Anni Lechner: Band 28, Angst um Melanie ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-236-8

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Flucht ins Glück

Silke Ketelsen starrte verzweifelt auf die beiden Särge in dem offenen Grab, auf die soeben die ersten Schaufeln Erde fielen. Ihre kleine Schwester Nicole drängte sich noch enger an sie und sah sie mit traurigen Augen an.

»Ich möchte zu Mama und Papa!«, flüsterte sie weinend.

Silke legte den Arm um die Kleine und schüttelte sacht den Kopf. »Das geht nicht, Nicki. Mama und Papa sind jetzt im Himmel. Sie können nicht wieder zu uns zurückkommen.« Die Kleine antwortete mit einem erneuten Tränenstrom, der ihre Tante Gerda zu einem missbilligenden Schnauben veranlasste.

»Lasst jetzt das Heulen, Kinder. Kommt endlich, damit wir rasch ins Warme kommen! Das ist ja ein Wetter, dass man den Leuten glatt verbieten müsste, in dieser Zeit zu sterben!«

»Mama und Papa haben sich gewiss nicht freiwillig totfahren lassen«, schnappte Silke zurück. Ihr ging die Stiefschwester ihrer Mutter langsam auf die Nerven. Jahrelang hatte Gerda Reese nichts von sich hören lassen. Doch nach Meike und Jürgen Ketelsens Unfalltod war sie hier erschienen und hatte sofort alles an sich gerissen. Ohne auf Silkes Ausbruch zu reagieren, wandte sie sich jetzt mit zuckersüßer Miene Pfarrer Kruse zu.

»Sie machen und doch sicher die Freude, zu unserer kleinen, privaten Trauerfeier im Café Windhorst mitzukommen, Herr Pastor?«

»Aber gerne, Frau Reese!«, antwortete dieser und rieb sich die Hände, die in dem durchdringenden Wind steif und rot gefroren waren. Dieser Leichenschmaus war ebenfalls von Tante Gerda bestellt worden, weil es sich eben so gehörte. Silke wäre hingegen lieber gleich nach Hause gegangen, um sich in Ruhe ausweinen zu können.

»Ihr tut mir so leid, ihr zwei!« Frau Schippers schämte sich im Gegensatz zu Tante Gerda ihrer Tränen nicht, als sie Silke und Nicole umarmte. Sie fühlte sich mit den Kindern enger verbunden als die übrigen Trauergäste, denn sie war nicht nur die Zugehfrau ihrer Eltern, sondern auch die Vertraute der ganzen Familie gewesen. Außerdem hatte sie sich stets um Silke und Nicole gekümmert, wenn Meike und Jürgen Ketelsen beruflich unterwegs gewesen waren.

Silke wäre es viel lieber gewesen, wenn die zuverlässige Nachbarin die Vorbereitung der Trauerfeier in die Hand genommen hätte. Doch Tante Gerda ließ sich von keinem dreinreden. Es hätte ihr auch nur Silke widersprechen können, denn außer dieser Tante gab es nur noch eine einzige nahe Verwandte, eine Großmutter, die gleichzeitig Tante Gerdas Stiefmutter war.

Silke schmerzte es sehr, dass jene nicht den Weg hierher gefunden hatte. Sie hatte ihre Großmutter zwar noch niemals gesehen, da sich Meike Ketelsen schon lange vor Silkes Geburt mit ihr entzweit hatte. Aber im Stillen hatte Silke doch gehofft, dass der Tod diesen Streit beenden würde. Doch Dagmar Theobald hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihren Enkelinnen einen Beileidsgruß zu senden.

Während die Tante den Pfarrer unterhakte und fast pausenlos auf ihn einredete, folgten Silke und Nicole mit ein paar Schritten Abstand. Silkes Blick streifte dabei die schmucken Backsteinhäuser, die die Straße säumten. Obwohl sie diesen Ort seit ihrer Geburt kannte, kam er ihr mit einem Mal ganz fremd vor. Alles, was ihr vertraut war, deckte eine dicke Schneedecke wie ein riesiges Leichentuch zu.

Als die Gruppe den Eingang des Café Windhorst erreichte, blieb Pfarrer Kruse kurz stehen und wartete, bis Silke und Nicole zu ihm aufgeschlossen hatten. Er reichte Silke mit ernstem Gesicht die Hand und streichelte Nicole über die tränenfeuchten Wangen.

»Vertraut auf Gott, ihr beiden. Vor allem jetzt in eurem tiefen Schmerz. Er wird euch zum Licht führen!«

»Danke, Herr Pastor«, antwortete Silke mit tonloser Stimme.

Der Pfarrer legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du musst jetzt doppelt stark sein, Silke, für dich und für deine Schwester. Nicole hat nur noch dich!«

»Ich werde auf sie achtgeben, Herr Pastor!«

»Wenn du einmal Hilfe brauchst, so komm ruhigen Gewissens zu mir. Wenn irgend möglich, werde ich alles tun, um dir zu helfen!«

Tante Gerda sah der Szene recht ungehalten zu und verzog beinahe wütend das Gesicht. Einen Moment später winkte sie jedoch mit freundlichster Miene der Besitzerin des Cafés zu.

»Moin, Frau Windhorst! Wie geht es Ihnen? Gut? Das freut mich aber. Mir geht es meinem Alter entsprechend. Ich bin nun einmal kein junges Mädchen mehr, das noch über Zäune springen kann. Vor allem heute macht mir die Kälte zu schaffen.«

»Gegen den Frost in den Knochen hilft ein Rumpunsch oder ein Pharisäer am besten, Frau Reese!«, schlug Frau Windhorst vor.

»Bringen Sie mir einen Pharisäer, aber mit einem doppelten Schlag Rum«, erklärte Tante Gerda und wandte sich an den Pfarrer. »Ihnen auch einen, Herr Pastor?«

»Ich hätte gerne einen Rumpunsch, aber nicht ganz so steif wie Ihren Pharisäer«, erwiderte dieser. Tante Gerda bestellte das Gewünschte und ließ sich von Frau Windhorst in den Nebenraum führen, in dem sich bereits jene Trauergäste eingefunden, die den Kirchhof etwas früher verlassen hatten.

