Anni Lechner

Am Ende wartet die Liebe
Bitte verzeih mir
Liebe fragt nicht

Anni Lechner: Band 14, Am Ende wartet die Liebe ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-221-4

Am Ende wartet die Liebe

Die Bürotür wurde so heftig aufgerissen, dass Kathrin erschrocken zusammenzuckte. Sekundenbruchteile später steckte ihr Abteilungsleiter Hermann seinen hageren Kopf herein.

"Schön, dass Sie noch hier sind, Frau Lohwer. Ich habe nämlich noch etwas Arbeit für Sie. Hier ist die Liste der Zutrittsberechtigungen für das Wochenende, die unbedingt heute noch eingetragen werden muss. Außerdem braucht Parler Montag früh die Urlaubsliste seiner Gruppe." Damit warf Hermann mehrere Mappen auf Kathrins Schreibtisch und verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war.

Kathrin schloss seufzend die Tür hinter ihm. Dann fuhr sie ihren PC, den sie schon hatte abschalten wollen, wieder hoch, schlug die erste Mappe auf und begann einzutippen. Ihr Blick streifte dabei immer wieder besorgt die Uhr. Sie hätte Nicole bereits vor einer halben Stunde vom Hort abholen müssen.

"Das wird wieder Ärger geben", flüsterte sie in nervöser Verzweiflung. Sie widerstand nur mit Mühe dem Wunsch, Parlers Urlaubsmappe in ihrem Schreibtisch verschwinden zu lassen und nur die Zutrittsberechtigungen zu machen. Sie wusste jedoch, dass Hermann am Montagmorgen sämtliche Mappen mit dem Kürzel "erl. am ..." auf seinem Schreibtisch vorzufinden wünschte. Ihn interessierte es wenig, ob sie deswegen Überstunden machen und sich mit Nicoles Kindergärtnerin herumschlagen musste.

Obwohl ihr die Zeit unter den Nägeln brannte, arbeitete Kathrin die beiden Mappen sorgfältig ab und brachte sie anschließend ins Büro des Abteilungsleiters, das jetzt in wochenendlicher Leere glänzte. Danach kehrte sie rasch in ihr eigenes Zimmer zurück, fuhr ihren Computer herunter und wartete auf das Zeichen, ihn abschalten zu können. In dem Augenblick, in dem sie es tat, öffnete sich die Bürotür und ihr Kollege Martin Schmied schoss herein.

"Kathrin, du wirst mir nicht glauben, was ich hier habe", rief er fröhlich und schwenkte dabei ein längliches Kuvert über den Kopf.

"Du wirst es mir sicher gleich sagen", erwiderte Kathrin seufzend. Eigentlich war ihr ja Martin ganz sympathisch, und sie ging auch öfters mit ihm in die Kantine. Doch jetzt hoffte sie, dass er schnell sagen würde, was ihm auf dem Herzen lag und dann verschwinden.

Martin hielt ihr das Kuvert unter die Nase und erklärte stolz, noch zwei Karten für das morgige Cher-Konzert bekommen zu haben. "Du kommst doch mit", setzte er mit einer Mischung aus Hoffnung und Sehnsucht hinzu.

Zu jeder anderen Zeit wäre Kathrin begeistert gewesen. Jedoch nicht jetzt am Freitag um halb fünf, wo es wirklich höchste Eisenbahn war, ihre Tochter vom Hort abzuholen. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, warum ihm diese Idee nicht früher eingefallen war. Doch dann sah sie seinen treuen Hundeblick und brachte es nicht übers Herz, schroff zu sein.

"Das ist zwar lieb von dir, Martin. Aber morgen geht's wirklich ned. Die Frau Wehner, die sonst auf die Nicole achtgibt, ist zu ihrer Schwester nach Berlin gefahren."

"Aber du wirst doch jemand anderen finden, der auf die Nicole aufpassen kann", erwiderte er drängend.

"Leider ned. So viele gute Bekannte hab ich ned in München." In ihrer Nervosität fiel Kathrin wieder in ihren gewohnten Dialekt zurück.

"Weißt du was? Wir schauen jetzt schnell in die Zeitung. Da stehen immer Babysitter drinnen", schlug Martin vor.

"Ich geb mein Dirndl doch ned in fremde Hände."

"Mein Gott, du tust ja direkt, als ob das alle Verbrecher wären", rief Martin beschwörend. "Dabei sind das meistens arme Studentinnen, die sich ein paar Euro zum Bafög hinzuverdienen wollen.“

"Trotzdem will ich's ned. Wenn du eher was gesagt hättest, hätte ich jemanden finden können, der die Nicole für ein paar Stunden betreut. Aber so ist es unmöglich. Sieh das doch bitte ein." Kathrins Blick flog dabei zur Uhr, und sie raffte ihre Handtasche an sich. "Es tut mir leid, Martin. Aber ich muss jetzt weg. Die Nicole ist im Hort."

"Schieb doch nicht immer das Kind vor", erwiderte er enttäuscht. "Du weißt, wie viel ich von dir halte. Außerdem ist dein Mann jetzt seit über zwei Jahre tot. Da musst du langsam wieder aus deinem Schneckenhaus herauskommen und sehen, wie schön die Welt sein kann."

"Du hast ja recht, Martin. Aber trotzdem geht's morgen ned. Ich muss auf mein Madl Rücksicht nehmen. Wenn du das ned einsehen kannst, ist es eh besser, wenn alles so bleibt, wie es ist. Und jetzt Servus und ein schönes Wochenende." Kathrin ließ in ihrem Büro alles so liegen und stehen, wie es war, und stürmte an Martin vorbei auf den Flur.

Als sie auf die Straße hinaustrat, seufzte sie tief. Es war schade, dass Martin so wenig einfühlsam war und mit den meisten seiner Ideen im letzten Augenblick herausplatzte. Sonst hätte sich zwischen ihnen schon mehr entwickeln können. Kathrin hatte sich zwar damit abgefunden, für keinen Mann mehr so viel empfinden zu können wie für Nicoles Vater. Trotzdem sehnte sie sich nach einem Partner, der ihr die Sorgen mittragen half. Sie fragte sich jedoch immer wieder, ob Martin wirklich der Richtige dafür war.

