BIRGIT WEIDT

DAS LÄCHELN
DER
VERGANGENHEIT

EINE ENTDECKUNGSREISE
ZU DEN UREINWOHNERN
NEUKALEDONIENS

1. Auflage 2018

© 2018 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Herburg Weiland, München

Titelfoto: Ariel Fuchs/Gamma-Rapho/Laif

Innenteilfotos: Birgit Weidt

Karten: Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

eISBN 978-3-6164-9154-7

www.dumontreise.de

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Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung,
die der Reisende nicht ahnt.

MARTIN BUBER, PHILOSOPH (1878–1965)

INHALT

1Das Nizza der Südsee

2Der Stamm von Bergé

3Dem Häuptling schaut man nicht in die Augen

4Die rote Zunge

5Diener der Rede

6Der hellste Mond seit 68 Jahren

7Vom Diesseits ins Jenseits und zurück

8Begegnung mit einer kanakischen Businessfrau

9Das sonderbare Leben der Papageienfische

10Weibliches Taroblatt und männliche Yamswurzel

11Dem Himmel so nah

12Grüne Kalender mit Stiel und Blättern

13Zahlen mit Muschelgeld

14Vom Versuch, Kava zu trinken und den Nickelabbau zu verstehen

15Warum Inseln Hüte tragen

16René und die Fahrt ins Unendliche

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Epilog

Mein Weltreise-Menü

Über die Autorin

1

Das Nizza der Südsee

Die schmale Holztür der kleinen Familienpension quietscht beim Öffnen, ich stoße sie mit einem kräftigen Ruck auf und trete hinaus in einen wunderbar hellen, wolkenlosen Tag. Ich kneife die Augen zusammen, geblendet vom gleißenden Sonnenlicht, das mich langsam munter werden lässt. Ein Glück, denn um den Schlaf stand es die letzte Nacht schlecht. Es war eher ein Dösen und Dämmern, ein langes Warten auf den Morgen, diesen ersten Morgen, an dem ich sicher sein konnte: Es ist nicht mehr Traum, es ist Wirklichkeit. Ich bin hier, hier in Nouméa, Neukaledonien.

Genussvoll strecke ich die Arme aus. Ganz weit zu beiden Seiten, so als würde ich die Stadt umarmen. Dann eile ich die schmale Straße zum Meer hinunter, mit Herzklopfen, als würde unten am Ozean ein heiß ersehnter Liebhaber auf mich warten.

Links und rechts auf der Straße werfen Palmen und Pinienbäume lange Schatten auf die enge Uferpromenade der Bucht Anse Vata. Ein paar Jogger mit Kopfhörern über dem Stirnband überholen mich. Dem jungen Mann, der mir entgegenkommt und völlig versunken in sein Smartphone tippt, weiche ich bewusst nicht aus. Mal sehen, ob er nach vorne schaut und mich dann doch bemerkt. Tut er nicht und rennt mir direkt in die Arme. »Pardon! Ça va, toi?«, entschuldigt sich der Kerl, der aussieht wie ein Sumo-Ringer. Ich nicke, der Arme kann ja nicht wissen, dass ich ihn willkürlich auflaufen ließ, weil ich wissen möchte, ob hier genauso Französisch gesprochen wird wie in Paris oder Marseille. O ja, genauso. Nur etwas härter in der Aussprache und weniger melodiös. Wie wunderbar. Frankreich also! In der Südsee.

Ich beteuere noch einmal, dass mir nichts weh tut, nur um zu reden, zu plappern, in dieser für mich wunderschönen Sprache. Der Sumo-Ringer ist erleichtert, klopft mit seiner Pranke auf meine Schulter und wünscht mir einen »Bonne Journée«. Dann setzt er sich flugs wieder in Bewegung, um seine offenbar unvollendete Nachricht beenden zu können.