Während sich die Tante mit dem Pfarrer zu einigen Bekannten gesellte, wurden Silke, Nicole und Frau Schippers an ein kleines Tischchen in der Ecke gesetzt. Silke war froh darum, denn hier musste sie sich wenigstens nicht von anderen Leuten ansprechen und in ihrer Trauer stören lassen. Es war auch so schwer genug für sie. Die lauten Stimmen der Trauergäste brandeten gegen ihre überreizten Sinne, und ihr Magen rebellierte gegen die Mischung aus Zigarrenrauch, Rumduft und dem Geruch der Speisen, die nun aufgetragen wurden.

Obwohl das Essen wirklich lecker aussah, schob Silke den Teller beiseite und drückte Nicole an sich. Die Kleine hatte ebenfalls nichts gegessen. Sie ließ sogar den Grießpudding mit Himbeersoße stehen, dem sie sonst nie widerstehen konnte.

»Gehen wir heim?«, bettelte Nicole mit dünnem Stimmchen.

»Bald«, tröstete sie Silke. Da die meisten Leute jetzt aßen, hatte sich das Stimmengewirr gelegt. Nur Tante Gerda ließ sich auch dadurch nicht in ihrem lautstarken Mitteilungsdrang bremsen. Silke achtete zunächst nicht auf ihre Unterhaltung. Doch dann fiel plötzlich ihr Name und sie horchte auf.

»Aber Herr Pastor, Sie können doch von mir nicht verlangen, dass ich mich um Silke und Nicole kümmern soll. In meinem Alter! Das geht nun wirklich beim besten Willen nicht!«, erklärte Gerda Reese eben voller Entrüstung.

»Ich hatte den Gedanken ins Auge gefasst, weil Sie unabhängig sind und Ihr Leben so einrichten können, wie Sie es wollen«, antwortete der Pfarrer etwas hilflos. Eine derart schroffe Ablehnung hatte er wohl nicht erwartet.

»Dabei soll es auch bleiben! Ich habe nicht die geringste Lust, mich mit den beiden Gören zu belasten!«

»Silke und Nicole würden Ihnen gewiss keine Probleme bereiten, Frau Reese. Ganz im Gegenteil, sie würden eine Tante, die Mutterstelle an ihnen vertritt, sicher sehr lieb haben!«

»Da sollte doch besser ihre Großmutter diese Stelle einnehmen!«, gab Tante Gerda spöttisch zurück.

»Ich weiß zwar nicht, was zwischen Meike Ketelsen und ihrer Mutter vorgefallen ist. Doch es muss schlimm genug gewesen sein, da Dagmar Theobald nicht einmal zur Beerdigung ihrer Tochter gekommen ist«, antwortete der Pfarrer unglücklich.

»Meine Stiefmutter war schon immer ein Biest. Ich weiß nicht, was mein Vater überhaupt an ihr gefunden hatte. Schließlich war sie weitaus jünger als er. Na ja, sie hat es ihm auch entsprechend gedankt, indem sie ihn mit der kleinen Meike sitzen ließ. Ich durfte die besten Jahre meines Lebens opfern, um für meine Stiefschwester die Ersatzmutter zu spielen!«, erklärte Tante Gerda mit einer derart hasserfüllten Stimme, dass es Silke schauderte.

»War da nicht auch noch die Sache um ein Erbe?«, wollte ein anderer Trauergast wissen.

»Dagmar Theobald, wie sie seit ihrer letzten Heirat heißt, wollte Meike um das Geld bringen, das ihr eine Verwandte vermacht hatte. Aber wir haben ihr schon die Zähne gezeigt. Jeden Cent musste sie herausrücken«, trumpfte Tante Gerda auf.

»Ja, ja, beim Geld hört oft nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Verwandtschaft auf!«, seufzte der Pfarrer und schüttelte traurig den Kopf. »Aber wollen Sie es sich der Kinder wegen nicht noch einmal überlegen? Es wäre meiner Ansicht nach für die beiden Schwestern die einzige Möglichkeit, zusammenbleiben zu können. Da Silke noch nicht volljährig ist, würde Nicole sonst in ein Kinderheim eingewiesen werden. Und auch bei Silke besteht diese Gefahr!«

Silke erstarrte, als sie dies hörte. Man wollte sie und Nicole trennen, die Schwester in ein Waisenhaus einsperren und sie bis zu ihrer Volljährigkeit wohl auch. An den entsetzten Augen Nicoles erkannte sie, dass auch diese die Unterhaltung am Nebentisch mitgehört hatte. Für einen Augenblick hofften beide, dass Tante Gerda den Vorschlag des Pastors, den dieser im rührenden Bemühen um ihr Wohlergehen wiederholte, doch noch annehmen würde. Ihre Antwort ließ diese Hoffnung jedoch rasch vergehen.

»Nein, Herr Pastor. Da soll sich man ein anderer um die beiden kümmern. Silke ist gerade in dem Alter, wo sie mir jeden Tag einen anderen Kerl ins Haus schleppen würde. Ich habe wirklich nicht mehr den Kopf, das durchzustehen.«

Den hast du wirklich nicht, dachte Silke wütend. Ihr zu unterstellen, dass sie jeden Tag mit einem anderen Jungen herumstrolchen würde, war ja wirklich eine Frechheit. Nils, ihr bisher einziger Freund, hatte sie schon nach ein paar Wochen eine langweilige Pute genannt und ihr den Laufpass gegeben, weil sie nicht auf Partys mitgehen wollte, auf denen Ecstasy-Tabletten die Runde machten. Wenn sie sich jetzt fragte, konnte sie sogar froh darum sein. Nils würde ihr sonst doch nur in den Ohren liegen, seiner Clique das elterliche Haus zu öffnen.

»Nein, danke!« Silke sagte es so unvermittelt, dass ihre Schwester und Frau Schippers erstaunt aufsahen.

»Ist etwas mit dir, Silke?«, fragte die Zugehfrau besorgt. Silke schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre langen, blonden Haare nur so flogen.

»Nein, Frau Schippers, es ist nichts!« Doch sowohl Nicole wie die Zugehfrau spürten, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach.

* * *

Die nächsten Tage erschienen Silke wie ein einziger Albtraum. Tante Gerda durchschnüffelte das ganze Haus wie ein Jagdhund und brachte dabei Dinge zutage, von denen Silke nicht einmal mehr gewusst hatte, dass es sie noch gab. Sie durchwühlte auch immer wieder die Garderobe der verunglückten Meike Ketelsen und sonderte mit einem begehrlichen Schnauben die Sachen aus, die ihr besonders gefielen. Auch der modische, neue Wintermantel ihrer Stiefschwester stach ihr ins Auge und sie hängte ihn in die Flurgarderobe zur eigenen Verwendung auf.

