RONALD M. HAHN

 

 

Socialdemokraten

auf dem Monde!

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

SOCIALDEMOKRATEN AUF DEM MONDE! 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

 

Das Buch

 

Deutschland 1920:

Weder ist die Erste Rechtschreibreform zum Zuge gekommen, noch hat das Kaiserreich der Weimarer Republik Platz gemacht.

Wilhelm II. hat den Franzmann niedergerungen, den Engländer gezüchtigt und das restliche Kroppzeug an den Balkan vertrieben. Sein Reich gedeiht, das deutsche Ingenieurswesen steht in höchster Blüte.

Der preußische Erfinder Oscar von Reventlow und seiner auch in der Seele adeligen Gattin Clothilde schwebt ein hehres Ziel vor Augen: Der Mond soll eine deutsche Colonie werden!

Doch leider haben sie nicht mit der Tücke der roten Brut in Moskau gerechnet, die alles tut, um den Weltraumflug unserer wackeren Helden zu sabotieren.

W.I. Lenin will der Welt beweisen, dass nur der Communismus höchste technische Leistungen vollbringen kann.

Dass auf dem Monde ein Stamm ganz besonderer Socialdemokraten heimisch ist, ist jedoch ein Faktor, mit dem weder unsere Helden noch ihr proletarischer Gegenspieler rechnen konnten...

Der Autor

 

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.

 

Ronald M. Hahn

SOCIALDEMOKRATEN AUF DEM MONDE!

 

Dem anonymen Autor gewidmet, der sich 1901

in Das grosse Weltpanorama 

(dem „Jahrbuch für alle Gebildeten“)

vom ersten Kapitel von George Griffiths (1857-1906)

Honeymoon in Space (1901)

hat inspirieren lassen - und damit wiederum

mich inspiriert hat.

 

Und für Walter Ernsting,

der nach der Lektüre der Geschichte des anonymen Autors

zur Science Fiction fand und deswegen an allem schuld ist.

Am 1.1.1920 berichtete die „Leipziger Illustrirte“:

 

„Am Sylvesterabend 1919 war ganz Berlin auf den Beinen. Um das Berliner Rathaus herum und in den Nebenstraßen standen in den letzten Stunden des scheidenden Jahres dichtgedrängt Tausende und Abertausende von Menschen. Mühsam wurde der Wagenverkehr aufrechterhalten. Die Blicke wendeten sich nach dem erleuchteten Zifferblatt des Rathausthurmes.

Auf dem Balkon über dem Hauptportale des Rathauses hatte die Stadtkapelle Aufstellung genommen. Eine Minute vor zwölf lagerte eine geradezu unheimliche Stille der Erwartung über der ungeheuren Menschenmenge. Da hebt die Uhr zum ersten Schlag an. Schmetternde Fanfaren klingen vom Balkon, und in sie hinein klingen das Glockengeläut und der Kanonendonner. Aber nur einen Augenblick dauert diese Feierlichkeit, diese Ruhe vor dem Sturme.

Dann bricht es los! Ein infernalisches Schreien, Pfeifen, Trompeten, ein Höllenkonzert von Radauinstrumenten. Vom Rathause aber wälzt sich die Menschenwoge nach dem offiziellen Sylvesterschauplatz, den Linden und der Friedrichstraße, wo ebenfalls schon Tausende und abermals Tausende stehen...“

1. Kapitel

 

Als der Excelsior sich am 1. Januar 1920 um 5.30 Uhr morgens, ohne von eines Menschen Auge erblickt zu werden, von der Terrasse des am Rande von Berlin liegenden Landhauses erhob, um seine wunderbare Reise durch die undurchkreuzten Reiche des Weltenraumes anzutreten, standen Graf Oscar von Reventlow und seine junge Frau Clothilde auf dem vorderen Theile eines erhöhten Decks, das ungefähr zwei Drittel der Länge des cylinderförmigen Schiffskörpers bedeckte.

Während Gräfin Clothilde dem erregten Schlagen des Herzens lauschte, das unter ihrem züchtig verhüllten Busen ertönte, dachte der Graf an seine zwei Tage zuvor erfolgte Audienz bei unserem geliebten Kaiser Wilhelm.

