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Moon River

 

Kurzgeschichten von Andreas Eschbach, Christian Montillon,

Marc A. Herren und Bernd Perplies.

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Vorwort

 

Im Mai 2013 begann eine neue Ära der größten Science-Fiction-Serie der Welt. PERRY RHODAN startete in einen neuen Handlungszyklus, den ersten Roman dazu verfasste Andreas Eschbach. Grund genug, dieser neuen Ära im digitalen Bereich eine besondere Publikation auf den Weg zu geben – das Ergebnis war im Mai 2013 dann PERRY RHODAN-Kompakt, das erste E-Book unter diesem Serientitel.

Die ersten vier Romane des Zyklus »Das Atopische Tribunal« wurden in diesem E-Book präsentiert ... doch es gab eine Ergänzung: Die Autoren der einzelnen Bände ließen es sich nicht nehmen, für diese Spezialveröffentlichung noch einmal in die Handlung ihrer jeweiligen Romane einzutauchen. Zusätzlich zu den originalen Texten steuerte jeder eine Kurzgeschichte bei und beleuchtet darin Facetten des Geschehens, für die bislang kein Platz blieb.

So entstand ein erweiterter Blick auf den Beginn der neuen Ära, eine Art Director‘s Cut. Und weil viele Leser danach fragten, präsentiert dieses E-Book nun – als erste Ausgabe von PERRY RHODAN-Storys – die vier exklusiven Kurzgeschichten.

Vier Mal gibt es einen tieferen Einblick in das, was ganz selbstverständlich ebenfalls ablief (Andreas Eschbach) ... was nie erzählt wurde, aber während der Handlung der Romane geschah (Christian Montillon) ... oder davor (Marc A. Herren) ... oder danach (Bernd Perplies).

Andreas Eschbach stellt sich in »746 Upper West Garnaru Road« eine Frage, die bisher noch keiner zu stellen wagte: Wie bei allen Galaxien des Universums ist Perry Rhodan eigentlich an das neue seltsame Haus gekommen, das im Roman eine Rolle spielt – und wie mag es einem »Makler« gehen, der dem Unsterblichen eine Wohnung vermittelt?

»Ein onryonisches Schreckgespenst« heißt der Beitrag, den Christian Montillon exklusiv für dieses E-Book geschrieben hat. Der ungewöhnliche Titel will zunächst so gar nicht zu einer Science-Fiction-Geschichte passen. Oder doch? Der Text schaut im wahrsten Sinn des Wortes in den Kopf einer der Nebenfiguren hinein, deren Geheimnis sonst für immer verlorengegangen wäre.

Der in der Schweiz lebende Autor Marc A. Herren steuert »Moon River« bei und beginnt mit einem klassischen Lied, das eine Figur hört, die der Leser aus den vorangegangenen Romanen kennt. Wie erlebte ein Kind, ein bedeutendes Kind sogar, das Geschehen auf dem Techno-Mond in den vergangenen Jahren?

Den abschließenden Exklusiv-Beitrag liefert Bernd Perplies mit »Die, die überlebt haben ...«. Für ihn war die Geschichte eines seiner Nebencharaktere mit dem Wort »Ende« unter seinem PERRY RHODAN-Manuskript 2703 noch nicht beendet. Was geschah eigentlich in den Tagen danach?

 

Christian Montillon

PERRY RHODAN-Team

746 Upper West Garnaru Road

von Andreas Eschbach

 

 

»Du siehst heute so ... zerknittert aus«, stellte Alce fest, als Vanten Arevetza am Frühstückstisch Platz nahm. »Was ist los?«

»Nichts«, sagte Vanten und versuchte, sich die Schmerzen im Nacken nicht anmerken zu lassen. »Wahrscheinlich werde ich einfach alt.«

»Nein, im Ernst. Ich mach mir Sorgen.«

»Ach was«, meinte er, drehte die Hüfte ein wenig, spürte den Verspannungen nach. Es wurde schon besser, oder? Meistens war nach einer halben Stunde oder so alles wieder in Ordnung.