Silke hatte nicht die Kraft, ihre Tante dabei zu bremsen. Erst als diese Einsicht in die Unterlagen und Papiere ihrer Eltern forderte, sagte sie entschieden Nein. Sie weigerte sich auch, ihr die Kombination für den kleinen Wandsafe zu nennen. Gerda Reese schrie sie daraufhin an, dass sie als Meikes Schwester ein Anrecht auf einen Teil des Erbes hätte und nicht im Geringsten daran dächte, zugunsten von ein paar vorlauten Gören darauf zu verzichten. Silke war über diesen Wutausbruch so schockiert, dass sie nichts darauf zu antworten wusste. Tante Gerda suchte hingegen noch am selben Tag den Notar auf, um diesen nach dem zu erwartenden Erbe zu befragen.

Sie musste wohl schlechte Nachrichten erhalten haben. Denn als sie zurückkam, schäumte sie vor Wut und verfluchte Silkes Mutter, die ihre Aufopferung und Treue mit Verlogenheit und Betrug gedankt hätte. Silke reimte sich schließlich zusammen, dass ihre Mutter ihre Halbschwester von jeglichem Erbe ausgeschlossen hatte. So wie die Tante sich aufführte, war sie froh darüber. Noch froher war sie jedoch, als Gerda Reese am nächsten Morgen nach einem sehr knappen Abschied das Haus verließ und sich unter Mitnahme des Wintermantels und etlicher anderer Kleidungsstücke Meike Ketelsens auf die Heimreise machte.

Silke war eben dabei, in die Küche gehen, um das Frühstück für sich und Nicole zu machen, als draußen Sturm geläutet wurde. Im ersten Moment befürchtete sie, Tante Gerda wäre zurückkommen und wollte nicht öffnen. Als das Läuten jedoch nicht aufhörte, ging sie dann doch zur Tür und spähte durch den Spion ins Freie. Ein fremder Mann, der eine Aktentasche unter dem Arm geklemmt hielt, stand draußen und klopfte ungeduldig mit dem rechten Fuß auf den Boden.

Silke seufzte und öffnete die Tür. »Guten Tag, Sie wünschen?«, fragte sie misstrauisch.

»Mein Name ist Eike Fasolt. Ich komme vom Jugendamt. Sie sind …, du bist die älteste Tochter der Verunglückten Meike und Jürgen Ketelsen?« Wie viele andere Menschen, mit denen Silke zusammentraf, hatte auch er Schwierigkeiten damit, ob er sie noch als Kind oder bereits als junge Frau ansprechen sollte. Er entschied sich für die Jugendform und brachte Silke dadurch gegen sich auf.

»Ich bin Silke Ketelsen«, antwortete sie knapp und forderte ihn zum Eintreten auf. Fasolt folgte der Einladung und sah sich in der Wohnung interessiert um.

»Bist du allein?«, fragte er verwundert.

»Ja, weshalb fragen Sie?«

»Nun ja, ich hatte gehofft, hier jemand vorzufinden, mit dem ich über eure Zukunft reden kann. Zum Beispiel mit eurer Großmutter oder eurer Tante.«

Nach diesen Worten fand Silke den Mann noch unsympathischer als vorher. Sie reckte kampfbereit das Kinn vor und funkelte ihn aus ihren blauen Augen an.

»Sie können ruhig auch mit mir reden. Ich bin in kurzer Zeit volljährig.«

»Nun mal sachte mit den jungen Pferden. Laut meinen Unterlagen bist du noch nicht einmal fünfzehn Jahre«, antwortete Fasolt von oben herab.

»Dann sollten Sie Ihre Unterlagen überprüfen, denn laut meiner Geburtsurkunde werde ich im Mai achtzehn!«, gab Silke hitzig zurück.

»Tatsächlich?«, spottete Fasolt. Er schaute jedoch noch einmal in seine Mappe und zog ein schiefes Gesicht. »Da habe ich mich doch glatt bei der Jahreszahl verlesen. Doch ob du jetzt in drei Jahren oder in drei Monaten volljährig wirst, ist ohne Belang. Zum jetzigen Zeitpunkt bist du es noch nicht. Daher würde ich gerne mit deinem Erziehungsberechtigten sprechen.«

»Ich bin mein eigener Erziehungsberechtigter!«

»Ich will mich jetzt nicht mit dir über die Rechtslage streiten. Mir geht es darum, eine tragfähige Entscheidung für dich und deine Schwester zu treffen«, erklärte Fasolt mit gespielter Nachsicht.

»Da es mein Leben ist und das meiner Schwester, um das es geht, bin ich der Ansicht, dass in erster Linie ich dafür verantwortlich bin!«

»Also, ich und das Gesetz sehen das anders. Du bist ja in ein paar Monaten volljährig und kannst dann tun, was du willst. Ich muss jedoch an deine kleine Schwester denken.«

»Nicole ist hier bei mir am besten aufgehoben!«

»Ich halte es für das Beste, wenn deine Schwester in ein Heim kommt, wo sie die Fürsorge erhält, die sie braucht. Da sie noch so klein ist, könnte man sie sogar zu Pflegeeltern geben. Vielleicht lässt sich auch eine Adoption ins Auge fassen!«

»Ich lasse mir Nicole nicht wegnehmen!«, fauchte Silke den Mann an. Doch dieser sprach ungerührt weiter.

»Für dich wäre es auch besser, wenn du erst einmal in ein Jugendheim gehen würdest. Dort kannst du bleiben, bis deine Berufsausbildung abgeschlossen ist.«

Silke hätte den Kerl am liebsten hochkant aus der Wohnung geworfen, beherrschte sich jedoch mühevoll und zeigte auf das Zimmer, in dem sie saßen.