Seine Majestät hatte den heldenhaften Forscher und Erfinder nicht nur in seinem Jagdschlößchen im Brandenburgischen empfangen, in dem er sich von der harten Arbeit des Regierens erholte - nein, er hatte ihm auch in eigener Person die Hand geschüttelt und sich für seinen Wagemut bedankt. Immerhin kam es nicht alle Tage vor, daß sich jemand zu Nutzen und Frommen des deutschen Reiches aufmachte, um neue Kolonien für dasselbe zu nehmen.

Nach Deutsch-Südwest, Deutsch-Ost, Togo, Kamerun, den deutschen Südsee-Schutzgebieten und dem Pachtgebiet im chinesischen Kiautschou wollte Graf Oscar - ebenso wie einst die Kolonialhelden Adolf Lüderitz, Carl Peters und Gustav Nachtigal - seinem geliebten Heimatlande ein Mandatsgebiet hinzufügen: den Erdtrabanten. Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, bevor die räuberischen Engländer auf die gleiche Idee kamen, hatte er auf seinem Rittergut den Excelsior konstruiert, ein Weltraumschiff, das nun im Begriffe war, langsam die Wolken zu durchstoßen.

Der Raum, in dem Graf Reventlow und seine Gemahlin sich in diesem Moment aufhielten, war ungefähr fünfzehn Meter lang und sieben breit. Er bestand aus dickem, vollständig durchsichtigem, doch widerstandsfähigem Glas, das im Notfalle von einem Mantel aus gewelltem Stahl bedeckt werden konnte, der aus dem Boden kam. Letzterer bestand aus indischem Eichenholz und war von konvexer Beschaffenheit. Eine leichte Stahlbrüstung lief an dem Raume entlang, und zwei Treppen führten von dem andern Deck zu zwei Luken - eine vorn, die andere hinten -, die luftdicht geschlossen werden konnten, wenn der Excelsior sich über die atembare Luft erhob und die luftleere, kalte Einöde des zwischen den Planeten befindlichen Raumes durchkreuzte.

Die Besatzung des Excelsior bestand aus Graf Oscar von Reventlow, einem schneidigen, schnauzbärtigen Major der 38er Ulanen, seiner zarten, wunderschönen und auch im Geiste adeligen Gemahlin Clothilde geb. Finsterwald-Eberesch, und dem Domestiken Carl Napp, der beiden zur Hand gehen sollte. Letzterer war zwar erst vor wenigen Wochen in des Grafen Dienste getreten, genoß aber dessen absolutes Vertrauen, denn er hatte seinem Herrn schon bei ihrer ersten Begegnung das Leben gerettet.

In der ersten Augustwoche des Jahres 1919 hatte sich Graf Reventlow nämlich an einem lauen Abend in einem Vergnügungsviertel der Reichshauptstadt zwecks Allotria und dergleichen mit seinen alten Korpskameraden getroffen. Beim Verlassen eines Varietés, in welchem sich die Herren an der raffinierten Tanzkunst zweier Dutzend original Pariser Mädchenbeine ergötzt hatten, war der Graf an einem Droschkenstand von einem finsteren Subjekt mit Worten bedroht worden, die ein anständiger Mensch nicht wiedergeben kann.

Carl, seines Zeichens Bierkutscher der altehrwürdigen Brauerei Schultheiß & Co., hatte gerade die Nachtschicht hinter sich und war auf dem Heimweg gewesen, als er den Hilferuf des Grafen vernommen hatte. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und war mutig und unerschrocken gegen das oben erwähnte finstere Subjekt vorgegangen. Daraufhin hatte der dankbare Graf den beherzten Bierkutscher in seine Dienste genommen. Obwohl Carl den gemeinsten Proletenkreisen entstammte, schmatzte er beim Essen nicht und wußte sich auch sonst zu benehmen. Da er zudem schweigen konnte (er hatte der jungen Gemahlin des Grafen nie erzählt, vor welchem Lokal er seinem Herrn zum ersten Mal begegnet war), war er als Leibdiener geradezu ideal.

Zwar stellte er hin und wieder Fragen, die eindeutig bewiesen, daß seine Education höchstens drei Schuljahre lang gewährt hatte, doch andererseits gab er dem Grafen damit Gelegenheit, zu demonstrieren, daß der Adel seinesgleichen von Geburt an geistig haushoch überlegen war. Dies zeigte sich unter anderem auch an der wunderbaren Thatsache, daß eine technisch-wissenschaftliche Errungenschaft wie der Excelsior mit einer derart geringen Besatzung auskam.