Auf der Wiese hinter der Uferpromenade drapiert ein Fotograf das schneeweiße Hochzeitskleid einer japanischen Braut. Tritt ein paar Schritte zurück, knipst, läuft dann wieder auf sie zu, um den verrutschten Saum glatt zu ziehen. Zippelt noch etwas herum und knipst weiter. Der Bräutigam sitzt schläfrig auf einer Bank daneben und schaut zu, wie das Wassertaxi geschmückt wird, das beide Familien und die ganze feine Gesellschaft später zur gegenüberliegenden Île aux Canards bringen wird.

Am Ende der Promenade öffnet eine junge Frau im bunten Rock die Fensterläden des gelb gestrichenen Eistee-Bistros. Es ist zehn Uhr, die Stadt erwacht. Wer zur Arbeit muss, setzt sich gemächlich in Bewegung, denn es verspricht ein heißer Tag zu werden. Schon jetzt spüre ich, wie mit jeder weiteren halben Stunde die Sonne an Kraft gewinnt und brennt.

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Im Anflug auf den Flughafen Tontouta bei Nouméa, der Hauptstadt Neukaledoniens, siebzehntausend Kilometer von zu Hause entfernt.

Ich drehe mich um und schaue auf die Silhouette der Stadt. Beim Landeanflug gestern musste ich an Nizza denken. Auf den ersten Blick ähnelt Nouméa der südfranzösischen Stadt: die Lage am Meer, die vielen weißen Häuser. Nun scheint es mir, dass die Südseemetropole mit ihren knapp 90.000 Einwohnern zwar weit weniger bevölkert ist als Nizza, sich jedoch ähnlich nach Glamour, Prunk und Luxus sehnt und ebenso genüsslich das süße Laissez-faire feiert. Der auffälligste Unterschied hier sind die vielen Japaner in den schicken Läden, teuren Restaurants und am feinsandigen Strand. Sie scheinen ausgesprochen gerne hierher zu kommen, zum Shoppen, Schlendern und Heiraten. Nun ja, Tokio ist lediglich neun Flugstunden von Nouméa entfernt.

Nouméa ist nicht typisch für Neukaledonien. Vom Wohlstand her nicht, auch nicht in Bezug auf die Bevölkerung, denn generell sind die Einwohner der Inselgruppe ein sehr gemischtes Volk. Ihre Vorfahren kamen von den Inseln Melanesiens und Polynesiens, aber auch aus Frankreich. Die Nachfahren der französischen Siedler, caldoches genannt, haben sich zumeist in der Hauptstadt niedergelassen und bestimmen das Straßenbild. Die der Ureinwohner findet man vorwiegend außerhalb von Nouméa: malaiische Wangenknochen, vietnamesische Augen, polynesische Pausbacken, olivfarbene Haut der Tahitianer, stattliche Köpfe der Menschen von der nahen Inselgruppe Wallis et Futuna, Kraushaar der Eingeborenen von Vanuatu. Sie leben auf Grande Terre, der Hauptinsel, die 400 Kilometer lang und doppelt so groß wie Korsika ist. Und sie bevölkern auch die vorgelagerten Inseln Ouvéa, Lifou, Maré, Bélep und Île des Pins. Neukaledonien ist eine recht große Inselgruppe, mit lediglich 280.000 Einwohnern dünn besiedelt.

Eigentlich will ich mich treiben lassen, von einem Moment zum nächsten entscheiden, was ich sehen möchte, was ich tun werde, worauf ich Lust habe. Doch gerade fühle ich mich etwas orientierungslos und merke, dass mir für den Anfang ein Plan gut täte. Ein Plan eben, den ich auch nach Belieben verändern und verwerfen kann, ein Plan als Richtschnur für den Anfang dieses Tages.

Ich suche das nächste Café in der nahegelegenen Neubausiedlung auf, schiebe meinen olivgrünen Rucksack unter den flachen Tisch und mache es mir auf dem rot-weiß gestreiften Liegestuhl bequem. Es ist herrlich, draußen im Schatten zu sitzen und nichts tun zu müssen. Ich bestelle einen Cappuccino und zwei Schokocroissants und ziehe die Nouvelles Calédoniennes unter der mit Muscheln bestückten Menükarte hervor.

