Anni Lechner

Alter Hass und neue Liebe
So findet jeder sein Glück
Die Erbin vom Tannhof

Anni Lechner: Band 19, Alter Hass und neue Liebe ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-228-3

Alter Hass und neue Liebe

Sixtus Hufnagl sah sich in der Küche um und erinnerte sich daran, wie er sie vor fast fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal betreten hatte. Viel hatte sich in der Zwischenzeit nicht verändert. An der gegenüberliegenden Wand stand noch immer derselbe, wuchtige Geschirrschrank aus massivem Holz und auch die Eckbank, auf der er saß, unterschied sich kaum von der, auf der er damals Platz genommen hatte. Im Herrgottswinkel hingen das große Kruzifix und die Bilder seiner Schwiegereltern, der Schwiegervater selbstbewusst, die Schwiegermutter jedoch mit einem Blick, der in eine unerreichbare Ferne gerichtet schien.

Zuletzt betrachtete Sixtus das Bild seiner Frau. Sie war eine gute Bäuerin gewesen, und als Ehefrau so treu, wie man es sich nur wünschen konnte, doch ihr Herz hatte den Begriff Liebe nie gekannt. Sixtus fröstelte bei diesem Gedanken und er rief sich zur Ordnung. Man sollte einer Toten nichts Böses nachsagen und zum anderen war er aus freiwilligen Stücken hierhergekommen, um Antonia Hufnagl zu heiraten. Er hatte sogar seinen eigenen Familiennamen aufgegeben und ihren angenommen, damit dieser dem Hof erhalten blieb.

Sixtus’ Blick wanderte weiter zu seinem Sohn und ihm war, als würde er in einen Zeitspiegel blicken, denn vor fünfundzwanzig Jahren hatte er fast genauso wie Stephan ausgesehen. Jetzt war seine Gestalt breiter, seine Züge wirkten schärfer gemeißelt und sein damals dunkles Haar zeigte die ersten grauen Spuren. Ich bin alt geworden, fuhr es Sixtus durch den Kopf, während sein Blick zu Irmi weiterwanderte, der Braut seines Sohnes. Sie war ein etwas dralles Mädchen mit hellblonden, sorgsam aufgebundenen Haaren und einem teigigen Gesicht. Sein Fall wäre sie gewiss nicht gewesen, doch irgendwie passte sie zu Stephan wie der Deckel zum Topf. So sehr sein Sohn vom Aussehen her seines eigenes Ebenbild war, den Charakter hatte er von der Mutter geerbt, ebenso den Stolz auf sich selbst und seinen Hof und hier gab ihm Irmi gewiss nichts nach.

Inzwischen machte sich die vierte Person am Tisch durch vermehrtes Scharren mit den Füßen bemerkbar. Als niemand darauf reagierte, hob sie mit funkelnden Augen den Kopf. »Was ist denn mit euch los? Man könnt ja fast denken, euch wär das Mundwerk eingefroren!«

Stephan wandte sich mit verkniffener Miene seiner Schwester zu. »Wenn du es vergessen haben solltest, heut vor genau einem Jahr ist die Mama gestorben.«

»Schön, dann ist endlich die depperte Trauerzeit vorbei«, klang es ungerührt zurück.

»Du hast dir ja nie was aus der Mama gemacht«, fuhr Stephan auf.

Annerose Hufnagl verzog ihr hübsches Gesicht zu einer komischen Grimasse. »Du hast unrecht, Bruder! Es war nämlich genau umgekehrt. Vor lauter Affenlieb zu dir hat sich die Mama ned auch noch um mich kümmern können.«

Stephan schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das mit der Affenlieb nimmst du zurück!«

Seine Schwester streckte ihm nur den Mittelfinger der rechten Hand entgegen und machte eine kurze Bemerkung, die alles andere als stubenrein war.

»Lässt du dir das von dem Bankert gefallen, Stephan?« Irmi sah ihren Bräutigam an, als erwarte sie von ihm, dass er seine Schwester übers Knie legt.

Sixtus fand es an der Zeit, die unerquickliche Szene zu beenden. »Eine Ruh ist! Das gilt für alle, auch für dich, Irmi. Ich weiß, dass dir die Annerose ein Dorn im Aug ist, trotzdem brauchst du sie ned beleidigen und als Bankert zu beschimpfen. Sie wird immerhin deine Schwägerin.«

Stephan warf seiner Schwester einen giftigen Blick zu und fasste die Hände seiner Braut. »Also, ich kann gut verstehen, dass sich die Irmi über die Annerose ärgert. Schau sie dir doch an, wie sie ausschaut, Vater. Man muss sich ja direkt schämen, wenn sie einem sagt, dass sie vom Hufnagl von Derling kommt.«

Sixtus betrachtete seine Tochter und fand, dass Stephan nicht ganz unrecht hatte. Annerose zog sich, seit die Mutter tot war, wirklich unmöglich an. Ihr T-Shirt sah aus, als hätte sie es zuerst als Malerkittel verwendet und dann einige Löcher hineingeschnitten. Auch ihre Jeans wirkte alt und zerfleddert und wurde teilweise nur noch durch Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Die unvorteilhafte Kleidung konnte jedoch nicht verbergen, dass sie eine ausgezeichnete Figur besaß. Ihr Gesicht war herzförmig und wirkte mit dem ausdrucksvollen Mund, dem kecken Näschen und den großen, strahlend blauen Augen mehr als nur hübsch. Diesen Eindruck vermochten nicht einmal die kurzen, dunkelblau gefärbten Haare verwischen, die entfernt an einen Wischmopp erinnerten.

»Hab ich recht oder ned?«, fragte Stephan ungeduldig.

Sixtus zuckte nur mit den Schultern. »Was dem einem seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall.« Er hätte es zwar auch gerne gesehen, wenn Annerose sich etwas gefälliger kleiden würde, verstand aber ihren Protest gegen die Art ihres Bruders.

Irmi rümpfte missbilligend die Nase. »Du bist heut aber komisch, Sixtus.«

Sixtus dachte daran, dass sie ihn vor dem Tod seiner Frau noch ehrfürchtig Bauer genannt hatte. Doch nun sprach sie mit ihm wie mit einem x-beliebigen Knecht. In gewisser Weise war er es auch, denn als Erbe seiner Mutter war nun einmal sein Sohn der neue Besitzer des Hofes.

