Alban Nikolai Herbst


Argo. Anderswelt


Epischer Roman



Elfenbein

Von Alban Nikolai Herbsts »Anderswelt-Trilogie«

erschienen bereits die Bände:

»Thetis. Anderswelt« (1998)

»Buenos Aires. Anderswelt« (2002)



© 2013 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-99-2 (E-Book)

ISBN 978-3-941184-24-4 (Druckausgabe)

I. NULLGRUND


Die Druckwelle ging von der Brücke aus. Für beinahe eine Minute schwoll sie erst hellgelb, dann orange an, das Tragegestänge glühte, wurde weißblau flüssig ballonhaft, blähte sich, aus den Rohren schossen Gase und Abwässer, aggressiv verdampft. Unten sengte ein dichter fauchender Sturm die Themse, ein Materie gewordener zischender Bug, der sie höhlte, seine gerundete Hitzefaust von kreischendem Wasser umbrodelt. Und oben, wer da ging, deflagrierte; verpufft, wer da fuhr: Lieferwagen, die Omnibusse der Flughafenlinie, Taxen, alle anderen Automobile. Was parkte, war unmittelbar mit der Brücke verschmolzen, war Supernova selbst. Und leuchtete mit. Die stand momenthaft in leise schwingender, in einer pulsenden Schönheit, ein eben geborener Stern, der, staunend über die ungewöhnliche eigene Form, kindhaft narzißtisch sein Spiegelbild unterm Europäischen Dach bewundert. Dabei macht sich die Brücke bereit – etwas in ihr, wovon sie wie der Stern nichts weiß. Wir starrten und staunten mit ihm und unseren offenen Mündern. Hatten erst nichts gehört, nur wenige sahen den Lichtblitz direkt, da waren sie blind, andere drehten sich zu spät zu ihm um, das war noch immer zu früh, sie konnten nicht einmal schreien. Schon ihre Seele Molekül.

Dann die Druck- und bereits, da stand die Brücke noch, eine erste Hitzewelle. Die pustete jedes nahe Leben, kaum waren Hugues’ Les Halles hälftlings und sein Center for Science and Mathematics gänzlich eingestürzt und kaum war es drittels das Stadtparlament, wie mikrowellenerhitzte Schaumküsse auf. Krachend platzend, teils geborsten alles. Bis zur Charité im Nordosten klebten Ohren an den metallenen Masten, die waren, stehende, sich überhitzte Wolframfäden, gleichfalls erglüht, kurz nur, Achtelsekunden, und krümmten sich erkühlend ausgebrannte Wunderkerzen erstarrte starrende Fühler biomechanischer Tiere, an denen Flatschen Pflaumenmus klebten, schwarze Herzen und aus den Kleidern gewachsene Nieren. Lungenhaschee tropfte von Dachrinnen, die als bizarre Reste antiquierter Teleskope in den Himmel ragten; ausgeschüttelte Därme, schwernaß von Blut und Magensekret, hingen von ihnen herab.