Die Titelseite: ein großes Foto von einem eindrucksvollen Blitz über dem Hafen der Hauptstadt. Es gab also ein heftiges Gewitter vor meiner Ankunft, das heute nun von allen Seiten beleuchtet wird. Wie es entstand, welche Wetterlage dazu führte, warum zwei Radfahrer leicht verletzt wurden, wie man das hätte verhindern können, worauf zu achten ist bei Naturereignissen. Ein Experte von Météofrance und ein Fischer vom Hafen schildern ihre Eindrücke, wie sie das Unwetter erlebt hatten. Fast könnte man meinen, es wäre das erste Gewitter in der neukaledonischen Geschichte. Na klar, es hat hier jeder miterlebt, und eine Ausgabe mit einem so aktuellen Thema verkauft sich nun mal gut.

Ich blättere weiter: Neuigkeiten aus Nouméa und Umgebung. Es folgen der Süden, der Norden und die vier vorgelagerten Inseln: Lifou, Ouvéa, Maré, Tiga, die sogenannten Loyalitätsinseln. Danach die Sportseiten, anschließend Nachrichten aus dem Pazifik, spärliche Informationen aus Frankreich und der Welt. Europa ist viel zu weit weg, als dass eine Berichterstattung von Bedeutung wäre. Dafür belegen Horoskop, Wetter, Anzeigen, Fernsehprogramm sehr viele Seiten der Zeitung. Ich überfliege die Überschriften und warte darauf, irgendwo mit meiner Aufmerksamkeit hängen zu bleiben. Nichts.

Ich beginne noch einmal von vorn mit dem Durchblättern. Meine Konzentration ist nicht die Beste nach einer schlaflosen Nacht aufgrund der Zeitverschiebung, elf Stunden immerhin. Ich versuche meine Aufmerksamkeit etwas mehr zu fokussieren. Der Süden: Le Parc des Grandes Fougères enthüllt seine Geheimnisse. Der Norden: Das Filmfestival Ânûû-rû Âboro wird vorbereitet. Ich kann mit keinem Namen, keiner Information etwas anfangen. Macht nichts, Ânûû-rû Âboro klingt spannend. Das Festival wird in ein paar Wochen stattfinden, ich nehme mir vor, dann dort zu sein, die Stadt muss ich mir später notieren. Dann lese ich, dass sich in Koné Frauen aus verschiedenen Stämmen zum Flechten treffen.

Ich ziehe meine Inselkarte aus dem Rucksack und finde Koné auf Anhieb. Es liegt nördlich von Nouméa. Aber wie komme ich dorthin? Auf einen Mietwagen habe ich keine Lust. Ob es Busse gibt? Oder soll ich trampen? Einen Versuch wäre es wert. Ich schaue mich um und entdecke gegenüber vom Café einen Parkplatz. Und wenn es nicht klappt und ich mir Stunden lang die Beine in den Bauch stehe? Ach, einfach mal probieren.

Ich hole mein Reiseportemonnaie mit den frisch getauschten Pazifischen Francs aus meiner Umhängetasche und ziehe für mein kleines Frühstück einen 1000er-Schein heraus, der ungefähr acht Euro entspricht: »CFP, Institut d’émission d’outre-mer, République Française« entziffere ich und sehe mir die Abbildungen an: eine dicke große Schildkröte auf der einen und ein taubenähnlicher Vogel auf der anderen Seite. Der schlaksige Barista sieht das Geld in meiner Hand und kommt abkassieren.

»Was ist das für ein Vogel?«, frage ich und halte ihm den bunten Schein hin. Der Mann setzt seine Brille auf und gesteht, dass er sich noch nie so genau angeschaut hat, was da abgebildet ist, obwohl er natürlich jeden Tag eine Menge Scheine in der Hand hält.

»Wo kommst du her?«, hakt er nach.

