland hinunter zu gehen. Für den Fuhrmann war Holland das Ende der Welt. Roland staunte, als er erfuhr, wie vielerlei Thätigkeit erforderlich ist, bis das auf seinem elterlichen Tisch gewohnte Mineralwasser getrunken wird.

Roland wurde viel ausgefragt, er antwortete nur befangen. Der Fuhrmann sagte ihm, er sei ein ehrlicher Kerl, Alles, was er auf dem Leibe trage, sei schwer verdient und er möchte eher hungern und betteln, als daß er unrecht Gut besäße. Er ermahnte Roland, wenn er etwas gethan habe, wofür er Strafe befürchte – wenn er vielleicht den Ring gestohlen – möge er lieber zurückkehren und Alles wieder gut machen. Roland beruhigte den Mann.

Der Weg führte durch einen kleinen Wald von schönen Eichen. Man hörte das Schreien der Nachteule, es klang wie neckisches Lachen.

»Gottlob, daß Du bei mir bist,« sagte der Fuhrmann; »hast Du auch das Lachen gehört?«

»Das ist kein Lachen, das ist ein Nachtvogel gewesen.«

»Ja, Nachtvogel – der Lachgeist ist's.«

»Der Lachgeist? Wer ist denn das?«

»Ja, meine Mutter hat ihn einmal am hellen Tag gehört, wie sie noch ein ganz klein Mädchen gewesen ist. Da sind einmal die Kinder hinaus in den Wald, um zu eicheln. Du weißt wol, man schüttelt die Eicheln und legt ein Tuch unter den Baum und da sammelt man die Eicheln; das ist das beste Schweinefutter. Nun sind die Kinder im Walde an einem schönen Mittag im Herbst, die Buben steigen auf den Baum und schütteln die Eicheln, daß es nur so prasselt. Da hören sie im Dickicht plötzlich lautes Lachen. Was ist das? – O, sagt meine Mutter, das ist ein Geist. – Was? sagt da ein kecker Bub, wenn es ein Geist ist, so will ich auch einmal einen sehen. – Er geht ins Dickicht hinein, und da sitzt ein winzig klein Männchen auf einem Baumstumpf, sein Kopf ist fast größer als der ganze Leib, es ist ganz grau und hat einen langen grauen Bart. Und der Bub fragt: Bist Du's, der so gelacht hat? – Freilich, sagt das Männchen und lacht noch einmal, gerade so wie vorher. Ihr habt die Eicheln geschüttelt, aber eine ist unter das Tuch gefallen tief ins Moos hinein, die findet ihr nicht, und aus der Eichel wird ein Baum wachsen und wenn er groß genug ist, wird man ihn umhauen und aus dem einen Theil der Bretter wird man eine Wiege machen und aus dem andern eine Thür, und in die Wiege wird man ein Kind legen, und wenn das Kind zum ersten Mal wird die Thür aufmachen können, bin ich erlöst. So lang muß ich noch umgehen, weil ich ein Waldfrevler gewesen und von unrecht Gut gelebt habe. – Das Männchen lacht noch einmal und verschwindet im Baumstumpf. Seitdem hört man's noch manchmal, gesehen hat man's aber nicht mehr. Alle kennen die Eiche im Walde, aber Niemand rührt sie an.«

Roland glaubte nicht an das Märchen, aber er hörte doch, wie der Fuhrmann ihm fort und fort erklärte, unrecht Gut sei schwer abzuwälzen.

Allmälig begann es zu dämmern. Der Fuhrmann setzte sich auf den Wagen und machte sich ein Lager zurecht, es sei jetzt Tag und da könne er ein wenig schlafen. Roland reichte dem Fuhrmann die Hand und sagte Lebewohl.

Auf einem Steinhaufen am Wege saß der Knabe und starrte vor sich hin und hörte, wie allmälig das Knattern und Knarren des Fuhrwerks in der Ferne austönte. Er sah wie im Traume den Fuhrmann an seinem Bestimmungsorte ankommen, er sah ihn im Schuppen auf dem Heubündel liegen, das er nachher seinen Pferden vorwarf.

