Der Sohn des Mörders

Der Taxifahrer Sepp Hierneis hielt seinen Wagen an und drehte sich zu seinem Fahrgast um. »Dort unten liegt Trichtling!«, sagte er und zeigte die Anhöhe hinab.

Geert Rogner sah mit brennenden Augen auf das sanft geschwungene Tal. Von grünen Wiesen und goldfarbenen Getreidefeldern umgeben lag der hübsche Ort unter ihm. Große, wuchtige Bauernhöfe und kleine Häuschen breiteten sich wie von einem Kunstmaler hingezaubert an dem kleinen Flüsschen aus. Breit und behäbig grüßte die weiß gekalkte Kirche mit ihrem Zwiebelturm herauf. Dort lag auch der Gottesacker, der Geert an den traurigen Grund seiner Reise gemahnte.

»Es ist schön hier, so friedlich«, sagte er spontan zum Taxifahrer. »Ich möchte hier aussteigen.«

»Es ist eana Geld«, meinte der Hierneis mit einem kurzen Blick auf den munter weiterlaufenden Taxameter.

Geert Rogner achtete jedoch nicht darauf, sondern öffnete die Wagentür und stieg aus. Die Luft füllte sommerwarm seine Lungen und trug den Duft von Heu und reifem Korn mit sich. Geert blieb am Straßenrand stehen und atmete tief ein. Ihm war, als sei er nach langer Reise in die Heimat zurückgekehrt. Und doch hatte er dieses Tal und den Ort in seiner Mitte noch niemals in seinem Leben gesehen.

»Der Herr hat schon recht. Das Trichtlinger Tal ist so schön, als hätt es der Herrgott extra als i-Tüpferl für unser Bayernland geschaffen. Und derweil gibt’s wirklich koa schöneres Land wie unser Bayern. Meinens ned auch?«, meinte der Taxichauffeur, der ebenfalls ausgestiegen war, zu ihm.

»Ich habe bisher von Bayern leider noch nicht viel mehr als den Flughafen und das Hotel gesehen. Aber wenn ich das Trichtlinger Tal so ansehe, kann auch ich mir nicht vorstellen, dass es irgendwo einen schöneren Fleck Erde geben kann«, antwortete Geert Rogner. Und keinen, der mich trauriger machen würde, setzte er in Gedanken hinzu, sprach es jedoch nicht aus.

Auch der Hierneis Sepp machte sich so seine Gedanken. Sein Fahrgast war ja ein seltsamer Bruder. So wie er aussah, hätte er aus jedem Ort der Gegend stammen können. Er war etwa um die 23 Jahre alt und schlank und sehnig gewachsen. Ein dichter Schopf dunkler Haare wuchs auf seinem Kopf. Auch die blitzblauen Augen in seinem nussbraun gebrannten Gesicht und sein kecker Schnauzer auf der Oberlippe konnten den Mädchen schon gefallen. Der seltsam unmoderne Anzug mit seinen flatternden Hosen mit Schlag passte jedoch nicht ganz dazu. Und seine seltsame Aussprache, die nicht direkt Hochdeutsch, aber auch nicht bayrisch war, ließ ihn vollends als Fremden erscheinen.

»Kommen S‘, steigen wir wieder ein und fahren das letzte Stückerl nach Trichtling. In zehn Minuten sitzen S‘ beim Aignerwirt am Tisch. Der hat ein Bier, sag ich eana. Da kann das Gesöff, das die in München als bayrisches Bier verkaufen, ned hinschmecken.«

»Ist das dort unten der Laakenweiher?«, fragte Geert Rogner, ohne auf Sepp Hierneis‘ Geschwätz einzugehen.

»Ja, das ist er«, antwortete der Sepp. Er wunderte sich darüber, dass ein Mensch behaupten konnte, Bayern nicht zu kennen, aber genau wusste, welcher Weiher bei Trichtling lag.

»Ich glaub, ich werd das letzte Stück zu Fuß gehen. Geben sie mir meine Koffer und sagen sie mir, was ich ihnen schuldig bin.«

»Also, ich krieg 15 Euro für die Fahrt«, brummte der Hierneis etwas ungehalten, weil ihm das letzte Stück Weg noch ein paar Euro mehr eingebracht hätte.

Geert Rogner zog ein paar Geldscheine aus der Jackentasche. Er blätterte darin wie einer, der nicht gewohnt war, damit umzugehen und reichte dem Hierneis zwei Zehneuroscheine. »Der Rest ist für Sie«, sagte er, als der Hiereis umständlich nach Wechselgeld zu suchen begann.

»Dann sag ich halt Dank schön«, antwortete der Hierneis und wunderte sich noch mehr über den seltsamen Fremden.

Geschäftig holte er dessen Gepäck aus dem Kofferraum und reichte es ihm. Geert Rogner nahm die beiden Koffer entgegen und verabschiedete sich. Dann ging er mit weit ausgreifenden Schritten talwärts, ohne sich noch einmal nach dem Taxifahrer umzusehen.

»Das ist mir aber ein komischer Heiliger«, sagte sich der Hierneis Sepp kopfschüttelnd. Dann setzte er sich wieder ans Steuer seines Wagens und kehrte in die Stadt zurück.

*

Am Ufer des Laakenweihers blieb Geert Rogner stehen und stellte seine Koffer ab. Die Straße führte zwar fast direkt neben dem Gewässer vorbei. Geert konnte jedoch glauben, dass der See vor so zwei, drei Jahrzehnten in beinahe verwunschener Einsamkeit gelegen haben mochte. Seine Augen suchten die Ufer ab, ohne jedoch fündig zu werden.

»Das Kreuz wird wohl beim Straßenbau weggekommen sein«, flüsterte er leise vor sich hin. Dann öffnete er einen seiner Koffer und holte einen kleinen, schon leicht angewelkten Kranz aus Blüten und Zweigen heraus, die sicher nicht in Bayern gewachsen waren.

»So Vater, jetzt bin hier, so wie du es dir gewünscht hast. Gott gebe dem Mann, der hier gestorben ist, den ewigen Frieden. Und dir auch!« Eine Träne rollte über Geerts Wange, als er den Kranz noch einmal an die Lippen führte. Dann warf er ihn mit einer heftigen Bewegung ins Wasser. Während der Kranz versank, betete Geert ein Vaterunser. Dann nahm er seine Koffer wieder an sich und legte das letzte Stück Weges ins Dorf zurück. Er wandte sich jedoch nicht dem vom Hierneis Sepp hochgelobten Gasthof Aigner zu, sondern wanderte zum Friedhof weiter.