»Bist du sauer, weil ich an deinem achtzigsten Geburtstag nicht da bin?« Sie griff über den Tisch, legte die Hand auf seinen Arm, lächelte ihn mit jenem Schmelz an, der sie so unwiderstehlich machte. »Es geht halt im Moment nicht anders. Ich mach das wieder gut, Ehrenwort.«

»Ich hab's nicht so mit Geburtstagen, das weißt du doch.« Er griff nach einer halbierten Frucht, die er noch nie gesehen hatte: Sie hatte eine grüne, stachelige Schale, die an eine längliche, etwa faustgroße Kastanie denken ließ, und dunkelblaues Fruchtfleisch. »Was ist denn das?«

»Eine Glom-Glom.« Alce arbeitete für Allfruit-Orhat, einen terranisch-mehandorischen Lebensmittelhandel, einen Konzern, der sich auf Obst und obstähnliche Früchte spezialisiert hatte. »Kommt aus dem Plejaden-Sektor, von Antrus oder Asgaard ... Antrus, glaube ich. Ist erst vor zehn Jahren oder so als Nutzpflanze entdeckt worden. Jedenfalls ist gerade in der Diskussion, wann die Markteinführung im Solsystem sein soll.«

Vanten tauchte den Löffel in das Fruchtfleisch, schabte ein Stück heraus und probierte es. »Nicht schlecht. Irgendwo zwischen Kiwi und Feuerbeere, würde ich sagen.«

»Der Feuerbeerengeschmack kommt noch besser raus, wenn man Saft daraus macht. Wir versprechen uns einen ziemlichen Erfolg davon.« Sie sah ihn mit neu erwachendem Argwohn an. »Irgendwas ist doch mit dir, Vanten! Ist es immer noch, weil sie Yagiirbu befördert haben an deiner Stelle?«

»Ach was«, wehrte Vanten ab, obwohl es ihn, ja, schon ein wenig gewurmt hatte, wenn er ganz ehrlich war. »Außerdem war es keine Beförderung, die ganze Abteilung ist reorganisiert worden. Weil sich die Situation nun mal ziemlich verändert hat. Und Yagiirbu macht einen hervorragenden Job. Er ist der Dienstälteste; wenn er kein Jülziish wäre, würde er den Laden schon seit Jahren leiten.«

»Du gönnst es ihm also.«

»Ja«, sagte er und dachte: Nein.

Er bewegte die Schultern, versuchte, den unteren Rücken unauffällig zu dehnen. Er hätte ihr sagen können, was los war: Ihr gemeinsames Bett war zu weich. Er stand oft mit schier unerträglichen Rückenschmerzen auf.

Doch das würde er ihr nicht sagen. Alce hatte das Bett vor nunmehr fünfzehn Jahren in ihre Lebenspartnerschaft eingebracht und hing allem Anschein nach daran. Sie war erst Mitte sechzig, eine attraktive Frau in der Blüte ihrer Jahre, die immer noch die Blicke der Männer auf sich zog, wo sie ging oder stand. Was sie an ihm, Vanten, fand, würde er nie so richtig begreifen, aber er war zu glücklich, dass sie ihr Leben mit ihm zu teilen bereit war, als dass er das aufs Spiel setzen wollte.

»Dann sag ich mir einfach, dass du mich jetzt schon vermisst; das gefällt mir am besten«, meinte Alce und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss mich beeilen. Ich bin mit den anderen um halb zehn verabredet. Die will ich nicht verpassen. Ich stelle mir vor, dass es der Horror sein muss, auf einer Welt wie Olymp mutterseelenallein anzukommen.«

Wie in der übrigen solaren Wirtschaft herrschte, bedingt durch das Verschwinden des Mondes und damit des allwissenden, alles überblickenden und organisierenden Mondgehirns NATHAN, auch in ihrer Firma Alarmstufe Rot. Wichtige Dinge gingen schief, Abläufe funktionierten nicht mehr, vieles musste neu organisiert werden, und zwar pronto. Und von Hand, sozusagen. Das war der Hintergrund ihrer bevorstehenden Reise.