»Ich will ned über das Aussehen der Annerose mit euch reden, sondern über was anderes. Wie der Stephan schon gesagt hat, ist heut der Jahrestag vom Tod meiner Frau. Damit hat die Trauerzeit ein End und der Stephan und die Irmi werden bald heiraten.«

Die beiden nickten fast gleichzeitig. Sixtus sah, wie sein Sohn den Mund öffnete, und sprach rasch weiter, da er sich nicht unterbrechen lassen wollte. »Ich hab mir so meine Gedanken gemacht und überlegt, wie’s weitergehen soll. Mit meinen achtundvierzig Jahren fühl ich mich noch zu jung für den Austrag, aber zwei Bauern auf einem Hof tun ned gut.«

»Was hast du vor?«, fragte Annerose mit plötzlicher Besorgnis.

»Ich hab beschlossen, den Hufnagl-Hof zu verlassen, um dem Stephan ned im Weg zu stehen«, erklärte der Vater.

Stephan hieb mit der rechten Hand ärgerlich durch die Luft. »Mir wär’s gar ned so recht, wenn du gehst, Vater. Ich müsst mir sonst einen Knecht einstellen.«

Und ihn bezahlen, setzte Sixtus in Gedanken hinzu. In der Hinsicht hatte Stephan sich als noch sparsamer als seine Mutter erwiesen. Von seiner Frau hatte er wenigstens jeden Monat eine gewisse Summe als Taschengeld erhalten, doch seit ihrem Tod gab es auch das nicht mehr. Nicht zuletzt auch aus diesem Grund wollte Sixtus den Hof verlassen.

»Du wirst den Knecht einstellen müssen. Ich werd am nächsten Ersten in meinen Heimatort Wallersreut zurückkehren. Ich hab dort schon vor ein paar Wochen das Huberzeugl erworben. Es sind zwar ned viele Tagwerk dabei, aber für mich wird’s reichen.«

»Mit was willst du denn das Anwesen bezahlen?«, fragte Stephan höhnisch. »Ich geb dir das Geld gewiss ned.«

»Ich hab fünfundzwanzig Jahre auf dem Hof gelebt und mir in der Zeit ein bisserl was sparen können. Außerdem vergisst du, dass ich als Ehemann deiner verstorbenen Mutter einen gewissen Anteil am Erbe verlangen kann.«

Stephan fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch. »Sonst noch was? Das Geld bleibt auf dem Hof!«

Sixtus hatte es nicht anders erwartet, trotzdem kämpfte er mit einem bitteren Geschmack im Mund. »Ich kann natürlich auch zum Anwalt gehen, aber mir wär’s lieber, wenn wir uns gütlich einigen.«

Stephan machte ein Gesicht, als würde ihn diese eher geringe Summe bereits auf den Gant bringen, doch nachdem er kurz mit Irmi geflüstert hatte, nickte er grimmig. »Ich werd schauen, was sich machen lässt.«

»Soviel ich damals beim Nachlassgericht verstanden habe, stehen sowohl dein als auch mein Erbteil als Hypotheken auf dem Hof, Papa. Wenn der Stephan ned zahlen will, wird er eben gepfändet«, warf Annerose ein.

»Miststück!«, schimpfte ihr Bruder, doch das Mädchen maß ihn nur mit einem verächtlichen Blick.

»Richt dich darauf ein, dass du auch meinen Erbteil auszahlen darfst. Ich will mein Geld ned auf dem Hof lassen, damit du noch reicher wirst, als du bereits bist.« Damit wandte sie ihrem Bruder den Rücken zu und sah ihren Vater bittend an.

»Du nimmst mich doch gewiss mit nach Wallersreut. Denn allein mit den beiden da will ich gewiss ned bleiben.«

»Je schneller du Vogelscheuche verschwindest, umso besser ist es für uns alle«, erklärte Irmi bissig und wurde dafür mit einem dankbaren Blick ihres Bräutigams belohnt.

*

Auf dem Pärner-Hof in Wallersreut saß die Bäuerin über ihren Papieren und rechnete eine Zahlenreihe durch. Zufrieden mit dem Ergebnis legte sie den Stift weg und blickte in ihre gediegen aussehende Bauernstube. In der Mitte der Wand stand der große, mit blauen Ranken bemalte Schrank, in der linken Ecke die Vitrine mit etlichen wertvollen Stücken und in der anderen Ecke eine niedrige Kommode mit dem Fernsehapparat. Regula Pärner sagte sich, dass sie stolz auf ihr Heim sein konnte, vor allem, wenn sie daran dachte, dass sie vor fünfundzwanzig Jahren noch ihren Dienst als blutjunge Sennerin auf der Enzian-Alm versehen hatte.

Sie wollte aufstehen und ihren Sohn suchen, doch in dem Moment öffnete sich die Tür und er kam herein. Regulas Miene wurde weich, als sie ihren Einzigen betrachtete. Gregor war aber auch ein prachtvoller junger Mann, groß und breitschultrig, dabei aber schlank wie eine Tanne. Er besaß ein angenehmes, offenes Gesicht, einen festen Mund unter einer leichten Adlernase und zwei Augen, deren Blau mit dem Sommerhimmel um die Wette strahlte. Da für heute die Arbeit bereits beendet worden war, trug er eine hirschlederne Bundhose und ein beigefarbenes Leinenhemd mit Hirschhornknöpfen.

»Gut schaust du aus, Bub. Wenn dich die Madln so sehen, findest du leicht einen Schatz«, begrüßte ihn Regula. Es war ihr Herzanliegen, ihn bald mit einem hübschen und angenehmen Mädchen verheiratet zu wissen, denn trotz ihrer erst gut fünfundvierzig Jahren sehnte sie sich nach Enkelkindern.

Gregor kannte die Gedanken seiner Mutter genau, aber auch, wie er sie davon ablenken konnte. »Na, Mama, hast du ausgerechnet, ob wir das Geld zusammenhaben, um vom Grinzinger die Enzian-Alm kaufen zu können?«

»Haben täten wir’s, aber ich will den Preis noch ein bisserl drücken. Schließlich soll sich das Geschäft für uns lohnen«, antwortete die Mutter.