»Aus Berlin.«

»Weißt du denn, was auf einem Zehn-Euro-Schein zu sehen ist?«

Ich überlege kurz und muss passen. »Keine Ahnung, da müsste ich auch erst nachsehen!« Fingere aus meinem Portemonnaie einen Zehner heraus, ach ja, der rote Torbogen einer Kirche und auf der Rückseite eine Brücke.

Er schmunzelt, wir lachen und schlagen die Handflächen aufeinander. »Top! Da sind wir wohl quitt, was das angeht!«, sagt der Barista und schaut sich nun den 1000er-CFP-Schein genauer an: »Ah, das ist der Kagu. Ein einheimischer Vogel. Der war fast mal ausgestorben, wurde aber unter Naturschutz gestellt und hat sich wieder fleißig vermehrt. Er ist scheu, flugunfähig und kaum größer als ein Huhn. Aber er ist heilig. Mit seinen Federn werden Häuptlingsmasken verziert, und sein bellender Ruf wird in allen großen Zeremonien nachgeahmt. Größere Scharen findest du bei uns im Süden, im Parc de la Rivière Bleue. Und einige gibt es auch in Deutschland!«

»Du willst mich auf die Schippe nehmen«, entgegne ich. Er grinst: »Wirklich, das habe ich im Radio gehört, es gibt bei euch einen Vogelzoo.«

Ich aktiviere mein Handy und schaue bei Google nach. Tatsächlich, in Walsrode in der Lüneburger Heide, dem größten Vogelpark der Welt, ist es gelungen, den Kagu zu züchten.

»Du kennst den Park nicht? Warst noch nie in Waaaalzroootte?«

»Nein«, erwidere ich. »Aber das kann sich ja noch ändern. Wals-rode liegt ja nur etwa drei Autostunden von Berlin entfernt.«

»Und weißt du, was das Besondere ist?« Ich schüttle den Kopf. »Kagus leben absolut monogam. Ich nicht«, er blinzelt mich herausfordernd an und schreibt mir seine Handynummer auf den Kassenbon. Sie besteht aus sechs Zahlen. »Hier könnte ich mir jede Telefonnummer schnell merken«, sage ich mehr zu mir als zu ihm. Um ihn zu beeindrucken, kritzle ich meine elfstellige Ziffernreihe auf den oberen Zeitungsrand der Nouvelles Calédoniennes, den er sich sofort abreißt und in seine Hosentasche steckt. Dann zwinkert er mir zu und trollt sich.

Mal sehen, vielleicht möchte ich am Ende meiner Reise den Kagu-Barista-Mann wiedertreffen. Aber bis ich wieder in Nouméa bin, werden viele, viele Wochen vergehen. Ein Segen, so viel Zeit vor mir zu haben! Ich blinzel in die Sonne und hänge meinen Gedanken nach.

Als ich noch ein Kind war, schenkte mir mein Großvater eine Maske aus Holz. Meine Großeltern, die ich gelegentlich besuchte, besaßen kein Spielzeug. Als ich nach einer Puppe zum Spielen fragte, gab mein Großvater mir das für mich fremdartige Gebilde. »Pass gut auf, damit du nichts kaputt machst. Diese Puppe kommt von weit her, aus Neukaledonien.«

Mein Großvater ließ mich nachsprechen: Neu-kale-do-nien. Ich sollte mir diesen sperrigen Ländernamen merken. Diese »Puppe« war eine Maske, sein Schutzengel. Er nannte sie Tatuta. Mit ihr in der Tasche hatte er zwei Weltkriege überlebt.

Was mir mein Großvater damals noch erzählt hatte, daran erinnere ich mich kaum noch. Nur so viel blieb hängen: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er als Missionar nach Samoa geschickt, eine Pazifikinsel, die bis 1914 deutsche Kolonie war. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, musste er nach Deutschland zurück, doch weil er krank wurde, landete er zunächst auf Neukaledonien. Ein Heiler, der ihn pflegte, gab ihm diese Maske als Talisman, sie sollte für Gesundheit und ein langes Leben sorgen.

»So weit weg warst du!«, staunte ich damals.