Sie hatte jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Ihr Bus stand bereits an der Haltestelle. Kathrin spurtete die letzten zwanzig Meter und kam gerade noch rechtzeitig in den Fahrgastraum, bevor der Fahrer die Türen schloss und anfuhr. Der Bus war heute wieder besonders voll. An der nächsten Haltestelle rammte ihr ein junger Bursche, der sich an ihr vorbeidrängte, seinen Rucksack in die Rippen. Obwohl sie vor Schmerzen aufstöhnte, wandte er sich ohne Entschuldigung ab. Dafür schimpfte ein unbeteiligter Mann mittleren Alters über die Rücksichtslosigkeit der heutigen Jugend und versuchte dabei mit Kathrin ins Gespräch zu kommen. Da er ihr dabei immer mehr auf die Pelle rückte, war sie froh, als der Bus schließlich beim Kinderhort anhielt.

Kathrin huschte hinaus und rannte los. Von einem nahen Kirchenturm schlug die Stundenglocke an. Es war fünf Uhr nachmittags, und sie hatte sich erneut um mehr als anderthalb Stunden verspätet.

Die Kindergärtnerin erwartete Kathrin bereits vor der Tür. Ihr verkniffenes Gesicht versprach nichts Gutes. Neben ihr stand Nicole völlig verschüchtert und sah ihrer Mutter mit großen, traurigen Augen entgegen.

"Das ist jetzt das vierte Mal in diesem Monat, dass Sie zu spät kommen", fuhr die Kindergärtnerin Kathrin an. "Glauben Sie vielleicht, ich opfere andauernd meine Freizeit für Sie? Ich warte seit über einer Stunde darauf, ins Wochenende gehen zu können. Bis jetzt war ich ja noch geduldig. Aber heute reicht es mir. Wenn das noch einmal passiert, nimmt unser Hort Ihre Tochter nicht mehr länger auf."

"Es tut mir leid, aber ich bin in der Firma aufgehalten worden", versuchte sich Kathrin zu verteidigen, doch die andere schnitt ihr das Wort ab.

"Ich habe genug von Ihren Ausreden. Entweder Sie holen das Dirndl ab sofort pünktlich ab, oder Sie suchen sich jemand anderen, der seine Freizeit für Sie opfert. Auf Wiedersehen. Wegen Ihnen komme ich jetzt auch noch zu spät zum Einkaufen!" Mit diesen Worten schob die Kindergärtnerin Nicole in Kathrins Arme und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.

"Mama, warum bist du so lange weggeblieben. Die Tante Sylvia hat die ganze Zeit geschimpft", jammerte die Kleine.

Kathrins Nerven waren so dünn, dass sie am liebsten mit den Füßen auf den Boden gestampft und losgebrüllt hätte. Wegen des Kindes beherrschte sie sich jedoch und kniete sich vor ihm hin. "Weißt du, Haserl. Ich muss halt arbeiten. Und mein Chef fragt ned danach, ob ich rechtzeitig aus der Firma komm oder ned. Heut hat er mir wieder Arbeit aufgegeben, als ich schon gehen wollt. Ich hab sie noch machen müssen, sonst entlässt er mich, und wir zwei haben kein Geld."

"Dann ist er aber ein ganz böser Chef." Nicole vergaß ihren eigenen Kummer und strich ihrer Mutter sanft über die Wange. "Wenn mich die Tante Sylvia aus dem Kinderhort nicht mehr nehmen will, bleib ich halt daheim und wart dort auf dich."

"Dafür bist du leider noch zu klein", schränkte Kathrin ein und zog die Kleine an sich. "Du bist ein Schatz, Haserl. Du bist so ein Schatz. Aber jetzt müssen wir uns tummeln. Ich muss nämlich auch noch einkaufen."

"Da müssen wir wirklich schnell sein. Die Tante Sylvia hat nämlich die ganze Zeit gejammert, dass es in den Geschäften immer voller wird."

"Da hat sie leider recht", stöhnte Kathrin auf, die mit Grauen an die Menschenmassen dachte, die sich um diese Zeit durch das Einkaufszentrum wälzten. Für einen Moment überlegte sie, erst am nächsten Morgen einzukaufen. Doch dafür hätte sie durch den ganzen Stadtteil fahren müssen, während die Geschäfte jetzt buchstäblich um die Ecke waren. Daher fasste sie Nicoles Hand und machte sich mit ihr auf den Weg. Die nächsten zwei Stunden waren ein einziger Albtraum aus leeren Regalen und von Menschen überquellender Ladenstraßen. Kathrin war froh um die Disziplin, die Nicole aufbrachte. Wenn die Kleine so gequengelt hätte, wie der um ein gutes Stück größere Junge einer Frau, die vor ihr in der Reihe vor der Kasse stand, es hätte ihren Nerven den letzten Rest gegeben.

Sie kaufte für Nicole eine Extratafel Schokolade und versprach ihr, mit ihr zusammen die neue Benjamin Blümchen -Kassette anzusehen, die ihr eine Kollegin ausgeliehen hatte. Nachdem sie bezahlt hatte, machte sie sich mit drei vollen Leinenbeuteln über der Schulter und der Kleinen an der Hand auf den Heimweg. Der Bus war auch diesmal so voll, dass sie Nicole auf den Arm nehmen musste, damit sie nicht von achtlosen Erwachsenen getreten oder gestoßen wurde.

Als sie endlich die Wohnungstüre hinter sich zuziehen konnte, war sie so erschöpft, als hätte sie den ganzen Tag Steine geschleppt. Zeit zum Ausruhen gab es jedoch nicht. Nicole hatte mittlerweile Hunger und begann zu quengeln. Kathrin reichte ihr ein Stück Schokolade und eilte in die kleine Küche ihrer Zweizimmerwohnung, in der sie und Toni einmal glücklich gewesen waren. Bei diesem Gedanken kamen ihr die Tränen. Nicole sah es, wurde sofort ruhig und streckte die Hand nach ihr aus.

"Mama, tu bitte ned weinen", bat sie.