»Bei welchem Transmitterterminal trefft ihr euch denn?«, fragte Vanten.

»Karakoto Central«, sagte sie in leicht geistesabwesendem Ton und musterte ihren Koffer, der schon fertig gepackt vor der Wohnungstür schwebte.

»Dann hast du es ja nicht weit.« Vanten würde nie verstehen, wieso Karakoto einen so schlechten Ruf hatte; er fand, dass dies der angenehmste Stadtteil Terranias war. Für Normalverdiener zumindest. Wenn man auf die Preise für Lebensmittel, Dienstleistungen und Wohnungen achten musste. Antares City? Eine Gegend für Neureiche und Wichtigtuer, die es brauchten, sich dicht am Zentrum der Macht zu wähnen.

Wobei das jetzt ja Geschichte war. Die Regierung der LFT hatte sich nach Maharani verlagert, und so, wie es aussah, würde es dabei erst mal bleiben. Pech für alle, die ein Schweinegeld für winzige Apartments in den Prachtbauten mit den holografischen Fassaden hingeblättert hatten, Fassaden, von denen man ohnehin nichts hatte, wenn man dahinter lebte.

»Irgendwie ist mir, als hätte ich was vergessen«, gestand Alce.

Vanten schüttelte den Kopf. »Das Gefühl hast du jedes Mal. Ich weiß nicht, wieso du dir nicht endlich einfach mal eine Liste machst. So viel, wie du verreist.«

Sie lachte auf. »Ach, Vanten, das ist so typisch für dich. Du versuchst immer alles unter Kontrolle zu haben. Kein Wunder bist du verspannt.«

»Es muss auch Leute geben, die Dinge unter Kontrolle haben. Dinge, die außer Kontrolle geraten, will schließlich auch niemand.«

»Ja, aber du steuerst ja kein Fusionskraftwerk oder so etwas. Du verwaltest Gebäude, Grundstücke, Wohnungen – die bleiben alle, wo sie sind.« Sie musterte ihn mit der Art Blick, den er so an ihr liebte: warm, leicht besorgt, voller Zuneigung. »Wirklich, du solltest Dinge auch einfach mal laufen lassen. Riskier was! Es kann ja erst mal was Kleines sein.«

»Du hast keine Ahnung von meinem Job«, sagte Vanten.

 

*

 

Vanten Arevetza arbeitete in der Städtischen Liegenschaftsverwaltung von Terrania. Kein glamouröser Job, klar, aber irgendjemand musste ihn ja erledigen. Und im Grunde passte diese Tätigkeit zu ihm. Auch klar, andernfalls hätte er es hier ja wohl kaum nun schon über vierzig Jahre ausgehalten. Er hatte viele Leute kommen und gehen sehen, gehörte mittlerweile zum harten Kern, zu denen, die den Laden am Laufen halten würden, egal, was kam. Auch wenn sie damit nie in die Nähe irgendeines Rampenlichts kommen, nie großartig Anerkennung erhalten würden. Es war eine bescheidene Tätigkeit, die Ordnungsliebe, Sinn für Details und Genauigkeit erforderte, die einem einen geregelten, meist eher beschaulichen Tagesablauf bot und ein Einkommen, an dem nichts auszusetzen war.

Seit NATHAN nicht mehr zur Verfügung stand, konnte von Beschaulichkeit allerdings nicht mehr die Rede sein.

Und das mit dem geregelten Tagesablauf begann auch allmählich, sich aufzulösen.