Vor dem kleinen, schmiedeeisernen Tor blieb er einen Augenblick stehen. »Es fällt mir nicht leicht, das zu tun, Vater. Aber ich habe es dir versprochen.« Es sagte es, wie um sich selbst neuen Mut zu machen. Mit dem Wissen, dass man Dinge einfach tun musste, damit sie einem nicht über den Kopf wachsen, öffnete er das Tor und trat ein.

Geert fühlte sich zuerst zwischen den marmornen Grabdenkmälern fremd. Dann schritt er wie von einem Zwang getrieben vorwärts und zählte dabei die Gräber zu seiner Linken. Vor dem achten Grab blieb er schließlich stehen. Sein Blick überflog die Schrift, die in goldenen Lettern in den Stein geschlagen war. Er las die Namen der Toten, die hier dem Jüngsten Gericht harrten, und suchte den einen, für den er gekommen war. Doch der einzige Anton Mayer, der hier in geweihter Erde ruhte, war schon vor über dreißig Jahren im Alter von mehr als fünfundachtzig Jahren gestorben.

»Sollte sich der Vater geirrt haben? Es ist ja schließlich über fünfundzwanzig Jahre her und da kann ein Mensch schon viel vergessen!« Geert Rogner wunderte sich darüber. Er schaute sich aber trotzdem die Gräber in der Nähe an. Die Namen, die darauf standen, stimmten mit denen überein, die ihm sein Vater genannt hatte. Natürlich waren in Lauf der mehr als zwei Jahrzehnte neue Namen hinzugekommen. Demnach war es zweifelsfrei, dass das erste Grab, das er sich angeschaut hatte, auch das gesuchte war. Doch der Name, den er dort erwartet hatte, fehlte. Der Name des Mannes, den sein Vater als junger Mann im Streit erschlagen hatte – Anton Mayer.

»Grüß Gott. Kann ich dir helfen?« Eine fröhliche Stimme, die so gar nicht zu Geerts momentaner Stimmung passen wollte, riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Geert drehte sich um und sah ein junges Mädchen den Kiesweg herankommen. Sie war mittelgroß, dunkelhaarig und besaß ein eher liebes als schönes Gesicht. Ihre braunen Augen blitzten munter, sahen den ihr fremden Mann jetzt aber etwas neugierig an.

»Grüß Gott«, antwortete Geert mit der Stimme eines Menschen, der diesen Gruß nicht gewöhnt ist. »Nein, Sie können mir nicht helfen. Oder vielleicht doch. Wissen Sie, ich suche das Grab des Anton Mayer, der vor 25 Jahren das Brumberger-Anwesen in Obertrichtling bewohnt hat.«

Das Mädchen sah Geert Rogner entgeistert an. »Was für ein Grab suchst? Der einzige Anton Mayer, der hier begraben wurde, liegt in dem Grab vor dir. Das war mein Urgroßvater, weil der Großvater nämlich Matthias geheißen hat nach seinem Taufpaten. Mein Vater heißt zwar auch Anton Mayer, aber der hat hier herinnen noch lang nichts verloren!«

Jetzt war Geert verblüfft. Er sah das Mädchen an, als würde es irre reden. »Aber irgendwo muss hier ein Anton Mayer liegen«, sagte er.

»Also, ich wüsst ned. Und ich müsst’s doch wissen. Ich bin schließlich die Brumberger Waltraud und heiß mit dem Schreibnamen Mayer!«

»Aber, das gibt es doch nicht!«

»Doch, doch, ich hab zwar meinen Taufschein ned bei mir, aber du kannst mir schon glauben, dass ich die Waltraud Mayer bin.«

»Entschuldigung, aber ich meine doch nicht Sie. Ich meine das Grab, das ich suche. Ich bin mir sicher, dass es hier irgendwo sein muss.«

»Also ich glaub, dass du dich da täuschst. Wahrscheinlich suchst du im verkehrten Friedhof oder irrst dich im Namen. Schau, dort hinten liegt der Moierer von Trichtling. Der heißt mit dem Vornamen zwar ned Anton, sondern Albrecht. Aber wennst dich schon beim Familiennamen täuscht, braucht ja auch der Vorname ned zu stimmen.«

Geert Rogner merkte, dass ihn die Waltraud auf den Arm nehmen wollte. Er war aber nicht aufgelegt dazu, es ihr mit gleicher Münze zurückzugeben. Sein hilfloser Blick rührte jedoch die Waltraud und sie legte ihm die Hand auf den Arm.

»Du suchst wohl das Grab eines lieben Verwandten?«, fragte sie ihn.

»Der Anton Mayer ist nicht ein direkter Verwandter von mir. Aber ich suche eben sein Grab.«

»Wie gesagt, der einzige Mann mit dem Namen, den ich kenne, ist mein Vater. Aber der Name Mayer ist hier gar ned so selten. Vielleicht ist der Mayer, den du suchst, ein entfernter Verwandter von uns und ist wegen dieser Verwandtschaft Brumberger gerufen worden.«

»Das könnte sein«, antwortete Geert leise.

Es war wie ein Strohhalm für ihn. »Wissen Sie, ich bin fremd hier und soll das Grab für einen Bekannten aufsuchen.«

Eine seltsame Scheu hielt ihn davor zurück, der Waltraud zu sagen, dass es kein Bekannter war, der diesen Dienst von ihm forderte, sondern sein Vater.

»Wenn ich dir einen Rat geben darf. An deiner Stelle würd ich ned länger hier auf dem Friedhof nach einem Grab suchen, von dem du ned weißt, ob es überhaupt da ist. Du solltest lieber zum Gemeindeamt gehen. Die brauchen nämlich nur im Sterberegister nachschauen und können dir dann genau sagen, wo der Mayer, den du suchst, begraben liegt!«

»Das ist die Idee. Danke schön. Können Sie mir vielleicht noch sagen, wo ich das Gemeindeamt finde?« Geerts Miene hellte sich wieder auf und er lächelte die Waltraud an.

