Hans Böhmig

Das Phantom mit dem Cello

Kriminalroman

für Ingeborg

Unaufhaltsam schreibt des Schicksals Finger,

Und wenn geschrieben ist die Zeile, fährt er fort.

Gebete nicht, noch all Dein heißes Mühen

Bewegen ihn zu tilgen nur ein einzig Wort.

Omar Khayyam

I

Im äußersten Norden der Stadt Wien auf der rechten Seite der Donau erhebt sich der Nussberg, ein fast vollständig von Weinbau bedeckter rundlicher Hügel, an dessen südlichem, stadteinwärts gerichtetem Abhang sich die bekannten Wiener Weinorte Nussdorf, Heiligenstadt und Grinzing anschmiegen. Gegen Norden und Westen grenzt der Nussberg an den Wienerwald mit dem hoch aufragenden Leopoldsberg und dem Kahlenberg und gegen Norden und Osten reicht er bis an den direkt an der Donau gelegenen Wiener Weinort Kahlenbergerdorf heran. Diese Gegend gehört zum landschaftlich Schönsten, das Wien zu bieten hat, und ist mit ihren Heurigenlokalen und Buschenschenken ein beliebtes Ausflugsziel für Einheimische und Fremde.

Dienstag, 5. Mai 1998

Am Sonntag hatte es am Nussberg noch stark geregnet, am Dienstag strahlte dagegen die Sonne den ganzen Tag über von einem reinen blauen Himmel herab, brachte den Frühling zu frischer Blüte und lockte Vögel, Bienen und Hummeln und auch die Menschen ins Freie, die Wärme und die Gaben der Natur zu genießen. Um 10 Uhr abends war das muntere Treiben längst wieder verstummt. Der Himmel war sternenklar und obwohl der Mond sich nur als schmale silberne Sichel zeigte, konnten die Männer den Weg zwischen den Weinrieden gut erkennen. Es waren zwei Brüder. Karl, der ältere, war achtundzwanzig Jahre alt, und wirkte ernst und verschlossen, während der um vier Jahre jüngere Gustl ein lebhaftes Gemüt zu besitzen schien. Von Nussdorf aus waren sie auf der Kahlenbergerstraße immer bergauf gegangen, bis sie die Abzweigung zur Eisernenhandgasse erreicht hatten. Hier ließen sie sich auf einer Bank unter einem Ahornbaum nieder.

„Hast du inzwischen herausgefunden, wie die Alarmanlage funktioniert?“ fragte Karl seinen Bruder.

„Ich habe alles versucht“, antwortete Gustl, „doch bei der Pieber war nichts zu holen, außer dass es in den letzten zwei Jahren keinen Alarm gegeben hat. Heute passt aber alles zusammen: die Amerikaner sind verreist und über das schadhafte Kellerfenster schaffen wir es ganz sicher ohne Alarm ins Haus. Sollte später doch ein Alarm losgehen, wird ihn kaum jemand mitbekommen. Der Hirt hat am Montag und Dienstag Ruhetag und bis zum Kahlenbergerdorf ist es zu weit, um den Alarm hören zu können. Wenn aber, sagen wir nach zwanzig bis dreissig Minuten, doch jemand nachschauen kommt, sind wir längst wieder außer Haus.“

Die beiden Brüder hatten die von einem amerikanischen Ehepaar bewohnte Villa in den vergangenen Tagen wiederholt beobachtet. Sie lag in einer zur Eisernenhandgasse breit offenen Waldlichtung etwa sechzig Meter oberhalb des kleinen Heurigenlokals Hirt. Vom Hirt führt die Eisernenhandgasse dann über den relativ steilen nördlichen Abhang des Nussberges weiter bergab bis zum Kahlenbergerdorf.

Vor sechs Tagen, am vergangenen Mittwoch, hatten die Amerikaner eine größere Reise angetreten, und so war Gustl am Montag abends vom Wald aus über die zwei Meter hohe Natursteinmauer, welche das Grundstück umschließt, geklettert und hatte das Anwesen genau untersucht.

Von der Eisernenhandgasse war die Mauer etwa fünf bis sechs Meter weit zurück versetzt. In ihrer Mitte befand sich eine schmiedeeiserne Pforte. Einige Meter nach rechts von der Pforte war die Mauer durch eine Doppelgarage ersetzt, welche nach hinten so weit an die Seitenwand der Villa heranreichte, dass man von der Garage aus direkt ins Haus gelangte. Hinter der Garage schloss sich entlang der Mauer noch ein sechs Meter langer Geräteschuppen an. Und an der Rückseite der Garage, zwischen Villa und Geräteschuppen, war ein zwei Meter breites Tor eingelassen, durch das man mit einem Traktor oder einem anderen Fahrzeug in den Garten einfahren konnte. Obwohl Gustl schon unzählige Male an der Villa vorbeigekommen war und sie von der Eisernenhandgasse aus betrachtet hatte, so nah war er ihr noch nie gekommen. An ihrer Vorderseite befand sich, über einige Stufen erreichbar, eine Eingangstüre aus massivem Holz, in die ein rautenförmiges kleines Glasfenster eingelassen war. Darüber im ersten Stock erstreckte sich in ganzer Breite des Hauses ein schöner überdachter Holzbalkon. Der linken, nach Süden blickenden Seite der Villa war eine Steinterrasse vorgelagert, die über Treppen von zwei Seiten in den Garten führte. Die breite Terrassentür und vier große Fenster waren mit schmiedeeisernen Gittern versehen, so wie auch alle übrigen Fenster im Parterre. Auch an der Rückseite des Hauses befand sich eine Tür aus massivem Holz mit einem rautenförmigen kleinen Fenster.

Alle Türen, an der Villa ebenso wie an der Garage, waren versperrt. Nur die zwei Türen am Geräteschuppen ließen sich öffnen. Am Geräteschuppen war Gustl jedoch nicht interessiert. Umso mehr schenkte er seine Aufmerksamkeit den niedrigen Kellerfenstern. Auch diese waren durch feste Eisengitter geschützt. Bei einem Kellerfenster an der Rückseite des Hauses war ein Gitterstab jedoch gebrochen und mit einem dicken Draht geflickt worden. Nachdem Gustl den Draht mit einer mitgebrachten Beißzange durchtrennt hatte, ließ sich das Gitter mit einiger Anstrengung so weit aufbiegen, dass Gustl sich halbwegs bequem zum Fenster hindurchzwängen konnte. Als er das mit einem Fliegengitter versehene Kellerfenster vorsichtig aufdrückte, kam es zu keinem Alarm. Mit einer Taschenlampe leuchtete er den Kellerraum aus. Es schien sich um einen geräumigen Weinkeller zu handeln. Der Kellerboden lag aber so tief, dass man ein Seil brauchte, um gefahrlos nach unten zu gelangen und notfalls wieder hinauf klettern zu können. Etwa vier Meter vom Kellerfenster entfernt stand ein Baum an dem sich ein Seil gut würde befestigen lassen.