»Das hier ist unser Elternhaus. Warum sollten wir es verlassen?«

»So ein Haus zu unterhalten ist nicht billig. Von was willst du denn leben? Schließlich bist du ohne jedes Einkommen. Selbst wenn du nach deinem Abitur eine Lehrstelle findest, was auch nicht so sicher ist, so bekommst du in den ersten Jahren gerade mal ein besseres Taschengeld.«

»Ich habe ausgerechnet, dass wir mit der Waisenrente, die Nicole und ich erhalten werden, sowie mit dem Geld, das unsere Eltern angespart haben, ausgezeichnet auskommen können!«

Ein spöttisches Lächeln zuckte um Fasolts Lippen, als er dies hörte. »Rechne das Ganze noch einmal durch, dann wirst du schon merken, wie du dich verhauen hast. Ich habe jedoch keine Zeit, mich mit solchen Kindereien abzugeben. Eigentlich bin ich ja gekommen, weil deine Tante gestern bei mir war und jede Verantwortung für euch abgelehnt hat. Daher wollte ich nach der Adresse eurer überlebenden Großmutter fragen, die nach dem Gesetz den ersten Anspruch darauf hat, die Vormundschaft über dich und deine Schwester zu übernehmen. Wenn sie dies ablehnt, erhaltet ihr einen gesetzlichen Vormund. Und dieser werde nach Lage der Dinge ich sein!« Der letzte Satz war eine Drohung an sie, sich brav zu verhalten, das spürte Silke sofort. Doch mehr als die aufgeblasene Wichtigkeit Fasolts empörte sie das Verhalten ihrer Tante, die ihnen aus Rache diesen Kerl auf den Hals gehetzt hatte.

Es blieb Silke jedoch nichts anderes übrig, als erst einmal nachzugeben und das Adressbuch ihrer Mutter zu durchsuchen. Sie fand die Anschrift ihrer Großmutter halb verblasst irgendwo an den Rand einer Seite hingeschrieben und teilte sie Fasolt mit. Sie erklärte ihm allerdings auch, dass sie nicht wüsste, ob die Adresse noch gültig wäre.

»Wenn nicht, werden wir sie schon herausfinden«, antwortete er ihr voller Überzeugung und sah dann betont auf die Uhr. »So, ich muss wieder weiter. Ich teile dir Anfang nächster Woche mit, was mit dir und deiner Schwester geschehen soll!«

Silke musste sich mit aller Macht am Riemen reißen, um die Haustür hinter dem Mann nicht mit Schmackes zuzuschlagen. Von Fasolts Benehmen und der Aussichtslosigkeit ihrer Situation aufgewühlt, kehrte sie in die Wohnung zurück. Da sie irgendetwas tun musste, um nicht vor Wut zu platzen, begann sie, die Zimmer aufzuräumen. Unter dem Bett, in dem die Tante geschlafen hatte, fand sie einen alten Karton, den diese von Speicher geholt hatte, um ihn untersuchen zu können.

Silke wollte ihn zurückbringen, doch da fiel ihr Blick auf eine fleckige Schwarz-Weiß-Fotografie, die ganz oben lag. Das Bild zeigte eine junge Frau in bayerischer Tracht vor dem Panorama hoch aufragender Berge. Es war ein Jugendbild ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Großmutter Maria. Diese stammte aus Bayern und war Ulf Ketelsen vor vielen Jahren in dessen norddeutsche Heimat gefolgt. Silke erinnerte sich jetzt daran, dass sie als Kind mehrmals mit ihren Großeltern bei Verwandten in Bayern zu Besuch gewesen war. Später waren die Kontakte zwar eingeschlafen. Dennoch fühlte Silke noch heute eine tiefe Sehnsucht nach schneebedeckten Bergen und sonnendurchfluteten Tälern ins sich.

Seltsam, dachte Silke. Jetzt vermisste sie ihre Großmutter Maria fast noch mehr als ihre Eltern. Diese hätte sie niemals der Willkür eines Eike Fasolt vom Jugendamt überlassen. Bei Dagmar Theobald glaubte sie nicht einmal, dass diese die Anfrage des Jugendamts überhaupt beantworten würde.

Dies bedeutete jedoch, dass man sie und Nicole trennen und beide in ein Heim stecken würde.

»Niemals!« Silke sprang auf und lief wie ein gefangenes Tier in der Wohnung herum. Sie verstand zwar wenig von Gesetzen, aber sie nahm an, dass man ihr Nicole nicht mehr so ohne Weiteres wegnehmen konnte, sobald sie erst einmal achtzehn Jahre alt und damit volljährig war. Natürlich gab es auch da ein paar Dinge, die sie beachten musste, zum Beispiel einen geordneten Lebenswandel. Aber sie hatte eh keine Lust, mit irgendwelchen Kerlen durch die Discos zu ziehen und Haschzigaretten zu rauchen. Sie wollte nur die Freiheit, mit ihrer Schwester weiter hier wohnen zu können.

»Wenn ich zulasse, dass Nicole in ein Heim kommt, solange ich noch nicht achtzehn bin, werde ich sie nicht wieder herausholen können, weil so ein Typ wie dieser Fasolt zu ihrem Vormund ernannt worden ist. Verflixt, wenn uns nur die Großmutter helfen würde. Vielleicht tut sie es, wenn ich ihr nur eindringlich genug schreibe und ihr die Situation darlege?«

Silke holte Schreibpapier und begann wie im Fieber zu schreiben. Doch kaum lag der Brief im Postkasten, kam schon wieder die Angst in ihr hoch. Was war, wenn ihre Großmutter ihren Brief ignorierte? Dieser Fasolt wollte ja schon Anfang kommender Woche entscheiden, ob Nicole in ein Heim kam.

Da dachte Silkes an das Bild ihrer anderen Großmutter und wusste plötzlich, was sie zu tun hatte.

* * *

»Gut habt ihr gearbeitet, Leut. Und das am Samstag. Da muss man euch schon loben. Der Daxenberger wird gewiss zufrieden sein, weil wir rechtzeitig fertig geworden sind!« Martin Lenz sah anerkennend auf den Rohbau des Geschäftshauses und reichte den Maurern, vom Polier Huber angefangen bis hin zum Lehrling Franz Vögerl die Hand. Die Männer ergriffen sie mit ihren hornigen Pranken, die noch Mörtelspuren trugen, und lachten ihren Juniorchef fröhlich an.

»Auf alle Fälle haben wir’s denen dort gezeigt!«, bemerkte Huber mit spürbarer Zufriedenheit und zeigte mit dem Daumen auf den halb fertigen Rohbau des Gemeindezentrums schräg unter ihnen am Hang. »Wegen der lumpigen fünfzigtausend Euro, die der Grundner in seinem Kostenvoranschlag billiger war als wir, hat der Kienhofer durchgesetzt, dass der Grundner den Auftrag gekriegt hat. Ich sag dir, der Bürgermeister wird sich bei der nächsten Wahl umschauen. Er hat nämlich ganz vergessen, dass wir Maurer und Arbeiter von der Firma Lenz auch Wähler sind. Sogar der Franzl wird dann sein Kreuzerl machen dürfen.«

»Aber ned beim Kienhofer. Der hat mir das Kraut ausgschütt!«, meinte der Lehrling lachend.