Noch nie war Roland so allein gewesen, ohne Geleit und im Bewußtsein, daß Niemand ihn anrufe.

Die Sonne war aufgegangen, er ertrug den Glanz nicht; er schaute nieder.

Er verfolgte den Weg eines kleinen Käfers, der hurtig am Boden kroch und einen Halm hinaufkletterte.

Unfaßbare Gedanken regten sich in dem jungen Geiste. Welch eine unendliche Fülle von Sein ist die Welt! In den Hecken der eben aufgebrochenen wilden Rosen am Wege, an deren Dornen und Blättern Thautropfen hingen, saßen regungslos Käser und Fliegen aller Art und große Hummeln flogen summend von einem offenen Blumenkelche zum andern. Hier hatten Käfer, Schmetterlinge, Fliegen und Spinnen übernachtet und Schnecken mit ihren Häusern auf dem Rücken wohnten still an den Zweigen.

Er sah eine Feldmaus in ihrem Loche, sie blieb zuerst am Rande liegen, lauschend, schauend, die Kiefer bewegend, endlich schlüpfte sie heraus und verschwand schnell unter den Rasen in ein ander Loch. Ein bunter Käfer rannte in der Morgenfrühe eilig über den Feldweg; er fürchtete die offene Straße, erst im Dickicht des Getreides fühlte er sich sicher. Ein Hase lief dahin. Satan sprang ihm nach, Roland griff an die Seite, ob er nicht seine Flinte bei sich habe.

Wie auftauchend aus einem Strome sich überstürzender Eindrücke stand er auf. Den Blick auf den Weg geheftet, ging er weiter; sein Schritt war zögernd, denn in ihm sprach es:

»Kehre zurück zu Vater und Mutter!«

Aber ein Bangen vor dem Vater überfiel ihn, und die Kraft seines Vorsatzes erwachte aufs Neue. Plötzlich rief er laut:

»Erich!«

»Erich!« tönte es wieder in vielfältigem Echo, und wie von den Bergen neu aufgerufen, wandelte Roland weiter. Es war ihm, als wandelte er nicht, sondern als würde er gehoben und getragen. Die durchwachte Nacht, der genossene Wein, Alles, was er erlebt, wogte traumhaft durcheinander und ihm war, als müßte er jetzt etwas finden, was noch Niemand auf der Welt vor ihm gefunden: ein Unnennbares, ein Unfaßbares, ein Wunder. Er schaute um, ob es sich nicht zeige; es muß etwas kommen, was ihm sagt: Auf Dich habe ich gewartet; bist Du endlich da? Und wie er jetzt umschaute, bemerkte er, daß der Hund ihn verlassen hatte. Dort war der nahe Wald, der Hund war gewiß wieder einem Hasen oder wilden Kaninchen nachgelaufen. Roland pfiff, er wollte laut rufen: »Satan!« aber er brachte jetzt das Wort nicht heraus. Er rief den alten Namen: »Greif!«– Der Hund kam fröhlich daher, die Zunge hing aus dem Maule, er war naß vom Thau des Kornfelds, durch das er gerannt war. Roland hatte Mühe, den Hund abzuwehren, der ganz glücklich schien, daß er seinen alten Namen wieder hatte; er schaute verständnißvoll auf, während er schnell athmete.

»Ja, Greif heißt Du!« rief ihm Roland zu. »Jetzt zurück!« Der Hund folgte ihm auf dem Fuße.

Als nun die Straße durch den Wald führte, legte sich Roland im Moose unter einer Tanne nieder; über ihm sangen die Vögel und rief der Kuckuck. Greif saß neben ihm, schaute ihn zufrieden an und schien zu billigen, daß Roland sich Ruhe gönnte. Roland that ihm das Maul auseinander und freute sich der prächtigen Zähne, dann sagte er – der eigene Hunger mochte ihn daran erinnern:

»Im nächsten Orte, wo ein Fleischer ist, bekommst Du eine Wurst.«

Greif leckte sich mit der Zunge die Lefzen, sprang, wie wenn er die Worte verstanden hätte, im Kreise herum, jagte die Raben auf, die schon so früh ihre Nahrung im Felde suchten, und bellte in die höher steigende Sonne hinein.