Nachdem Gustl die Lage so weit geklärt und einen gefahrlosen Zugang in die Villa gefunden hatte, war er wieder über die Mauer gestiegen und nach Floridsdorf, wo die Brüder bei ihrer Mutter wohnten, heimgekehrt. Er berichtete Karl über das Ergebnis seiner Erkundung und nach einigem Hin und Her beschlossen sie, am Dienstag in die Villa einzubrechen.

II

Eine Weile schweigend auf der Bank unter dem Ahornbaum sitzend, überdachten die beiden Brüder, jeder für sich, noch einmal den bevorstehenden Einbruch.

Karl machte sich Sorgen. Erst vor knapp einem Jahr waren er und Gustl gemeinsam aus der Haft, die sie wegen eines Einbruches in Hietzing, einem Vorort im Westen Wiens, verbüßt hatten, entlassen worden. Der Gefängnisdirektor hatte sie mit den Worten: „Machts keine Dummheiten, das nächste Mal wird es länger dauern“ verabschiedet. Doch bereits unmittelbar nach der Entlassung machten sich die bösen Folgen ihres Gesetzesbruches bemerkbar. Als sie die Autowerkstätte, wo Karl und Gustl seit Jahren als Automechaniker beschäftigt waren, aufsuchten, empfing sie der Chef nicht unfreundlich und versprach, sie anzurufen, sobald etwas frei würde. Seitdem hatten sie jedoch nichts mehr von ihm gehört. Auch andere Werkstätten reagierten ablehnend. So lebten sie weiter bei der Mutter, die in einer Wäscherei beschäftigt war und sich mit Bügelarbeiten nebenher etwas verdiente, und bezogen die „Arbeitslose.“ Karl kam bald zur Überzeugung, dass es am besten wäre, sich mit einer kleinen Reparaturwerkstätte selbständig zu machen. Dafür bräuchte er jedoch ein ausreichendes Startkapital. Ohne Arbeit und noch dazu mit krimineller Vergangenheit hatte er jedoch keine Chance, von einer Bank einen Kredit zu erhalten. Es lag an dieser finanziellen Notlage, in der Karl sich befand, dass er dem Drängen seines jüngeren Bruders, in die Villa am Weinberg einzusteigen, schließlich nachgab, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl.

Gustls Gedanken bewegten sich in eine ganz andere Richtung. So weit er zurückdenken konnte, hatte ihn die schöne Villa beeindruckt und seine Phantasie angeregt. Sein und Karls Vater war im Kahlenbergerdorf geboren und aufgewachsen. Obwohl er später in Floridsdorf, einem auf der anderen Seite der Donau gelegenen Wiener Bezirk, eine Stelle beim Magistrat antrat und dort auch eine Familie gründete, pflegte er weiterhin gute Beziehungen zum Kahlenbergerdorf. So fuhren die Eltern mit ihren beiden Buben am Samstag oder Sonntag häufig über die Donau und trafen sich dort mit den Ehepaaren Dworzak und Pieber. Mit Fanny und Lisl, inzwischen verheiratete Dworzak bzw. Pieber, war der Vater von Kindestagen an eng befreundet. Gewöhnlich wanderte man dann die Eisernenhandgasse hinauf zum Hirt oder zu einem der anderen Heurigenlokale am Nussberg, und dabei kam man natürlich auch an der schönen Villa vorbei, welche dem bekannten Professor Hans Berchtold, einem Kunsthistoriker, und seiner Frau Lea gehörte. Nicht selten trafen sie auch den Professor und seine Frau bei einem Spaziergang oder vor der Villa, und immer grüßten die Herrschaften sie dann freundlich. Besonders nett waren die Berchtolds jedoch zu den Buben, und den kleineren Gustl hob der Professor dann gerne in die Höhe oder trug ihn eine Weile auf seinen Schultern.

So lauschte Gustl stets aufmerksam den Erzählungen der Frau Dworzak, denn sie und ihr Mann waren seit vielen Jahren in der Villa als Haushälterin und als Gärtner beschäftigt. Besonders interessant fand Gustl, was Fanny Dworzak über den Professor, seine Eigenheiten und Freunde, aber auch über seine Sammlung moderner Bilder zu berichten wusste. Dabei versäumte sie nur selten, hinzuzufügen, dass einzelne dieser angeblich äußerst wertvollen Bilder echt unappetitlich bzw. sogar unanständig waren. Gerade diese Bilder hätte Gustl natürlich gerne gesehen.

Das Außergewöhnliche an der Villa - im Volksmund hieß sie trotz ihrer Lage in einem Wäldchen außerhalb des eigentlichen Weinbaugebietes die „Villa am Weinberg“ - war, dass es sich bei ihr um das weit und breit einzige private Wohnhaus in dieser vom Weinbau beherrschten Region handelte. Das war wohl auch der Grund, warum der Professor zu Beginn der Neunziger Jahre, als nach dem Wegfall des „Eisernen Vorhanges“ die Zahl der Hauseinbrüche besonders im Osten Österreichs stark zugenommen hatte, in der Villa eine Alarmanlage hatte einbauen lassen.

Wie die Frau des Professors gegenüber Frau Dworzak einmal erwähnte, hatte ihr Großvater, Karl Blumgart, ein erfolgreicher Unternehmer, vor etwa neunzig Jahren, knapp nach der Jahrhundertwende, die Errichtung der Villa in Auftrag gegeben. „Wie er für diese einmalige Lage eine Baubewilligung hat bekommen können, liegt im Dunkeln.“, fügte sie hinzu. „Heute wäre so etwas mit Sicherheit nicht mehr möglich.“

Vor zwei Jahren hatten nun Professor Berchtold und seine Frau zur völligen Überraschung und zum Bedauern der Dworzaks ihre schöne Villa verkauft, um sich - wie es hieß - in Italien, in der Nähe von Florenz, niederzulassen. Gekauft hatte die Villa ein amerikanisches Ehepaar namens Edward und Diana Sandman. Da die Dworzaks nach dem Weggang des Professors jedoch nicht länger in der Villa beschäftigt sein wollten, bewarben sich Herr und Frau Pieber bei den neuen Besitzern um diese Aufgabe. Und so waren es jetzt die Piebers, die - so wie vormals die Dworzaks - an jedem Montag und Donnerstag, von 8 bis 14 Uhr, in die Villa kamen, um Haus und Garten zu versorgen.

Seitdem hatte Gustl mit großem Interesse Frau Piebers Berichte über den Reichtum und das luxuriöse Leben der neuen Besitzer verfolgt. Niemals hätte er in das Haus des von ihm bewunderten Professors eingebrochen. Mit dem Einzug der Amerikaner war diese innere Verpflichtung für ihn jedoch weggefallen. Und da sich Gustl so wie sein Bruder in einer trostlosen finanziellen Lage befand, begann er Karl so lange zu bearbeiten, bis dieser einem gemeinsamen Einbruchsversuch schließlich zustimmte.