»Jetzt können wir wieder lachen, Männer. Im letzten Jahr hat’s ned so gut ausgeschaut. Aber wir haben’s zusammen hinter uns gebracht!«, erklärte Martin etwas nachdenklich.

»Wir werden es dir und deinem Vater gewiss ned vergessen, dass ihr keinen von uns ausgestellt habt, obwohl die Auftragslage wirklich ned rosig war«, antwortete Huber ehrlich gerührt.

»Der Vater und ich haben halt gehofft, dass es auch wieder aufwärtsgeht. Und mit eurer Hilf ist’s auch geschehen!« Martin zog den Geldbeutel aus der Hosentasche, entnahm einen Schein und reichte ihn dem Polier.

»So, dafür kauft ihr euch heut noch eine Maß Bier, Männer. Also dann bis Montag!«

»In alter Frische, Chef!«, krähte Franz Vögerl ihm nach.

Martin verließ den Neubau und stieg in sein Auto. Ein Blick auf die Digitaluhr am Armaturenbrett zeigte ihm, dass es um einiges später war, als er geglaubt hatte. Seine Freundin Simone wartete bereits seit einer geschlagenen Stunde auf ihn und würde wohl vor Zorn glühen. Doch dann lachte er über seine eigene Besorgnis. Schließlich war er Geschäftsmann und konnte nicht pünktlich wie ein Maurer Feierabend machen, vor allem, wenn seine eigenen Maurer selber Überstunden schoben. Das würde Simone, die ja selber Tochter eines Geschäftsmannes war, sicher begreifen.

Fünf Minuten später hielt Martin sein Auto vor dem Wohnhaus von Simones Eltern an. Auf sein Läuten öffnete Agnes Fink und ließ ihn ein. Sie hatte ihr Gesicht zu einer missbilligenden Miene verzogen, von der sich Martin jedoch nicht beeindrucken ließ. Umso weniger, da ihn Simones Vater August Fink mit lärmender Fröhlichkeit begrüßte.

»Servus, Martl. Du kommst wohl von dem Geschäftsbau oben. Seit ihr rechtzeitig fertig geworden? Ja, das wird den Bürgermeister aber fuchsen. Erst gestern hab ich ihn bei der Stadtratssitzung wieder gepackt und ihm erklärt, dass wir keine weitere Preiserhöhung vom Grundner mehr akzeptieren werden. Dreimal hat der Lump schon aufgeschlagen, sodass die Hütte von einem Gemeindezentrum, dieses Josef-Kinhofer-Building, jetzt schon um zweihunderttausend Euro über eurem damaligen Angebot liegt. Der Strasser Hermann hat sich auch auf meine Seite geschlagen und erwähnt, dass die Firma Lenz bisher noch alle Kostenvoranschläge eingehalten hätt. Ich sag’s dir, der Kienhofer schwimmt ganz schön. Vielleicht stellt ihn die Partei bei der nächsten Wahl gar nimmer als Kandidaten auf. Ich wär gewiss kein Notnagel, wenn der Ruf an mich ergeht!«, erklärte er selbstbewusst.

»Bild dir bloß ned zu viel darauf ein, weil dir der Strasser das vorgeschlagen hat. Der will dich doch nur gegen den Sepp aufhetzen, um selber an die Macht zu kommen!«, giftete Augusts Frau Agnes. Sie war die Schwester des Bürgermeisters und ließ nichts auf ihren Bruder kommen, am wenigsten von ihrem Mann.

»Also, ich hab mit der Politik nix am Hut. Ich will bloß die Simone abholen!« Mit diesen Worten wand sich Martin aus der Klemme. Er wusste, auch wenn Agnes Fink seinen Vater und ihn als Gegner ihres Bruders sah, war er ihr als Schwiegersohn trotzdem mehr als willkommen.

»Ich geh schnell hoch und sag der Simone, dass du gekommen bist«, erklärte sie denn auch eilfertig und stieg die Treppe hinauf. Wenig später hörte Martin die wütende Stimme seiner Angebeteten von oben herabschallen.

»Die Simone ist halt ein wenig zornig, weil du sie so lange hast warten lassen«, entschuldigte August Fink seine Tochter. Doch es hätte diese Worte nicht gebraucht, denn Martin starrte wie gebannt auf die wunderschöne Frau, die die Treppe herabschwebte. Simone Fink hatte sich ein weiteres Mal übertroffen. Von dem hochgesteckten, rabenschwarzen Haar bis zu ihrer cremefarbenen Abendrobe passte einfach alles zusammen.

Für einen Augenblick dachte Martin an den spöttischen Satz, dass August Fink ein sehr reicher Geschäftsmann wäre, würde seine Tochter ihre Garderobe in seinem Geschäft kaufen und nicht in München oder gar in Paris. Doch dann schwemmte eine heiße Welle alle seine Zweifel hinweg und er eilte nach vorn, um Simone in die Arme zu ziehen und zu küssen.

Simone hielt ihn mit ihrer rechten Hand auf Abstand und fauchte ihn gekränkt an. »Ich dachte schon, du hättest mich versetzt, und wollte gerade Freddy anrufen, um ihn zu bitten, dass er mich begleitet!«

Sie traf damit Martins wundeste Stelle, denn Alfred Winkler, den Simone Freddy nannte, war sein heftigster Rivale um die Gunst der schwarzhaarigen Schönheit. Erst vor wenigen Wochen hatte Martin den anderen bei Simone übertrumpfen können. Ganz sicher war er sich ihrer jedoch noch immer nicht, denn sie hatte Freddy noch immer nicht ganz fallen gelassen.

»So ist’s halt mit der Lieb. Da heißt’s, sich anzustrengen!«, kommentierte August Fink launig die Szene. Martin befolgte den Rat und zog Simone ungeachtet ihrer Proteste in seine Arme. Sie sträubte sich ein wenig, aber nicht so sehr, dass ihre Frisur oder ihr Abendkleid Schaden nehmen konnten, und ließ es auch zu, dass er sie küsste. Als sie schließlich den Kuss erwiderte, war Martin vor Freude fast außer sich. Für einige Augenblicke versank die Welt um ihn und er wurde erst wieder durch Simones tadelnde Stimme aus seiner Stimmung gerissen.

»Martin, du hast dich ja noch gar nicht angezogen! Und du hast einen Mörtelspritzer auf deiner Wange!«

»Ich bin halt ein Maurer«, gab er lachend zur Antwort und küsste sie erneut. »So, aber jetzt fahren wir!«, erklärte er dann und verabschiedete sich von Simones Eltern.