Der ermüdete Knabe schlief bald ein; Greif setzte sich neben ihn, aber er kannte seine Pflicht, er legte sich nicht nieder; er blieb sitzen und verscheuchte sich den Schlaf. Nur manchmal blinzelte er, als ob es ihm schwer würde, die müden Augen offen zu halten; dann aber schüttelte er den Kopf und hielt getreulich Wache bei seinem Herrn.

Plötzlich erwachte Roland. Er hörte eine Kindesstimme.

Zwölftes Capitel.

Roland rieb sich die Augen; vor ihm stand ein Kind, ein Mädchen, schneeweiß angethan, mit einer blauen Schärpe. Ihr Antlitz war rosig, große blaue Augen schauten daraus hervor, und vom Kopfe hingen lange, aufgelöste, dunkelblonde, wellige Haare weit über den Nacken herab. Das Kind hielt mit beiden Händen einen Strauß von Waldblumen.

Greif stand vor dem Kinde und ließ es nicht weiter.

»Greif! Zurück!« rief Roland sich aufrichtend. Der Hund trat hinter den Rücken seines Herrn.

»Der deutsche Wald! der deutsche Wald!« sagte das Kind in fremdländischem Ton und mit einer Stimme, die der Prinzessin aus dem Märchen angehören konnte. »Das ist der deutsche Wald! Ich habe mir nur Blumen geholt. Bist Du der Waldprinz?«

»Nein. Wer bist denn Du?«

»Ich bin aus Amerika. Der Onkel hat mich vom Schiff geholt und jetzt bleib' ich in Deutschland.«

»Lilian, komm! Wo bleibst Du so lange?« rief eine Männerstimme vom Rande des Walds her.

Roland sah durch die Bäume hindurch einen offenen Wagen und einen großen stattlichen Mann mit schneeweißen Haaren.

»Ich komme schon,« antwortete das Kind, »ich habe schöne, schöne Blumen.«

»Hier nimm diese von mir,« sagte Roland und pflückte eine voll aufgeblühte Maiblume vom Boden.

Das Kind warf alle Blumen, die es in der Hand hatte, weg, faßte die eine, rief: »Good bye!« und rannte schnell nach dem Wagen. Der Mann hob das Kind, das nach dem Walde zurückdeutete, in den Wagen, der davon rollte.

Roland hielt sich die Hand an die Stirn.

War das wirklich geschehen oder hatte er nur geträumt? Aber noch hörte er das Rollen des Wagens, und die abgebrochenen Blumen am Boden zeigten, daß er in der Wirklichkeit lebte. Hatte das Kind in der That gesagt, es sei aus Amerika? Warum bist Du ihm denn nicht nachgegangen? Warum hast Du nicht mit dem Alten gesprochen? Und Niemand kann Dir sagen, wer das Kind war und wohin es geführt wurde.

Eine Weile starrte Roland auf die vor ihm liegenden Blumen, er hob aber keine auf. Greif bellte ihm zu, als wollte er sagen: Ja, und da behauptet man, man erlebe keine Wunder mehr! Er schnüffelte an den abgebrochenen Blumen herum, dann rannte er der Spur des Kindes und dem Wagen nach, als wollte er den Wunsch seines Herrn erfüllen, die Leute anhalten, damit er noch mit ihnen reden könne. Roland pfiff und schrie; Greif kam und Roland schalt:

»Für deine Untreue verdienst du, daß ich dir die Wurst nicht gebe.«

Greif legte sich bittend zu seinen Füßen nieder; er konnte ihm ja nicht sagen, wie gut er es gemeint.

»So, nun wollen wir abziehen,« sagte Roland. Und weiter ging's des Weges.

Er hörte den Pfiff der Locomotive aus der Ferne, er ging dem Pfiffe nach. Der Wald war bald durchschritten; nun ging's wieder durch Weinberge.