"Es ist schon gut, Haserl", erwiderte Kathrin. "Ich hab ja dich!"

Die Kleine lächelte glücklich und half ihr, den Tisch zu decken. Kurz darauf saßen sie beide vor vollen Tellern. Nicole freute sich, weil es wieder Buchstabensuppe gab und sie das ABC, das sie im Kinderhort gelernt hatte, ihrer Mutter vorlesen konnte. Kathrin selbst hatte endlich etwas Zeit, um sich zu erholen. Doch gerade, als sie den Tisch abräumen wollte, schlug das Telefon an.

Kathrin wollte zuerst nicht abheben, weil sie dachte, es wäre Martin, der ihr irgendjemanden aus seiner Bekanntschaft als Babysitter aufschwatzen wollte. Als das Klingeln jedoch nicht aufhörte, ging sie dann doch an den Apparat.

"Hier Lohwer", meldete sie sich kurz angebunden.

"Hallo, Kathrin, du untreue Tomate. Von dir hört man ja überhaupt nix mehr", scholl es munter zurück.

Kathrin musste ein wenig überlegen, bis sie die Anruferin erkannte. "Sandra, bist du es? Das ist aber eine Überraschung."

"Da staunst du, was? Du, Kathrin, ich wollt dich für morgen zu uns einladen. Du hast doch Zeit?"

"Zeit schon, aber was ist mit der Nicole?", wandte Kathrin ein.

"Die bringst du ganz einfach mit", erklärte ihre Cousine. "Das Dirndl freut sich gewiss, wenn's einmal was anderes sieht als Straßen voller Benzinkutschen und Häuser ringsum."

"Lust hätt ich schon, wieder einmal aufs Land zu fahren", erwiderte Kathrin nachdenklich. "Ich weiß aber ned, wie ich zu euch komm. Ich hab nämlich kein Auto mehr."

"Das brauchst du auch ned. Wir haben in Steinwalchen eine eigene S-Bahn-Station. Du steigst einfach am Marienplatz in die S6 ein und fährst bis Steinwalchen durch."

"Steinwalchen?", wunderte sich Kathrin. "Wohnt ihr denn nimmer in Obernkirchen?"

"Du weißt doch, dass der Papa vor ein paar Jahren einen Baugrund in Steinwalchen gekauft hat. Wir haben jetzt gebaut und sind grad dabei, uns einzurichten. Und da wollten wir dir halt unser neues Heim vorstellen."

Es klang so drängend, dass Kathrin nicht Nein sagen wollte. Sie versprach daher Sandra, am nächsten Tag mit Nicole zu ihr zu kommen. Als sie dann auch noch zum Mittagessen eingeladen wurde, begann sie sich doch etwas zu wundern. Ihr Onkel Hans war nicht gerade der Mensch, der so gerne Spendierhosen anzog. Soviel sie sich erinnern konnte, waren er und seine Frau Marianne die Einzigen aus ihrer Verwandtschaft gewesen, die ihr bei Nicoles Geburt nicht einmal ein Strampelhöschen geschenkt hatten. Sie wollte aber nicht nachtragend sein. Außerdem freute sie sich riesig, mal wieder grüne Wiesen und Wälder zu sehen.

*

"Fertig sind wir, Bauer. Jetzt kann das Wochenende kommen!" Hias klatschte zufrieden in die Hände und zählte in Gedanken schon die Maß Bier, die er heute Abend beim Reimerwirt trinken wollte. Es konnte sogar eine mehr sein als sonst, denn er hatte am anderen Tag frei und musste erst wieder Sonntagabend zur Arbeit kommen. Bis dorthin übernahm Franz Sammeter selbst die Pflichten im Stall. Der Franz ist schon ein Bauer, dachte Hias anerkennend. Der setzt sich für seine Leute ein und lässt auch einmal einen Euro springen.

Als hätte der junge Bauer den Gedanken von Hias` Stirn abgelesen, zog er seinen Geldbeutel und reichte ihm einen Zehneuroschein. "Trink eine Maß auf meine Gesundheit. Du hast es verdient."

"Da sag ich ned Nein, Bauer", lachte der Knecht und steckte die Banknote ein. "Also dann, ein schönes Wochenende. Und wenn du mich doch brauchst, ich bin entweder beim Reimerwirt oder oben in meiner Kammer."

"Ich ruf dich, wenn es nötig ist", versprach Franz und verabschiedete seinen Knecht mit einem aufmunternden Schulterklopfen ins Wochenende. Er selbst ging noch einmal durch den Stall. Hias hatte jedoch nichts vergessen. Franz hätte sich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Immerhin war Hias seit mehr als zwanzig Jahren auf dem Hof und hatte bereits seinem Vater treu und brav gedient, als die Zeiten bei Weitem nicht so rosig gewesen waren wie heute.

Franz war etwas traurig darüber, weil sein Vater nicht mehr hatte miterleben dürfen, wie sich die Lage des Sammeterhofes von Grund auf gewandelt hatte. Er empfand fast ein leichtes Schuldgefühl, weil ihm alles so überraschend und ohne eigenes Zutun in den Schoß gefallen war. Als er den Stall verließ, streifte sein Blick die neu gebauten Ein- und Zweifamilienhäuser, die etwa zweihundert Meter entfernt lagen. Bis vor wenigen Jahren hatte der Grund dort noch zu seinem Hof gehört. Doch dann hatte ein einziger Beschluss des Gemeinderates von Steinwalchen genügt, um auf der wenig ertragreichen Wiese buchstäblich Gold wachsen zu lassen. Seitdem ging es mit dem Sammeterhof aufwärts. Franz betrachtete mit einem gewissen Stolz die neuen Gebäude, die er hatte errichten lassen. Einen moderneren Hof als den seinen gab es im ganzen Landkreis nicht. Und auch keinen ertragreicheren, denn er hatte sehr viel Geld in die Verbesserung seiner Landwirtschaft gesteckt.