»Viel Spaß!«, wünschten ihm beide. Simone zwinkerte kurz ihrer Mutter zu und ließ sich von Martin den Arm reichen. Wenig später rollte Martins Wagen die paar Meter zu seinem Elternhaus. Sie fanden seine Eltern im Wohnzimmer bei einem Glas Wein sitzen. Als er die Ankömmlinge hörte, sah Johann Lenz auf und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Ja, sapperlot, Madl, gut schaust du aus. Wie ein Bild aus der Illustrierten. Da möchte man fast selber wieder jung sein!«

»Trau dich!«, spöttelte seine Frau. Obwohl sie es wie im Scherz sagte, schwang doch ein unwirscher Unterton in ihrer Stimme. Sie blickte ihre Schwiegertochter in spe auch mit weitaus kälteren Augen an als ihr Mann, der aus seiner Begeisterung für Simone Fink keinen Hehl machte.

»Ich muss mich noch schnell umziehen!«, erklärte Martin sein unerwartetes Kommen und lief mit schnellen Sätzen nach oben. Johann Lenz wartete, bis sein Sohn verschwunden war, und winkte Simone zu sich her.

»Wie geht’s deinen Eltern?«, fragte er.

»Gut, sie können ned klagen!«, erwiderte Simone. Lenz senior beugte sich zu ihr hin und fasste ihre Hand.

»Na, wird’s jetzt bald was mit eurer Verlobung? Wir könnten dann gleich im Frühjahr auf dem Nachbargrundstück mit dem Bau von eurem Nest anfangen!«

»Mit einem einfachen Nest wird sich die Simone wohl ned zufriedengeben. Außerdem hast du vergessen, dass sie nach ihrer Hochzeit in der Kreisstadt leben will.« Ursula Lenz dämpfte die Begeisterung ihres Mannes mit diesen Worten abrupt.

»Darüber müssen wir noch reden«, erklärte er und war froh, dass sein Sohn wieder in das Wohnzimmer kam. Als sie gegangen waren, vergrub er sich verärgert hinter seiner Zeitung. Lange hielt er sein Schweigen jedoch nicht durch.

»Du kannst einem wirklich jeden Spaß verderben, Ursula. Dabei kann es der Martl gar ned besser treffen als mit der Simone. So ein sauberes Dirndl findest du zwischen Garmisch und Berchtesgaden kein zweites Mal. Und im Hemd steht’s auch ned da. Schließlich ist sie die einzige Tochter vom Fink.«

»Na ja, so gut, wie er tut, geht es dem Fink auch ned. Und was das andere betrifft, so ist mir die Simone ein wenig zu schön für unseren Martl. Der braucht als Maurer etwas anderes als so eine Zwirnmadam, die nur auf ihre Kleider schaut. Mir persönlich wär ein Madl, das bei uns im Büro mitarbeiten kann, hundertmal lieber als deine Simone!«

»Mir tät’s ja auch gefallen, wenn der Martl eine Frau gefunden hätt, die unseren Schreibkram erledigen könnt, so wie du es auch machst. Aber so etwas wie dich gibt’s halt leider Gottes kein zweites Mal!« Johann Fink fasste die Hand seiner Frau und drückte sie sanft. Sie lächelte ihn an und sie erkannten beide, dass sie sich nach dreißig Jahren Ehe noch genauso liebten wie am ersten Tag. Ob das bei ihrem Sohn und dessen Freundin auch so sein würde, da hatten jedoch beide ihre Zweifel.

* * *

Nachdem der Entschluss einmal gefasst war, begann Silke ihn mit aller Energie in die Tat umzusetzen. Leider konnte sie Frau Schippers nicht in ihr Vorhaben einweihen. Die gute Alte hätte tausend Einwände gebracht und den Plan aus Sorge um ihr und Nicoles Wohlergehen vielleicht sogar an diesen Fasolt verraten. Auch Nicole durfte erst davon erfahren, wenn es so weit war. Silke schickte die Kleine daher zu Frau Schippers, damit sie in Ruhe arbeiten konnte.

Als Erstes suchte sie alles Geld zusammen, das sie im Haus fand. Sie bedauerte jetzt auch die sinnlosen Ausgaben, zu denen Tante Gerda sie gezwungen hatte. Mit dieser Summe hätten sie und Nicole einige Zeit leben können. Leider kam sie nicht an die Konten ihrer Eltern heran. Daher eilte sie noch rasch zur Bank und hob ihr eigenes Sparbuch ab.

Wieder zu Hause suchte sie die Trauerkleider heraus, die ihre Mutter nach Großmutter Marias Tod gekauft hatte, und änderte sie für sich ab. Am frühen Abend holte sie Nicole von Frau Schippers. Danach blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.

Als es später für Nicole Zeit wurde, schlafen zu gehen, setzte sich Silke neben ihr Bett und streichelte sie zärtlich. Sie wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte, denn sie musste der Kleinen nach dem Verlust der Eltern nun zumindest für die nächsten Monate auch noch ihr Heim nehmen.

»Nicole, schläfst du schon?«, fragte sie leise.

»Nein, Siki!« Als Baby hatte Nicole ihre Schwester immer Siki genannt und tat es jetzt nach dem Tod der Eltern wieder. Silke küsste die Kleine gerührt und lächelte sie an.

»Du bist doch schon ein großes Mädchen, Niki!« Auch sie verwendete jetzt die Koseform von Nicoles Namen.

Die Kleine nickte und Silke fuhr fort. »Heute war ein böser Mann hier, der will dich in ein Heim und mich in ein anderes sperren, weil Mama und Papa nicht mehr da sind. Das willst du doch sicher nicht!«

»Nein, ich will bei dir bleiben«, erwiderte die Kleine ein wenig ängstlich.

»Das will ich auch. Aber das geht nur, wenn uns dieser böse Mann nicht findet, bevor ich achtzehn Jahre alt geworden bin. Deshalb müssen wir uns vor ihm verstecken. Zu Hause geht das aber nicht, daher werden wir zwei jetzt eine Reise machen.«

»Wir müssen fort?«, fragte Nicole erschrocken.