Mehr als drei Personen waren nicht nötig, um dieses wunderbare Fahrzeug zu bewegen, denn nahezu alles an Bord wurde von Maschinen betrieben - die Heizung, die Beleuchtung, das Kochen, das wiederholte Filtrieren des Wassers, und die beständige und selbstfunktionierende Reinigung der Luft. Es war thatsächlich so, daß auf dem Excelsior alles automatisch ablief, da die Regulierung der von Reventlow entdeckten geheimnisvollen Antigravitationskraft nur ein geringes Maß an Aufmerksamkeit erforderte. Diese jedoch mußte aufs Genaueste und Sorgfältigste betrieben werden, und in der Regel kümmerte sich der Graf eigenhändig um diese Obliegenheit.

Die Kraftentwicklungsmaschinen befanden sich mittschiffs in dem untersten Theile. Ihr geringster Kraftaufwand reichte gerade soweit, um den Excelsior etwas leichter zu machen als sein eigenes Luftvolumen, so daß die beiden Schiffsschrauben an seinem Heck ihn mit einer Geschwindigkeit von ungefähr hundert Kilometern in der Stunde durch die Luft befördern konnten, wenn er einen Planeten besuchte, der eine genügend dichte Atmosphäre besaß. Der höchste Kraftaufwand genügte, um das Schiff in wenigen Minuten über die Grenze der Erdatmosphäre hinauszuschleudern.

Als der Excelsior sich in eine Höhe von ungefähr eintausend Meter über Berlin erhoben hatte, deutete Gräfin Reventlow, welche bis dahin in stiller Betrachtung und Bewunderung der seltenen, großartigen Scenerie versunken war, plötzlich nach Osten und sagte „Siehe dort, der Mond! Denke nur - bald werden wir auf seiner Oberfläche wandeln! Er scheint augenblicklich gar nicht weit entfernt zu sein.“

Graf Reventlow wandte sich um und sah, daß die fahle, gelbe Sichel des Neumondes am östlichen Horizont auftauchte.

„Es sieht fast so aus“, fuhr sie fort, „als bräuchten wir nur auf ihn zuzusteuern. Nur würde er freilich nicht auf uns warten.“

„Oh, er wird an Ort und Stelle sein, wenn wir ihn brauchen,“ lachte der Graf. „Keine Angst. Und überdies trennt uns nur die Kleinigkeit von etwa zweihundertvierzigtausend Kilometern von ihm. Was bedeutet das schon bei einem Ausfluge von Hunderten von Millionen?“ Sein Plan bestand nämlich darin, nach der erfolgten Inbesitznahme unseres Erdtrabanten zum Mars und zur Venus weiterzufliegen, um auch diese Welten für unseren geliebten Kaiser zu requirieren.

„Es wäre mir jedoch lieber, ihn nicht aus den Augen zu verlieren“, sagte seine Gemahlin, und fuhr dann fort: „Ich möchte zu gern wissen, was sich auf seiner anderen Seite befindet, die bis jetzt noch kein Mensch erblickt hat. Wenn wir ihrer ansichtig geworden sind, wird der Streit der Wissenschaftler über die auf seiner Rückseite eventuell vorhandene Luft endlich erledigt sein.“

Gräfin Clothilde seufzte aus tiefstem Herzen auf, und ihr wogender Busen hob und senkte sich dabei ganz allerliebst. „Wäre es nicht himmlisch, wenn wir nach unserer Rückkehr allen davon erzählen könnten? Aber was rede ich da - ich denke nur ans Plaudern, und dabei sind wir vielleicht im Begriff, irgendein verstecktes Rätsel der Schöpfung zu lösen und womöglich auf Dinge herabzublicken, auf welche menschlichen Augen noch niemals hinzusehen gestattet war.“ Ihre Stimme hatte sich plötzlich verändert und klang nun äußerst ehrfurchtsvoll.

Graf Reventlow spürte ein leichtes Zittern in dem Arme, der auf dem seinen ruhte, und seine Hand erhaschte die ihrige und drückte sie innig.