An einem Wege abseits sah Roland, wie mehrere Frauen ab- und zugingen; sie trugen Schiefererde in einen neu angelegten Weinberg. Am Rain neben einer Hecke brannte ein Feuer, an welchem Töpfe standen. Eine Alte rührte mit einem dürren Zweige in den Töpfen. Roland stand still und die Alte rief ihn an, ob er mithalten wolle. Er ging auf die Gruppe zu und sah, daß hier Kaffee gekocht wurde. Nun kamen auch die anderen Frauen herbei, junge und ältere, es gab viel des Lachens und Scherzens; man stülpte die Körbe um und setzte sich darauf. Roland wurde auch solch ein Sitz bereitet, man legte noch einen Bausch unter und fragte, ob er vielleicht ein Prinz sei. Roland verneinte lachend.

Ein alter Winzer, der die Arbeit leitete, sagte zu Roland, er trinke keinen Kaffee, das sei eine dumme Mode, damit ginge das Geld aus dem Lande nach Amerika und käme gar nicht mehr zurück.

Die Frauen hörten aufmerksam zu, wie Roland berichtete, daß nicht der Kaffee, sondern der Zucker aus Amerika käme.

»Und unser Zucker,« sagte die Alte, »ist ganz und gar in Amerika geblieben, denn wir haben keinen.«

Die erste Tasse und der Rahm von der Milch wurde Roland gegeben, auch ein Stück Schwarzbrod bekam er. Er hätte gern den Leuten etwas dafür gegeben, aber jetzt merkte er, daß er sein Geldtäschchen nicht mehr habe. Im Wirthshause hatte er's noch gehabt; hatte er es im Walde verloren oder hatte ihn der schelmisch blickende, betastende Hausknecht bestohlen?

Weiter wanderte er und erreichte bald den Bahnhof.

Mit Bedacht hatte er vermieden, auf einer der nächsten Stationen einzusteigen, denn da kannte man ihn und seine Flucht wurde verrathen; er wollte, die Eisenbahn in einem Bogen umgehend, erst auf einer entfernten Station einsteigen.

Auf dem Bahnhofe wurde Roland von einem Manne in zertragenen Kleidern, der einen Stiefel und einen abgetretenen Pantoffel an den Füßen hatte, wie ein alter Bekannter begrüßt.

»Guten Morgen, lieber Baron! Guten Morgen, lieber Baron!« rief ihm der Verwahrloste zu und drängte sich an ihn.

Ein Bahnbeamter bat in höflicher Weise den halb Betrunkenen, halb Wahnwitzigen, er möge den Fremden in Ruhe lassen.

Der Zudringliche ließ sich beseitigen, winkte aber Roland immer von ferne vertraulich zu, wie wenn sie ein tiefes Geheimniß mit einander hätten.

Roland hörte, daß dies der Sprosse einer angesehenen Adelsfamilie sei; seine Verwandten hätten ihm helfen wollen und ihm ein Jahrgehalt ausgesetzt, aber er thue nicht gut. Nun sei er hier in Kost bei einem Packknecht und seine einzige Freude sei der Bahnhof. Man habe alle Rücksicht mit ihm, er sei doch ein Baron und sehr zu bedauern.

Roland fürchtete sich vor dem Manne wie vor einem Gespenst. Die Aufregung der Nacht und Alles, was er erlebt, wirkte nach, und doch ging der Gedanke nebenher, wie wunderbar es ist, daß der Verkommene noch rücksichtsvoll behandelt wird, weil er eben ein Baron ist.

Roland verpfändete seinen Brillantring bei dem Wirth des Bahnhofs. Er aß und gab auch Greif die versprochene Wurst; dann löste er ein Billet nach der Universitätsstadt. Nun saß er endlich im Wagen und konnte sich nicht enthalten, einem Nachbar zu sagen:

»Ach, wie schön, daß wir jetzt fortgezogen werden.«

Der Nachbar sah ihn groß an; er konnte ja nicht wissen, wie es den Knaben glücklich machte, daß er, schwer ermüdet, nun ohne weitere Selbstbestimmung fortgerollt wurde zu Erich.

»Wohin geht der Weg, Herr Baron?« fragte der Nachbar.