Das Mädchen atmete einen Hauch schneller, als sie in die blitzenden Augen des Mannes blickte. Sie vergaß beinahe, auf seine Frage zu antworten. »Heut ist Samstag. Da ist das Gemeindeamt nur am Vormittag offen gewesen. Aber wennst ned bis zum Montag warten willst, brauchst nur zum Bürgermeister gehen. Der Rogner hat den Schlüssel zum Gemeindeamt und wird dir gern helfen!«

»Der wer?« Geert sah die Waltraud so entgeistert an, dass diese hell auflachte.

»Unser Bürgermeister. Eigentlich heißt er ja Albert Koller. Aber jeder nennt ihn nach seinem Hofnamen den Rogner. Schau, dort vorn ist sein Hof. Er ist der größte und reichste Hof im ganzen Landkreis.« Waltraud sagte dies ohne jeden Neid. Da sie aber zum Dorf hinschaute, entging ihr Geerts Reaktion. Dieser sah aber auch aus, als hätte ihn ein Blitz gestreift.

Blass wie ein Leintuch starrte auch er auf den Hof des Bürgermeisters. Er musterte den neu gebauten Stall, der sicher mehr als hundert Stück Vieh Platz bot. Auch das im einheimischen Stil neu errichtete Wohnhaus zeigte, dass hier jemand wohnte, der auf seinen Geldsack pochen konnte.

»Wie war noch mal der Name des Bürgermeisters?«, fragte Geert, nachdem er sich mühsam gesammelt hatte.

»Albert Koller heißt er. Du hast aber ein schlechtes Gedächtnis«, lachte Waltraud. »Na ja, vielleicht kein Wunder, wenn du fremd bist. Wo kommst du eigentlich her?«

»Aus Bolivien«, beantwortete Geert die Frage eher automatisch als bewusst. Seine Gedanken tanzten einen wirren Kreis. Albert Koller, diesen Namen kannte er. Er war auch seinetwegen nach Trichtling gekommen. Eigentlich hätte ihn sein nächster Weg zu diesem Mann führen sollen. Doch es war in der letzten Stunde so viel an seltsamen Eindrücken auf ihn niedergeprasselt, dass er damit zögerte. Er nahm seine Koffer wieder auf und wandte sich noch einmal Waltraud zu, die eben begann, das Mayer-Grab herzurichten.

»Adios, hasta luego!« In seiner Erregung merkte er nicht, dass er Spanisch sprach.

»Pfia Gott«, antwortete die Waltraud. Sie schaute Geert nach, bis dieser den Friedhof verlassen hatte.

»Das ist aber ein komischer Heilger«, sagte sie dann leise vor sich hin. Dann erinnerte sie sich jedoch an den Glanz seiner Augen und sein Lächeln und ihr wurde seltsam warm ums Herz.

*

Kurze Zeit später stand Geert in der Gaststube des Aigner-Wirts und füllte das Gästebuch aus. Die Wirtstocher Helga schaute ihm dabei neugierig über die Schulter und las mit, was er schrieb. Dass ihr Busen, von dem allerdings auch einiges vorhanden war, dabei an seiner Schulter rieb, schien die Helga nicht besonders zu stören. Es war eher das Gegenteil der Fall. Denn es kam nicht jeden Tag ein so schmucker Bursch ins Haus, der noch dazu mit dem Hauch des Exotischen geschmückt war.

»Du kommst aus Bolivien!«, hauchte sie mit der Ehrfurcht eines Naturkindes vor dem weit gereisten Mann. »Aber dein Nam ist kein bolivianischer, sondern eher ein preußischer.«

»Es gibt viele Deutsche, die sich in Bolivien angesiedelt haben. Mein Großvater stammt zum Beispiel aus der Gegend von Hamburg.« Geert hatte sich unter dem Namen seiner Mutter eingetragen, die mit Mädchennamen Sterrbeek hieß. Er wollte sich nämlich in Trichtling nicht gleich als Sohn Walter Rogners einführen, sondern sich dem Wunsch seines Vaters gemäß erst mit den hiesigen Verhältnissen vertraut machen.

»Ich sag ja, dass du ein Preiß bist«, meinte die Helga und stellte einige Vergleiche zwischen diesem bolivianischen Preußen und den anderen Gästen, die beim Aigner-Wirt logierten, an. Der Vergleich ging haushoch zu Geerts Gunsten aus. Die Helga schnaufte seelenvoll und dachte daran, dass bis jetzt noch keiner, der ihr gepasst hätte, bei ihr angebissen hatte.

»Bleibst länger in Trichtling?«, fragte sie neugierig.

»Ich habe schon die Absicht!« Geert lächelte ein wenig über das plötzliche Interesse, das in den Augen der Helga aufblitzte. Als er jedoch kurz darauf in dem geräumigen Gastzimmer stand, das ihm die Helga zugewiesen hatte, hatte er die Frau bereits wieder vergessen. Er öffnete seine Koffer und räumte mit ziemlicher Hast seine Kleidung in den Schrank. Zuletzt lag nur noch eine Aktenmappe im kleineren Koffer. Geert nahm auch sie heraus und schlug sie auf. Zuoberst lag sein neuer deutscher Pass, der erst vor wenigen Wochen von der Botschaft in La Paz auf den Namen Geert Rogner ausgestellt worden war. Geert schaute kurz hinein und legte ihn dann zur Seite.

Auch die bolivianischen Papiere, die ihn als Sohn und Erben des Walter Rogner aus Trichtling auswiesen, interessierten ihn nicht weiter. Er kramte, bis mehrere vergilbte Blätter zum Vorschein kamen. Es waren Briefe aus der Heimat, die ihm sein Vater erst kurz vor seinem Tod gezeigt hatte. Es war damals gewesen, als sich Walter Rogner seinem Sohn offenbart hatte. In der Erinnerung erlebte Geert noch einmal das Entsetzen, das ihn gepackt hatte, als er erfuhr, dass er der Sohn eines Mörders war.

»Weißt Geert. Ich hab den Mayer Toni ned umbringen wollen. Ich wollt bloß, dass er nimmer länger der Anna nachsteigt. Wir haben am Laakenweiher gerauft miteinander und dann ist er auf einmal leblos vor mir gelegen. Da hat mich die Angst gepackt und ich bin noch in derselben Nacht davon. Nur einem einzigen Menschen hab ich mich anvertrauen können, dem Koller Albert. Das ist ein Vetter von mir und hat dann den Hof für mich weitergeführt.