"Ich kann wirklich zufrieden sein", sagte er zu sich. Während er auf das Wohnhaus zuging, spürte er trotzdem tief in sich etwas, das sich nicht greifen ließ, aber trotzdem sein Gemüt verdüsterte. Um die ungute Stimmung aus seinen Gedanken zu vertreiben, beschloss er, noch ein wenig spazieren zu gehen. Vielleicht traf er im Ort Bekannte, mit denen er reden konnte. Vorher aber schlenderte er noch am offenen Küchenfenster vorbei und rief seiner Mutter zu, dass er etwa in einer halben Stunde wieder hier sein würde.

"Bleib aber ned länger fort. Sonst wird der Apfelstrudel kalt", erwiderte Theres Sammeter lachend.

"Dann schieb ihn halt noch einmal in den Ofen", riet ihr Franz.

"Es geht weniger um den Strudel, als um die Vanillesoße", sagte seine Mutter. "Wenn die nämlich zu lang steht, wird sie ein Baatz."

"Ich tummle mich", versprach Franz. Er winkte ihr kurz zu und wanderte den Weg zur Hauptstraße entlang. Etwa zehn Minuten später kam er ins Dorf und las erst einmal die neuesten Nachrichten am Anschlagbrett neben der Gemeindekanzlei. Da nichts dabei war, was ihn interessierte, sah er sich um, ob er jemand entdeckte, mit dem er reden konnte. Obwohl etliche Leute unterwegs waren, fand er keinen Bekannten und machte sich ein wenig enttäuscht auf den Heimweg. Da er nicht erneut die Hauptstraße nehmen wollte, bog er seitwärts in die Neubausiedlung ab und ging an den hübsch gelegenen Häusern vorbei, die auf seinem ehemaligen Grund errichtet worden waren.

Unterwegs kam er an einer großen Villa vorbei, in deren Garten zwei junge Mädchen Tischtennis spielten. Die eine ließ fast den Schläger fallen, als sie ihn sah und rief: "Hey, Lucie. Ich habe gar nicht gewusst, dass es bei euch heraußen so tolle Männer gibt!" Es störte sie dabei nicht, dass Franz es hören konnte.

Doch auch ihre Freundin nahm kein Blatt vor den Mund. "Das ist der Sammeterbauer, dem die halbe Gemeinde gehört. Mir ist er zwar ein bisschen zu ländlich. Aber sonst ist er wirklich ein toller Typ. Außerdem spielt er gut Tischtennis."

Franz musste sich das Lachen verbeißen. Obwohl ihm noch ein paar Jahre bis zu seinem dreißigsten Geburtstag fehlten, waren die beiden doch ein schönes Stück zu jung für ihn. Lucie war sechzehn und ihre Freundin kaum älter. Trotzdem schmeichelte es ihm, dass er ihnen gefiel.

Er grüßte Lucie und ihre Freundin freundlich und wechselte ein paar Worte mit Lucies Vater, der eben von der Arbeit nach Hause kam. Obwohl die Leute hier zu den positivsten Erscheinungen im Neubaugebiet gehörten, bedauerte er sehr schnell, bei ihnen stehen geblieben zu sein. Als er nämlich weitergehen wollte, öffnete sich die Tür des Nachbarhauses und ein langer, hagerer Mann schoss heraus.

"Ja, Grüß Gott, Herr Sammeter! Sie machen wohl einen kleinen Spaziergang", bemerkte er völlig überflüssig.

Franz war zu höflich, um einfach weiterzugehen. "Grüß Gott, Herr Hallmann", erwiderte er und sah dabei betont auf seine Uhr, ohne den anderen damit beeindrucken zu können.

"Sie haben jetzt wohl auch Feierabend gemacht? Na ja, auch ein Bauer muss einmal ausruhen", sprach Hallmann weiter. Dann sah er zum Hof hinüber, der von hier aus nur über einen schmalen, durch eine Schranke abgeschlossenen Weg zu erreichen war. "Wissen Sie, dass ich Sie beneide. Sie sitzen dort oben wie ein König auf seinem Schloss und schauen auf uns alle herab."

"Ich glaub kaum, dass ein König selbst in den Stall geht und ausmistet", entgegnete Franz spöttisch.

"Mich wundert's eh, dass Sie noch Viecher halten. Nötig hätten Sie's weiß Gott nimmer. Schließlich haben Sie uns für unseren Baugrund kräftig abkassiert." Hallmann konnte dabei einen gewissen Neid nicht ganz verbergen.

Franz nahm es ihm jedoch nicht übel. Hallmann war nun einmal so, wie er war. Außerdem lagen zweihundert Meter zwischen dem Haus hier und seinem Hof. Das war genug, um ihm im Notfall aus dem Weg zu gehen. Er wollte sich schon verabschieden, als ihn Hallmann am Ärmel festhielt.

"Ich hab gehört, dass die Gemeinde jetzt auch noch das Stück bis zu Ihrem Hof als Baugrund ausweisen will. Es sollen mehr als drei Hektar sein. Wenn ich da den Quadratmeter mit einhundert Euro rechne, das kriegen Sie gewiss, dann sind das ... Moment, ich werd narrisch ..." Hallmann musste sich an Franz festhalten, als er die Summe ausgerechnet hatte.

"Mein Gott, ist die Welt ungerecht! Dem einen wird das Geld förmlich nachgeschmissen, ohne dass er was dafürkann, während unsereiner ..." Er schwieg erbittert und starrte zu Boden. Franz hielt es jetzt für den besten Augenblick, zu verschwinden. Doch da stand plötzlich ein schlankes, hellblondes Mädchen mit einem hübschen, wenn auch etwas streng geschnittenen Gesicht neben ihm und sah mit strahlenden Augen zu ihm auf.

"Wenn das keine Überraschung ist. Grüß Gott, Franz. Ich freue mich, dich zu sehen!"

Ich weniger, seufzte Franz in Gedanken. Hallmanns Tochter Sandra versuchte schon seit Wochen, bei ihm zu landen. Nach Franz` Ansicht ging es ihr dabei jedoch weitaus mehr um sein Geld als um seine Person.

"Du, Sandra, vor dir steht ein mehrfacher Millionär", klärte Hallmann seine Tochter auf. Da er damit nicht sich selbst meinen konnte, blickte sie Franz mit großen Augen an. Für einen Augenblick befürchtete er sogar, sie würde sich ihm an den Hals werfen und trat einen Schritt zurück.