III

Nach dieser von Erinnerungen geprägten Ruhepause machten sich die beiden Brüder auf den Weg die Eisernenhandgasse bergab. An der Villa gingen sie zunächst vorbei bis zum Heurigenlokal Hirt, das still und stockfinster dalag. Dann kehrten sie durch den Wald zur Villa zurück und kletterten an der Rückseite des Hauses über die Mauer. Das Seil, an dem sie alle vierzig Zentimeter einen Knopf angebracht hatten, banden sie am Baum fest ließen es durch das offene Kellerfenster hinunter und seilten sich hintereinander ab. Die Tür des Weinkellers war nicht versperrt. So gelangten sie in einen breiten Gang, von dem eine steile Steintreppe nach oben führte. Gustl ging voran. Die Tür am oberen Treppenende war nicht versperrt. Sie gelangten in einen kleinen Vorraum, von dem eine Tür zur Garage und eine zweite ins Vorzimmer der Villa führte. Doch kaum hatte Gustl diese zweite Tür geöffnet, wurde er von einem Bewegungsmelder erfasst und mit ohrenbetäubender Lautstärke heulte die Alarmsirene los.

Karl verlor sofort die Nerven. „Ich verschwind!“, schrie er. Gustl, der mit einem Alarm gerechnet hatte, blieb aber ruhig. Er machte die Tür wieder zu und bei etwas gedämpfter Lautstärke der Sirene sagte er: „Hab keine Angst, in drei Minuten wird der Lärm von selbst aufhören. Bis zum Kahlenbergerdorf oder gar nach Nussdorf hört man ihn ohnehin nicht. Auf jeden Fall bleibt uns mindestens eine Viertelstunde Zeit und die müssen wir nutzen.“ Dann öffnete er die Türe wieder und beide eilten, mit Taschenlampen bewaffnet, über das geräumige Vorzimmer in den großen Salon, wo sie alles, was sie an Silber und anderen Kostbarkeiten fanden, zusammenrafften und in ihre mitgebrachten Leinensäcke stopften. In einer der Schreibtischladen stießen sie auf eine nicht versperrte Kassette mit etwa 2500 Schilling und 190 Dollar. Daneben lagen zwei schöne Armbanduhren. Ein am Ende des Salons linksseitig angrenzendes Zimmer war versperrt. Aus Zeitgründen verzichteten sie zunächst darauf, die Türe aufzubrechen. Rechterhand gelangten sie durch eine offen stehende Flügeltür ins Speisezimmer und dort sammelten sie vor allem Silberbesteck ein, bis ihre Säcke schwer wurden.

Gustl hatte gewusst, dass eine Alarmanlage in der Regel nach drei Minuten von selbst wieder verstummt. Was er nicht wusste, war, dass die Alarmanlage der Villa über das Haustelefon mit der Polizeidienststelle in Nussdorf verbunden war und jeder Alarm etwa 20 bis 30 Sekunden nach seiner Auslösung dorthin gemeldet wird. Und tatsächlich, als die Sirene endlich zur Ruhe gekommen war, dauerte es kaum 30 Sekunden, bis die beiden Einbrecher zunächst leise und dann immer lauter werdend das Folgetonhorn eines sich rasch nähernden Polizeiautos zu hören bekamen.

Gustl stürzte sofort zur vorderen Eingangstüre, doch diese war von außen versperrt, ebenso die Terrassentüre. Für eine Flucht über den Keller und das Seil zum Kellerfenster schien es zu spät zu sein. So hasteten sie mit ihren schweren Säcken die Treppe hinauf zum ersten Stock und von dort zum Dachboden. Kaum hatten sie sich hinter einer Kiste versteckt, traf auch schon die Polizei vor der Villa ein.

IV

Als bei der Polizeidienststelle am Nussdorfer Platz der Anruf „Überfall Villa Eisernenhandgasse“ eintraf, öffnete Revierinspektor Günther Gerhardter umgehend den im Wachzimmer an der Wand befestigten Schlüsselkasten mit der Aufschrift „Alarmanlagen“ und entnahm ihm die zwei Schlüssel der „Villa Eisernenhandgasse“, von welchen der eine mit „Mauerpforte“, der andere mit „Vordere Eingangstüre“ gekennzeichnet war.

Sie waren zu dritt im Dienst. Rasch informierte er seinen Kollegen, Inspektor Klaus Rieder, über den Alarm und empfahl ihm, sich wenn er Hilfe brauche, an die Polizeidienststelle Hohe Warte zu wenden. Dann sprang er, begleitet von dem noch jungen Kollegen Eberhard Fuchs, der sich noch in Grundausbildung befand, in den vor der Wache stehenden Einsatzwagen und fuhr zur nahen Kahlenbergerstraße und auf dieser mit Höchstgeschwindigkeit und eingeschaltetem Folgetonhorn den Berg hinauf bis zur Einmündung der Eisernenhandgasse, und auf dieser bergab bis vor die Villa. Sie entsicherten ihre Pistolen und sperrten die Mauerpforte auf. Das Haus lag dunkel und still da. Aus den Fenstern kam kein Lichtschein. Als sie mit Taschenlampen um das Haus herum gingen, stießen sie an dessen Rückseite auf das aufgebrochene Kellerfenster und das an einem Baum befestigte, in den Keller hinabreichende Seil.

Gerhardter wandte sich an seinen Kollegen und flüsterte: „Wir brauchen zwei Mann Verstärkung! Bleib du hier und sichere das Kellerfenster und die hintere Tür. Ich gehe zur vorderen Eingangstür und rufe von dort die Dienststelle an.“ Dann lief er zum Dienstwagen und telefonierte mit Inspektor Rieder: „In die Villa wurde tatsächlich eingebrochen. Über ein Kellerfenster. Der oder die Täter dürften noch im Haus sein. Wir brauchen dringend Verstärkung! Ruf gleich die Dienststelle Hohe Warte an und bitte sie, uns zwei Kollegen herauf zu schicken und wenn möglich auch einen Suchhund. Gib mir Bescheid, wenn du mit ihnen gesprochen hast.“ Dann ging er wieder vor das Haus. „Hoffentlich sind die Einbrecher wirklich noch da.“, dachte er.