Ich bin dann irgendwie nach Bolivien gekommen und hab bei deinem Großvater als Gaucho angefangen. Später hat deine Mutter mich heiraten mögen und ich hab versucht, ihr ein guter Mann zu sein. Aber ich hab immer gewusst. Auch wenn ich der irdischen Gerechtigkeit entkommen bin, die himmlische Gerichtsbarkeit wartet noch auf mich. Fahr nach Trichtling, Geert, und leg einen Kranz auf dem Mayer Toni sein Grab. Und dann gehst du zu meinem Hof und redest mit dem Koller, wie du dein Erbe am besten übernehmen kannst. Er wird froh darüber sein. Es ist ihm nämlich auch ned gut gegangen, dem Albert.«

Geert Rogner hörte förmlich die Stimme seines Vaters. Doch das, was dieser ihm erzählt hatte, stimmte irgendwie nicht mit der Wirklichkeit überein. Der prachtvolle Hof, den ihm die Waltraud gezeigt, passte nicht zu den jammernden Briefen über die Verarmung der Bauern in Deutschland, die Albert Koller Geerts Vater geschrieben hatte. So arm sollte der Koller gewesen sein, dass er kaum das Geld für die Steuern hat aufbringen können, geschweige denn seinem Vetter ein paar Euro als Pachtgeld schicken. Und in keinem Brief fehlte der Hinweis auf den ermordeten Mayer Anton und darauf, dass Mord nicht verjähren würde.

»Ich glaube, ich werde den Herrn Bürgermeister heute doch noch aufsuchen«, sagte Geert zu sich und pries seine Umsicht, sich unter dem Namen seiner Mutter hier eingetragen zu haben. Auch wenn ihn die vollbusige Wirtstochter deswegen für einen Preußen hielt. Geert lachte darüber und zog sich für den Besuch bei Albert Koller um.

*

Als Geert Rogner den Hof des Bürgermeisters erreichte, herrschte dort Hochbetrieb. Ein Dutzend junger Burschen war dabei, in der großen, jetzt extra leer geräumten Maschinenhalle Tische und Stühle aufzustellen. Es ging dabei recht lustig zu und sie ließen sich dabei auch von dem Fremden, der etwas hilflos im Hof stand, nicht stören.

»Na, von welcher Zeitung kommst denn du?«

Die Frage klang spöttisch. Doch Geert erstarb jeder Versuch einer Antwort auf der Zunge, als er die Frau sah, die sie gestellt hatte. Eine Krone goldblonden Haares umrahmte ein Gesicht, um das sie ein Filmstar beneiden musste. Ihre Figur, ihre Haltung, das Timbre ihrer Stimme, das schlicht aussehende, aber teure Dirndlkleid, das sie trug, alles war schlichtweg unvergleichlich.

»Grüß Gott!« Geert brachte den Gruß nur mit Mühe über die Lippen. Er rieb sich über die Augen, als wolle er schauen, ob so viel Schönes wirklich von dieser Welt stammte oder nur ein Traum war, der ihn narrte.

»Grüß Gott«, antwortete die Frau mit einem Blick, der zeigte, dass sie sich des Eindrucks, den sie auf empfängliche Männerherzen machte, durchaus bewusst war. Auch Geert brannte innerhalb eines Sekundenbruchteils lichterloh. Er starrte die Anita mit weit offenen Augen an und vergaß ganz, den Mund zu schließen.

»Ich habe gar nicht gewusst, dass es etwas so Schönes wie dich in Bayern geben kann«, meinte Geert, der allmählich seine Stimme wiedergefunden hatte. Er fiel dabei unwillkürlich in das intimere Du.

»Gelt, da schaust«, lachte die Frau und wiegte die Hüften. »Du willst wohl ein Exklusivinterview mit meinem Vater, weil du schon so früh da bist?«

»Deinem Vater?«

»Ach so, du kennst mich noch ned. Ich bin die Koller Anita, die Tochter vom Bürgermeister!« Es klang selbstzufrieden und man konnte sehen, dass die Anita die leichte Blässe auf Geerts Gesicht ihrem Erscheinungsbild zuschrieb. Teilweise stimmte dies auch. Trotzdem dachte Geert daran, dass Albert Koller seinem Vater nie etwas von einer Heirat, geschweige denn von einer Tochter, geschrieben hatte.

»Ich bin nicht von der Zeitung. Ich wollte den Herrn Bürgermeister wegen einer privaten Sache sprechen!«, meinte er schließlich.

»Das hättest gleich sagen müssen. Weißt, heute Abend wird meinem Vater der Landespreis für Viehzucht überreicht. Und da mein Vater nun einmal ned der Hinterhuber von Hinterhub ist, sondern der Rogner-Bauer und Bürgermeister von Trichtling, schauen halt die Honoratioren bis zum Herrn Bundestagsabgeordneten Sulzer aus Berlin bei uns vorbei. Und da wird natürlich auch die Presse kommen. Wenn du also was mit meinem Vater besprechen willst, solltest dich beeilen, denn er wird nimmer lang Zeit haben.«

»Und wie ist es mit dir? Hättest du Zeit für mich?«

»Heut hast wohl deinen schneidigen Tag in der Woch? Wie heißt’s so schön. Schuster, bleib bei deinen Leisten, denn davon verstehst du am meisten!« Die Anita winkte Geert lachend zu und verschwand in einer der vielen Türen des Hofes.

Geert starrte noch hinter ihr her, als sie längst verschwunden war, und schüttelte schließlich den Kopf. »Pass auf, Geert, sonst wirst du womöglich noch zum Mondkalb. Aber sakra, sauber schaut’s schon aus, die Koller-Tochter«, setzte er in einem seltenen Rückfall in den vom Vater gehörten bayerischen Dialekt hinzu. Dann raffte er sich auf und trat in das Wohnhaus des Bürgermeisters.

Auch innen waren mehrere Mägde damit beschäftigt, das Haus für den festlichen Anlass zu schmücken. Auf Geerts Frage nach dem Bürgermeister wies man ihn zu einer Tür, über der in großen Buchstaben das Wort Büro stand. Geert klopfte an und hörte drinnen jemand aus einem Sessel aufstehen. Schritte näherten sich der Tür. Dann schwang sie auf und der Bürgermeister kam heraus.