Um Gregors Lippen spielte ein nachsichtiges Lächeln. Der Kauf der Enzian-Alm war für seine Mutter zu einer fixen Idee geworden. Er hatte allerdings selbst nichts dagegen, auch wenn sie dafür eher eine Wirtin als eine Sennerin brauchen würden und am besten beides. Die Enzian-Alm war nicht nur eines der beliebtesten Ausflugsziele in der Gegend, es gehörten auch die besten Mattenwiesen im weiten Umkreis dazu. Entsprechend hoch war auch der Preis, den der jetzige Besitzer dafür forderte. Trotzdem war Gregor sicher, dass sich der Kauf lohnen würde.

»Du solltest ned zu lang warten, Mama, sonst schnappt dir noch ein anderer die Alm weg.«

Regula machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bis jetzt hat keiner dem Grinzinger auch nur annähernd so viel geboten wie wir. Außerdem werd ich heut wieder mit ihm reden. Vielleicht kommen wir da schon zusammen.«

»Mich tät’s freuen. Was hält’s du übrigens davon, wenn wir am Sonntag zur Enzian-Alm hinaufsteigen? Das Radio hat schönes Wetter angesagt.« Gregor wusste, wie er seiner Mutter eine Freude machen konnte, und sah auch jetzt ihre Augen sofort aufleuchten. Seit sie dort oben als Sennerin gearbeitet hatte, liebte sie die Alm. Allerdings hatten damals vor zweieinhalb Jahrzehnten noch die Rinder die Hauptrolle gespielt, und nicht wie heutzutage die Touristen.

Regula sah ihren Sohn lächelnd an. »Ich freu mich darauf. Aber was ich fragen wollte. Gibt‘s ned noch jemand, den du gern mit auf die Enzian-Alm mitnehmen willst?«

Gregor verstand durchaus, worauf sie anspielte, schüttelte aber den Kopf. »Ned das ich wüsste. Der Simmerl geht gewiss ned mit, der sagt alleweil, dass es ihm zu anstrengend ist.«

»Ich mein ned den Simmerl, sondern die Kern Maria.« Regula blickte ihren Sohn hoffnungsvoll an, denn sie hoffte so sehr, dass dieses Mädchen den Weg zu seinem Herzen finden würde.

»Wenn du die Maria mitnehmen willst, bleib ich lieber daheim.«

Seine Mutter schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich weiß ned, was du gegen die Maria hast. Aber wenn du sie ned dabeihaben willst, dann lassen wir’s halt sein.«

Gregor blickte sie nachdenklich an und fand, dass sie für ihr Alter noch sehr gut aussah. Was hieß eigentlich alt, fragte er sich, denn das war sie gewiss nicht. Sie war im Gegenteil so agil und munter, dass sich manches junge Mädchen eine Scheibe davon hätte abschneiden können, nicht zuletzt diese Kern Maria, mit der sie ihn gerne verkuppeln würde. Bei dem Gedanken daran schüttelte er sich.

»Was ist los, bist du krank«, fragte die Mutter besorgt.

»Nein Mama, das bin ich ganz gewiss ned. Ich hab bloß nachdenkt. Weißt du, das Heiraten ist ja schön und gut, aber es muss halt auch die Richtige sein. Wenn du mir ein Madl zeigen kannst, das so ist wie du, dann nehm ich es unbesehen. Aber die Kern Maria ist gewiss nix für mich.«

Regula zerzauste ihm zärtlich den Schopf. »Du darfst ned so wählerisch sein, Bub. Es gibt genug hübsche Madln, die zu dir passen.«

»Da hab ich aber bis heut noch keine gefunden«, antwortete Gregor lachend. »Aber es bleibt dabei. Am Sonntag steigen wir zwei zur Enzian-Alm hoch.« Damit verschwand er wieder, bevor seine Mutter ihn weiter wegen eines passenden Mädchens löchern konnte. Regula war ihm aber nicht böse. Sie liebte ihren Sohn und würde ihn nie zu etwas zwingen, was er nicht wollte. In gewisser Weise war er es, der ihr Leben erst lebenswert gemacht hatte. Sie dachte an ihren vor drei Jahren gestorbenen Ehemann, den Großbauern Xaver Pärner, der umso viele Jahre älter gewesen war als sie und den sie nur aus einer großen Enttäuschung heraus geheiratet hatte. Er hatte sie, die arme Sennerin zu seiner Bäuerin gemacht, doch Liebe hatte er ihr nicht schenken können. Sie wollte jedoch nicht zu streng sein, denn auf seine Weise war er ein guter Ehemann gewesen. Trotzdem wünschte sie ihrem Gregor ein Glück, das sie in ihrer Ehe nicht gefunden hatten.

Mit diesem Gedanken wandte sie sich wieder ihren Berechnungen zu. Sie wollte die Enzian-Alm nicht mit dem Geld des Hofes kaufen, sondern mit ihren persönlichen Ersparnissen. Die Alm sollte eine Art später Mitgift sein, die sie dem Pärner-Hof zubrachte. Ihr Mann hatte sie damals als blutarmes Mädchen geheiratet und sie wollte diesen Makel endlich aus der Welt schaffen.

*

Annerose hing halb aus dem Autofenster, als ihr Vater sein Heimatdorf Wallersreut erreichte und es im langsamen Tempo durchquerte. Der Ort war etwas kleiner als das heimatliche Derling, gefiel ihr aber weitaus besser. Von hohen Bergen umgeben lag Wallersreut in einem lang gestreckten, blühenden Tal am Ufer eines rasch fließenden Baches, der es in zwei fast gleich große Hälften teilte. Zu linker Hand stand auf einer kleinen Anhöhe das barocke Kirchlein und zu dessen Füßen der Friedhof. Als Symbol für das Leben hatte man den altehrwürdigen Gasthof zum Wildschütz, über dessen Eingang standesgemäß der berühmte Wilderer Jennerwein als Lüftlmalerei prangte, direkt neben Kirche und Friedhof gebaut. Nicht weit davon befand sich die Krämerei sowie das Gemeindeamt mit dem Flaggenmast, von dem die weiß-blaue Fahne wehte. Jenseits des Baches waren mehrere landwirtschaftliche Anwesen zu sehen, darunter ein großer, stattlicher Bauernhof, dessen Wohnhaus ebenfalls mit einer Lüftlmalerei geschmückt war, die diesmal aber einen Bauern mit einem ackernden Pferdegespann zeigte.