Westlich davon, anderthalb Kilometer entfernt, ging, um sich zu erbrechen, die Auster der Königlichen Oper auf. Reines Perlmutt, so schimmerten die Innenschalen und warfen die wallenden Gluten zurück. Die Bogenlampen auf dem Weg hatten sich zweimal wie Ähren geknickt und sangen, die sirrenden Garben, den Zorn des Peliaden. Papierene Asche schneite über der Anlage des rabenschwarz verschmauchten Rasens, der in weichen, von nun ausgedrückten Wasserspielen durchtupften Höhenbögen dies- und jenseits der Themse bis zum Bahnhof Atocha langte. Darüber zitterte Luftbrut. Ein ganzes Stück Themse, vom Schiffahrtskanal bis etwa zur Luisenbrücke, verdampfte. Hintere, vordere Wasser knallten nach, schossen gurgelnd in die Höhe. Kaskaden Tropfen zischten auf den Trümmerämtern und der Tiburtina nieder, ätzten sich in Beine, die ihre Oberkörper suchten. Nur Holomorfe schritten unbehelligt hindurch, waren entsetzt und von Sinnen, manche weinten. Sie begriffen nicht. Mochten ihr Leben, kannten nicht einmal mehr die Tranteau, nicht Die Wölfin Aissa, wußten nichts von den Schändern, noch von den Frauen des Ostens. Aus der Tiefe des Meeres will ich sie holen. Wirklich war es, als hätte sich mit ihnen Thetis verbündet. Was wollte die vom Dschihad? Aber das fragten sie nicht, die Holomorfen, und den erfaßten Menschen blieb keine Zeit. Über sie schnitt, durch sie, die zweite Welle, bis in die Rioni Bautzen Salamanca flogen Zweimeterpfeile Glases, in die das luzide Atocha-Gewölbe auseinanderplatzte. Der Shakaden des Westens hatte schon Kometenschnuppen zu den Plejaden geschickt, weißblitzend steckten sie im Europäischen Schild. Einige fielen zornig zurück, ein Hagel aus mannslangen Splittern. Um Sevilla sah es zwei Tage lang wie im Kosovo aus. Die biologischen Schönheitsprogramme kamen gegen den Ausbruch der Brücke nicht an; selbst einige Hochhausdächer La Villettes leckten Dreck von den Straßen. Des Schultes Amt – das Handelsministerium war im Volksmund so nicht genannt, weil dort ein Schulte residierte, sondern weil sein Architekt so hieß – brach in die Knie, der Minister selbst hatte die seinen verloren. Ein letzter Ruf nach Pontarlier. Seine Adlaten seine Frau die Geliebten krochen hinter den Bruchstein und unter Platten, als der Mann oberhalb des Zwerchfells in den Himmel, darunter in die Hölle fuhr, leibhaftig Organ für Organ. Seine Mitte, der Magen, blieb liegen. Es ging zu schnell, um Deckung zu suchen. Abgeprotztes schrumpfte, verkohlte; lag wie Kacke, was einmal Mensch war. Dampfte auch wie Kacke. Dabei war es warm. Tausende Leute Kohle, Parlamentäre der Bürgermeister wie Wurfschlacken flogen Senatorenextremitäten herum, die Staatssekretäre nahezu alle versuppt, auch die Kinder, auf daß du deinen Fuß in Blut badest, und die Zunge deiner Hunde von den Feinden ihr Teil habe. Es war ein Jammern über der Stadt von Geiern Metallfleisch Harpyien, den Keren des Todes. Sie rissen sich rechts die Brüste vom bioniklen Leib und schleuderten sie, Flüssigsprengstoff in den Drüsen, nach Buenos Aires’ Mitte hinab. Die Fettgewebe, weiß wie Milch, waren explodierende Biogranaten. Schrapnelle aus bissigen Würmern flogen heraus, ebenfalls milchweiß, das jagte, lebendige Missiles, nach Kohlenstoff, der atmet. Allein von diesen Kriegssatelliten rasenden Kamakiris Kuwagaten handlichen Bohrkäfern über der ganzen Economia war spinnengrau das Europäische Dach. Für lange Monate glaubten wir nachher: All das Zeug war aus dem Osten gestartet. Wir ahnten nichts von den Zweifeln. Hunderte Millionen Euro Profit wurden in Buenos Aires und wurden in der Weststadt gemacht.

In der dritten Hitzewelle verstrahlte sich die Brücke, die Hitzefaust in der Themse erlosch. Nun war das Wasser wieder frei, sammelte sich: in den siedenden Blasen garten Fische. Unterm Rundstoß sackten die restlichen Les Halles puffend zusammen. Nichts als ein Viertel Nichts, aus dem schwelende Gerüste starrten. Im Westen, endgültig, gab die Königliche Oper auf, ihr Perlmutt wurde blind. Wellington’s Monument, im Osten, war wieder schwarz, erhob sich über nur mehr zwei Beinen, die andren waren weggeschlagen, die Verdeckung gab drüber nach, rutschte lawinen, und mit Gedonner krachte, von Stein und Schindeln umtanzt, in einer Gischt aus Sand­staub die Quadriga herunter.