»Grüß Gott«, rief er mit tief hallender, sonorer Stimme und streckte Geert die Hand entgegen. Albert Koller war mittelgroß und, wie man in Bayern sagt, ein gestandenes Mannsbild. Die Bügelfalten seines teuren grauen Trachenanzugs waren wie mit dem Lineal gezogen. Auch sonst deutete alles darauf hin, dass Albert Koller für heute hohen Besuch erwartete. Wenn er jedoch enttäuscht war, Geert in seinem etwas unmodernen Anzug vor sich zu sehen, ließ er es sich aber nicht anmerken.

»Was kann ich für sie tun?« Der Mann klang freundlich, doch Geert kam das Lächeln auf dem breitflächigen Gesicht etwas zu sehr einstudiert vor.

»Mein Name ist Geert Ignacio Sterrbeek aus Bolivien«, antwortete Geert und legte dabei die Betonung auf das spanisch klingende Ignacio. »Ich bin hierhergekommen, um den letzten Wunsch eines der Gauchos meines Großvaters zu erfüllen.«

»Den letzten Wunsch eines Gauchos?«, fragte Albert Koller verständnislos. »Das müssen’s mir schon genauer erklären. Aber kommen S‘ herein. Im Stehen red sich‘s schlecht.«

Er führte Geert in sein großes, gut ausgestattetes Büro und deutete auf einen schweren Sessel. Er selbst setzte sich in einen lederüberzogenen Bürostuhl und setzte eine geschäftsmäßige Miene aus.

»So, jetzt erzählen’s einmal, wie ich ihnen helfen kann?«

»Gerne. Wie schon erwähnt, war es der letzte Wunsch dieses verstorbenen Gauchos, dass ich seine Heimat besuchen und an den Gräbern seiner Familie in seinem Namen einen Blumenstrauß niederlegen soll.«

»Das ist brav von Ihnen. Wissen S‘, den Wunsch eines Verstorbenen soll man erfüllen, wenn er ned gar zu spinnert ist«, erwiderte der Bürgermeister jovial.

»Spinnert ist dieser Wunsch sicher nicht«, meinte Geert mit einem feinen Unterton in der Stimme. Albert Koller merkte es jedoch nicht, denn er hing plötzlich anderen Gedanken nach.

»Wie hat der Gaucho denn geheißen?«, fragte er plötzlich mit mühsam unterdrückter Anspannung.

»Habe ich den Namen noch nicht erwähnt. Entschuldigen sie bitte. Der Gaucho hieß Walter Rogner und stammt seiner eigenen Aussage nach von hier.«

»Der Walter? Ja freilich kenn ich den. Ich bin sogar weitschichtig verwandt mit ihm. Der ist also gestorben. Das tut mir aber leid!« Sprache und Mimik des Bürgermeisters passten jedoch nicht zusammen. Ein triumphierendes Leuchten kam in seine Augen und er schnaufte seltsam erleichtert auf.

»So, der Walter ist also tot. Wer hätt das gedacht, dass er so jung gehen muss. Der kann doch noch keine fünfzig gewesen sein. Na, ich hab immer gesagt, dass der Tod ein Raubtier ist, das immer dort zuschlägt, wo man es nicht erwartet.« Es hielt den Koller nicht mehr auf dem Sessel. Er sprang auf und eilte mit langen Schritten im Zimmer hin und her.

»Er war zeitlebens ein armer Hund, der Walter. Ich hätt ihm ja gern geholfen und ihn hier auf meinem Hof als Knecht aufgenommen. Aber er war halt ein Wandervogel, den es nirgends lang an einem Ort gehalten hat. Auf einmal war er weg und ich hab nie mehr etwas von ihm gehört. Es soll damals um eine Frau gegangen sein. Wie es halt meistens ist, wenn die jungen Burschen durchdrehen. Schad um ihn! Gebe Gott ihm die ewige Ruhe, Amen!« Die Worte sprudelten nur so aus dem Koller heraus.

Geert berührten sie jedoch eigenartig. Selbst wenn man in Rechnung stellte, dass der Koller seinen Verwandten aus persönlichen Gründen nicht als geflohenen Mörder hinstellen mochte, hörte sich seine Erzählung mehr als seltsam an. Nicht der Koller war hier Bauer gewesen, sondern Geerts Vater. Zumindest hatte dieser es ihm so erzählt. Geert hatte plötzlich das Gefühl, dass es nicht so einfach für ihn werden würde, zu seinem Recht zu kommen. Albert Koller sah ihm nicht so aus, als wenn er bereit wäre, so ohne Weiteres auf den Hof hier zu verzichten. Wenn er irgendetwas bewerkstelligen wollte, musste er auf alle Fälle als Erstes die Behörden in der Stadt aufsuchen. Wahrscheinlich brauchte er auch einen guten Anwalt.

»Ich glaube, ich werde mich jetzt wieder verabschieden. Die Nachricht vom Walter Rogners Tod habe ich ihnen ja mitgeteilt.«

»Aber kommen S‘, Sie werden doch ned so einfach wieder gehen wollen. Immerhin haben S‘ mir die Nachricht vom Ableben meines armen Vetters gebracht. Wenn S‘ da schon den weiten Weg von Bolivien hierher gemacht haben, dann können S‘ doch auch noch zum Abendessen bleiben. Wissen S‘, heut hat meine Tochter was ganz besonders Gutes angeschafft. Es kommt nämlich ein leibhaftiger Staatssekretär aus München und der Bundestagsabgeordnete unseres Wahlkreises zu Besuch. Man hat halt als Mandatsträger und Politiker so seine Verpflichtungen.«

Der Koller sagte es in einem Ton, als wolle er seine Wichtigkeit vor dem fremden Gast so richtig zur Geltung bringen. In anderen Zeiten hätte Geert Rogner über eine solche Angeberei gelächelt. Jetzt aber dachte er nur daran, dass er, wenn er bis zum Abendessen blieb, mit der Koller Anita am selben Tisch sitzen würde.

»Also gut, Herr Koller. Wenn es Ihnen Freude macht, dann bleibe ich halt hier.«

Am Blick des anderen sah er, dass er ihm mit seiner Nachricht sehr viel Freude bereitet hatte.

*

Die Verleihung eines Landespreises für Viehzucht an einen Bauern ist immer eine große Sache. Bei einem so bekannten und weithin geachteten Mann wie den Trichtlinger Bürgermeister Albert Koller wurde aus diesem Anlass fast schon ein kleines Volksfest. Der Rogner, wie man ihn nach seinem Hof nannte, ließ sich auch nicht lumpen. Er hatte die ganze Bauernschaft der Gemeinde dazu eingeladen. Dazu die örtlichen Vereine mit ihren Vorständen und Fahnen. Der Herr Pfarrer war ebenso anwesend wie der Schuldirektor mit seiner Gattin. Für das leibliche Wohl sorgte der Aigner-Wirt. Es gab Freibier für alle, dazu große Portionen Leberkäse für die einheimischen Besucher. Für die Ehrengäste wurde hingegen extra gekocht, wie Albert Koller seinem bolivianischen Gast mitteilte.