Annerose war von diesem Anblick sichtlich beeindruckt. »Der Hof dort drüben gefällt mir, Papa. Wem gehört der?«

»Das ist der Pärner-Hof«, klang es seltsam kurz angebunden zurück. Sixtus streifte den Hof nur mit einem kurzen Blick und sah dann in die andere Richtung, wo am Ortsrand das kleine Anwesen zu erkennen war, das er erstanden hatte. Das Huberzeugl, wie es genannt wurde, ließ sich nicht im Geringsten mit dem schmucken Pärner-Hhof vergleichen. Die Mauern wirkten grau und das Dach war oft repariert worden. Auch der Stall sah nicht besonders gut aus, denn die Fenster waren klein und ein dreckiger Schubkarren neben dem Misthaufen verriet, dass hier noch mit der Hand ausgemistet werden musste. Sixtus’ Gedanken galten jedoch weniger seinem neuen Zuhause, als dem Mädchen, wegen dem er vor zweieinhalb Jahrzehnten seine Heimat verlassen hatte. Jahrelang hatte er nicht mehr an Regula gedacht, doch nun spürte er die Bitterkeit von damals so frisch in seinem Herzen, als wäre es erst gestern geschehen. Er hatte Wallersreut nach einem heftigen Streit mit ihr verlassen und ein knappes Jahr später erfahren, dass Regula die Frau des Großbauern Xaver Pärner geworden war.

Jetzt fragte er sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, wieder zurückzukehren. Zu sehr schien ihm Wallersreut plötzlich von den Schatten seiner Vergangenheit erfüllt. Doch es war zu spät, um noch etwas ändern zu können. Er hatte sich auf diese Sache eingelassen und musste sie durchstehen. Noch während er darüber nachsann, bog er von der Hauptstraße ab und fuhr den holprigen Schotterweg zum Huberzeugl entlang. Vor dem Wohnhaus hielt er an und stieg aus, kehrte dabei aber dem Pärner-Hof betont den Rücken zu.

Die Haustür ging auf und ein altes Männlein blickte ihn und Annerose misstrauisch entgegen. »Was wollt’s ihr denn?«, fragte er in einem sehr kernigen Dialekt.

»Mein Name ist Hufnagl. Ich bin der neue Besitzer von dem Anwesen.« Sixtus hatte kurz überlegt, ob er sich mit seinem Geburtsnamen vorstellen sollte, sich aber dagegen entschieden. Die Vergangenheit war tot und es brachte nichts, sie künstlich ins Leben zurückrufen zu wollen.

Das Männlein wandte sich ihm zu und schien erleichtert, einen Mann im grauen Trachtenanzug und einem dunklen, mit Adlerflaum geschmückten Hut vor sich zu sehen. »Du bist also der neue Bauer! Also ich wär der Alois und hab mich ums Vieh gekümmert, nachdem die alte Huberin gestorben ist und ihr Herr Sohn, der in der Stadt lebt, von der Landwirtschaft nix wissen hat wollen. Jetzt werd ich halt ins Altersheim gehen müssen.« Es klang so traurig, dass er Annerose leidtat. Sie ging um das Auto herum zu ihrem Vater und zupfte ihn am Ärmel.

»Muss das wirklich sein, Papa? Wir haben doch genug Platz, dass der Alois dableiben könnt. Außerdem brauchen wir jemand, der uns auf dem Hof einweist.«

Der Alte hob sofort den Kopf und sah Sixtus erwartungsvoll an. »Also einen Lohn bräuchtest du mir ned zahlen, weil ich nämlich schon seit drei Jahr meine Rente krieg. Und Platz brauch ich auch ned viel, da reicht mir mein Kammerl im Stall.«

»Mach dir keine Sorgen Alois, wir kommen schon zusammen.« Sixtus klopfte dem alten Knecht aufmunternd auf die Schulter und zeigte dann auf das Anwesen. »Der Makler will auch noch kommen. Bis dorthin könntest du mich durch den Hof führen. Wie schaut’s eigentlich mit dem Viehbestand aus. Ist da überhaupt noch was vorhanden?«

»Aber freilich. Der Huberin ihr Sohn hätt die Viecher am liebsten verkauft, aber der Makler hat ihm davon abgeraten, weil der Hof mit Vieh mehr wert wär als ohne.« Ganz stimmte es nicht, denn ein Käufer aus der Stadt, der nur auf ein Wochenendhaus aus gewesen wäre, hätte mit dem Vieh wenig anfangen können. Da Sixtus jedoch als Erster Interesse an dem Hof angemeldet und dabei auch erwähnt hatte, die Landwirtschaft weiterführen zu wollen, hatte der Makler das Vieh als zusätzlichen Kaufanreiz angesehen.

Sixtus nahm es zufrieden zur Kenntnis. »Das freut mich. Weißt du, wenn man auf einen Hof kommt und der Stall steht leer, tut das einem im Herzen weh.«

»Da hast du recht, Bauer!« Mit diesen schlichten Worten zeigte der Knecht, dass er Sixtus als seinen neuen Brotherrn anerkannt hatte. Das war ein Mann nach seinem Herzen, was er von dessen Begleiterin nicht sagen konnte. Am liebsten hätte Alois Annerose gefragt, ob sie kein Geld hatte, um sich eine bessere Kleidung als diese löchrigen Fetzen zu leisten, die sie am Leibe trug. Auch ihre Frisur missfiel ihm. Zwar färbten sich auch andere Frauen die Haare, aber die sahen nicht so aus, als hätten sie ihren Schopf auf gut Glück in einen blauen Farbtopf gesteckt und danach vergessen, dass es so etwas wie Bürste und Kamm gab. Dabei hätte sie nach Ansicht des Alten ein ausnehmend hübsches Mädchen sein können. Er versuchte sie sich in einem Dirndlkleid und mit einer gefälligen Frisur vorzustellen und fand, dass sie dann jedes andere Mädchen im Ort und der weiteren Umgebung ausstechen würde, auch die Kern Maria, die sich auf ihr Aussehen ebenso viel einbildete wie auf den Reichtum ihres Vaters.

Unterdessen hatten sie den Stall erreicht. Der Knecht öffnete die Tür und ließ Sixtus und Annerose hinein. »Wir haben sechs Kühe und vier Stück Jungvieh. Außerdem haben wir noch zwei Säue zum Schlachten, weil die Huberin das gekaufte Fleisch ned mögen hat.«

»Ich hab draußen auf dem Hof auch ein paar Hühner gesehen«, wandte Annerose ein.