"Ihr Vater meint wohl das Gerücht um das neue Baugebiet", sagte er gelassen. "Aber damit hab ich selbst nix am Hut. Auf meinem Grund dort wird auf alle Fälle ned gebaut. Jetzt sollen einmal die Bauern zum Zug kommen, die bisher leer ausgegangen sind. Ich hab Geld genug."

"Jeder Mensch braucht mehr Geld, als er hat", widersprach Hallmann fast empört. "Wenn einem ein paar Millionen direkt geschenkt werden, gibt man sie ned aus der Hand."

"Ich schon", erwiderte Franz lächelnd. "Wissen Sie, ich mag's ned, wenn mir die Leut von ihrem Garten aus auf meinen Küchentisch spucken können. Ich brauch meinen freien Raum um mich."

"Aber das Geld, Franz", stöhnte Sandra auf.

"Mit Geld kann man zwar viel, aber ned alles kaufen. Vor allem ned seinen Frieden und sein Seelenheil, Fräulein Hallmann", Franz hatte nicht die geringste Lust, auf ihr Du einzugehen. Er konnte sich auch nicht erinnern, es ihr jemals angeboten zu haben.

Sie schürzte verärgert die Lippen und überlegte, was sie darauf antworten sollte. Doch bevor sie dazu kam, verabschiedete sich Franz rasch und ging weiter.

Sandra starrte ihm finster nach und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. "Der Kerl hat statt Blut Eiswasser in den Adern. Egal, wie ich es anfange, er schlüpft mir wie ein Aal zwischen den Fingern hindurch. Dabei wäre gerade er der ideale Ehemann für mich."

"Ich glaub, du würdest ihm diese Dummheit ausreden, den Baugrund ned zu verkaufen, wenn du mit ihm verheiratet wärst. Mit dem Geld, das er bekommen würde, könnte er sich die schönste Villa hinstellen, mit genug Grund herum, um keinen Nachbarn sehen zu müssen", erklärte ihr Vater eifrig. Er schlug mit der Hand erregt durch die Luft und fragte dann:

"Hast du die Kathrin angerufen?"

"Freilich. Sie kommt morgen, so wie wir es uns vorgestellt haben."

"Gut. Vergessen wir einmal den Sammeter. Bis du mit dem zurechtkommst, dauert's eh noch eine gewisse Zeit."

"Wenn ich je mit ihm zurechtkomme", erwiderte Sandra düster. "Er ist und bleibt halt trotzdem ein Bauernbüffel. Wenn er das ned lässt, kann er mir eh gestohlen bleiben. Oder glaubst du, ich habe Lust, jeden Morgen in den Stall zu gehen und Kühe zu melken?"

*

Franz wusste nicht, ob er sich eher ärgern oder amüsieren sollte. Mit den meisten Leuten im Neubauviertel kam er ausgezeichnet zurecht. Doch mit Hallmann, dessen Frau und dessen Tochter hatte ihm der Herrgott schon drei extreme Beispiele der Gattung Mensch vor die Nase gesetzt. Er sah es schon so weit kommen, dass er sich allein schon deshalb eine Frau suchen musste, nur um Sandras Nachstellungen zu entgehen.

Ein Teil seiner Gedanken schienen sich auf seinem Gesicht widerzuspiegeln, als er zu Hause in die Küche trat. Seine Mutter sah ihn nur kurz an und fragte, ob er aufgehalten worden wäre, weil er später als angekündigt heimkam. "Ich hab aber schon fast so was erwartet und die Vanillesoße später aufgesetzt", setzte sie lächeln hinzu.

"Mir ist der Hallmann samt seiner Sandra vor die Füße gelaufen", erklärte Franz kurz angebunden.

"So, so! Die Sandra hat dich aufgehalten." Seine Mutter klang nicht gerade begeistert. Trotzdem war Theres Sammeter bereit, notfalls auch dieses Mädchen als Schwiegertochter zu akzeptieren. Hauptsache, Franz dachte endlich einmal ans Heiraten. Jetzt war er zwar noch jung und sah gut aus. Doch sie kannte genug Beispiele in der Nachbarschaft, wo die Männer den richtigen Zeitpunkt fürs Heiraten versäumt hatten und nun notgedrungen ledig bleiben mussten.

"Übrigens, die Verona hat vorhin angerufen", sagte sie nach einer Weile.

"So, was hat sie denn wollen?", fragte Franz, obwohl er sich den Grund dafür schon denken konnte.

"Sie hat erfahren, dass du angeblich wieder Baugrund verkaufen willst, und hat mir vorgejammert, wie ungerecht es wär, dass du alles bekommst, während sie den Hof vor zehn Jahren mit ein paar Euro Mitgift verlassen hat müssen", berichtete ihm die Mutter seufzend.

"Sie hat damals mehr herausgeholt, als sich der Hof hat leisten können. Der Vater hat zuletzt nimmer gewusst, wie er die Zinsen zahlen soll, weil er so viel Geld aufnehmen hat müssen", rief Franz empört. „Außerdem hab ich ihr und dem Franz freiwillig zweihunderttausend Euro gegeben, obwohl sie ned den geringsten Anspruch darauf gehabt hätten. Kriegen die denn nie genug?"

Während Theres Sammeter den Tisch deckte, dachte sie daran, dass sie ihrer Tochter weniger ihre Raffgier nachtrug, die noch irgendwie menschlich war, als die Sache mit Angelika. Angelika war das erste Mädchen gewesen, an dem Franz größeres Interesse gezeigt hatte, und bisher auch das einzige. Entfernt mit Veronas Mann Sepp verwandt, hatte sie sich jedoch von den beiden gegen Franz aufhetzen lassen und damit ihre eigenen Chancen zerschlagen, als Jungbäuerin auf dem Sammeterhof zu kommen.

"Wie kann man nur so dumm sein", stöhnte Theres auf.

Franz Kopf ruckte herum. "Was ist?", fragte er.

"Nix", wiegelte seine Mutter ab. „Ich hab bloß an was gedacht."