„Gewiß, wir werden eine gehörige Menge wunderlicher Dinge sehen - vielleicht sogar echte Wunder! Eins werden wir, hoffe ich, erreichen: Wir werden ein- für allemal das große Problem der Welten lösen, ob sie nun bewohnt sind oder nicht.“ Er räusperte sich und fuhr dann fort: „Nebenbei möchte ich dich darauf aufmerksam machen, meine Theure, daß du gerade zum letzten Mal die gute Luft unserer Mutter Erde einatmest, die du für einige Zeit vermissen mußt.“

Gräfin Clothilde trat an die Brüstung und schaute in die gewaltige Leere hinab, denn während der Zeit ihrer Konversation war der Excelsior unablässig zum Zenith aufgestiegen. Im zunehmenden Mondeslicht konnte sie die ungeheuren und undeutlichen Formen des Wassers und Landes unterscheiden. Die Abertausend Lichter Berlins und seiner Umgebung verwischten sich zu einem winzigen Fleck, der wie ein dunkler, leuchtender Schleier wirkte. Die Luft um sie herum war plötzlich kalt geworden, und sie sah die Sterne in einem Glanze funkeln wie niemals zuvor.

Der Graf trat an ihre Seite, und indem er seinen Arm auf ihre Schulter legte, sagte er: „Nun, hast du deiner heimatlichen Welt Adieu gesagt? Augenblicklich ist der Excelsior unsere Welt - eine zwischen den Welten reisende Welt, und da ich das Glück hatte, die reizendste Tochter der Mutter Erde mit mir zu nehmen, bin ich in jeder Hinsicht vollkommen zufrieden. Ich glaube, daß es jetzt Zeit zum Abendessen wird. Wenn die gnädige Frau also ihren häuslichen Pflichten obliegen will, werde ich nach meinen Maschinen sehen.“

Als er auf das Hauptdeck gelangte, verschloß er als erstes luftdicht die beiden Kajütentreppen, dann wandte er sich dem Luftreinigungsapparat zu, untersuchte ihn genau und speiste ihn mit frischem Sauerstoff aus den Behältern, in denen er in flüssiger Form aufbewahrt wurde. Zuletzt stieg er in den unteren Schiffsraum hinunter, ließ die Antigravitationskraft mit voller Gewalt laufen und stellte zugleich die Maschinen ab, welche die Schrauben angetrieben hatten.

Es war jetzt nicht mehr nötig - oder besser gesagt: möglich -, den Excelsior zu steuern. Nun wurde er von der Antigravitationskraft getrieben, die ihn mit zunehmendem Tempo in dem Maße, wie die Anziehungskraft der Erde geringer wurde, zweihunderttausend Kilometer weit zu jenem neutralen Punkte trug, an dem die Anziehungskraft der Erde mit jener des Mondes gleich wird. Seine Triebkraft würde ihn über diesen Punkt hinaustragen, dann würde die Antigravitationskraft nach und nach gehemmt werden, um die unangenehmen Folgen eines Falles von etlichen vierzigtausend und noch mehr Kilometern zu verhüten.

2. Kapitel

 

Carl, seiner Pflicht im Maschinenraum nun enthoben, stellte eine sorgfältige Untersuchung der Hilfsmaschine an, die seiner besonderen Obhut anvertraut war, dann begab er sich in die Domestikenkombüse im Vorschiff, um sein eigenes Abendessen zuzubereiten.

Dort angekommen, veränderte sich urplötzlich etwas in seinem Wesen: Er schaute sich auf verdächtige Weise um, dann nahm sein bisher ausdruckloses Gesicht einen verschlagenen Ausdruck an, und er näherte sich händereibend und kichernd der Kommode, in der er unter anderem seine Domestikentracht und seine Sockenhalter aufbewahrte.

Nachdem er der untersten Schublade der Kommode diverse Baumwollschlüpfer und -unterhemden entnommen hatte, zogen seine derben, behaarten Hände einen eigenartig anzusehenden hölzernen Kasten ans Licht. Er hatte die Form eines Cigarrenkästchens und war mit mehreren kleinen Knöpfen und einer Steckbuchse versehen. Einen heimlichen Beobachter von höherer Education, wäre er zugegen gewesen, hätte das Aussehen des Kästchens an einen Detektor erinnert. Carl nahm es an sich und eilte durch das Vestibül in seine Kabine, in der eine Hängematte, ein emaillierter weißer Nachttopf und eine verschrammte Seemannskiste von niederen Stande ihres Bewohners kündeten.