Alois nickte eifrig. »Wohl, wohl, wir haben auch Hennen da, aber die sind schon ein bisserl alt. Wenn ihr Eier haben wollt, müsst ihr ein paar junge Hennen dazukaufen.«

»Das tun wir, Papa, ned war?«

»Freilich, Annerose. Es geht nix über ein frisches Frühstücksei«, stimmte Sixtus ihr lachend zu.

Dieses blauschopfige Mädchen in der unmöglichen Kleidung war also die Tochter seines neuen Herrn, dachte Alois. Am liebsten hätte er Sixtus ja gefragt, weshalb er zuließ, dass sie so herumlief. Er versuchte sich die Reaktion der Nachbarn vorzustellen und fand, dass Annerose hier wohl einen schweren Stand haben würde. Ich werd wohl mit ein paar Leuten reden müssen, damit sie ned gar so schnell den Stab über sie brechen, dachte er und setzte die Führung fort.

Die Scheune und der Silo waren überraschend gut gefüllt. Als Sixtus Erstaunen zeigte, wies Alois mit dem Daumen grinsend zum Pärner-Hof hinüber. »Das hat der Gregor für uns gemacht. Der hat uns schon die letzten Jahre geholfen, seit die Huberin und ich nimmer so können haben. Er ist ein braver Bursch, der Gregor, ein ganz braver Bursch.«

»Ist das der Knecht vom Pärner?«, fragte Sixtus.

Alois schüttelte den Kopf. »Der Gregor, das ist schon der Pärner selber. Einen besseren Nachbarn als ihn kannst du dir gar ned wünschen, Bauer.«

Es gelang Sixtus nicht mehr, seine Neugier zu beherrschen. »Ich hab früher einmal gehört, dass der Pärner mit Vornamen Xaver heißen soll.«

»Das war der Vater vom Gregor. Der ist schon vor einigen Jahren gestorben.«

Sixtus beschloss, jeden Kontakt mit dem Pärner-Hof zu vermeiden, denn einem Sohn Regulas wollte er wirklich nicht dankbar sein müssen. Doch als sie in die Scheune gingen, sang Alois erneut das Loblied auf den jungen Nachbarn. »Der Gregor hat uns auch Gras und Heu eingefahren und auch unsere Felder beackert.«

»Das wird’s ab heut nimmer brauchen, denn die Annerose und ich werden die Arbeit selber machen«, antwortete Sixtus kurz angebunden.

Alois zuckte bei diesen scharfen Worten nur mit den Schultern. Da er Gregor mochte, nahm er an, dass auch sein neuer Arbeitgeber gut mit ihm auskommen würde. In seinen Augen hatte Sixtus einmal schlechte Erfahrungen mit dem alten Pärner gemacht und schloss vom Vater auf den Sohn. Doch da würde er seine Meinung bald ändern müssen.

Die Ankunft des Maklers beendete die Besichtigung. Der Mann begrüßte Sixtus freundlich und bemühte sich, sein Erstaunen über Anneroses Aussehen nicht zu sehr zu zeigen.

»So, habt ihr euch den Hof schon ein bisserl angeschaut. Er wirkt vielleicht noch ein wengerl trist, aber mit ein bisserl Farbe sieht er bald wie neu aus.« Der Makler reichte Sixtus die Hand und führte ihn dann auf das Haus zu.

Annerose hatte mit feinem Gespür erkannt, dass ihr Vater den Nachbarn nicht mochte, und wandte sich daher an Alois. »Ich bin ja gespannt auf den Nachbarn. Wo er doch so tüchtig sein soll.«

»Er ist auch tüchtig, und ein so hilfsbereiter Mensch«, lobte Alois Gregor erneut.

»Wie kann ein Mensch nur Gregor heißen. Der Name ist doch schon seit Jahrhunderten veraltet«, spottete Annerose und verscherzte sich damit das bisschen Sympathie, das Alois für sie empfand. Der Alte drehte ihr beleidigt den Rücken zu und stapfte ins Haus. Annerose folgte ihm und fand sich in einem düsteren Flur wieder, der nur durch zwei winzige Gucklöcher an den jeweiligen Enden erleuchtet wurde. Auch das Wohnzimmer, das sie nun betrat, wirkte durch die kleinen Fenster so dunkel, dass man auch am Tag das Licht einschalten musste. Ihr Vater und der Makler hatten an dem alten Tisch Platz genommen, der bereits die ersten Holzwurmlöcher aufwies. Annerose war von dem Möbel trotzdem fasziniert. Mit seinen gedrechselten Beinen und der schweren Platte wirkte es ebenso urig wie der große Bauernschrank mit seiner verblassten Malerei. Dem Mädchen juckte es förmlich in den Fingern, Pinsel und Farbtopf zu ergreifen und hier zu renovieren.

»Da gefällt‘s mir«, sagte Annerose. Alois verstand es falsch und ärgerte sich noch mehr. Irgendwie kamen ihm die neuen Besitzer komisch vor. Gottes Tiergarten ist wirklich groß, dachte er und konnte gerade noch verhindern, dass er es laut aussprach. Da ihn die Vertragsbedingungen, die der Makler eben vorlas, nicht interessierten, schlurfte er in die Küche. Zu seinem Leidwesen folgte ihm Annerose nach.

Das Mädchen betrachtete den alten Küchenschrank, der sich ebenfalls nach ihren kundigen Händen zu sehnen schien, und die übrigen Möbel, die so aussahen, als würden sie aus einem Bauernhofmuseum stammen. Der Holzbrandofen und der Elektroherd waren dafür wieder neueren Datums.

»Gibt’s da keinen Kühlschrank?«, fragte Annerose.

Alois wies mit dem Kinn auf eine strapaziert aussehende Tür. »Dort in der Speis ist einer. Wenn du Hunger hast, kannst du dir was rausnehmen.«

»Hunger hab ich zwar keinen, aber ich will mich umschauen und sehen, was fehlt, damit ich einkaufen kann.« Annerose öffnete die Tür der Speisekammer und trat ein. Auf einem Regal an der Wand fand sie Dutzende von Einmachgläsern mit Obst, Gurken und Kürbissen aufgestapelt, weiter hinten stand ein Schrank mit geräucherten Würsten und Selchfleisch und daneben ein großes Steingutgefäß mit Sauerkraut. Im Kühlschrank lagen jedoch nur ein wenig Wurstaufschnitt und Käse und ein Päckchen Butter. Besonders üppig hatte Alois in der letzten Zeit anscheinend nicht gelebt. Annerose beendete ihre Besichtigung, ergriff den aus Weidenzweigen geflochtenen Einkaufskorb und kehrte in die Küche zurück.