"Ich hab gemeint, du meinst die Verona. Die hat mir nämlich durch den Karrner ausrichten lassen, dass ich ihren Jüngsten adoptieren soll, damit der Hof einen Erben hätt. Weil ich ja doch eh nimmer heiraten werd", erwiderte Franz mit einem Spott, der Theres` Hoffnungen neu belebte. Und wenn er nur deswegen heiratete, um seiner Schwester einen Tort anzutun, war es besser, als ledig alt zu werden.

"Oder hältst auch du es für einen Fehler, weil ich das Stück Land zwischen dem Hof und der Siedlung ned verkaufen will", riss sie die Stimme ihres Sohnes aus ihren Gedanken.

"Nein, warum kommst du auf diese Idee?", fragte sie verwundert.

"Na ja, dann hätten wir genug Geld, um auch der Verona einen großen Anteil zukommen zu lassen."

"Die Verona hat mehr als genug bekommen, und sie hat sich nicht besonders dankbar gezeigt", erwiderte Theres Sammeter mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Franz atmete sichtlich auf. "Dann bin ich beruhigt. Ich hab nämlich schon mit dem Bürgermeister gesprochen und ihm geraten, das neue Baugebiet auf der anderen Seite der Hauptstraße auszuweisen. Das ist schön weit weg von uns ..."

"Und bringt uns auch ein bisserl Geld, weil du ja den Firstelacker dort verkaufen kannst. Das sind zwar keine drei Hektar, sondern bloß anderthalb Tagwerk. Aber wir haben dafür unsere Ruh. Geld macht nämlich ned glücklich."

"Weiß Gott ned", stimmte ihr Franz zu. "Wenn ich dran denk, wie's dem alten Steingruber geht. Er hat ja damals auch ein schönes Stück Land verkauft und danach die Landwirtschaft aufgegeben. Seine Tochter hat in die Stadt hineingeheiratet und den Buben hat er auf die Schul geschickt, damit er was wird. Letzte Woche hab ich den Steingruber aus Zufall getroffen. Ich sag dir, er ist in den paar Jahren alt geworden. Die Ehe seiner Margit ist ned glücklich, weil's ihrem Mann nur um ihre Mitgift gegangen ist, und der Simmerl hat die Schule aufgeben müssen, weil er ned den Kopf dafür hat. Jetzt hausen sie in einer Wohnung in der Kreisstadt und kommen vor Sehnsucht nach ihrem Hof und ihren Kühen fast um."

"Mir tut der Steingruber leid, und seine Kinder auch. Aber er hat sich halt von seinem Schwiegersohn beschwatzen lassen", sagte Franz` Mutter leise. "Wenn ich der Verona ihren Mann anseh, muss ich sagen, dass ich eine ziemliche Abneigung gegenüber Schwiegersöhnen hab. Aber gegen eine Schwiegertochter hätt ich nix einzuwenden." Sie sah ihren Sohn dabei scharf an und hoffte, dass er sich diesen Wink mit dem Zaunpfahl zu Herzen nahm. Sein Lächeln irritierte sie jedoch. Er biss herzhaft in seinen Apfelstrudel, lobte ihn dann als ausgezeichnet gelungen und kam erst nach einer Weile wieder auf das alte Thema zurück.

"Wenn du ein Madl weißt, das so wie du ist, ließ ich mit mir reden!"

"Danke für das Kompliment. Aber ich glaub, dass auch ein anderes Madl zu dir passt."

"Die Sandra vom Hallmann vielleicht. Die tät mich auf der Stelle nehmen, wenn ich den Grund da draußen zu Geld mache", meinte er spöttisch.

"Die muss es ned grad sein. Aber es gibt auch noch andere Madln auf der Welt", erwiderte seine Mutter hoffnungsvoll.

*

Kathrin hätte sich nicht vorstellen können, wie viel Spaß ihr dieser Ausflug nach Steinwalchen machen würde. Nicoles Begeisterung war ebenfalls nicht zu übertreffen. Kaum hatte die S-Bahn den langen Tunnel und die Münchner Außenbezirke hinter sich gelassen, klebte die Kleine förmlich an der Fensterscheibe und starrte auf das grüne Land, das sich schier endlos vor ihnen erstreckte.

"Du, Mama, warum sind denn hier keine Häuser gebaut?", wollte sie wissen.

"Weil das hier ned die Stadt ist", erwiderte Kathrin, der so schnell keine bessere Antwort einfiel.

"Aber dort vorn sind doch wieder Häuser", rief Nicole und zeigte ganz aufgeregt auf den Ort, der vor ihnen auftauchte. Die S-Bahn hielt, und die Kleine wollte das Abteil verlassen. Kathrin erwischte sie gerade noch am T-Shirt und hielt sie zurück.

"Dableiben, Nicole. Wir sind noch ned am Ziel."

"Fährt die S-Bahn noch weiter?", fragte die Kleine mit großen Augen. Dann schüttelte sie den Kopf und meinte, dass sie nicht gedacht hätte, wie groß die Welt sei.

"Die Welt ist noch viel größer, Haserl", sagte Kathrin lächelnd. "Die ist so groß, dass irgendwann auch keine S-Bahn mehr fährt."

Nicole nickte beeindruckt und kehrte ans Fenster zurück. Die S-Bahn fuhr weiter, und es gab wieder etwas zu schauen. Eine Zeit lang säumte ein dichter Fichtenwald die Bahnschienen, und Kathrin musste Nicoles Frage beantworten, ob in diesem Wald vielleicht die Hexe aus Hänsel und Gretel leben würde.

"Ich glaub, jetzt nimmer", sagte sie lächelnd.

Nicole atmete sichtlich auf. "Dann kann sie uns also ned fangen und einsperren. Obwohl ich ganz gern einmal an ihrem Knusperhäuschen geknabbert hätt."

"Ich glaub, Lebkuchen gibt es auch in Steinwalchen. Und wenn wir dort keinen bekommen, kauf ich dir am Montag welche in München", versprach Kathrin. Sie freute sich, wie ihre Tochter förmlich aufblühte, und sagte sich, dass es wirklich an der Zeit war, mehr mit ihr zu unternehmen. Sie konnte sich nicht länger aus Trauer um ihren Mann in ihren eigenen vier Wänden vergraben. Das war sie schon ihrem Kind schuldig.