»Ja, schon. Aber für mich war Neukaledonien nicht das Ende, sondern der Anfang der Welt.« Obwohl ich nicht ganz verstand, was er damit meinte, klang das fantastisch. Ich fand es nie abenteuerlich, sondern eher schrecklich, wenn jemand erzählte, dass er davon träumte, ans Ende der Welt zu reisen. Dorthin wollte ich nie, mich reizte es, zum Anfang der Welt zu fahren. Und ich wusste, dass es DORT sein würde, dort, wo diese Maske her kam.

»Was wäre«, fragte ich meinen Großvater, »wenn wir die Erde anhalten und sie anders herum drehen? Dann käme Neukaledonien zu uns.«

Mein Großvater lachte: »Weißt du, was passieren würde, wenn die Erde ihre Richtung wechselt? Stell dir vor, du sitzt in einem Auto, das eine Vollbremsung macht, um rückwärts zu fahren. Alles ruckt nach vorne, alles fliegt durcheinander. So wäre es dann auch auf der Erde: Bäume, Fahrzeuge, Gebäude würden weggerissen und unter heftigen Stürmen durcheinandergewirbelt. Es hat einen Grund, warum die Erde die Richtung nicht wechselt. Wahrscheinlich haben alle Planeten genau den gleichen Dreh wie unsere Erde.«

Als ich herausfand, dass Venus und Uranus entgegengesetzt um ihre eigene Achse rotieren und ich es meinem Großvater erzählen wollte, war er eingeschlafen. Für immer.

Vor dem Café befindet sich der größte Parkplatz weit und breit: Zehn Autos stehen dort. Wenig Chancen, hier jemanden zu treffen, der mich mitnehmen kann. Dafür ist der Ausblick auf das Meer grandios. Da wäre selbst ein mehrstündiges Warten gut auszuhalten, unter einem Filao, einem Nadelbaum, der mich an die europäische Lärche erinnert. Von den langen, feinen Nadeln tropfen Wasserperlen auf meine Arme und kullern kitzelnd herab.

Mein Blick schweift über den Ozean. Am Ufer ist das Wasser türkis und durchsichtig bis zum sandigen Grund, zum Horizont hin wechselt es ins Tiefblaue, Dunkle und Geheimnisvolle. Ein paar Segelboote, ein paar Schiffe ziehen ihre Bahnen. Ich drehe mich zu den zehn weißen Autos und sehe einen älteren, gutaussehenden Herrn in hellgrauem Leinenanzug auf einen Peugeot zusteuern. Dann folgt das Klicken der automatischen Türentriegelung, die Rücklichter blinken. Ich springe auf und eile zu ihm.

»Guten Morgen! Entschuldigung, hätten Sie noch Platz, mich ein Stück mitzunehmen?«

»Wohin?«

»Nach Koné«, sage ich lässig, als seien mir sämtliche Ortsnamen geläufig und als würde ich in Koné dringend erwartet. Koné, der Ort, von dem ich noch nie gehört hatte, bevor ich die Tageszeitung las.

»Ich fahre nach La Foa, doch das ist genau die Richtung. Steigen Sie ein.«

Somit sitze ich nach zwanzig Minuten Warten bequem in einem nagelneuen Peugeot Traveller, in dem gut neun Personen Platz hätten. Ein bisschen wundere ich mich, mit welcher Selbstverständlichkeit ich eingestiegen bin. Mein inneres Kontrollsystem vollzieht nun doch ein kurzes Check-up: Ist der Fremde eventuell unberechenbar und komme ich sonst wo an, nur nicht in Koné beziehungsweise La Foa? Ich werfe einen verstohlenen Blick auf ihn. Wissen kann ich es nicht, aber mein Bauchgefühl, auf das ich mich bislang immer verlassen konnte und das ein guter Navigator auf meinen Reisen ist, gibt Entwarnung. Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken, vielleicht ist Trampen angesichts der komplizierten Busverbindungen hinaus aufs Land in Neukaledonien nichts Ungewöhnliches – so schnell, wie ich wegkam, gleich beim ersten Versuch!