»Dann werd ich erst einmal zum Kramer gehen. Hast du was gegen Wiener Schnitzel heut Abend, Alois?«

»Nein, hab ich ned«, antwortete der Knecht und verschluckte das »wenn du sie ned so machst, wie du aussiehst«, das ihm auf der Zunge lag, im letzten Augenblick.

Annerose verließ fröhlich die Küche und traf im Hof ihren Vater und den Makler an. Sixtus sah den Korb in ihrer Hand und winkte ihr, zu warten.

»Wir sind so weit fertig. Wenn du nix dagegen hast, tät ich gern mit dir mitgehen.«

»Gern, Papa! So pressiert’s mir wirklich ned. Es gibt heut Abend übrigens Wiener Schnitzel.«

»Wenn ich das hör, tät ich am liebsten bleiben«, warf der Makler lachend ein. »Aber wie Ihr Herr Vater schon gesagt hat, sind wir fertig. Ich wünsch Ihnen einen guten Einstand im neuen Haus. Wir sehen uns gewiss irgendwann wieder einmal.« Er reichte Sixtus und Annerose die Hand und stieg dann in sein Auto. Er wollte die Türe schon zuschlagen, da drehte er sich noch einmal zu den beiden um. »Kann ich sie vielleicht ins Dorf mitnehmen?«

Annerose schüttelte lachend den Kopf. »Dankschön für das Angebot, aber ich geh lieber. Ich will ja was von meiner neuen Heimat sehen.«

»Also dann Pfia Gott!« Der Makler schloss die Tür, startete seinen Wagen und fuhr los.

Annerose sah ihm ein Stück weit nach und drehte sich dann zu ihrem Vater um. »Jetzt ist’s also amtlich, dass uns das Anwesen gehört.«

Sixtus schnaufte kurz durch und nickte. »Jetzt gehört’s uns und jetzt müssen wir auch bleiben.«

Der seltsame Unterton in seiner Stimme ließ Annerose aufhorchen. »Bedauerst du es vielleicht, Vater?«

»Nein, natürlich ned. Es ist alles besser, als weiter mit dem Stephan und seiner Zukünftigen zusammenzuleben.«

»Ich bin auch froh, dass ich den Leimsieder endlich los bin!«

Sixtus warf seiner Tochter einen tadelnden Blick zu. »Auch wenn du dich mit dem Stephan ned gut vertragen hast, solltest du ihn ned so nennen. Er ist immerhin dein Bruder.«

»Du hast ja recht, Vater. Außerdem wär er wahrscheinlich anders, wenn die Mutter ihn ned zu ihrem geistigen Ebenbild erzogen hätt. Du brauchst gar ned zu schimpfen, Papa. Ich hab doch gesehen, wie die Mama dich behandelt hat. Ein jeder Knecht hätt’s besser gehabt als du, weil er nämlich kündigen hätt können.«

Sixtus zog seine Tochter an sich und strich ihr über das struppige Haar. »Ich schimpf doch gar ned, Dirndl. Außerdem war’s gar ned so schlimm, weil ich doch dich gehabt hab.«

»Wir zwei haben alleweil zusammengehalten, ned wahr Papa?« Annerose lächelte ihrem Vater zu und zeigte nach vorn. »Dorthin geht’s ned zurück. Derling und die Mama, das ist Vergangenheit. Jetzt müssen wir in die Zukunft schauen.«

*

Der Sonntag wurde so schön, wie Gregor es prophezeit hatte. Regula hatte schon beim Aufstehen zum Fenster hinausgesehen und beim Anblick der aufgehenden Sonne aufgeatmet. Sie freute sich auf diesen Ausflug und hätte ihn um nichts in der Welt versäumen wollen. Während Gregor mit dem Altknecht Simmerl die Stallarbeit erledigte, bereitete die Bäuerin das Frühstück vor. Dabei blickte sie auch einmal durch das Fenster zum Huber-Anwesen hinüber. Da ein unbekanntes Auto davor stand, waren die neuen Besitzer anscheinend bereits angekommen. »Was mögen das für Leut sein. Na ja, in ein paar Tagen werden wir es wissen«, sagte sie zu sich selbst.

»Was werden wir wissen?« Gregor war in die Küche gekommen und hatte den letzten Satz noch Mutter gehört.

Regula zeigte zum Huber-Anwesen hinüber. »Mich interessiert, was das für Leut sind. Schließlich sind sie unsere neuen Nachbarn.«

Gregor bedachte seine Mutter mit einem nachsichtigen Blick. »Du wirst sie schon noch kennenlernen, Mama. Ich hab übrigens mit dem Alois geredet. Wie’s ausschaut, soll der neue Bauer sein Handwerk verstehen.«

»Du hast mit dem Alois über die neuen Besitzer geredet und mir nix gesagt.« Regulas Stimme klang ein wenig beleidigt.

»Ich hab den Alois grad eben an der Milchsammelstelle getroffen und bin sofort zu dir gekommen, um es dir zu sagen.«

Regula gab ihrem Sohn einen leichten Nasenstüber. »Jetzt tu ned so, als wenn ich vor Neugier platzen tät.«

»Guten Morgen Bäuerin, ist der Kaffee schon fertig?« Die Ankunft des Altknechts enthob Gregor einer Antwort. Regula eilte erschrocken zur Kaffeemaschine und atmete sichtlich auf, als sie sah, dass sie diese bereits eingeschaltet hatte.

»Gleich ist’s so weit, Simmerl. Wenn du magst, kannst du ja mit dem Gregor den Tisch decken.«

»Wohl, wohl Bäuerin, das machen wir.« Der Knecht wechselte einen kurzen Blick mit Gregor und schlurfte zum Schrank, um die Tassen und Teller herauszuholen. Gregor half ihm dabei und brachte dann das Besteck heran. Die Mutter stellte unterdessen Brot, Wurst, Käse und Marmelade auf den Tisch und zuletzt die volle Kaffeekanne.

»Hast du ned Milch und Zucker vergessen, Bäuerin?«, mahnte Simmerl mit einem listigen Blinzeln an.