Zwei Minuten später kam die Nachricht: „Zwei Kollegen von der Hohen Warte machen sich in Kürze auf den Weg.“

Es dauerte doch fast zwanzig Minuten, bis ein Dienstwagen mit zwei Polizisten vor der Villa eintraf. Nachdem sie sich leise begrüßt hatten, sagte Inspektor Wimmer von der Dienststelle Hohe Warte: „Wenn tatsächlich ein Suchhund gebraucht wird, sollen wir bei der Hundestaffel anrufen.“

Nun wurde ein Mann vor und ein zweiter hinter dem Haus postiert. Dann sperrten Gerhardter und Wimmer die Eingangstüre auf und traten mit entsicherten Pistolen in die Villa ein. Von einem großen Vorzimmer führte eine Tür auf der linken Seite zu einer begehbaren Garderobe mit Toilette und rechtsseitig eine Tür zu einem kleineren Vorraum, von dem eine geschlossene Tür zur Garage und eine offenstehende Tür zu einer Kellerstiege führte. Geradeaus öffnete sich eine Flügeltür in ein sehr großes Wohnzimmer und hier waren die Verwüstungen, welche die Einbrecher hinterlassen hatten, deutlich sichtbar: Am Boden lagen alle möglichen Gegenstände herum. Die Laden eines großen Schreibtisches und zweier Kommoden waren herausgerissen und durchwühlt worden, und die Türen eines großen Kastens standen weit offen. Auf der rechten Seite führte eine elegante offene Holzstiege in den ersten Stock.

An der Rückseite des Wohnzimmers befanden sich noch zwei Türen. Eine Tür auf der linken Seite war geschlossen und versperrt. Eine Flügeltür auf der rechten Seite stand offen und führte zu einem Speisezimmer, in dem die Einbrecher ebenfalls gewütet hatten. Vom Speisezimmer führte eine Tür zur Küche und von dieser gelangte man zu einigen Nebenräumen und zur hinteren, versperrten Eingangstüre. Die beiden Polizisten untersuchten zunächst alle Räume im Parterre - mit Ausnahme des versperrten Zimmers, zu dem der Schlüssel fehlte - ebenso die Garage, in der ein Porsche und ein BMW standen, ohne auf Einbrecher zu stoßen. Dann stiegen sie die steile Kellerstiege hinab und gingen der Reihe nach alle Kellerräume durch. Die Türe zum großen Getränkekeller mit dem aufgebrochenen Kellerfenster, durch das ein Seil herabhing, stand offen. Die übrigen Türen - zu einer Waschküche, einem Heizungsraum, einer Werkstätte, einem Obstkeller mit einer Tiefkühltruhe, einem Raum mit Sportgeräten, einem anderen mit Koffern und anderen Gebrauchsgegenständen - waren geschlossen und unversperrt. Nur eine Tür gegenüber vom Heizkeller war versperrt, doch fehlte ein Schlüssel, sodass sie nicht geöffnet werden konnte. Nachdem auch im Keller keine Einbrecher zu finden waren, stiegen sie wieder die Kellertreppe hoch und über die Holztreppe in den ersten Stock. Hier gab es eine Reihe von Schlafzimmern und anderen Räumen, zwei Badezimmer mit getrennten Toiletten und nach hinten eine kleine Wohneinheit mit Schlaf- und Wohnzimmer und einem eigenen Badezimmer mit Toilette. Alle Räume waren aufgeräumt und sauber, und es war deutlich zu erkennen, dass der oder die Täter bis hierher nicht gekommen waren. So blieb nur noch der Dachboden übrig. Also stiegen die beiden Polizisten die Stiege hinauf zum Dachboden. Dieser war in zwei große Räume geteilt. Im ersten fand sich niemand. Als sie jedoch den zweiten Raum betraten, erhoben sich hinter einer großen Kiste zwei junge Männer und streckten ihre Hände in die Höhe. Der eine sagte: „Bitte nicht schießen, wir ergeben uns.“

V

Nachdem die beiden Polizeibeamten den Brüdern Handschellen angelegt und sie sorgfältig nach Waffen durchsucht hatten, ohne etwas zu finden, hoben sie die zwei schweren Säcke auf und stiegen hintereinander, die Brüder in ihre Mitte nehmend, über die Treppen hinab in den Salon. Dort setzten sie ihre Gefangenen nebeneinander auf das Sofa der großen Sitzgruppe und nahmen selbst gegenüber auf bequemen Fauteuils Platz. Dann begann Revierinspektor Gerhardter mit dem Verhör, während Inspektor Wimmer protokollierte Er wandte sich zunächst dem Älteren der beiden zu:

„Name und Alter?“ - „Karl Lagler, achtundzwanzig Jahre alt.“

„Wann und wo geboren?“ - „19. 2. 1968 in Wien.“

„Verheiratet?“ - „Nein, ledig.“

„Adresse?“ - „Wien, 21. Bezirk, Floridsdorfer Hauptstraße 124.“

„Beruf?“ - „Automechaniker, derzeit arbeitslos.“

„Vorbestraft?“ - „Ja. Wegen Einbruchs in eine Villa in Hietzing wurden mein Bruder und ich“, Karl deutete auf den neben ihm sitzenden Gustl, „zu je zwei Jahren Haft verurteilt. Wegen guter Führung mussten wir nur eineinhalb Jahre absitzen - vom 15. Jänner 1996 bis zum 14. Juli 1997. Seit der Entlassung sind wir beide arbeitslos.“

Inspektor Gerhardter wandte sich nun Karls jüngeren Bruder zu. Und nachdem Gustls Daten ebenfalls protokolliert waren, fragte er: „Wohnt ihr in der Floridsdorfer Hauptstraße bei den Eltern?“ „Nein, bei der Mutter.“ antwortete Karl. „Der Vater ist vor acht Jahren gestorben. An Lungenkrebs.“ „Mein Beileid.“, sagte Gerhardter.

Nun führte Inspektor Wimmer das Verhör weiter fort: „Wart ihr schon öfter hier in der Villa?“

Diesmal antwortete Gustl: „Nein, in der Villa waren wir vorher nie. Aber wir sind oft daran vorbeigegangen. Unser Vater ist im Kahlenbergerdorf geboren und so sind wir seit vielen Jahren am Wochenende über die Donau herüber gekommen, um uns mit den Freunden der Eltern, den Dworzaks und den Piebers, zu treffen. Dann sind wir meistens zu einem der Heurigen gegangen und dabei oft hier vorbeigekommen. Als die Villa noch dem Professor Berchtold und seiner Frau gehört hat, das war bis vor zwei Jahren, da haben der Herr und die Frau Dworzak zweimal in der Woche das Haus und den Garten aufgeräumt. Als aber der Professor das Haus an Amerikaner verkauft hat, haben die Dworzaks die Arbeit in der Villa nicht mehr machen wollen. Daraufhin haben die Amerikaner den Herrn und die Frau Pieber angestellt und die sind nun seit zwei Jahren in der Villa beschäftigt.“

„Und wo sind Herr und Frau Pieber zuhause?“, fragte Inspektor Wimmer.

„Unten, im Kahlenbergerdorf.“, antwortete Gustl.