Nahbei der Reichstag aber stand. Auch wenn die Kuppel abgeschnitten wurde und, ein orion gewölbter Diskus von herrlicher Durchsichtigkeit bei seinem Flug, zweihundert Meter entfernt mit allem, was drin war, in den Retiro donnerte, woraufhin die 800 Tonnen Verglasung kreischend in- und auseinanderkrachten. Treppen Menschen Eisen Glas – ein sich ringsum ergießender, knirschender, so fetter Blutbrei, daß er die Flammen löschte, in denen der Forst stand. Nun wurde der ein Areal für Quandel und Meiler, die niemand brauchte, und für die Köhler dazu und für Ratten, später, der Potsdamer Platz, Sarajevo wiedererstanden, damit das Gesocks erneut was zu hausen habe, kaum war ein Jahr vorüber, ein erneuerter Natodrahtzaun darum herum, wie früher, entsinnen wir uns? – von Waidmännern war das durchstreift gewesen: eine illegale Bürgerwehr, die mit sozialem Ausschuß Fuchsjagd spielt, kläffend immer die Meute voran, in den Halsbändern Chips, die sie steuern. So wird es wieder kommen, die Kameras, durch deren Augen unser Fernseher blickte, dehnten die Momente Stunde für Stunde, eine einzige Iris sah uns aus Hunderten an, bevor sie, wie das Wachs zerschmilzt vom Feuer, am Objektiv zerfloß, direkt drangeklatscht, das war ziemlich ekelhaft. Zwei-, dreihundert Quallenbabys aus den Höhlen gespritzt, sie hatten schon hinausfliehen wollen, doch der gallertige Glaskörper umschlang sie zu fest. Sie sollten die Trümmerhaufen der Stadt und die grause Verwüstung lange und immer weiter sehen. Endlich war es aus. Zähne prasselten in eine Ecke, den Schmerz als Fetzchen Mundfleischs an ihnen noch dran. Von Zähnen auch, die, Schwärme weichzielgerichteter Wespenschrapnells, bis köpfehoch aus den Trümmern schwirrten, oder, gefährlicher noch, weil kaum sichtbar – Einzelgeschosse, kleine, intelligente Torpedos – wurden, wo immer noch Leute zu fliehen versuchten, ganze Rücken tranchiert. Eine Handvoll knallte ins Objektiv, das zersprang. Für Sekunden war das Bild völlig schwarz, die Kamera umgestürzt und mit dem Journalisten gefallen, zu den andren in den zyklopischen Schützengraben, zu dem die Gegend sich aufgetan hatte, als ihr der Grund in die Tunnel sackte, durch die nun lange kein Zug mehr fuhr. Dreie, lasen wir später, steckten sowieso fest, sie waren voller Beamter, Ötzis den späteren Generationen. Bevor die Wasser kamen, fegten gespaltene, zweifach spitze Feuer, Schlangenzungen aus Energie, in die Schächte, flatternde Zungen von Ameisenbären in der wütenden Größe in Ufer gerammter Flugzeugträger, kaum kürzer anfangs als der vorderste Zug, ein ICE der sichersten Bauart. In Momenten unterirdisches Platzen, das tankte ihre Zungen auf, sie wurden länger, immer länger, aufglühendes Brechen: als ob einer den Arm durch Schleimwände stieße, so züngelte sich’s weiter. Das zischende Abwasser nahm Scheiße Kondome Gekotztes, von unten dreißig vierzig Meter hochjagend, zurück in explodierende Klos, Sitzbrillen barsten, die Splitter steckten in Skrotum und Gedärm, durchbohrten einen bis in den Kehlkopf. Unten folgte die Themse den Zungen auf dem Hals, durchbrach das abgestützte Erdreich, nachdem sich die Kiese und Sande aus den Betonen lösten und der Zement wie Lava zwischen die Zugräder floß, den Zungen zähe nach. Brutal donnerten die Wasser da rein, um den Zement für spätere Generationen neu zu erhärten. Deshalb blieben letztlich viel Schmuck und Gerätschaft erhalten. Geysire sprengten Löcher in die alten Rasenstücke des Themse-Bogen-Parks. Erde spritzte schleuderte Steinwerk. Drei fünf sieben Fumerolen fauchten bis über zwanzig Meter heraus. Ein wogender Meerhektar Magma, was zu spazierender Erbauung designt worden war.