Die Bäuerin betrachtete das Stillleben auf dem Tisch und nickte. »Du hast recht! Aber das ist ja auch kein Wunder, so wie mich der Lauser andauernd ärgert.«

Simmerl sah Gregor neugierig an. »Was hast du denn wieder angestellt, Gregor? Hast du vielleicht wieder einmal gesagt, dass dir die Kern Maria ned gefällt, wo die Bäuerin doch so viel von ihr hält?«

»Fang jetzt du ned auch noch zu spotten an«, schimpfte Regula.

»Nein, um die Maria ist’s diesmal bloß in zweiter Linie gegangen. Die Mama ist bloß beleidigt, weil ich ihr erst jetzt gesagt hab, dass ich vor fünf Minuten dem Alois begegnet bin.«

Simmerl kicherte leise vor sich hin. »Du möchtest wohl gern wissen, wer die neuen Leut auf dem Huberzeugl sind, ned wahr Bäuerin? Wärst du gestern statt meiner zum Kramer gegangen, hättest du sie kennengelernt.«

»Du hast sie dort getroffen?« Regula sah aus, als wolle sie ihn packen und die Neuigkeiten aus ihm herausschütteln.

Der Alte suchte sich mit Bedacht eine Wurstscheibe aus und legte sie auf sein Brot, bevor er antwortete. »Es handelt sich um einen Mann, ein wengerl über vierzig, und seine Tochter. Er ist mir irgendwie ein bisserl bekannt vorgekommen, aber ich kann mich ned erinnern, wo ich ihn schon einmal getroffen haben könnt.«

Regulas Kopf ruckte hoch. »Eine Tochter, sagst du? Wie schaut sie denn aus?« Für sie konnte es nicht genug hübsche Mädchen im Dorf geben, damit ihr Sohn endlich anbiss.

Simmerls Grinsen wurde noch breiter und er zeigte zum Fenster hinaus. »Da draußen fährt sie grad vorbei.«

Regula stürzte ans Fenster und starrte mit großen Augen auf die Fahrerin des Traktors, der eben im gemütlichen Tempo vorbeizuckelte. Beim Anblick der wirren, leuchtend blauen Haare und der zerfetzten Kleidung fiel ihr die Kinnlade herunter. »Herrgott im Himmel, was ist denn das für eine? Die passt ja auf einen Bauernhof wie ein Ochs ins Maximilianeum.«

»Für mein Gefühl sitzen im Landtag genug Ochsen, aber zweibeinige«, warf der Knecht lachend ein. »Aber in einem hast du schon recht. Die Tochter von dem neuen Huber-Bauern ist wirklich ein Anblick, wie man ihn ned alle Tage sieht.«

Jetzt wurde auch Gregor neugierig und er gestellte sich zu seiner Mutter. Da der Traktor inzwischen weitergefahren war, konnte er nur noch den blauen Schopf des Mädchens erkennen. Während seine Mutter jedoch wieder an den Tisch zurückkehrte, blieb er am Fenster stehen und sah zu, wie Annerose auf die Wiese einbog und dort ihr Gefährt mit flinken Handgriffen zum Mähen bereit machte.

»Von der Landwirtschaft versteht sie gewiss mehr wie mancher Landtagsabgeordneter vom Regieren«, entfuhr es ihm.

Regula wollte gerade Kaffee trinken, setzte aber die Tasse wieder ab und sah zu ihrem Sohn hin. »Was sagst du?«

»Bloß, dass dieses farbenprächtige Wesen sein Handwerk versteht. Auch wenn sie so ausschaut wie eine vom Münchner Hasenbergl, muss sie auf einem Bauernhof aufgewachsen sein.«

»Unmöglich!«, widersprach die Mutter. »Keine Bauerntochter, die was auf sich hält, läuft so herum.«

»Vielleicht hält sie nix auf sich«, spottete der Knecht. »Aber was anderes, Gregor, was meinst du da mit dem Hasenbergl? Das versteh ich ned.«

»Das ist ein Münchner Stadtteil, von dem es heißt, dass dort viele Asoziale leben. Aber wahrscheinlich ist auch das bloß ein Vorurteil«, antwortete Gregor. Er stieß sich vom Fensterrahmen ab und setzte sich wieder an den Tisch. Während er innerlich den Kopf über die neue Nachbarin schüttelte, war Simmerl bester Stimmung.

»Die Tochter hast du jetzt gesehen, Bäuerin. Aber denk ned, dass du von der auf den Vater schließen kannst.«

»Da bin ich ja gespannt.« Regula rümpfte die Nase und forderte ihren Sohn auf, sich zu beeilen. »Ich muss dann gleich das Kochen anfangen, sonst kommen wir zu spät zur Enzian-Alm hoch.«

Da seine Mutter ihm das nicht verzeihen würde, aß Gregor rasch fertig und half ihr auch beim Tischabräumen. Danach wusch er sich und zog sich für den Kirchgang um. Simmerl kam mit ihm, bog aber vor der Kirchentür nach rechts ab und stach auf die Gastwirtschaft zu.

»Willst du ned mitkommen?«, rief Gregor ihm nach.

Simmerl schüttelte den Kopf. »Weißt du, in meinem Alter begeht man nimmer so viele Sünden, dass man jede Woch beichten müsst. Da langt’s, wenn man einmal im Monat in die Mess geht.« Mit diesen Worten verschwand er in der Wirtschaft. Gregor sah ihm kopfschüttelnd nach und musste sich dann beeilen, um noch vor dem ersten Gebet in die Kirche zu kommen.

*

Nach einem Kalbsbraten, wie man ihn besser kaum finden konnte, brachen Regula und Gregor auf. Die Bäuerin trug ein hübsches, dunkelgrünes Dirndl mit einer beigen Schürze, ihr Sohn eine graue Kniebundhose und ein weißes Hemd. An diesem schönen, warmen Tag waren sie nicht die Einzigen, die zur Enzian-Alm hoch wollten. Schon bald erreichten sie eine größere Gruppe, die immer wieder stehen blieb und ihnen dabei den Weg versperrte. Regula ärgerte sich über so viel Rücksichtslosigkeit, doch Gregor tippte einem der Männer lachend auf die Schulter.

»Grüß Gott Kamerad, könnten wir vielleicht vorbei.«

Der andere lachte fröhlich zurück. »Freilich, kommt Leut, lasst die Leut vorbei.«

»Dankschön.« Gregor hob grüßend die Hand und schob sich durch die Gasse, die man ihm und seiner Mutter öffnete. Als sie weitergingen, sahen sich zwei junge Frauen mit leuchtenden Augen an.