„Und wo sind zur Zeit die jetzigen Besitzer der Villa?“, fragte der Inspektor weiter.

„Die haben vorige Woche eine Reise angetreten, ich glaube nach Amerika. Aber Frau Pieber weiß das sicher genauer.“

„Ja das wär’ s dann.“, sagte Revierinspektor Gerhardter, „Wie ihr wisst, müssen wir euch in die Justizanstalt überstellen. Vorher habe ich aber noch eine Frage. Die Türe da hinten, am Ende vom Salon ist versperrt. Wart ihr da drinnen und habt ihr den Schlüssel?“

„Nein, wir konnten da auch nicht hinein.“, antwortete Karl, „Da war auch vorher kein Schlüssel.“

„Und unten im Keller da ist auch eine Tür, die versperrt ist. Gegenüber vom Heizungsraum. An der ist auch kein Schlüssel. Wart ihr da drinnen?“

„Nein, diese Tür haben wir gar nicht gesehen.“, sagte Karl. „Wir sind vom Weinkeller, wo wir eingestiegen sind, direkt zur Kellertreppe und über die herauf in die Wohnung.“

„Na gut.“, sagte Gerhardter, „Ihr bleibt hier sitzen. Ich muss noch etwas erledigen.“ Dann ging er zum Dienstwagen und rief die Nussdorfer Polizeidienststelle an. Als Inspektor Rieder abhob, sagte er: „Wir haben die Einbrecher auf frischer Tat erwischt und verhaftet und das ganze Haus durchsucht. Es sind aber ein Zimmer im Parterre und ein Kellerraum versperrt und ohne Schlüssel. Da möchten wir zur Sicherheit noch nachschauen, damit wir den Lokalaugenschein abschließen können. Bitte ruf den Schlüsseldienst an, dass er wenn möglich gleich kommt und die Türen aufsperrt.“

„Wird gemacht.“, sagte Inspektor Rieder, „ich geb dir Bescheid.“ Inzwischen überprüfte Inspektor Wimmer noch einmal das Protokoll vom Verhör. Als er die beiden Brüder mit gebeugten Köpfen, die Hände am Rücken gefesselt schweigend ihm gegenüber sitzend betrachtete, dachte er: Eigentlich ganz nette und gut erzogene Burschen. Aber wahrscheinlich spielen sie uns das nur so vor. In Wirklichkeit werden sie genau so abgebrüht und berechnend sein wie alle diese Ganoven.

VI

Endlich kam der Schlüsseldienst. Es war bereits nach 3 Uhr früh. Zuerst ging Gerhardter mit dem Herrn vom Schlüsseldienst zur versperrten Türe an der Rückseite des großen Salons. Es handelte sich um ein gewöhnliches Schloss und nach zehn Sekunden war die Türe offen. Bei dem Zimmer schien es sich um ein Arbeits- und Bibliothekszimmer zu handeln, mit einem großem Schreibtisch, einem Schrank und im übrigen bis an die Decke reichenden Stellagen aus schönem Holz, die sich mit Ausnahme der Fensterseite rundherum erstreckten und auch die Türe, durch die sie eingetreten waren, umrahmten. An der Fensterseite gab es noch eine Sitzgruppe mit einem runden Tischchen und zwei Fauteuils. Die Stellagen waren zum Teil mit Büchern, zum Teil mit Ordnern, aber auch mit allerhand Kunstgegenständen, wie Gläsern, Vasen, Büsten, Figuren und allerlei Preziosen vollständig angefüllt. Auch auf dem Schreibtisch und sogar auf dem Boden fanden sich Gegenstände bzw. Wertsachen dieser Art und in der linken hinteren Ecke standen zwei große Kisten und daran anschließend mehrere zusammengerollte Teppiche. Der ganze Raum war von Staub bedeckt und es war offensichtlich, dass er lange Zeit nicht mehr benutzt worden war.

„Das werden wir noch herausfinden müssen, was dieser unbenutzte Raum zu bedeuten hat.“, sagte Inspektor Gerhardter. Und zum Herrn vom Schlüsseldienst gewandt fügte er hinzu: „Sperren Sie die Tür wieder ab, doch lassen Sie uns bitte einen Schlüssel da, mit dem wir die Tür wenn nötig wieder aufsperren können.“

Dann stiegen sie in den Keller hinab, um die versperrte Kellertüre, zu welcher der Schlüssel fehlte, öffnen zu lassen. Auch hier handelte es sich um ein gewöhnliches Schloss, und im Nu war die mit einer Eisenplatte verstärkte, dicht abschließende Türe geöffnet. Als Inspektor Gerhardter als erster in den Raum eintrat, schlug ihm eine Welle eines süßlichen, äußerst unangenehmen Geruches bzw. Gestankes entgegen, so dass er unwillkürlich zurückwich und sich die Nase zuhielt. Nach ihm erreichte die Geruchswelle auch die hinter ihm Stehenden, das heißt, den Herrn vom Schlüsseldienst und Inspektor Wimmer, die ebenfalls angewidert zurückwichen. Mit der Entlastung des zuvor abgeschlossenen Kellerraumes, dessen mit einem Fliegengitter bewehrtes Fenster ebenfalls dicht verschlossen zu sein schien, durch die offene Türe, verringerte sich jedoch die Intensität des Gestankes so weit, dass Inspektor Gerhardter sich darin näher umsehen konnte. Der Raum war an sich leer, am Boden waren aber zwei große Leintücher ausgebreitet unter welchen sich die Konturen flacher Gegenstände erkennen ließen. Plötzlich bemerkte er, dass unter dem rechten Rand des Leintuches eine dunkle, wie eingetrocknet wirkende Hand hervorschaute.

„Huh!“, sagte Gerhardter, „was ist denn das?“ Mit den Fingerspitzen beider Hände hob er das zur Tür blickende Ende des Leintuches so weit in die Höhe bis er die Konturen von zwei Köpfen erkennen konnte. Sofort ließ er das Leintuch wieder fallen und sagte: „Was auch immer hinter diesem Fund stecken mag, das ist eine Angelegenheit für die Mordkommission.“ Die Türe wurde wieder geschlossen und die drei Männer stiegen die Kellertreppe wieder hinauf in den Salon, wo auf dem Sofa immer noch die zwei verhafteten Brüder saßen. „Bring die beiden in die Küche, schau, dass sie dort sitzen können und gib ihnen auch etwas zu trinken.“, sagte er zum Kollegen Fuchs, der die Brüder bewacht hatte. Als dieser mit den Verhafteten draußen war, sagte er zu Inspektor Wimmer: „Ich ruf jetzt die Kriminalabteilung in der Berggasse an.“, und ging hinaus zu seinem Dienstwagen.