»Weißt, man kann doch einem Staatssekretär ned einfach einen Ranken Leberkäs aufn Teller hauen und sagen, friss!«, lachte der Bürgermeister.

Da er selbst nichts zu tun hatte, vor Ungeduld aber fast durchdrehte, bot ihm die Anwesenheit des Fremden eine gute Möglichkeit der Ablenkung. Albert Koller führte Geert über den ganzen Hof und zeigte ihm die Ställe, Scheunen, Silos und weiteren Nebengebäuden. Er erläuterte Geert auch die Vorzüge seiner Kühe und ließ sich darin erst bremsen, als die Anita in den Kuhstall hineinrief, dass die ersten Gäste eintreffen würden.

»Aber Papa, hat das wirklich sein müssen, dass du vor der Feier noch in den Stall gegangen bist? Schau bloß, wie du riechst. Du willst doch ned, dass dich der Herr Staatssekretär mit der Kuh verwechselt, die den Preis gewonnen hat? Da, sofort nimmst du ein Kölnischwasser!«

Anita Koller trat zu ihrem Vater und schüttete ihm etliche Spritzer Parfüm auf den Anzug.

»Aber Anita, der Herr Staatssekretär weiß doch, dass ich ein Bauer bin!«, versuchte Albert Koller zu protestieren. Er kam bei seiner schlagfertigen Tochter aber an die Falsche.

»Deswegen musst aber ned stinken wie einer, der bei seine Rindviecher übernachtet!« Dann wandte sich die Anita zu Geert um.

»Willst auch ein bisserl Kölnischwasser haben?«

»Von dir gern«, lachte Geert das Mädchen an.

Sie stäubte ebenfalls ein paar Tropfen auf seinen Anzug. Dann zupfte sie noch einen Heuhalm von der Schulter ihres Vaters und verließ dann als Erste den Stall. Draußen ging es schon hoch her. Die meisten Bauern saßen bereits auf ihren Bänken und schauten erwartungsfroh auf die schweren Limousinen, die langsam in den Hof rollten.

»So, dann werd ich jetzt meinen Pflichten als Gastgeber nachkommen. Komm Aniterl, du darfst mich dabei ned im Stich lassen. Du weißt ja, wie viel für uns auf dem Spiel steht.« Albert Koller schnaufte nervös durch, zauberte dann sein freundlichstes Lächeln auf die Lippen und trat auf das vorderste Fahrzeug zu. Seine Tochter folgte ihm hoheitsvoll wie eine Königin.

Geert Rogner folgte mit einem gewissen Abstand und sah zu, wie die Gäste ausstiegen. Der Staatssekretär war ein magerer älterer Herr, der Albert Koller freundlich und dessen Tochter überaus herzlich begrüßte. Auch der Bundestagsabgeordnete Sulzer war mit beiden gut bekannt. Noch während er Albert Koller die Hand schüttelte, überflog sein Blick zufrieden die voll besetzten Bänke in der Maschinenhalle.

»Grüß Gott, meine lieben Trichtlinger. Endlich hab ich es einrichten können, dass ich einmal bei euch vorbeischauen kann. Lasst euch das Bier schmecken und einen guten Hunger!« Er sagte es mit einer Miene, als wäre er selbst derjenige, der heute Speis und Trank spendierte.

Es stiegen noch ein paar Männer aus, deren Namen aber an Geert vorbeirauschten wie der Wind in den Blättern der großen Buche, die nicht weit entfernt mitten in der Wiese stand. Als letztes Fahrzeug kam ein rasanter Sportwagen, in dem nur eine Person saß. Es war ein sportlich aussehender Mann um die fünfunddreißig, der Albert Koller zur Begrüßung gönnerhaft auf die Schulter klopfte.

Geert spürte einen heftigen Stich, als der andere danach die Anita umarmte und küsste. Er wirkte dabei so siegessicher, dass Geert den heißen Wunsch verspürte, den Mann auf normales Maß zurechtzustutzen. Nur die Tatsache, dass die Anita die Zärtlichkeiten mehr über sich ergehen ließ, als sie zu erwidern, dämpfte Geerts Eifersucht zumindest ein wenig.

Albert Koller führte seine Ehrengäste zu einem großen Tisch, der etwas erhöht vor den Bänken der Einheimischen stand. Vasen mit bunten Blumen standen auf der blütenweißen Tischdecke. Besteck und Geschirr für die Ehrengäste waren geschmackvoll und erlesen. Man sah, dass Albert Koller alles daran gelegen war, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Die Ehrengäste nahmen Platz und erhielten von der Helga vom Aigner-Wirt, die allein für diesen Tisch angestellt worden war, den Begrüßungstrunk serviert. Dann stand der Bürgermeister auf und klopfte mit seinem Messer gegen ein Glas. Das Gemurmel der Dörfler erlosch und aller Augen richteten sich erwartungsvoll nach vorn.

»Meine lieben Trichtlinger«, begann der Bürgermeister. »Ich freu mich, euch alle so zahlreich vor mir zu sehen. Der Anlass für dieses heutige Treffen ist ja ned nur ein Erfolg für mich, sondern für die gesamte Viehzucht unseres Trichtlinger Tales. Aber bevor wir auf auf die heutige Preisvergabe kommen, will ich erst einmal unsere Ehrengäste recht herzlich begrüßen. Freuen wir uns, dass sie den weiten Weg von Berlin und München zu uns gefunden haben. Unseren Herrn Bundestagsabgeordneten Sulzer brauch ich euch ja ned extra vorzustellen. Er hat ja extra seine Wahlplakate vom letzten Jahr hängen lassen, damit wir ned vergessen, wie er ausschaut!«

Gelächter belohnte die humorigen Worte des Bürgermeisters. Der Bundestagsabgeordnete stand kurz auf und winkte seinem Wahlvolk huldvoll zu.