Was hatte sein Verhalten zu bedeuten? War Carl ein Anhänger des genialen luxemburgisch-deutschen Ingenieurs Hugo Gernsback, der auch in den unermeßlichen Weiten des Kosmos nicht auf eine musikalische Untermalung der Mahlzeiten verzichten wollte? War der biedere Domestik ein Vertreter jener Spezies Mensch, die, obwohl von niederer Geburt, an technischen Dingen interessiert sind, doch ihr Licht unter den Scheffel stellen müssen, um ihre Herrschaft nicht zu brüskieren? Oder war Carl, dessen fachkundig zubereiteter rheinischer Sauerbraten den Gaumen seiner Herrschaft stets in einen Taumel des Entzückens versetzte, ein Anhänger des berühmten amerikanischen Erfinders Thomas Alva Edison, der 1877 mit seinem wunderbaren Phonographen die civilisierte Welt und Rußland auf sich aufmerksam gemacht hatte?

Mitnichten!!!

Carl stülpte sich etwas übers Haupt, das die gebildeten Stände im deutschen Kaiserreiche unter dem Namen „Kopfhörer“ kannten, und befestigte ein anderes Instrument, das man „Mikrophon“ nannte, an der zweiten Steckbuchse.

War der biedere Domestik etwa ein Spion der räuberischen Engländer, deren durchtriebener König Georg nichts unversucht ließ, um seinem Vetter, unserem geliebten Kaiser, zu schaden? War er etwa ein Spion der tückischen Franzosen, deren dekadenter König Napoleon XIV., nachdem er im Großen Krieg von 1914-1916 schon ordentlich eins auf die Nase bekommen hatte, schon wieder einen Raubkrieg gegen unseren friedliebenden Kaiser vorbereitete?

Was mochten die ungewaschenen Ohren Carls hören? Sie hörten offenbar etwas Erheiterndes, denn nun setzte er wie ein Roß zum Wiehern an und zeigte deutlich seine Niedertracht. Er meldete sich in einer kehligen Sprache und nannte seinen Decknamen.

„Hier spricht Iwan Iwanowitsch Iwanow!“

Gott, der Gerechte! Carl stand in den Diensten des bösartigen Russen Wladimir Iljitsch Lenin, der erst vor wenigen Jahren im Vereine mit einer Bande von Charakterlumpen den gütigen Zaren Nikolaus und seine Familie ins Exil gedrängt hatte und dessen schlitzäugige asiatische Horden keine Schandthat ungethan ließen, um die Autorität der Adelshäuser Europas zu untergraben!

Er lauschte der Stimme seines wahren Herrn, die ihn in einem an Perfidie nicht zu überbietenden Tonfalle anwies, alles zu thun, um die Expedition des Grafen Reventlow zu sabotieren. Sie mußte scheitern, damit man der Welt beweisen konnte, daß die Vertreter der „imperialistischen Naturwissenschaften“ Tölpel seien, die „dem Genius des wissenschaftlich fundierten Socalismus nicht das Wasser reichen können“.

Gelänge es ihm, fuhr Wladimir Iljitsch Lenin fort, Reventlow und seine Gemahlin auszuschalten, bevor der „reaktionäre“ und „militaristische“ Kaiser in Berlin erfuhr, daß er den Erdtrabanten heil erreicht hatte, werde man das in Baikonur fertiggestellte Weltraumschiff Perwoje Maja [„1. Mai“] starten lassen und den Trabanten für die Komintern in Besitz nehmen. Dann wollte man dafür sorgen, daß der Imperialismus auf der Erde bliebe, daß die Capitalisten sich auf einem Theile des Planeten isolierten, während man auf dem Monde und den anderen Planeten die Aufgabe in Angriff nehmen könne, den wissenschaftlichen Socialismus zu verbreiten.

Schon am schmutzigen Grinsen und enthusiastischen Nicken des nun endgültig als communistischen Spion entlarvten Domestiken hätte unser heimlicher Beobachter erkennen können, daß es im ganzen weiten Kosmos nichts gab, was Carl lieber getan hätte.