Als Gerhardter zurückkam, berichtete er, er sei mit Frau Inspektor Grebler von der Mordkommission verbunden worden. Als er ihr von den beiden Leichen in der Villa an der Eisernenhandgasse berichtete, verband sie ihn mit dem Leiter der Mordkommission, Chefinspektor Ludwig Hermanek. Nachdem er diesem vom Einbruch in die Villa und den zwei verhafteten Brüdern, dem überraschenden Fund von zwei Leichen in einem versperrten Kellerraum sowie von seinem Eindruck, dass die Leichen sich schon länger in Verwesung befunden haben dürften, berichtet hatte, entschied Hermanek, dass die Mordkommission um 8 Uhr 30 zur Villa kommen würde.

„Es ist jetzt 4 Uhr 15“, sagte er, „und nach Ihrer Schilderung besteht keine Dringlichkeit. Ich werde mich darum kümmern, dass nach Möglichkeit auch ein Gerichtsmediziner mitkommt. Und lasst bitte die zwei Einbrecher vorläufig in der Villa, damit wir sie noch am Tatort vernehmen können.“

Mittwoch, 6. Mai 1998

Die Mordkommission traf fast pünktlich in der Villa ein, angeführt von ihrem Leiter, Chefinspektor Ludwig Hermanek, einem kräftigen, gut aussehenden Fünfziger mit freundlicher Ausstrahlung, begleitet von seiner Stellvertreterin Frau Inspektor Herta Stumvoll und Inspektor Alois Gruber. Nach kurzer Vorstellung warf Chefinspektor Hermanek nur einen kurzen Blick in den Kellerraum mit den Leichen. Dann kamen zunächst die inzwischen ebenfalls eingetroffenen Techniker zum Zug, um den Tatort abzusperren und nach Strich und Faden zu dokumentieren und nach erhaltenen Spuren abzusuchen, während Hermanek wieder nach oben ging und sich die Folgen des Einbruches zeigen ließ. Dann ließ er sich das Protokoll der nächtlichen Vernehmung geben und, nachdem er es gelesen hatte, begann er mit der Einvernahme der verhafteten Brüder.

„Ich ersuche euch jetzt beide, mir auf meine Fragen nur die Wahrheit zu sagen.“, sagte er. „Wenn ihr euch als kooperativ erweist, wird euch das positiv angerechnet werden. Jede Lüge wird euch aber sehr schaden. Habt ihr das verstanden?“, fragte er.

„Ja.“, antwortete Karl, „Wir haben schon in der Nacht nur die Wahrheit gesagt.“

„Habt ihr gewusst, dass im Keller zwei Leichen liegen?“, fragte Hermanek.

Karl und Gustl schauten erschreckt auf. „Nein.“, sagte Karl. „Davon haben wir keine Ahnung.“

„Gut“, sagte Hermanek, „dann gehen wir jetzt in den Keller und ihr sagt mir, ob ihr die zwei Toten erkennt.“

Der Tatort, der Keller und die Kellerstiege waren in der Zwischenzeit vom technischen Team fotografiert und nach Spuren abgesucht worden. Nach Entfernung der Leintücher war schon am Kopfhaar zu erkennen, dass es sich bei den nebeneinander am Rücken liegenden mit den Köpfen der Türe zugewandten Toten um eine männliche und eine weibliche Person, jeweils mittleren Alters handeln dürfte. Beide Leichen waren vollständig bekleidet, nur im Bereich der Hände sowie am Hals und Gesicht lag die Haut frei. Am Hals und an den Händen war die Haut merkwürdig dunkel gefärbt, trocken und geschrumpft, während sie um Mund und Nase und zum Teil auch um die Augen fehlte und das freiliegende Gewebe in diesem Bereich schmierig aussah. Die Augen lagen tief in den Höhlen.

Karl und Gustl betrachteten von der Kellertüre aus die Leichen. Vor allem Gustl konnte seine Erschütterung nicht verbergen. Schließlich sagte er schluchzend: „Die Gesichter schauen so schrecklich aus, doch ich fürchte, da liegen Professor Berchtold und seine Frau.“ Karl nickte zustimmend. Dann wandten sie sich ab und der Chefinspektor ging mit Ihnen zurück in den Salon.

Inzwischen war der Gerichtsmediziner, Professor Klaus Binder, eingetroffen und nahm seine Untersuchung der Leichen auf. Als er fertig war, ließ er Chefinspektor Hermanek zu sich in den Keller rufen. „Ich habe die Leichen jetzt nur oberflächlich untersucht.“, sagte er. „Beide lassen im Bereich des Hinterkopfes eine schwere stumpfe Gewalteinwirkung mit Trümmerfraktur des knöchernen Schädeldaches in diesem Bereich erkennen. Es ist anzunehmen, dass die Gewalteinwirkung auch zu einer beträchtlichen Hirnverletzung, wahrscheinlich mit Hirnblutung, geführt hat. Bei beiden Toten dürfte es sich dabei um die Todesursache handeln. Ihr Team hat in einer Nische der Wand neben dem gegenüber liegenden Heizungsraum dieses relativ schwere, 1 1/2 Meter lange Eisenrohr gefunden. Ob es sich dabei um die Tatwaffe handeln könnte, werde ich noch genauer untersuchen.

Die Kleider der Toten habe ich vorläufig noch belassen. Ausweise oder andere Papiere haben wir bei den Toten nicht gefunden. Beide tragen aber einen Ehering und auch Armbanduhren, die allerdings stehen geblieben sind. Die weibliche Leiche trägt überdies eine Perlenhalskette und an der linken Hand einen Ring mit einem Rubin und Brillanten. Nach der Überführung in die Gerichtsmedizin wird die Obduktion zeigen, ob meine Annahme bezüglich der Todesursache zutrifft und ob weitere Verletzungen oder andere relevante Befunde vorliegen, welche zu berücksichtigen sind.“

„Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Chefinspektor Hermanek.

„Das lässt sich im Augenblick schwer beurteilen.“, antwortete der Gerichtsmediziner. „Da die Toten, soweit sich das feststellen lässt, in einem kühlen und offenbar sehr gut abgedichteten Raum ohne Fliegen und anderes Gekreuch gelegen sind, ist es mehrheitlich zu einer trockenen Verwesung mit Gewebsschrumpfung gekommen. Nur im Gesicht um Mund und Nase herum hat umschrieben eine feuchte Gewebszersetzung eingesetzt, wahrscheinlich von Parasiten der Mund- und Nasenschleimhaut ausgehend. Ich schätze, dass die Leichen seit mindestens ein bis eineinhalb Jahre, wahrscheinlich aber schon deutlich länger, hier liegen. Übrigens würde ich gerne wissen, wozu dieser Raum früher einmal gedient hat.“

„Das wissen wir noch nicht.“, antwortete der Chefinspektor. „Die Identität der Toten ist auch noch nicht geklärt, obwohl unser zwei Einbrecher glauben, dass es sich um die früheren Besitzer, welche das Haus vor etwa zwei Jahren an ein amerikanisches Ehepaar verkauft haben, handeln könnte. Sollte das stimmen, stellt sich die Frage, wann die früheren Besitzer zuletzt gesehen worden sind.“