Als Nicole schließlich Kühe auf einer Weide entdeckte, wurde sie so zapplig, dass Kathrin sie auf den Schoß nehmen musste, damit sie den anderen Reisenden nicht lästig wurde. Sie selbst spürte plötzlich eine irrsinnige Sehnsucht nach den grünen Wiesen und Wäldern und dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Als Kind hatte sie sich nie vorstellen können, jemals in die große Stadt zu ziehen. Dann hatte sie jedoch Toni kennengelernt und alle Bedenken vergessen. Jetzt war es fast sechs Jahre her, dass sie zusammen nach München gezogen waren. Damals war sie gerade mal neunzehn gewesen. Jetzt war sie fünfundzwanzig und musste sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie noch lange keine alte Frau war.

Sie dachte an die vier glücklichen Jahre, die sie mit Toni verbracht hatte, dann an das Schreckliche, das ihre ganze Welt zusammenstürzen ließ. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass ihr das Leben noch mehr schuldig war, als diese wenigen Jahre des Glücks. Sie zog Nicole eng an sich und schwor sich, öfters mit ihr aufs Land zu fahren. Ihr Kind sollte nicht nur graue Straßen und Mauern kennenlernen.

Kathrin war so in ihren Gedanken verstrickt, dass sie in Steinwalchen beinahe in der S-Bahn sitzen geblieben wäre. Nur weil Nicole die Durchsage des Fahrers gehört hatte und sie zum Aussteigen drängte, kamen sie noch rechtzeitig heraus.

Da sie sich in Steinwalchen nicht auskannte, sah sich Kathrin erst einmal um. Ihre Cousine Sandra hatte ihr zwar beschrieben, wie sie von der S-Bahn-Station zu ihrem Haus kommen würde. Doch so leicht war es dann doch nicht, die richtige Straße zu finden. Der Weg zog sich ein ganzes Stück durch den Ort, in dem nur noch die Kirche mit ihrem Zwiebelturm und der Gasthof "Zum Reimerwirt" an den alten Dorfkern erinnerten. Sonst standen hier moderne Häuser mit Ladenzeilen im Erdgeschoss. Trotzdem wirkte alles gemütlicher als in München. Der Eindruck verstärkte sich, als sie schließlich die Neubausiedlung erreichten, in der ihre Verwandten lebten. Zwischen den hübschen Villen hindurch war sogar ein großer Bauernhof zu sehen, der ein Stück abseits an einer Hügelflanke thronte.

Kathrin bewunderte die schönen neuen Häuser, die zu beiden Seiten der Stichstraße lagen, und zählte die Nummern, bis sie das Haus ihres Onkels erreichte. Im Gegensatz zu den Nachbargebäuden wirkte es jedoch irgendwie unwohnlich. Der Gartenzaun war gerade mal zur Hälfte fertiggestellt, und der Garten selbst bestand nur aus aufgeschütteter blanker Erde. Auch der Weg von der Straße zur Haustüre war nur provisorisch verlegt worden.

Hoffentlich funktioniert wenigstens die Klingel, dachte Kathrin seufzend, als sie auf gut Glück einen der drei unbeschrifteten Knöpfe drückte. Sekunden später öffnete sich eines der Fenster im ersten Stock, und Marianne, die Frau ihres Onkels, steckte den Kopf heraus.

"Da ist ja die Kathrin!", rief sie so laut, dass man es ein paar Häuser weiter noch hören konnte, und schloss das Fenster wieder. Kurz darauf erschienen sie, ihr Ehemann und ihre Tochter an der Haustür und begrüßten Kathrin sichtlich erfreut.

"Schön, dass du gekommen bist. Das ist also die Nicole. Mein Gott, ist das Dirndl groß geworden!", erklärte Onkel Hans verblüfft. "Das letzte Mal, wo ich sie gesehen hab, hast du sie ja fast noch im Kinderwagen herumgefahren."

"Es war bei der Beerdigung meines Mannes", erwiderte Kathrin leise.

"Das kann stimmen", meldete sich ihre Cousine. "Du hast dich zwei Jahr ned bei uns sehen lassen."

Wie hätte ich auch, dachte Kathrin. Ihr habt mir ja damals sehr deutlich gemacht, dass ihr genug eigene Probleme habt und euch nicht auch noch um mich kümmern könnt. Obwohl ich damals wirklich Hilfe und Rat hätte brauchen können. Sie schluckte jedoch die bitteren Gedanken hinunter und beschloss, sich den schönen Tag nicht davon verleiden zu lassen.

"Die Zeit vergeht halt so schnell. Aber wie es ausschaut, geht's euch ganz gut." Sie zeigte dabei auf das nicht gerade kleine Haus.

"Gut tät ich direkt ned sagen. Der Bau hat halt viel Geld gekostet. Ich hab zwar sehr viel selbst gemacht, aber es ist halt ned leicht", erwiderte Onkel Hans seufzend.

Kathrin fand, dass er sich wenig verändert hatte. Er hatte schon immer gejammert, wie schlecht es ihm im Vergleich zu anderen Leuten ging. Wahrscheinlich hatte er deshalb auch den Garten und die Einfahrt noch nicht gemacht, um zeigen zu können, wie sehr er sich jeden Euro vom Munde absparen musste.

"Also, mir gefällt das Haus. Es liegt so schön am Ortsrand, und man hat die ganze, herrliche Natur direkt vor der Tür", lobte sie den Bau, ohne auf die Worte ihres Onkels einzugehen.

"Schön ist es schon da", stimmte ihr Sandra zu. "Aber jetzt komm erst einmal herein. Die Mama hat extra für euch einen Gugelhupf gebacken!"

"Was ist ein Gugelhupf?", wollte Nicole wissen. Kathrin erklärte es ihr und hoffte, dass der Kuchen den Ansprüchen ihrer Tochter genügen würde. Marianne Hallmann war nämlich dafür bekannt, dass sie mit den Zutaten immer etwas arg sparsam umging.