Längst hatte ein andrer Journalist die Bilder übernommen. Er stand, in Strömen schwitzend, halb brennend schon, auf einer bislang verschonten Zweiquadratmeter-Insel. Die drehte sich und drehte. Er drehte auch. Kein Held, gewiß, es gab ohnedies kein Davon. Er filmte ihm zuwinkende Hände an kunstvoll auf schmauchenden Dachpfannen voltigierenden Armen, denen bereits die Schulterkugeln fehlten: sie spritzten ein geliertes Wasserkonfetti aus Blut, das als zu Fliegenkot geronnener Schorf die noch stehenden Brandmauern des Schultesamtes besprengte. Vier Leute starben drüben wie Clowns, die sich HEREINSPAZIERT! HEREINSPAZIERT! unter brüllendem Lachen zerlegten, hierhin die Beine, dahin die Füße, die Leute guckten sich starr in den Bauch: wie stank es heraus. Zwei hielten mit jeweils beiden Händen ihr Gedärm. Wir sahen nicht mehr, waren es Frauen, waren es Männer, sie waren gewesen, punktum. Die haltenden Hände verschatteten uns sonnenfleckig Sekunden die Netzhaut. Es ist nicht falsch, daran irre zu werden. Schon tat sich der nächste neue Himmel auf. Nur denen gehört die wahre Verheißung, die auf dem Wege Thetis’ streiten, die töten und getötet werden. Grölend schüttet dieser Himmel Schreie, die er gleichzeitig würgt, auf alle jene aus, die des Thiers Malzeichen nahmen. Ist’s eine Botschaft an die Harpyien? Sind’s Steuersignale? Ein Tinnitus, dreh mal den Ton weg! uns platzt noch der Kopf!! Schon würgen Rosendüfte. Wie lang ein Zungenlappen werden kann, es ist nicht zu fassen: ein konkaves Lineal, über dessen Wölbung die Speiseröhre in ausgeleerte Freiheit rutscht, einen halben Meter, wir glauben das nicht –; glauben Sie’s? Was ist das, der Mensch? So zerstörbar, eine präparierte Brücke genügt, schon ist es vorüber mit Stromabrechnung und Liebst du mich noch. Hallo Jenny, wir sind gut angekommen. Es geht mir gut. Wir haben wunderschönes Wetter RRROMMMS! Die Musicals zerploppt und nichts mehr gehört vom AUFSCHWUNG OST! – KRACH! macht’s bloß WUMMS! Da zerdeppert’s einem die Membranen und fistet GROAAAAGH! die Paukenhöhlen. SCHNINNNG! Und hat keine Ballen mehr an den Händen, sie dagegenzudrücken. Ist auch egal. Denn die Faust hat in den Stirnlappen gefaßt, drückt sich noch zu und reißt ihn mitsamt seinem verwesten Gott aus dem Loch.