„Rund zwei Jahre seit dem Eintritt des Todes“, überlegte der Gerichtsmediziner, „darauf könnte es hinkommen. Ich fahre jetzt ins Institut. Sobald die Leichen obduziert und die ergänzenden Untersuchungen abgeschlossen sind, schicke ich Ihnen den gerichtsmedizinischen Befund.“

„Ja, danke. Allerdings wollen wir die Leichen noch einige Stunden hier behalten. Es gibt da ein Ehepaar -“, der Chefinspektor schaute kurz ins Protokoll, das Inspektor Gerhardter ihm übergeben hatte „ein Ehepaar Pieber, wohnhaft unten im Kahlenbergerdorf, welches seit zwei Jahren bei den jetzigen Besitzern als Hausangestellte beschäftigt ist. Vielleicht können sie die Toten erkennen. Anschließend werden wir die Leichen an die Gerichtsmedizin überführen lassen.“

VII

Kaum hatte der Gerichtsmediziner sich verabschiedet, kam Inspektor Gerhardter in den Salon. „Vor dem Haus steht ein Ehepaar Pieber“ berichtete er dem Chefinspektor, „es sind das die Leute, die hier bei den amerikanischen Besitzern beschäftigt sind. Sie sagen, sie hätten von der Polizeiaktion in der Villa gehört und wollten nachschauen, was los ist und ob sie helfen können. Wollen Sie die beiden sehen?“

„Wunderbar, die kommen wie gerufen.“, antwortete Hermanek, „Bringt sie gleich herein.“

Als Herr und Frau Pieber eingetreten waren, begrüßte Chefinspektor Hermanek sie freundlich, stellte sich vor, und bat sie, sich am Sofa niederzusetzen.

„Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.“, sagte er, „Wir wollten Sie ohnehin rufen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Die Personalien können wir dann hinterher aufnehmen.“

Er wandte sich zunächst an Frau Pieber: „ Wie lange sind sie hier schon beschäftigt?“

„Seit zwei Jahren.“, antwortete sie. „Damals haben die früheren Besitzer, Professor Berchtold und seine Frau, die Villa an das Ehepaar Edward und Diana Sandman aus Jersey City, USA, verkauft. Die neuen Besitzer sind Anfang Mai 1996 eingezogen und am 9. Mai einem Donnerstag haben dann wir hier zu arbeiten begonnen. Ich im Haushalt und mein Mann vorwiegend im Garten. Wir kommen jeden Montag und Donnerstag, von 8 bis 14 Uhr, in die Villa. Wenn die Herrschaften Gäste haben, brauchen sie mich, aber auch an anderen Tagen, meistens an einem Freitag oder Samstag. Ich helfe dann Frau Sandman in der Küche und beim Auftragen.“

„Und wenn die Herrschaften verreist sind?“, fragte Hermanek.

„Dann kommen wir auch am Montag und Donnerstag herauf, um nachzusehen ob alles in Ordnung ist, und kümmern uns um die Post im Sommer um den Garten und im Winter um die Heizung.“

„Wie kommen Sie denn dann ins Haus? Es gibt ja eine Alarmanlage.“

„Wir haben eine Fernbedienung, mit der wir die Alarmanlage ein- und ausschalten können.“ Sie griff in ihre Tasche und zeigte dem Chefinspektor den Druckknopf. „Den Code für die Alarmanlage weiß ich auch, aber den darf ich absolut niemandem verraten.“

„Aha“, sagte Hermanek. „Wann werden denn die Herrschaften zurück erwartet?“

„Am Mittwoch, heute in einer Woche. Dann waren sie genau zwei Wochen weg“, antwortete Frau Pieber.

„Wissen Sie, warum die Polizei hier ist?“

„Nein, aber ich würde es gerne wissen!“

„Sie werden es gleich erfahren. Vorher habe ich aber noch zwei Fragen. Können Sie mir sagen, wofür dieser Raum da hinten benutzt wird?“ Er zeigte auf die geschlossene Türe am linken Ende des Salons.

„Nein.“, sagte Frau Pieber, „Seit ich hier arbeite, war die Türe immer versperrt. Den Schlüssel hat, glaube ich, Mr. Sandman. Aber ich habe nie gesehen, dass die Türe aufgesperrt wurde.“

Nun wandte sich der Chefinspektor an Herrn Pieber: „An einem hinteren Kellerfenster ist das Gitter an einer Stelle gebrochen und mit einem Draht geflickt worden. Wann ist denn das passiert?“

„Ja, ich weiß schon.“, antwortete Herr Pieber, „Das ist schon vor meiner Zeit passiert. Ich hab’s dem Chef einmal gezeigt, aber der hat gesagt, das könne man so lassen.“

„Haben Sie den Mr. Sandman verstanden, wenn er gesprochen hat?“

„Der spricht ja perfekt Deutsch. Auch mit seiner Frau kann man sich inzwischen schon recht gut auf Deutsch unterhalten.“

Chefinspektor Hermanek zeigte auf das durcheinander im Salon: „Da sehen Sie schon, dass Einbrecher hier waren. Weil die Alarmanlage losgegangen ist, haben wir sie in flagranti erwischt. Zwei junge Männer. Aber jetzt schauen wir in den Keller, da wurden zwei Leichen gefunden.“

Er erhob sich und stieg mit den beiden Piebers die Kellertreppe hinab. Die Türe zum Raum, in dem die Leichen lagen, war geschlossen. Hermanek öffnete sie und forderte die Piebers auf, näher zu treten. Frau Pieber ging voran. Als sie die beiden Toten erblickte, welche in ihren Kleidern – die Leintücher waren entfernt worden – am Rücken dalagen, die Köpfe der Türe zugewandt, starrte sie entsetzt auf die durch die Verwesung entstellten Gesichter. Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Das sind ja der Herr Professor und seine Frau“! Dann drehte sie sich um, stürzte aus dem Raum und lehnte sich am Kellergang an die Wand. Nach ihr betrachtete auch ihr Mann aufmerksam die Leichen. Dann schüttelte er den Kopf und ging auch hinaus auf den Kellergang.