Roland nannte sein Ziel, aber er sah den Mann groß an, daß er ihn Baron nannte. Ist er es denn über Nacht geworden? Bei einer Abzweigung, wo andere Schaffner antraten und der Nachbar ausstieg, sagte dieser zu dem neuen Schaffner:

»Geben Sie auf den jungen Baron Acht, der da drin sitzt.«

Roland ließ sich's gefallen, daß er so genannt wurde, und ein eigenthümliches Gefühl kam über ihn, wie schön es doch sein müsse, wenn man ein Baron sei; da habe man in der ganzen Welt einen Titel mit festen Ehren. Der Gedanke streifte ihn nur, verflog aber bald, denn er dachte sich jetzt die Freude, die Erich haben würde; sein Antlitz glühte vor Ungeduld und Sehnsucht.

Plötzlich überfiel ihn ein Schreck. Wo war denn der Hund geblieben? Er hatte ihn verloren oder vergessen. Aber fort rollten die Wagen durch Thäler, Bergeinschnitte und Tunnels, und Roland war's, als sei er schon ein Jahr von daheim fort.

Nicht weit von der Universitäts-Stadt, wo die Bahn sich wieder abzweigte, stiegen Studenten ein. Sie sangen lustige Lieder und waren sehr freundlich gegen Roland.

Es war Dämmerung eingetreten, als man in der Universitätsstadt ankam.

Roland fragte nach Doctor Dournay. Einer der Studenten, ein Jüngling mit seinem Antlitz, sagte, er möge mit ihm kommen, er wohne neben der verwittweten Professorin. Roland ging mit ihm. Und jetzt überfiel ihn eine seltsame Angst. Wie ist's, wenn er Erich nicht mehr findet? wenn Erich nichts mehr von ihm will? Wie viel kann geschehen sein in dieser Zeit!

Klopfenden Herzens ging er die steile, dunkle, hölzerne Treppe hinaus. Oben öffnete sich eine Stubenthür und eine Frauenstimme fragte:

»Zu wem wünschen Sie?«

»Zu Herrn Hauptmann Dournay.«

»Er ist verreist.«

Dreizehntes Capitel.

Roland bat, daß er hier warten dürfe; er wurde in die Wohnstube geführt; das Dienstmädchen sagte, daß Erich nach der Hauptstadt gereist sei, er käme aber möglicher Weise noch heute zurück; die Mutter sei nach dem Grabe ihres Sohnes gegangen, dessen Todestag heute war. Das Mädchen ging hinaus, um die Lampe herzurichten. Allein und müde saß Roland in der Stube in einer Sophaecke.

Wunderlich! Da stehen so viele Menschenwohnungen auf der Welt, da kann man eintreten und sitzt plötzlich in einem fremden Haus.

Vom Thurme der Stadt tönte nach alter Sitte ein Choral, von Trompeten geblasen. Roland träumte in die Welt hinein, er wußte nicht mehr, wo er war, er erinnerte sich nur, daß er einstmals durch viele Länder und Städte gefahren.

Da trat die Mutter ein. Sie blieb unter der Thüre stehen. Roland richtete sich auf und sagte:

»Guten Abend, Mutter.«

Die Hände ausstreckend rief die Mutter:

»Hermann . . .«

»Ich heiße nicht Hermann, ich heiße Roland.«

Die Mutter ging zitternd auf ihn zu, die Tante kam eben mit Licht und jetzt klärte sich Alles auf. Roland konnte sagen, daß er Erich nachgereist sei, denn er lasse nicht mehr von ihm. Die Mutter küßte Roland und weinte und schluchzte.

Man hörte Schritte auf der Treppe. Erich trat ein.

Roland hatte nicht die Kraft, sich vom Platze zu erheben, und Erich rief staunend:

»Du hier?«

Roland konnte kaum hervorbringen, was er gethan. Starr und irr schaute er drein, da Erich ihm so fremd gegenüber stand und nicht einmal die Hand reichte. Er berichtete kurz, was vorgefallen, er schien etwas von dem Unrecht zu erkennen, das er begangen; Erich sollte ihm nun helfen, Alles zu ordnen. Dieser erkannte die Aufregung des Knaben und suchte ihn zu beruhigen.