Zwölf Bionicles zerren derweil, heruntergekommen, die Brandmauern am Schultesamt nieder. Wo ihre Brust war, die rechte, sprenkelt, in grünes Schmieröl vermengt, spackiger Treibstoff. Rasend vor lauter Selbsttortur dringen die Legoharpyien ein, suchen wittern nach Hektor, um ihn zu schleifen. Wimmernd drehen ihre Scharniere. Sie kreißen vor Wut, weil er so zeitig davonfuhr, packen seine Frau seine Kinder und kneten den verbliebenen Magen mit ihrer sauren Rotze in die dreie hinein und die Adlaten gleich noch hinzu, dann lassen sie den Teig eine irrsinnig einsame Treppe hinunter dem nächsten Zwölffingerdarm entgegenkriechen; hinauf führte die in ein ehernes Nichts. Schlagen die schartigen Maschinenflügel zur Seite, spüren zwischen Rümpfen und Etagenstümpfen nach Hodna-Generatoren, um die Holomorfen wegzubekommen, die ihnen ihre Übersicht nehmen, wenn die in ihrer programmierten Angestelltenkluft weiterhin zu all diesen Hunderten unversehrt durch das Verderben wuseln schreiend heulend Gejammer nach Eltern, die es nie gab. Eine glänzende Klaue wischt fünfe beiseite. Nicht totzukriegen ist das Zeug.

Eine vierte Welle kommt nicht mehr nach. Was bis jetzt nicht bruzzelt, wird überleben, sofern es nicht eine der Harpyien ergreift. Doch gibt es nichts zu ergreifen. Das Echolot der bioniklen Thiere ist rein aufs Hodna aus, zu deren Generatoren noch keinerlei Verbindung von außen besteht. Wundert Sie das? Ein irres Spulen in den Predators: SUCHEN! SUCHEN! Nicht eine Lappenschleuse mehr in Funktion. Deshalb wühlte sich nicht nur im Schultesamt, sondern auch drüben, in der fundamentenen Gebäudewanne der eingestürzten Les Halles und im Pressehaus und durchs Ehrenmal schonungslose Yamadronik durch achtelintakte Untergeschosse, zerriß Schränke und Türen, prallte gegen Brandschutzstahl, schweißte sich voran. Wehe, wenn hier einer bangte, der sich glücklich verkroch: Haut sie oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab! Tobsüchtig prallte dem bioniklen Vieh plötzlich Themse entgegen, sie kam durch den leckgepreßten Wall der Wannen geschossen, den der Andruck des Wassers völlig zerlegte. Zwei grobgeflügelte Nuhvoks, deren Elektronik so viel Nässe nicht vertrug, liefen Amok, spritzten um sich, kippten, verschmauchten. Draußen schnoben zehn Morinphen in die Luft, schleuderten sich Flakgranaten zu, die sie aus ihren Flugbahnen fingen und, bevor sie detonierten, zurück auf die Panzerschützen katapultierten.

Krieg war in der Economia. Es werden Gedenkminuten sein, ganze Stunden vergehen darüber. Trauern werden sie und klagen um die, die das Blut und die Ehre und die Heiligtümer der Ostens mißbrauchten. Das geringste, was man über diese Leute sagen kann, ist: sie waren verderbt und sind der Ungerechtigkeit gefolgt, haben den Schlachter mehr geliebt als das Opfer. Ihr seid die Speerspitze Kungírs. Das lief, ein Börsenkurs des Qitals, plötzlich als Nachrichtenband unten lang. Thetis zeigt ihnen nun ihren Zorn. Lief und lief, in der Übertragung nicht eine kurze Irritation. Wer konnte das so unversehens eingespielt haben? Für wen war das gedacht? Und ihnen sind eiserne Keulen bestimmt. Wir konnten nicht denken. Ein abgeflachter Schild fettgrauen Gewölks lastete über dem Viertel. Vom Grosvenor Place, auf dem bis heute, ein frühes Mahnmal gegen den Terror, die felshaften Sprengspuren der Siegessäule erhalten waren, bis hinunter zum Carrer del Comte d’Urgell und im Osten vor Wellington’s Monument bedeckte es meterdick das Rauchdach. Die Fernsehsender jagten aus leibdicken Schläuchen Luftsäulen hinein, damit wir Zuschauer sehen konnten. Vorbei die elysischen Felder. So müssen umkommen die Gottlosen. Wir blickten aus dem Helikopter in beiseitegewühlte, dampfend protestierende Wolken. Auch den andren Journalisten hatte der Boden verschluckt. In Scharen rückten Pioniere ein, die waren von den Wallmeistergruppen in Marsch gesetzt. Kohorten Feuerwehren folgten. Von Unter den Linden von der Rue des Invalides. Auch das waren, von oben betrachtet, kraftvolle Schwärme. Aber das waren wir. Das isolierte, rundum, rigoros das Gebiet. Die Sperrplanung ist ein integraler Bestandteil des strategischen Konzepts der Vorneverteidigung des transthetischen Paktes. Dieses deckt sich mit den Sicherheitsinteressen Europas. Nicht nur Feuerwehr und Soldaten, sondern auch die Frauen und Männer der Territorialen Verteidigungsmannschaft trugen Schutzmasken stirnabwärts bis zum Hals. Was sie den Harpyien nicht unähnlich machte. Das Ausmaß der zu erwartenden Zerstörungen bei Auslösung vorbereiteter Sperren ist soweit zu beschränken, daß Totalzerstörungen möglichst vermieden werden und nur eine taktisch unbedingt erforderliche Sperrdauer erzielt wird. Man komme, sprach der Kommentator hastig, ich kannte seine Stimme vom Fußball, nur mit Sichtgeräten voran, mit Metalldetektoren, miniaturisierten Radaranlagen. Und sieht, wie die Maschinen, rote blaue Ziffernfolgen. Die elektronischen Ziffern rasen in ihren Displays. Darüber grünlich fluoreszierende Gegend. Wir schauen durch Kathoden und sehen den eigenen Tod, als Zahlen, binär.