Nun mag man sich nach den Gründen fragen, die einen braven Arbeitsmann dazu bringen, aus seinen unbedarften Kreisen auszuscheren und sich mit Dingen zu beschäftigen, für die er gar nicht geboren ist: Politik. Der Grund für Carls Thun hatte eine Vorgeschichte, von der weder Graf Reventlow noch seine Gemahlin etwas wußten, und Carl hatte gut daran gethan, sie ihnen zu verschweigen.

Carl Napp, 1886 im rheinischen Elberfeld als Sohn eines Kohlenschauflers und einer Dienstmagd zur Welt gekommen, hatte nämlich ursprünglich ganz andere Pläne für seine Zukunft. Im Gegensatz zu seinen Schulkameraden, die brav eine Carriere als Hufschmied, Färber, Bäcker und Zimmermann ins Auge faßten, hatte er nämlich im Alter von zwölf Jahren den Drang nach Höherem verspürt.

Dies zeigte sich einerseits darin, daß er jede ihm angebotene ehrliche Arbeit verschmähte und sein Leben statt dessen lieber als Autor von zweifelhaften Groschenheften fristete, die unter - für sich selbst sprechenden - Titeln wie „Ein rotes Feuer auf dem Monde“, „Rote Brüder auf dem Mars“, „Die Oktoberrevolution auf der Venus“, und „Der Verrat des Parteisekretärs“ die „Abenteuer“ eines gewissen Pjotr Rhodanow schilderten und in einem übel beleumundeten Leipziger Verlagshause erschienen. Andererseits zeigte sich sein Wahn, etwas Besseres sein zu wollen aber auch darin, daß er, statt ein Proletenmädchen zu freien, wie es ihm zustand, ein Auge auf Jettchen Schmerenbeck warf, die siebzehnjährige, unverdorbene Tochter Gustav Schmerenbecks sen., des Inhabers der Einhorn-Apotheke in Elberfeld.

Nun war das Jettchen, ein dralles und weizenblondes Ding, aber eine Angehörige der besitzenden Klasse, die mit einem von der Hand in den Mund lebenden „Künstler“ nichts zu thun haben wollte. Carl jedoch gab nicht auf: Er verfolgte sie von ihrem nachmittäglichen Nähkränzchen bis zur abendlichen Blockflötenstunde, trat ihr alle naselang mit im Stadtpark gestohlenen Rosen in den Weg und redete unentwegt auf sie ein, wenn sie im väterlichen Auftrage Botengänge erledigen mußte.

Nachdem er das Jettchen ein halbes Jahr lang umgarnt hatte, gelang es ihm, ihre Beachtung zu erringen, indem er sie vor einem übelriechenden Rüpel „rettete“, der ihr an einem Winterabend an der Dörner Brücke unter der Gaslaterne auflauerte und von ihr verlangte, sie solle seinen Zipfel streicheln. Carl vertrieb den Flegel, den er im übrigen für zwei Mark engagiert hatte, mit ein paar wohlgezielten Scheintritten und Ohrfeigen, und das Jettchen, beeindruckt von seinem „mutigen Eingreifen“, verabredete sich aus Dankbarkeit mit ihm auf dem Goetheplatz, wo er ihr an den Busen faßte.

Das völlig unvorbereitete Jettchen schrie hell auf und versetzte Carl eine schallende Ohrfeige, und ein zufällig des Weges kommender Schutzmann stürzte sich, in der Annahme, einen Jungfernschänder auf frischer That ertappt zu haben, auf ihn. Obwohl das Jettchen anschließend beteuerte, die Ohrfeige sei keine Reaktion auf ein über Gebühr ungebührliches Thun gewesen, sammelten sich im Nu mehrere Passanten an, die einen Notzuchtversuch beobachtet haben wollten.

Carl landete bei Wasser und Brot für fünf Jahre im Gefängnis an der Bendahler Straße, wo er nicht nur mit dem kriminellen und arbeitsscheuen Gelichter der Stadt, sondern auch mit Socialdemokraten und Anarchisten zusammentraf, die seinen Haß auf die besitzende Klasse schürten.

Nach der Entlassung fand Carl zunächst Unterstützung bei der Roten Arbeiterhilfe, die ihn mit Kost, Logis und Kleidung versorgte, so daß er in seiner Dankbarkeit vollends auf die Linie der Socialdemokratie einschwenkte und dem Apotheker Schmerenbeck, dem Jettchen, dem Bürgertum und dem Adel bittere Rache schwor.