Entweder hatte sie diesmal eine bessere Hand gehabt als früher oder war es der Reiz des Neuen. Nicole aß ihr Stück ohne ein Wort der Kritik auf und spülte ihn mit viel Cola hinunter. Für Kathrin gab es Kaffee, nicht übermäßig stark und etwas bitter, aber trotzdem trinkbar. Sie lobte ihre Tante dafür und überlegte, ob sie sie noch um ein zweites Stück Gugelhupf bitten sollte. Doch da räumte Sandra die Reste des Kuchens bereits wieder beiseite. Onkel Hans begann jetzt einen längeren Monolog über die Probleme und Schwierigkeiten, die der Hausbau mit sich gebracht hätte, angefangen vom viel zu teuren Baugrund bis hin zur notorischen Unzuverlässigkeit des Architekten und der Handwerker.

"Ich sag dir eins, Kathrin. Wenn ich ned aufgepasst hätt wie ein Luchs, die hätten mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Unserem Nachbarn dort drüben, den Sponath, hat die Gartenbaufirma sechstausend Euro für seinen Garten abgeknöpft. Das Geld kann ich mir wirklich sparen. Die paar Säcke Gartenerde und ein paar Büsche hol ich mir lieber selbst aus dem Baumarkt."

Kathrin blickte zu dem anderen Garten hinüber und bewunderte die geschmackvolle Gestaltung. Hier waren wirklich Meister am Werk gewesen. Obwohl sie zweifelte, dass ihrem Onkel etwas ähnlich Schönes gelingen könnte, nickte sie jedoch pflichtschuldig. Hans Hallmann gehörte nun einmal zu den Menschen, die glaubten, alles besser als die anderen zu können.

Er lächelte sichtlich zufrieden und forderte sie auf, sich das Haus anzusehen. "Die Marianne und ich haben hier im ersten Stock unsere eigene Wohnung. Für die Sandra hab ich unten ein schönes Appartement eingerichtet. Außerdem gibt's im Erdgeschoss noch eine Zweizimmerwohnung, die ich vermieten will, um von dem Geld die Zinsen zahlen zu können", erzählte er, als er sie durch das Haus führte.

Kathrin fand seine eigene Wohnung etwas arg eng und verwinkelt. Sandras Appartement war hingegen wirklich sehr hübsch eingerichtet und entlockte ihr einige lobende Worte. Über die dritte Wohnung ließ sich noch wenig sagen, da nur die leeren Zimmer zu sehen waren. Selbst das Badezimmer war noch nicht eingerichtet.

"Gefällt dir die Wohnung?", wollte ihr Onkel plötzlich von ihr wissen.

"Sie ist noch ein bisserl kahl", wich Kathrin einer direkten Antwort aus.

"Das gibt sich, wenn erst einmal Möbel herinnen stehen", meinte der Onkel lachend. "Nächste Woche will ich das Bad einrichten, und dann wird's langsam Zeit, sich um einen Mieter zu kümmern." Das Grinsen auf seinem Gesicht zeigte Kathrin deutlich, dass er irgendwelche Hintergedanken pflegte. Er konnte doch nicht etwa sie meinen, wenn er von einem Mieter sprach? Doch schon die nächsten Worte ihrer Tante beseitigten diesen Zweifel.

"Wir wollen natürlich ned irgendeinen völlig Fremden im Haus haben. Und am besten auch kein einschichtiges Mannsbild, das der Sandra nachstellt", erklärte Marianne Hallmann mit einem drängenden Unterton in der Stimme.

"Weißt du, Kathrin. Eigentlich haben wir an dich gedacht", steuerte Sandra schließlich direkt auf das Ziel zu.

"An mich?" Kathrin lachte kurz auf. "Aber das ist unmöglich. Ich hab meine Wohnung in der Stadt, und auch meinen Arbeitsplatz."

"Wie viel zahlst du Miete in München?", wollte ihr Onkel wissen. Als Kathrin ihm die Summe nannte, winkte er nur ab und meinte, dass sie hier nur die Hälfte bezahlen würde. "Und was die Arbeit betrifft. Du bist mit der S-Bahn von hier aus fast schneller in München, als von einem Ende der Stadt zum anderen. Ich hab's ausgerechnet. Du bräuchtest von hier aus zu deiner Firma gerade mal eine Stunde."

"Das ist aber eine ganz schöne Zeit", wandte Kathrin ein.

"Wie viel brauchst du jetzt dorthin?"

"Ungefähr eine Dreiviertelstunde."

"Also, die paar Minuten mehr machen das Kraut auch nimmer fett", entgegnete Sandra.

"Aber was ist mit Nicole? In München kann ich sie im Kinderhort abgeben!" Kathrins Magen krampfte sich zusammen, als sie daran dachte, dass dies wahrscheinlich bald nicht mehr der Fall sein würde. "Habt ihr hier vielleicht einen guten Kindergarten?", fragte sie mit einem gewissen Interesse.

"Die Pfarrei hat einen. Aber das brauchst du ja gar ned. Wir können doch auf dein Dirndl aufpassen", mischte sich Sandra ein.

"Aber du arbeitest doch selbst", rief Kathrin verwundert.

"Ich hab auch ned mich gemeint, sondern die Mama. Die freut sich schon auf die Nicole."

"Also, ich tät's gern. Ich bin ja den ganzen Tag daheim. Wenn ich außer Haus geh, dann höchstens zum Einkaufen. Und da kann ich das Dirndl mitnehmen", erklärte Marianne Hallmann sofort.

"Seid mir ned böse, aber das Ganze kommt für mich alles ein wenig überraschend", stöhnte Kathrin auf.

"Denk doch einmal nach", drängte ihr Onkel weiter. "Besser kannst du es doch gar ned treffen. Die Wohnung ist ideal für dich. Du kannst beruhigt zur Arbeit fahren, weil du dein Dirndl gut versorgt weißt. Außerdem sparst du einen Haufen Geld. Bei uns heraußen sind ned bloß die Mieten billiger. Auch in den Geschäften musst du ned so viel zahlen wie in der Stadt."