Noch immer war der Präsident nicht zu erreichen, man suche ihn, hieß es, im Land. Pontarlier also schwieg. Aber Konstanz nahm Stellung. Wir sollten von den Stühlen aufstehn. Noch lief die Reportage, da forderte der höchste Polizist über die scheußlichen Bilder und die gedimmten Stimmen der Kommentatoren hinweg: »Bitte erheben Sie sich für eine Minute des Gedenkens.« Wir räusperten uns, sahen zu Inge, hier blieben wir, zu Hause, sitzen, aber draußen nicht mehr, nicht morgen, nicht eine Woche darauf. Wann immer wir eine Behörde aufsuchten oder in Eisenbahnen fuhren, standen wir für schließlich zu Stunden addierten Minuten, die Hände hinterm Rücken verschränkt, und beklagten die Toten, die wir nicht kannten. Auch den Osten kannten wir nicht, schon gar nicht seine Toten. Jetzt hatte dieser Osten zu sprechen begonnen, und er sprach laut. Die sich vorankeilenden Kommandos räumten den Nullgrund, zu dem die Economia geworden war. Mulchmäher Angledozer Mullkipper. Scraper schürften mal hier einen Handwurzelknochen aus der Schlempe, dort ein Stückchen Schädeldecke. KTVler und Soldaten wühlten in Massengräbern und Skontren, fanden verlorene Schnippel. Ohrgehänge Silbermünzen Gürtelschnallen. Leichte Artillerie sicherte den Himmel. Kam aber nicht wieder, das mythische Zeugs. Wo mit einem Mal die Hunderte Holomorfen abgeblieben waren, weiß ich nicht. Vielleicht hatte jemand anderes die Generatoren gefunden und sie endlich ausgestellt. Oder die Magnetfeldleute waren zusammengetrieben und aus der Gegend geführt. Aber wohin? Sicher nicht nach Hause, denn auch der Moabiter Werder war nichts als eine unstrukturierte Häufung qualmender Klinkerberge. Wenigstens achtzig besessene Abrißbirnen hatten da eine Orgie des Rückbaus getanzt. Ein halbes Schlachtfeld war die Ufer der Themse runtergelähnt. Die Kamera zoomte weg und schwenkte über den brackigen Fluß an den zerstörten Gebäuden der Oper und des Schultesamtes vorbei gen Atocha. Der Bahnhof war überaus unsauber aufgeklappt. In seiner Bauchwunde wrangen sich zwei ICEs umeinander, eine ungeheure Doppelhelix, das Genom der Europäischen Bahn. Ein dritter Zug hing hinten schief die Überführung hinab. Die stehengebliebenen Rundträger salutierten wie ein Luftbrückendenkmal, das magenkrank ist. Darunter nun auch wirkliche Menschen. Weinend rannten Mütter mit Tüchern abgedeckten Tragen nach. KTVler hielten sie weg von den Leichen. Wir sahen Erregung Zorn sogar Schlagstöcke wurden gehoben. Weder Buenos Aires noch seine Menschen werden von Sicherheit träumen, bevor wir diese in der osteuropäischen Liga leben. Weiter auf den skalpierten Reichstag zu. Er wurde soeben, vierfach, halbbeflaggt. Thetis ist groß, möge der Stolz mit dem Osten sein: Diese Worte hingen in unsere Trauer hinein. Wir hatten Thetis für eine Legende gehalten, kein Mensch mehr glaubt an das Meer. Bulldozer schoben hausgroße Trümmer auf Haufen, Laternenstangen Bücherregale ragten heraus. Rohrleitungen