Mirjam Wyser
Meister Bakumi und sein Wolkenschiff
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Illustrationen & Coverbild: Étienne Pascal, thedeltamachine.de
Buchumschlag: Jacqueline Spieweg
Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann
Verantwortlich für den Text in Inhalt und Form ist die Autorin Mirjam Wyser
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag
Druck und Bindung: SDL, Berlin
ISBN 978-3-96050-026-1
Alle Rechte liegen beim Franzius Verlag
Hermann-Ritter-Str. 114, 28197 Bremen
Copyright © 2016 Franzius Verlag, Bremen
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Inhaltsverzeichnis
Im Traumland
Das eigenartige Boot
Der Wald
Die Quelle
Der geheimnisvolle Palast
Krakus Spukstadt
Naturgeister
Die Geister der Finsternis
Der goldene Drache
Der verbitterte Mann
Der Sternenpalast
Die Königsschlange
Der goldene Apfel
Über die Autorin Mirjam Wyser
Weitere Werke der Autorin
Veröffentlichungen des Franzius Verlages:
Die Nacht hüllt die Menschheit und die Erde in süßen Schlummer ein. Nur der Mond und die Sterne leuchten in der Finsternis. Es ist gerade Mitternacht und der Mond abwechselnd durch die vorüberziehenden Wolken sichtbar.
Manchmal steht die Tür zur Traumwelt ganz weit offen. Dominiks Seele ist aus dem schlafenden Körper gestiegen und in der Traumwelt angekommen, welche einem Märchenland ähnlich ist. Es glimmen tausende Lichter und unzählige Farben schimmern. Alles ist von goldenem Licht erfüllt. Dann wechselt das Bild.
Im Traumland steht der Traumwanderer vor einem schmalen, hölzernen und verwitterten Schiffssteg. Bewacht wird die Anlegestelle von einem Adler und einem Löwen. Der große Vogel sitzt auf einem geschnitzten Baumstamm auf der linken Seite am Anfang des Stegs, rechts daneben schläft der mächtige Löwe. Fast könnte man glauben, dass diese Schnitzereien von den Indianern stammen. Dominik runzelt nachdenklich die Stirn. Unbehagen regt sich in ihm. Er überlegt, wie er von hier möglichst schnell wieder verschwinden kann.
Da ergreift ihn ein Windstoß und drängt ihn, über den verwitterten Holzsteg zu gehen. Er spürt, dass es kein Entrinnen gibt. Kein Rückwärts, nur ein Vorwärtsgehen.
Er fasst Mut und macht sehr vorsichtig ein paar Schritte auf den Steg. Die beiden Tiere bewegen sich nicht. Es scheint, als würden sie schlafen und wollten nicht gestört werden. Doch das ist eine Täuschung. Plötzlich blinzelt der Adler mit einem Auge, gerade als Dominik den Fuß auf den Steg setzt. Ganz sachte macht er ein paar weitere Schritte, behält aber beide Tiere im Auge. Er schleicht sich an ihnen vorbei. Nichts passiert.
Ganz hinten an dem verlotterten Landesteg ist mit einem Hanfseil ein eigenartig aussehendes Boot angebunden. Das Interesse von Dominik ist völlig geweckt. Seine Schritte werden vor Neugierde schneller.
Das Boot ist schwarz und sieht wie eine venezianische Gondel aus. Verwundert bleibt er davor stehen und bestaunt die Gondel. Ein Windhauch streichelt sanft sein Gesicht. Leuchtkäfer schwirren durch die schlafende Natur. Staunend schaut Dominik zum Himmel hoch: „Was kommt denn da Eigenartiges im hellen Lichterschein angeflogen?“, murmelt er vor sich hin.
Zwei mächtige, schneeweiße Flügel flattern im Wind und setzen zur Landung an. Der Nachtwanderer staunt mit offenem Mund. Ein Einhorn ist bei ihm auf dem Bootssteg gelandet. Es ist blendend weiß, mit einem schimmernden, glänzenden Fell. Sein spiralförmiges, silbernes Horn ist ein Lichtstrahl, der die Nacht erhellt. Das göttliche Tier steht quer und versperrt ihm den Rückweg. „Willkommen, sei gegrüßt! Wo willst du denn hin?“, spricht es ihn an.
Dominik stottert: „Ich wollte mir nur dieses eigenartige Boot anschauen.“
Das Einhorn fragt weiter: „Möchtest du damit fahren?“ Dominik zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht! Aber wohin?“, antwortet er unsicher.
Das Einhorn schaut den Jungen mit seinen lieben Augen an und spricht: „Wenn du damit fahren willst, musst du noch jemanden aus der Erdenwelt mitnehmen. Aber wähle gut!“
Dominik muss nicht lange nachdenken. „Ich nehme Florence mit!“
„Wo ist sie?“, fragt das Einhorn.
„Sie schläft!“
„Steig auf meinen Rücken, wir holen sie für einen Flug durch das Traumland ab. Aber halte dich fest, ich bin schnell wie der Wind.“
Mit Begeisterung steigt Dominik auf den Rücken des Einhorns. Es spannt die Flügel aus und hebt ab. Der Flug geht durch die kristallklare Nacht. Millionen von Sternen funkeln. Das Einhorn kennt den Weg genau.
Dominik denkt, dass Florence in ihrem Bett schläft. Doch das ist nur ihr physischer Körper. Nachts, wenn wir schlafen, verlässt die Seele den Körper und geht auf Reisen ins Traumland. Körper und Seele bleiben aber immer mit einer unendlich langen, durchsichtigen Schnur miteinander verbunden. Auch die Seele von Florence ist, wie diejenige von Dominik, schon im Traumland unterwegs.