Vanten hatte es sich eben am Schreibtisch gemacht und war dabei, die aufgelaufene Post zu sichten, als seine Kollegin Kalani Melet den Kopf zur Tür hereinstreckte, wie immer auf einem Stück Trümmelkraut kauend, und sagte: »Besuch für dich.«

Vanten sah verdutzt auf. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen«, erläuterte Kalani, die ihre ansehnliche Leibesfülle gern auf epsalische Gene in ihrer Abstammungslinie zurückführte (was ihr niemand wirklich glaubte), »dass vorn am Tresen einer steht, der zu dir will.«

»Zu mir?« Die Arbeit der Liegenschaftsverwaltung fand normalerweise in Form von Telekommunikation oder in Form von Ortsterminen statt. Publikumsverkehr war die absolute Ausnahme.

Zumindest war es bisher so gewesen.

Vanten verließ sein Büro ziemlich ungehalten, und stapfte nach vorn. Dort wartete ein Mann, der auf den ersten Blick wie ein Terraner aussah, einen Kopf kleiner war als er und auffallend schlank. Aber erstens hatte Vanten genügend Erfahrung, um einen Fremdweltler auf Anhieb zu erkennen, und zweitens legte es sein neues Aufgabengebiet – Abwicklung der galaktischen diplomatischen Vertretungen in Terrania – nahe, dass ihn kein Terraner erwarten würde.

Im Näherkommen verdichtete sich dieser erste Eindruck zur Gewissheit. Der Mann hatte eine schwungvolle, wie elegant gefönt wirkende Frisur, aber die Haare glänzten, als bestünden sie aus Metalldraht. Ganz ungewöhnlich. Es hatte keine Ähnlichkeit mit dem albinoiden Weiß arkonidischer Haare – ein Anblick, dem man im Stadtbild Terranias häufig begegnete –, sondern wirkte massiv, fast wie ein Helm. Und als er dem Mann schließlich gegenüberstand, sah er, dass die Iris seiner Augen violett war.

Definitiv kein Terraner.

»Guten Tag«, sagte Vanten. »Was kann ich für dich tun?«

Der Besucher schob ihm eine Dokumentfolie hin und legte eine Schlüsselkarte daneben. »Wir haben das Botschaftsgebäude geräumt; es steht euch zur Verfügung«, sagte er in makellosem, fast singenden Interkosmo.

»Aha«, meinte Vanten und studierte die Folie, die den Mann als Beauftragten der Botschaft der Assoziation Galkida auswies. Sagte ihm nichts. Eine der kleineren Vertretungen demnach. Was ihn nicht wunderte. Die Botschaften der großen galaktischen Völker waren entweder längst geräumt und bereits als Bürogebäude vermietet, oder aber es war absehbar, dass sich die Umzüge noch monatelang hinziehen würden.

Er drehte die Schlüsselkarte in den Händen. »Das ist unüblich«, sagte er irritiert. »Üblich wäre eine gemeinsame Begehung des Gebäudes.«

Erst jetzt sah er durch die Glastür, dass draußen im Vorraum eine Frau wartete, die die gleiche Art Haare trug, nur etwas länger. Sie saß in einem Sessel und sah reglos ins Leere. Viel zu sehen gab es dort draußen ja auch nicht: einen ferronischen Lilienbaum, der in einem weißen Keramiktopf vor sich hin kümmerte, und ein Infoterminal, das seit dem Ausfall des Mondgehirns außer Betrieb war.

Der Mann neigte den Kopf in einer fremdartig wirkenden Geste. »Die Zeit drängt. Wir werden auf Maharani erwartet, und wir sind spät dran.«

»Dreiunddreißig Jahre zu spät«, sagte Vanten, während er am Terminal die Daten aufrief. Was man eben so sagte. Das mit den dreiunddreißig Jahren war seit der Rückkehr des Solsystems aus dem Neuroversum eine Art geflügeltes Wort geworden, ein Spruch, den man jetzt überall und ständig hörte.