Zurück im Salon setzte sich Chefinspektor Hermanek mit den beiden wieder an der Sitzgruppe nieder. „Bevor wir auf die beiden Toten näher eingehen“, sagte er, „habe ich noch eine wichtige Frage. Als das Haus nach dem Einbruch, in der vergangenen Nacht, vom Keller bis zum Dachboden durchsucht wurde, ist aufgefallen, dass der Kellerraum, in dem später die beiden Toten entdeckt wurden, versperrt war und im Schloss kein Schlüssel steckte. Es musste der Schlüsseldienst gerufen werden, um die Türe aufzusperren. Alle anderen Kellertüren waren nicht versperrt und hatten überdies einen Schüssel. Wissen Sie, wer einen Schlüssel zu dem Raum mit den Toten haben könnte?“

Diesmal meldete sich Herr Pieber zu Wort: „Ich muss oft in den Keller, weil ich mich um die Ölheizung und auch um den Getränkekeller zu kümmern habe. Schon bei meinem ersten Gang hinunter ist mir aufgefallen, dass dieser Raum gegenüber vom Heizkeller versperrt ist und dass ein Schlüssel dazu fehlt.

Als ich dann Mr. Sandman nach dem Schlüssel gefragt habe, hat er gesagt, Professor Berchtold hätte ihm bei der Übergabe des Hauses erzählt, es gäbe dazu keinen Schlüssel. Der Raum würde aber nicht gebraucht und es sei seit Jahrzehnten niemand mehr hineingegangen. Daher sei es auch nicht notwendig, einen Schlüssel zu besorgen.“

„Interessant“, sagte Chefinspektor Hermanek. Bei sich aber dachte er: „Es ist schon merkwürdig. Da spricht der frühere Besitzer von einem seit Jahrzehnten versperrten Kellerraum, zu dem es keinen Schlüssel gibt und den angeblich seit ewigen Zeiten kein Mensch mehr betreten hat. Und ausgerechnet in diesem nach wie vor versperrten Raum wird jetzt seine Leiche gefunden.“ Nach einer kurzen Pause räusperte er sich und wandte sich Frau Pieber zu: „Sie haben die Toten also eindeutig erkannt?“

„Nein“, antwortete sie, „ganz sicher bin ich mir nicht. An den Gesichtern konnte ich sie überhaupt nicht erkennen. Aber ihre ganze Erscheinung hat mich gleich an den Herrn Professor und seine Frau denken lassen. Hoffentlich sind sie es nicht.“

„Wie lange schon kennen sie denn Professor Berchtold und seine Frau?“

„Wir kennen die beiden seit mehr als 20 Jahren, weil wir oft hier vorbeikommen, und wenn wir ihnen begegnet sind, mit ihnen öfters auch gesprochen haben. Weit besser als wir kennen den Professor und seine Frau allerdings die Frau Dworzak und ihr Mann. Die haben nämlich fast 20 Jahre in der Villa gearbeitet, das heißt bis der Professor die Villa vor zwei Jahren verkauft hat und nach Italien gegangen ist.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Wir sind mit der Familie Dworzak gut befreundet. Die dürften eh zu Hause sein. Wenn es Ihnen Recht ist, ruf ich sie an, dass sie heraufkommen sollen.“

„Nein, danke, das machen wir später selbst. Geben Sie mir nur die Adresse und die Telefonnummer, dann rufen wir sie, sobald wir sie brauchen, an.“ Er reichte Frau Pieber einen Schreibblock und einen Stift und bat sie, die Telefonnummer der Dworzaks aufzuschreiben. Dann nahm er den Block an sich und rief Inspektor Gruber: „Nimm bitte die persönlichen Daten von Herrn und Frau Pieber auf. Ich habe draußen etwas zu erledigen.“

Dann wandte er sich noch einmal an die Piebers: „Da gibt es noch einige technische Probleme, die wir mit Ihnen gemeinsam lösen müssen. Zunächst zur Garage. Wir werden heute noch die beiden Toten zum Gerichtsmedizinischen Institut bringen. Um Aufsehen zu vermeiden, sollte dies am besten über die Garage geschehen. Dort stehen aber zwei PKWs, ein Porsche und ein BMW. Die gehören, nehme ich an, dem Ehepaar Sandman. Haben sie die Schlüssel zu den Autos?“ Nachdem Herr Pieber verneinte, sagte Hermanek: „Dann muss der Leichenwagen eben rückwärts bis an die offene Garage heranfahren. Für den Transport der Leichen ist zwischen den geparkten PKWs genügend Platz. Können Sie das Garagentor öffnen?“

„Ja, ich habe eine Fernbedienung für das Garagentor“, sagte Frau Pieber, „soll ich Sie Ihnen geben?“

„Ja, bitte.“, sagte Hermanek, „Ein zweites Problem betrifft die Alarmanlage. Wenn wir das Haus heute verlassen, müssen wir die Alarmanlage einschalten, und sie morgen früh, wenn wir wiederkommen, wieder abschalten. Daher möchte ich Sie ersuchen, uns auch Ihre Fernbedienung für die Alarmanlage zur Verfügung zu stellen. Schließlich ist es notwendig, dass Sie beide übermorgen, also am Freitag um 9 Uhr vormittags zur Villa kommen. Inspektor Gruber wird Ihnen dann die beiden Fernbedienungen und auch das Diebesgut, das die zwei Einbrecher in Säcken verstaut haben, übergeben. Ich denke, dass Sie dann die Villa auch wieder werden aufräumen können. Nur den Bibliotheksraum an der Rückseite des Salons und den Kellerraum, in dem die Toten gefunden wurden, lassen wir versperrt.“

Nachdem die Piebers versichert hatten, dass sie sich am Freitag pünktlich einfinden würden, richtete Hermanek noch eine dringende Bitte an die beiden: „Sie können, wenn Sie gefragt werden, ohne weiteres erwähnen, dass es einen Einbruch in die Villa gegeben hat. Erzählen Sie aber niemandem, dass im Keller zwei Leichen gefunden wurden. Die Polizei wird sich auch bemühen, dass der Fall solange als möglich nicht in die Zeitung kommt. Das könnte die Ermittlungen erschweren. Auch möchten wir nicht, dass die jetzigen Besitzer von dem schrecklichen Fund erfahren, bevor sie in der nächsten Woche aus den USA zurückkehren. Das würde sie unnötig beunruhigen.“

Vor der Villa wandte sich Hermanek an Herta Stumvoll, die ihn nach draußen begleitet hatte: „Ich möchte nicht, dass sich die Piebers und die Dworzaks vor deren Einvernahme treffen und verständigen können. Ruf daher gleich bei den Dworzaks an, erkläre ihnen, dass wir ihnen wegen eines Einbruches in die Villa einige Fragen stellen wollen und biete ihnen an, dass du sie mit dem Wagen herauf holst, damit es schneller geht. Sollten die Piebers dann noch da sein, bleib mit den Dworzaks zunächst noch im Auto und nimm ihre Personalien auf. Sobald die Piebers weg sind, holen wir Euch herein.“

„Mach ich sofort.“ sagte Herta Stumvoll und rief bei den Dworzaks an. Nach einem kurzen Telefongespräch, setzte sie sich in ihren Wagen, mit dem sie in der Früh gekommen war, und holte Herrn und Frau Dworzak im Kahlenbergerdorf ab.