»Der junge Mann könnte mir gefallen«, sagte die eine.

»Mir auch«, klang es mit einem Hauch von Eifersucht zurück.

»Die Frau ist aber auch nicht zu verachten«, warf der Mann ein, den Gregor angesprochen hatte. »Sie ist vielleicht nicht mehr ganz taufrisch, hat aber eine gute Figur und ein hübsches Gesicht.« Er betrachtete dabei seufzend seine Ehefrau, die sich weiter vorn eifrig mit einer Freundin unterhielt und deren eng anliegende Kniebundhose ein arg ausladendes Hinterteil enthüllte.

Regula und Gregor kümmerten sich nicht um die Gruppe, sondern schritten hurtig weiter. Obwohl sie nicht trödelten, fanden sie doch die Zeit, die herrliche Landschaft um sich herum zu bewundern. Das Wallersreuter Tal lag wie hingegossen zu ihren Füßen, die roten Dächer der Häuser leuchteten hell im Sonnenlicht und die Kühe auf den Talweiden wirkten von hier heroben klein wie Kaninchen.

»Es ist wirklich schön bei uns«, fand Regula, als sie ihren Blick zu den grauen Bergriesen erhob, die das Tal beinahe zur Gänze umschlossen.

»Viele schönere Stellen kann’s kaum geben«, stimmte Gregor ihr zu.

»Wir hätten doch die Maria mitnehmen sollen. Die hätt sich sicher darüber gefreut«, klang es von der Mutter zurück.

Gregor hob lachend die Arme. »Sie vielleicht, aber ich gewiss ned. Bevor ich mit der Maria einen Ausflug mach, nehm ich lieber unsere neue Nachbarin mit.«

»Was willst du denn mit dem blauen Wischmopp?«, fragte Regula entsetzt.

»Ich glaub, dass das recht spaßhaft werden könnt.« Gregor wunderte sich selbst, warum er so neugierig auf diese Annerose war, von der er nicht mehr wusste als ihren Namen und die Tatsache, dass sie so ganz anders aussah als die Mädchen, die er sonst kannte.

Seiner Mutter verzog angewidert das Gesicht. »Mir wär das ein bisserl zu viel Spaß. Ich versteh ihren Vater ned, dass der seine Tochter so herumlaufen lässt. Das ist ja direkt eine Schand für seinen Hof.«

»Auf alle Fälle kann sie besser mit dem Bulldog umgehen wie die Kern Maria. Wenn ich dran denk, wie die im letzten Herbst gegen die Stallwand gefahren ist.« Gregor lachte bei dieser Vorstellung, während seine Mutter ihre Federn aufstellte.

»Du bist wirklich kein Kavalier ned. Außerdem hab ich mich auch schon einmal verschaltet.«

»Aber du hast es schnell genug gemerkt und bist ned mit hundert Meter Anlauf gegen eine Wand gefahren.«

»Es waren keine hundert Meter, sondern höchstens zwanzig«, biss die Mutter zurück.

»Mindestens fuchzig«, antwortete Gregor lachend. »Aber selbst wenn’s bloß zwanzig gewesen wären, hätt die Maria vorher anhalten können.«

»Sie hat halt vor Aufregung ned gewusst, welches Pedal sie treten soll«, verteidigte Regula ihren Liebling.

Gregor roch den Streit, der in der Luft lag, wenn er weiterhin gegen Maria Kern stichelte, und wechselte daher geschickt das Thema. Als sie schließlich die Enzian-Alm erreichten, waren seine Mutter und er wieder ein Herz und eine Seele.

Die Terrasse der bewirtschaften Alm war brechend voll von Ausflüglern, die hier ein spätes Mittagessen einnehmen oder Brotzeit machen wollten. Gregor überlegte schon, ob sie sich nicht besser ins Innere der Hütte setzen sollten, als er am anderen Ende der Terrasse einen Tisch entdeckte, der nur von zwei Menschen belegt war. Der kobaltblaue Schopf der jungen Frau brachte ihn auf eine Idee.

»Du Mama, da drüben sitzen unsere neuen Nachbarn. Das wär doch die Gelegenheit, sie kennenzulernen«, sagte er zu seiner Mutter und steuerte auf den Tisch zu.

»Ists erlaubt, hier Platz zu nehmen?«, fragte er höflich.

»Aber freilich!«, antwortete Sixtus, der den schönen Tag genützt hatte, um Annerose einen seiner Lieblingsplätze von früher zu zeigen. Dann erst sah er die Begleiterin des jungen Mannes und fühlte das Blut in seinen Adern stocken. Selbst nach fünfundzwanzig Jahren erkannte er seine einstige große Liebe Regula sofort.

Regula hatte zuerst Annerose angesehen, deren zerfledderte Kleidung sie selbst nicht einmal mehr als Putzlappen verwendet hätte, und schüttelte innerlich den Kopf darüber, dass ein ansonsten recht hübsch aussehendes Mädchen sich so verhunzen konnte. Als sie sich Sixtus zuwandte, sah sie zunächst nur seinen gut sitzenden Trachtenanzug und dann erst sein Gesicht. Auch sie brauchte keine Sekunde, um ihn zu erkennen. Ihr Gesicht wurde hart und sie wollte Gregor schon auffordern, sich woanders hinzusetzen, sagte sich dann aber, dass es zu Fragen führen würde, die sie nicht beantworten wollte. Daher nahm sie Platz und winkte herrisch die Bedienung heran.

Die junge Frau wusste, dass die Pärner-Bäuerin die Alm kaufen wollte, und eilte sofort heran. »Was darf’s denn sein, Pärnerin? Ich hätt zum Beispiel einen guten Käskuchen heroben, oder soll’s was Herzhafteres sein?«

»Den Käskuchen kann ich nur empfehlen«, sagte Annerose, vor der ein blank geputzter Teller stand.

»Was meinst du Mama, nehmen wir zwei Stücke und dazu erst einmal einen Kaffee?«

Regula nickte mit dem letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung. »Tu das.«

»Also zwei Käskuchen und zwei Kaffee.« Die Bedienung verschwand wieder und ließ die vier in unterschiedlichsten Gefühlen zurück. Gregor blinzelte Annerose fröhlich zu und zeigte ins Dorf hinab.

»Wie’s ausschaut, sind wir jetzt Nachbarn. Ich wär der Pärner Gregor und das meine Mutter Regula. Und ihr seid die neuen Besitzer des Huber-Hofes.«