Waschbecken Töpfe. Ein Drittel Schreibtisch Edelstahl. Gefünftelte Karrosserien Fahrradschrott. Brückengeländer. Mumien aus verkrusteter Kohle, das hat mal gelebt. Entdeckelte Müllcontainer implodierte leere Screengehäuse, an manchen schnappten noch ihre lose mitgezogenen Nabelschnüre nach Luft. Dürre Kabelaale peitschten die Schaufel. Andere lappten heraus. Waren über die Drehstative von Stühlen verknotet, ihre Litze kremiert, dicke Nester Batzen Plastekoks. In natürlicher Sandkerntechnik war der zweite Journalist hälftlings diagonal zu einem transluzenten Objekt aus Keramik erstarrt, ein Kettenbagger barg den Torso aus seinem Erdspalt. Eine schwarze Schmiere lief nach, zu der die Asche auch überall sonst unterm Preßdruck der Wasserwerfer suspendiert worden war. Bis zu den Fußknöcheln stand den Männern krisseliger Mansch um die Stiefel. Man rutschte darin aus. Einer schlug sogar hin. Drei Sanitäter eilten. Schnakendes Blaulicht erreichte das Feld. Befehle bellten. Immer wieder Martinshörner. Jetzt wurde auch hier die Europäische Flagge gehißt, direkt vor die mit schiefen Zinnen besetzte Ruine des Schultesamts. Man brauchte eine Meißelmaschine, um das Loch tief genug in die Bodenplatten zu hämmern. Als der Mastbaum stand und vier das gelbgesternte Dunkelblau hißten, nicht halb, sondern ganz, salutierte der gesamte mit Front zur Fahne in Grundstellung gegangene Zug. Dann rührte er sich. Nur zweie, links und rechts, übernahmen am Fahnenmast Wache. Ihnen gegenüber verschwanden minutenlang axtbewehrte Milizionäre im schütteren Rauch, der um die kokelnden, teils noch gebäudehohen Rudimente schwebte, kamen wieder heraus, winkten ab oder schüttelten, wütend vor lauter Traurigkeit, Kopf und Helm und die schnorchlige Maske. Hier und da standen Türen in der sinnlos gewordenen Gegend, klappten bisweilen nachkippend um. Vom Rumpf des Stadtparlaments ging dumpf bereits die zweite Steinlawine nieder. Wollige Kumuli aus Staub blähten ihre Puttenbacken über viele Kubikmeter auf. Langsam ließ er sich auf ausgebrannten Autos nieder, die bis zu den Hüften in Dünen gesplitterten Glases gesunken, andere standen auf den bloßen Felgen. Zerrissene Türen weggeknickte Blechhauben aus der Karosserie geschnittene schwarzgraue Löcher, die kleinsten der leeren Schmauchspuren bloß, die verschliert das Territorium von Nord nach Süd überzogen, sowie sich Rauch und Ascheregen, Staub und in der Luft zerflockter Brandschaum verwehten. Nun sahen wir auch die enormen Gräben der unterirdischen Gleisanlagen, in die sich der Boden vom Bahnhof Atocha bis in den Retiro hineingestürzt hatte, die Stützkapitelle einiger Tragesäulen standen ganz frei. Ein langes, immer noch schmurgelndes Waggondach schimmerte hoch. Von den Seiten waren allerorten Schutt und massenhaft Gestänge in die Form einer höchst labilen Rampe hinuntergeschliddert. Am Rand dieses Abrutschs balancierten Soldaten, fünf ließen sich über die Rampe hinab. Ein