»Herzlich begrüßen will ich aber auch den Herrn Staatssekretär Faltermeier vom Landwirtschaftsministerium. Und natürlich unseren Herrn Landrat Dr. Kroiss. Weiters begrüße ich den Homoder Stefan, den Neffen des Herrn Staatssekretärs und rechte Hand von unserem Herrn Landrat.« Koller hielt einen Moment inne und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Als er wieder zu sprechen begann, ruhte sein Blick auf Geert.

»Es ist mir eine hohe Ehre, hier einen besonderen Ehrengast zu begrüßen. Ich spreche hiermit ein besonders herzliches Willkommen für Senor Don Ignacio aus, der extra aus dem fernen Bolivien in unser schönes Trichtling gekommen ist.« Koller schwieg und warf einen triumphierenden Blick in die Runde. Alle Augen richteten sich auf Geert, dem jetzt auch nichts anderes übrig blieb, als aufzustehen und den Leuten zuzuwinken. Einige Ehrengäste, die ihn vorhin noch etwas nachlässig gegrüßt hatten, kamen nun auf ihn zu und schüttelten ihm herzlich die Hände.

Im ersten Augenblick begriff Geert gar nicht, weshalb Albert Koller seine Anwesenheit so herausstellte. Auch nicht, warum ihn dieser unter dem spanischen Namen Ignacio in diesen Kreis einführte. Doch als er die achtungsvollen Blicke sah, die ihm und dem Bürgermeister galten, begriff er. Albert Koller wollte seinen Gästen damit darstellen, dass seine Verbindungen bis ins ferne Südamerika reichten.

War er im ersten Augenblick noch etwas darüber verärgert, begann es ihn kurze Zeit später bereits zu amüsieren. Vor allem aber brachte es ihm den Vorteil, dass der Bundestagsabgeordnete Sulzer ihn unbedingt neben sich haben wollte. Dadurch wurde auch Anita Koller seine direkte Nachbarin. Diese wurde zwar stark von Stefan Homoder, dem Mann, der sie vorhin so innig begrüßt hatte, in Beschlag genommen. Geert fand aber trotzdem immer wieder die Gelegenheit, ein paar Worte mit dem Mädchen zu wechseln.

*

»Sie kommen also aus Bolivien?« Der Bundestagsabgeordnete Sulzer beugte sich interessiert zu Geert hin. Dieser überhörte jedoch die Frage, weil er sich über Stefan Homoder ärgerte. Dieser tat ganz so, als sei die Koller Anita bereits sein Eigentum. Für Geerts Versuche, mit der Bürgermeisterstochter anzubandeln, hatte er nur spöttische Nachsicht übrig.

»You can speak English?«, fragte der Bundestagsabgeordnete, der glaubte, dass ihn der Bolivianer nicht verstanden hatte.

»Yes, i can! Aber wir können auch Deutsch reden.«

Jetzt erst wurde Geert auf Sulzer aufmerksam. Widerstrebend wandte er Anita Koller den Rücken zu und sah den Bundestagsabgeordneten an.

»Das freut mich. Wissen S‘, ganz so sattelfest bin ich im Englischen ned, dass ich da eine flüssige Unterhaltung führen könnt. Aber ich find es sehr interessant, dass sie als Südamerikaner Deutsch als Fremdsprache gelernt haben.«

Geert hätte dem Sulzer erzählen können, dass Deutsch seine Muttersprache war. So aber legte er einen leichten spanischen Akzent in seine Aussprache.

»Ich habe die deutsche Schule in Santa Cruz besucht und dort mein Abitur gemacht«, erklärte er.

»Was haben S‘ denn studiert?«, setzte der Sulzer seine Fragen fort.

»Ich habe Landwirtschaft mit dem Hauptzweig Viehzucht studiert.«

»Das ist sehr interessant. Deswegen sind Sie wohl auch hier in Bayern. Sie möchten sich wohl wegen den Rindviechern ein wengerl bei uns umschauen. Wenn S’ wollen, red ich mit dem Faltermeier. Als Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium könnt er ihnen einen Besuch der hiesigen Staatsgüter vermitteln.«

»Interessieren würden mich die Güter schon«, antwortete Geert etwas zögernd. Er hätte sich die bayerischen Staatsgüter auch wirklich gerne einmal angeschaut. Aber ihm widerstrebte es, dort sozusagen unter falscher Flagge zu erscheinen.

»Na also, des kriegen wir schon hin. Der Faltermeier soll Ihnen seine Visitenkarte geben. Dann brauchen S’ ihn nur anzurufen, wenn Ihnen ein Gutsbesuch in den Terminkalender passt. Aber jetzt kommen S’. Erzählens mir ein bisserl was über Südamerika. Wissen S‘, als Politiker muss man jede Möglichkeit zur Information ausnützen.«

»Aber gerne«, erklärte Geert nicht ganz wahrheitsgemäß, da er sich weitaus lieber mit der Koller Anita unterhalten hätte. Dennoch wurde der Bericht, den er von sich gab, so interessant, dass der Sulzer dabei förmlich an seinem Ohr hing.

Der Koller Albert bemerkte es zufrieden und beglückwünschte sich zu seiner Idee, den fremden Besucher dabehalten zu haben. Auch seine Tochter Anita wurde irgendwann auf das intensive Gespräch des Fremden mit dem Bundestagsabgeordneten aufmerksam. Vorhin hatte sie sich noch über die bewundernden Blicke des Bolivianers amüsiert. Doch jetzt ärgerte sie sich darüber, dass dieser seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf sie, sondern auf den Sulzer richtete. Sie warf den Kopf zurück und gab dem Stefan Homoder verärgert ein paar patzige Antworten.

»Aber Schatzerl, welche Laus ist denn dir über die Leber gelaufen?«, fragte sie der Homoder spöttisch. »Doch ned etwa deswegen, weil dein bolivianischer Süßholzraspler endlich gemerkt hat, dass er gegen mich keinen Stich machen kann?«

»Du bist ja gar ned von dir eingenommen«, biss sie zurück.

»Wer ko, der ko!«, meinte der Homoder lachend und winkte der Wirts-Helga, dass sein Glas leer war. Während diese rasch mit einem vollen Tablett herbeieilte und die Getränkte austeilte, begann der offizielle Teil der Feier. Der Staatssekretär Faltermeier kramte in seiner Aktentasche und zog einige Papiere heraus. Auf sein Räuspern sprang Koller auf und klopfte erneut an sein Glas.