Voller Erwartung steht Florence bereits in ihrem hell glänzenden Seelenkleid am Fenster und kann kaum erwarten, abgeholt zu werden. Das Einhorn landet auf dem Balkon und lädt Florence auf. Wieder spannt es seine weißen, fast silbrigen Flügel aus und ab geht die Post. Sanfte Klänge umschmeicheln das Gespann. Es ist herrlich, auf dem Rücken eines Einhorns durch die Lüfte zu fliegen.
Die Kinder jauchzen vor Vergnügen. Unter ihnen sehen sie Hausdächer, einen Kirchturm, Straßen, Flüsse, Seen, Felder, Hügelketten und dann einen grün schimmernden Wald. Das Einhorn fliegt ein paar zusätzliche Schleifen, bevor es die Kinder zum Bootssteg zurückbringt. Dann merken sie, dass der Flug langsam zur Neige geht. Es ist als würden sie schwerer und schwerer. Gekonnt setzt das Einhorn zur Landung an. Die letzte Kurve, dann landet es mitten auf dem Bootssteg. Die Kinder steigen vom Rücken herunter.
„Eure Freundschaft ist mein Glück! Liebe zieht mit euch ins Traumland ein. Ihr versteht es, mich zu beglücken. Ihr gebt mir Mut, Kraft und Hoffnung, das Grauenvolle auf der Erde zu besiegen. Herzlichkeit strömt von euch aus. Unsere seelische Verbundenheit wandelt sich zum Feste.“
Die Kinder schauen einander fragend an. Was das Einhorn sagen will, verstehen sie nicht wirklich. Seine Worte tönen so erhaben, so anders. Bevor sie nachfragen können, hebt es bereits wieder ab und fliegt davon. Die Kinder schauen ihm lange nach. Dann verschwindet der weiße Punkt wie ein Stern im Nachthimmel.
Inzwischen ist der Löwe erwacht und faucht fürchterlich, als die Menschenkinder über den Steg laufen wollen. Der Lärm holt auch den Adler aus dem Schlaf. Er dreht den Kopf auf wunderliche Weise Richtung Löwe. „Du Dummkopf!“, schimpft der Adler ihn an. „Wer mit dem Einhorn kommt, der darf über den Steg gehen! Das weißt du doch ganz genau.“
Der Löwe schmunzelt. „Es macht mir Spaß, die Menschen etwas zu erschrecken. Das verleiht mir den nötigen Respekt.“ Darauf legt sich der Löwe wieder hin und döst weiter. Dominik und Florence haben also die Erlaubnis, den Steg ungehindert zu überqueren. Dominik ist schon ganz aufgeregt, Florence das eigenartige Boot zu zeigen.
Florence folgt Dominik mit ein paar schnellen Schritten und dann stehen sie vor dem eigenartigen Boot. Die Barke ist dunkel, fast halbmondförmig gebogen, nicht unähnlich einer venezianischer Gondel und doch wieder ganz anders. „Das sieht wirklich wie eine schwarze Gondel in Venedig aus, welche von einem Gondoliere durch die Kanäle gesteuert wird. Schau, Dominik, das unendlich lange Ruder!“
Das Ruder ist eigenartig lang. So lang, dass sich die Kinder fragen, zu welchem Zweck es gebraucht werden kann. Ein himmlisch-leises Rauschen weht durch die Lüfte. Im Mond- und Sternenglanz erscheint plötzlich ein hell strahlender Mann, fast wie ein Gott. Die ganze Gestalt ist von so intensiver Strahlung umgeben, wie es die Kinder noch nie gesehen haben. Von diesem Anblick gefesselt, starren sie den Unbekannten mit offenen Mündern an. Der Puls ihrer Herzen schlägt vor Aufregung schneller. Sie haben gar nicht bemerkt, woher dieser strahlende Mann gekommen ist. Im Glanz der Mondnacht steht er in einem ganz hellblauen Lichtkegel. Sein ganzes Wesen strahlt in zarten, hellen Farben, von denen ein noch nie gesehener Glanz und Glitzer ausgeht. Sein bodenlanges Kleid ist schneeweiß mit goldenen Sternen. Und um den Kopf hat er einen weißen Turban gebunden, unter dem sein langes, silbernes Haar herunterhängt.
Der Erhabene wirkt orientalisch, wie aus einer geheimnisvollen, verborgenen Märchenwelt. Er lächelt die Kinder ermunternd an. Es besteht überhaupt kein Zweifel: Sie können diesem Mann vertrauen. Irgendetwas in den Herzen der Kinder regt sich und sie sind ganz aufgeregt. Sie fühlen sich fast so wie ein Vogel, der noch in einer Hütte gefangen ist und in den Dachbalken herumflattert, um nächstens befreit zu werden und den klaren Himmel und den Wind wieder spüren zu können.
Mit einer Stimme wie sanftes Glockengeläut begrüßt der Fremde die Kinder. Eine unglaubliche, herzliche Freundlichkeit strahlt er aus. „Willkommen in meinem Reich, junge Freunde. Ich bin Meister Bakumi, der Fährmann. Wenn ihr möchtet, lade ich euch ein, mit mir in meinem Boot durch die Traumwelt zu fliegen. Wir werden in ein Abenteuer aufbrechen, wie ihr es euch gar nicht vorstellen könnt.“ Die Kinder schauen ihn sprachlos an. Dann antwortet Dominik: „Mit diesem Boot durch den Himmel fliegen? Wie soll das gehen?“
Der gutmütige Meister schmunzelt und mit seiner sanften Stimme fährt er fort. „Ja, ihr habt richtig verstanden, wir fliegen mit meinem Boot. Das ist aber ein Geheimnis. Denn über die Existenz des Bootes weiß niemand außer euch Bescheid!“