Bulldozer war angefahren, über dessen Winde sich die Verseilung drehte. Ein Offizier schrie Kommandos. Die fünf kamen auf dem Zugdach an, blieben noch eingeschirrt, kletterten weiter, wir verloren sie aus dem Blick. SCHNITT. Eine weite Totale über den Nullgrund. Langsam schwenkten wir das Panorama entlang. Der Fernsehturm ragte in den Hodnahimmel, und die Tour Eiffel stand schöner denn je. Wir sahen auf das vom Steinschlag dellige, sonst unbehelligte Dach der Charité im Norden, auf den Nachbau der versunkenen Akropolis. Auf das Museumsquartier am Hang darunter, seinen leuchtenden Quader darin. Daneben die KiesingerMoschee und hinter ihr, in wundervollem Grün, den in deutlich erkennbaren Schichten ansteigenden Kalemegdan-Park. Im Westen ragten die Orgelpfeifen La Villettes in langgestreckten Pilzen aus Rauch, vierfünf helle Säulen, die sich ausdehnten gegens Europäische Dach, doch sich noch unter ihm schlossen, dunkel und gebaucht. Die herrliche Kathedrale schließlich der Sagrada Familia, im Südwesten, dahinter, fast am Horizont und über Hunderte Arkologien hinweg, die strahlenden Pfeiler des die große Westbrache teilüberführenden Ponte 25 de Abril. Monte Carlo schließlich und der silbern funkelnde Messepalast, dann schon wieder, noch vor dem gläsernen Riesenschirm des Rheinmainer Hauptbahnhofs, der Fernsehturm. Man zoomte uns auf die République, aus deren Mitte gesichtslos die gerüchteumwobene Statue zur alten Economia, fortan Nullgrund geheißen, hinübersah. Er lag nun direkt unter uns: ein über nahezu zwölf Quadratkilometer klaffender Trichter, weggeschlagene Wand, alles verwüsteter Tagebau, bis an die Sperren schäumte die grauschwarze Trümmerlagune des unreinsten Todes. Nicht eine einzige Seele, nicht mal versehrt, gab dieses schuttverschlackte Meer wieder her. Das Kameraauge sank hinab, wurde unscharf, als schliefe es ein. Das Fernsehbild verschwamm. Wurde langsam dunkel. Sehr langsam. Ein nächster Schnitt. Und Pontarlier, unter rotem Himmel das prunkend weiße Regierungsgebäude über den Bergen. Seine ewigen Rosenschütten. Daneben der Europarat, er nun schon halbmast beflaggt. In ergreifendem Piano erklang unsre Hymne. SCHNITT. Der Präsident. Ganz gefaßt. In einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Überm rechten Ohr die hodnische Klappe in der Form eines Ohrs; das sahen wir nicht, aber wußten es alle. Hinter dem Mann unser Wappen in Lapislazuli, das Gold unsre Sterne. Der Präsident bewegte sich kaum.

Begann: »Porteños!« Und endigte: »Wir werden die Schuldigen finden. Ich schwöre vor der ganzen Nation: Wir werden sie aufspüren und unerbittlich jagen. Kein Mittel werden wir scheuen. Es wird Gerechtigkeit für die Opfer geben und für unser ganzes Land. Dafür stehe ich ein mit …«, verstummte, seine Eisaugen glänzten – wir warteten, denn er hatte die Stimme gehoben, bevor er so schwieg – und dann sagte er: »… meinem eigenen Leben.« Davon wurde der Bildschirm licht.