»Meine lieben Trichtlingerinnen und Trichtlinger. Das Wort hat der Herr Staatssekretär Faltermeier vom bayerischen Landwirtschaftsministerium!«

Innerhalb erstaunlicher kurzer Zeit sank der Geräuschpegel so weit, dass man ein Mäuschen rennen hätte hören können. Der Staatssekretär räusperte sich erneut und begann dann mit seiner Laudatio auf den diesjährigen Preisträger des Bayerischen Landespreises für Viehzucht. Er strich dabei die verschiedensten Vorzüge des Bürgermeisters Koller heraus und lobte ihn über den grünen Klee.

»Na, wie ist da bei ihnen. Werden da auch Preise verliehen?«, wurde Geert von Sulzer gefragt.

»Selbstverständlich. Aber wissen Sie. Wenn ich mir den Herrn Staatssekretär so anhöre, habe ich beinahe das Gefühl, als hätte der Koller persönlich und nicht eine seiner Kühe den Preis gewonnen.«

»Das ist Politik, junger Mann!«, erklärte der Sulzer im belehrenden Ton. »Man muss die Verdienste eines Mannes herausstreichen, damit das Wahlvolk sehen kann, dass er auch was taugt. So, aber jetzt muss ich auch eine kleine Rede halten. Sonst meinen die Leut noch, ich wär gar ned da gewesen!«

Sulzer stand auf und ließ Geert allein zurück. Dieser wollte sich jetzt wieder der Anita zuwenden, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Doch die Koller-Tochter hatte ebenfalls den Tisch verlassen und unterhielt sich im Hintergrund mit der Wirts-Helga.

Da ihn die Ansprache des Bundestagsabgeordneten nicht sonderlich interessierte, beschloss Geert, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Außerdem wollte er sich hier einmal in Ruhe umschauen. Schließlich war dies sein Hof. Auch wenn er derzeit der Einzige war, der dies wusste.

Als er die Halle verließ, musste er an dem Tisch vorbei, an dem die Knechte und Mägde des Rogner-Hofes saßen. Der Koller konnte sich drei Knechte und zwei Mägde halten, dazu eine Köchin, damit die Tochter ihre Schönheit nicht am Herd gefährden musste.

Einer der Knechte, der alte Isidor, der sicher schon seine sechzig Jahre auf dem Buckel hatte, blickte auf, als Geert an ihm vorbeiging. Wie eine dunkle Welle lief es über sein Gesicht, als er in das Gesicht des jungen Bolivianers schaute. Fast schien es, als wolle er aufspringen. Er ließ es dann aber sein und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Seine Augen verfolgten Geert jedoch den ganzen Abend, solange die Feier ging.

*

Die Verleihungsfeier beim Bürgermeister wurde ein so großer Erfolg, dass sogar Hochwürden Ronegger am nächsten Morgen davon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Seine Herde sah aus, als hätten in der Nacht die Wölfe darin gewütet. Die bei der Messe anwesenden Männer konnte er an einer Hand abzählen. Auch von den Bäuerinnen fehlten etliche, weil sie für ihre ramponierten Ehemänner die Stallarbeit erledigen mussten. Hochwürden breitete jedoch nur den Mantel des Mitleids über diese Tatsache. Ansonsten hoffte er nur, dass der Eisbeutel, den ihm seine Pfarrhaushälterin machen wollte, fertig sein würde, wenn er ins Pfarrhaus zurückkehrte.

Einer der Männer, den es nicht so lange im Bett hielt wie die meisten, war Geert. Zum einen hatte er sich beim Trinken arg zurückgehalten. Zum anderen war es ihm aber auch ein Bedürfnis, in der Kirche seiner Vorfahren zu beten. Seit vielen Generationen war er der erste Rogner, der nicht in diesem Gotteshaus das heilige Sakrament der Taufe erhalten hatte. So wie sein Vater der Erste aus der Sippe war, der fern von Trichtling in fremder Erde ruhte.

Geert verfolgte den Gottesdienst von einem der hinteren Bänke und verließ die Kirche vor den anderen. Sein Schritt führte ihn erneut an die Stelle, wo er gestern das Grab Anton Mayers gesucht hatte. Er wusste, dass die Grabstätte seiner eigenen Familie nicht weit davon entfernt lag, und wollte dort ungesehen sein Gebet verrichten. Das Geräusch näher kommender Schritte ließ ihn jedoch innehalten.

»Schau Vater, da ist der Mann, der gestern dein Grab gesucht hat!«

»Ja, grüß Gott, Waltraud!«, grüßte Geert das Mädchen und schaute dann den Mann neben ihr an. Anton Mayer war ein kräftiger, mittelgroßer Mann um die fünfzig. Er besaß ein breites, gutmütiges Gesicht. Sein Händedruck, mit dem er Geert begrüßte, war wie ein Schraubstock.

»Ich habe natürlich nicht Ihr Grab gesucht, sondern das eines Mannes, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben ist«, rückte Geert Waltrauds Aussage zurecht.

»Das mein ich wohl auch«, meinte Anton Mayer lachend. »Die Waltraud hat mir gestern von Ihnen erzählt. Ich kann ihr zustimmen. Du musst dich geirrt haben. Der einzige Mayer, der vor fünfundzwanzig Jahren in unserer Gegend gestorben ist, war der Hufauer Beni von Riedering. Aber weißt. Das können wir auch bei uns daheim bei einer Halben Bier bereden. Weil interessieren tät’s mich schon, warum du ausgerechnet ein Grab mit meinem Namen suchst.«

Im ersten Moment wollte Geert die Einladung ablehnen. Doch dann sagte er sich, dass es an der Zeit wurde, dass er mehr über das erfuhr, was vor fünfundzwanzig Jahren am Laakenweiher geschehen war.

»Also gut, ich komm mit! Auch mich würde nämlich einiges interessieren.«

Die Augen der Waltraud leuchteten bei diesen Worten auf. »Geh’n wir!«, rief sie lachend und hing sich bei ihrem Vater ein.

*

Die Mayers bewohnten ein schmuckes kleines Anwesen in Obertrichtling, das nur einen guten halben Kilometer vom Hauptort entfernt lag. Der Anton Mayer hatte hier seine ganze Ehre als Maurer eingesetzt. Er zeigte Geert stolz das Haus und den kleinen, aber peinlich sauberen Viehstall. Später saßen sie dann auf der sonnenüberfluteten Terrasse und prosteten einander zu.