»Ich will doch auch nicht weg von hier. Doch es muss sein, damit uns der böse Mann nicht findet. Aber noch etwas anderes. Der böse Mann wird uns sicher suchen. Daher müssen wir so tun, als wenn ich deine Mama wäre.« Nicoles Blick zeigte Silke, dass diese nicht ganz verstanden hatte, was sie damit meinte. Da sie jedoch sicher war, dass man nach ihr und ihrer Schwester suchen würde, war sie auf den Gedanken gekommen, sich als junge Witwe mit Kind auszugeben. Sie erklärte dies Nicole wie ein neues Spiel und erkannte erleichtert, dass die Kleine den Ernst der Lage begriff.

Gemeinsam machten sie sich daran, die letzten Vorbereitungen für ihre Flucht zu treffen. So, wie Silke jetzt aussah, würde ihr niemand eine Witwe mit Kind abnehmen. Sie kürzte daher ihre langen blonden Haare und behandelte sie so lange mit Tönungsshampoo, bis sie in hellem Kastanienbraun glänzten. Lockenwickler und Föhn sowie der Schminkkoffer ihrer Mutter taten ein Übriges. Silke erkannte sich selbst kaum wieder, als sie in den großen Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern schaute.

Bis jetzt hatte sich Silke nur als schlaksiges, junges Mädchen mit einem für ihr Alter zu ernst blickenden Gesicht in Erinnerung. Doch nun schaute ihr im Spiegel eine junge Frau mit einer modischen Frisur entgegen, die ihr Gesicht sanft umschmeichelte und ihre großen himmelblauen Augen und ihren fein gezeichneten Mund betonten. Noch ein wenig Puder auf die Wangen und ein Hauch von Lippenstift, und aus Silke war eine Frau geworden, an der selbst Frau Schippers vorbeigehen würde, ohne sie zu erkennen.

Nach Silke war Nicole an der Reihe. Silke war froh, dass die Kleine das Schneiden und Tönen ihrer Haare als großen Scherz auffasste und gehorsam alles mit sich geschehen ließ. Als sie eine Stunde später in aller Heimlichkeit aus dem Haus schlichen und im Schutz der Dunkelheit auf den Bahnhof zueilten, hätte kein zufälliger Passant sie mit den beiden Kindern der Familie Ketelsen in Verbindung gebracht. Doch die Straßen waren jetzt um zwei Uhr nachts wie leer gefegt.

Silke wollte den Nachtexpress aus Flensburg erreichen und mit ihm erst einmal nach Hamburg fahren. Ihr Plan fußte darauf, dass niemand sie bei der Abfahrt erkannte. Zum Glück war der Bahnhof von Geestebeck in der Nacht unbesetzt, sodass man die Fahrkarten nur im Automaten ziehen konnte. Der zweite Teil ihres Plas betraf einen Brief, den sie für Frau Schippers geschrieben und auf dem Wohnzimmertisch liegen gelassen hatte. Darin erklärte Silke der Zugehfrau, dass sie mit Nicole zu ihrer Großmutter Dagmar Theobald reisen würde. Silke hoffte, damit nicht nur Frau Schippers, sondern auch diesen aufgeblasenen Fasolt überlisten zu können.

* * *

In Hamburg angekommen, eilte Silke als Erstes in die Schalterhalle. Ein sichtlich gelangweilter Beamter am Nachtschalter verkaufte ihr ein preisgünstiges Wochenendticket und erklärte ihr, dass sie damit nur mit Regionalzügen fahren dürfe. Silke nickte dazu, ging dann zu den ausgehängten Fahrplänen, und suchte den nächsten für sie brauchbaren Zug, mit dem sie Hamburg in Richtung Süden verlassen konnten.

Die nächsten Stunden verbrachten Silke und Nicole in wechselnden Bummelzügen. Die Kleine wurde müde und quengelte so lange, bis Silke sie auf den Schoß nahm und leicht hin und her schaukelte. Die Kleine schlief rasch ein und ließ sich von Silke auf den Sitz betten. Doch auch bei Silke ließ die erste Anspannung nach, und ihr Körper meldete überdeutlich, dass er nicht mehr bereit war, länger wach zu bleiben. Nachdem der Schaffner ihre Karte kontrolliert hatte, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.

Als Silke erwachte, schien die Sonne bereits durch die Fenster in ihr Abteil. Die Landschaft glich längst nicht mehr ihrer Heimat, sondern wurde zunehmend hügeliger. Hier lag auch noch mehr Schnee als zu Hause. Silke wartete den nächsten Bahnhof ab und stieg dort mit Nicole aus. Zwei Tassen Tee und ein Croissant im Bahnhofsrestaurant weckten ihre Lebensgeister wieder. An einer Deutschlandkarte an der Wand orientierte sie sich und stellte ihre nächsten Etappen zusammen. Ihr Ziel war klar, sie wollte in die Heimat ihrer Großmutter Maria. Dort wollte sie bis zu dem Tag bleiben, an dem sie wieder nach Hause zurückkonnte.

Silke und Nicole waren am frühen Sonnabendmorgen von Hamburg aufgebrochen. Durch die endlos dauernden Fahrten mit Bummelzügen und Silkes Taktik, niemals den direktesten Weg nach Süden zu nehmen, kamen sie am ersten Tag nur bis Frankfurt am Main. Der Schlafmangel der vergangenen Nacht sowie das ermüdende Sitzen auf unbequemen Bänken forderte nun jedoch seinen Tribut. Sie mussten eine Pause einlegen. Silke suchte sich ein preiswertes Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs und konnte hier zum ersten Mal ihre Tarnung erproben.

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Am späten Nachmittag des nächsten Tages erreichten Silke und Nicole endlich ihr Ziel. Es war ein tief verschneiter Ort in den Bayerischen Alpen, der nach Oma Marias Erzählungen ein ruhiges, abgelegenes Plätzchen sein sollte. Doch als Silke den Zug verließ, wurde ihr sehr deutlich bewusst, dass ihre Großmutter schon vor sehr vielen Jahren von hier weggezogen war. In der Zwischenzeit war das Dorf zu einem kleinen, äußerst lebendigen Städtchen angewachsen, das von großen Hotels und einer Masse von Skiliften beherrscht wurde. Der alte Gasthof zum Löwen, von dem ihre Oma geschwärmt hatte, war einem supermodernen Hotelbau gewichen, in dem es wie in einem Taubenschlag zuging.

Die vielen Leute in ihren knallbunten Skianzügen und den voluminösen Stiefeln erregten Nicoles Neugier. Sie zupfte Silke am Mantel und fragte sie, warum die Menschen in Bayern so seltsam angezogen wären. Silke murmelte eine Antwort, die ihre Schwester nur halb zufrieden stellte, und ging zur Hotelrezeption. Hier erlebte sie ihren nächsten Schock. Von den Ferienorten an der See war sie gewöhnt, dass dort die Preise in der kühlen Jahreszeit gesenkt wurden. Hier schien jedoch Hochsaison zu herrschen, zumindest waren die Preise entsprechend gesalzen. Außerdem erklärte ihr die junge Frau an der Rezeption, dass die Zimmer in diesem Hotel nur wochenweise vergeben wurden.

Silke hatte nach der langen, ermüdenden Bahnfahrt einfach nicht mehr die Nerven weiterzusuchen und ließ sich in das Gästebuch einschreiben. Sie wählte dabei einen falschen Namen und atmete erleichtert auf, als die Hotelangestellte ihn ohne Zögern eintrug.

In ihrem Zimmer angekommen, rechnete Silke erst einmal ihre Ausgaben zusammen und dachte besorgt an die Lücke, die der Aufenthalt in diesem Hotel in ihre Börse riss. In den folgenden Tagen versuchte sie daher so sparsam zu leben, wie es nur möglich war, um diese unerwartete Mehrausgabe wieder ausgleichen zu können. Doch dann sah Nicole die anderen Kinder mit ihren Rodelschlitten den Hang hinter dem Hotel herunterfahren.

»Kauf mir doch auch einen Rodel, Siki?«, bettelte sie und hüpfte ganz aufgeregt um Silke herum.

Silke dachte daran, dass sie bereits mehr Geld ausgegeben hatte, als sie sich eigentlich leisten konnte. Doch als sie die leuchtenden Augen ihrer Schwester sah, schnaufte sie tief durch und nickte. Ich kann Nicole doch nicht jede Freude nehmen, dachte sie resigniert und ging mit ihr in das kleine Sportgeschäft am anderen Ende des Marktplatzes.

Wenig später saß sie wieder in ihrem Hotelzimmer und trug das ausgegebene Geld in ihre Liste ein. Durch das Fenster sah sie die neu eingekleidete Nicole mit ihrem Schlitten am Hang herumtoben und hörte sie zum ersten Mal seit dem Unfalltod ihrer Eltern wieder lachen.

* * *

Silke und Nicole blieben keinen Tag länger als die geforderte Woche in dem Hotel. Von einer Angestellten, der Silke geklagt hatte, dass es ihr hier zu unruhig sei, hatte sie die Adresse einer Pension im Nachbarort erhalten. Dort hoffte Silke, die nächste Zeit als angebliche trauernde Witwe mit Kind bleiben zu können. Doch schon am ersten Abend merkte sie, dass sie keinen guten Griff getan hatte, und begann sich nach der geschäftsmäßigen Atmosphäre des Skihotels zurückzusehnen. Dort hatte sich kein Mensch für sie und ihr Schicksal interessiert.

Die Pensionswirtin Kreszenz Dachsler war jedoch von Haus aus derart neugierig, dass sie schon aufdringlich wurde. Sie interessierte sich für alles und jedes in Silkes Leben. Diese konnte sich nicht so viele Antworten aus den Fingern saugen, wie Frau Dachsler Fragen stellte. Als diese schließlich auch noch Nicole auszuhorchen begann, hatte Silke die Nase voll und reiste nach drei Tagen ab.

Da sie keine Ahnung hatte, wo sie jetzt hin sollte, ließ sie den Zufall entscheiden. Sie wartete an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus und kaufte vom Schaffner zwei Fahrkarten bis zur Endhaltestelle. Im Bus befanden sich viele Skiausflügler, sodass Silke und Nicole nur mit Mühe einen Platz fanden. Obwohl Silke ihre Schwester auf den Schoß nahm, musste sie sich dumme Bemerkungen über ihr durch Nicoles neuen Schlitten noch vermehrtes Gepäck anhören.

Bei der Abfahrt war der Himmel noch hell und strahlend gewesen. Doch schon nach kurzer Zeit zogen dunkle Wolken am Horizont auf und erstickten das Sonnenlicht. Einige der Skifahrer maulten über den Wetterumschwung. Silke hingegen war es egal, ob die Sonne schien oder, wie jetzt, Schneeflocken den Bus umtanzten. Trotzdem bekam sie schon bald ein mulmiges Gefühl im Magen. Denn obwohl der Schneefall immer stärker wurde, behielt der Fahrer seine Geschwindigkeit bei. Er fuhr mit seinem Bus beinahe in der Mitte der von mannshohen Schneewänden gesäumten Straße und schien von dem Wort Gegenverkehr noch nie etwas gehört zu haben.

Eben raste er auf eine Kuppe zu, die ihm die Sicht auf die dahinterliegende Wegstrecke versperrte. Mit dem unbestimmten Gefühl sich nähernder Gefahr umklammerte Silke ihre Schwester und stemmte sich gegen ihren Sitz. Der Scheitelpunkt der Straße flog heran. Der Bus passierte ihn und im nächsten Augenblick sah der Fahrer die schwere Limousine, die ihnen entgegenkam. Fluchend stieg er auf die Bremse, doch auf der schneeglatten Fahrbahn griff diese nicht. Dafür scherte der Bus mit dem Heck aus, streifte die Schneewand an der einen Seite und wurde quer über die Straße katapultiert.

Silke sah noch, wie der andere Fahrer seinen Wagen in den Schnee hineinlenkte, um nicht von dem schlingernden Bus erfasst zu werden. Eine Sekunde und tausend Gebete später kam der Bus mit einem heftigen Ruck im tiefen Schnee zu stehen. Die Passagiere, die sich nicht rechtzeitig festgehalten hatten, wurden wild durcheinandergeschleudert. Koffer, Ski und Stöcke rasten wie Geschosse durch den Innenraum und verletzten einige Leute. Silke und Nicole hatten Glück, denn weder sie noch ihr Gepäck wurde in Mitleidenschaft gezogen.

Einige andere sahen hingegen schlimm aus. Ein Mann war mit dem Gesicht gegen die Lehne des Sitzes vor ihm geprallt und hatte sich das Nasenbein gebrochen. Weiter hinten hatte eine junge Frau durch einen Skistock eine Platzwunde im Gesicht erhalten und blutete fast noch schlimmer als der Mann mit der gebrochen Nase. Während der Fahrer wie erstarrt auf seinem Sitz saß und anscheinend nicht begreifen konnte, was eben passiert war, betätigten einige Passagiere die Notschalter und öffneten die Türen.