Ich mustere den Fahrer, eine imposante Erscheinung: große braune Augen, breite Nase, das Kinn kantig, kurz geschorene Haare. Wenn er lächelt, kneift er die Augen zusammen, entblößt seine makellosen weißen Zähne, und auf den Wangen zeichnen sich zwei kleine Grübchen ab. Ich schätze ihn auf Mitte sechzig.

Die Straßen sind fast leer. Ab und zu kommt uns ein Auto entgegen, die Fahrer heben die linke Hand vom Lenkrad, grüßen, nicken einander zu, so wie ich es in Berlin von Busfahrern gleicher Linien kenne. Dann dauert es wieder viele, viele Minuten, bis erneut ein Auto auftaucht. Die Landschaft ist abwechslungsreich: tiefdunkle Wälder, Haine mit Obstgärten, große Kaffeeplantagen, dann kleinere Täler, reißende Flüsse und Steppenlandschaft mit weidenden Rinderherden.

Der Mann neben mir ist wortkarg, ein Gespräch kommt nur schleppend zustande. Doch es stellt sich peu à peu heraus, dass dieser Gentleman in hellgrauem Leinenanzug und weißem Hemd ein Stammeshäuptling ist. Vom Stamm in Couli, bei La Foa. Meine erste Begegnung mit einem Häuptling hätte ich mir aufregender, abenteuerlicher vorgestellt, nicht so banal in einem nagelneuen, blank polierten Auto. Egal, ich war vor allem froh voranzukommen.

Ich krame meine Landkarte hervor, um dieses Couli zu suchen. »Petit-Couli oder Grand-Couli, Monsieur?«, frage ich.

»Petit. Ich heiße übrigens Bergé Kawa. Doch nennen Sie mich bitte nicht bei meinem Namen«, fügt er hinzu. »Es genügt, wenn Sie mich Mann aus Couli nennen. Das ist mir lieber.«

Diesen Gefallen kann ich ihm gerne tun, doch ich wüsste nur allzu gerne, warum er Wert darauf legt.

»Das ist so Sitte bei uns.«

Eine dürftige Auskunft. »Was heißt: bei uns?

»Bei uns, das sind unsere Dörfer: Couli, Tonne und Sarraméa. Sehen Sie, Couli liegt hier, zwischen La Foa und Kouaoua.« Ohne den Blick von der Straße zu wenden, deutet er genau auf die Gegend seines Heimatortes. Auf seiner voluminösen, schwieligen Hand entdecke ich eine verblasste Tätowierung, eine Art Kreuz, das sich über den ganzen Handrücken zieht. Tätowierungen, habe ich gelesen, sind ein Privileg der Männer, sie dokumentieren die Kaste, die finanzielle Situation. Sie sind so etwas wie ein Wappenschild, gleichzeitig auch eine Zierde, wie ein gut sitzender Anzug. Nur dass die Tätowierungsprozedur schmerzhafter ist als die Anprobe von Hose und Jacke. Da wir gerade mal eine halbe Stunde zusammen im Auto fahren, verbietet es mir der Respekt, ihn jetzt darauf anzusprechen. Ich hoffe, dass ich später dazu noch Gelegenheit finde.

Ich strecke meinen rechten Arm aus dem heruntergelassenen Fenster, spreize die Finger, so als wolle ich den Wind einfangen. Was erwartet mich? Wo werde ich heute sein? Wie wird der Tag zu Ende gehen?

Nouméa liegt weit hinter uns, der Häuptling gibt Gas, gelinde gesagt, er rast. Ich fühle mich frei, genieße die vorbeiziehende Landschaft, grüne Wiesen, am Horizont die Berge. Darüber ein weiter Himmel, dünne Federwolken. Musik aus dem Autoradio, Océane FM. Bergé dreht auf. Reggae, nicht Bob Marley, irgendwie anders, ich nenne es vorläufig Südsee-Reggae.

Wir passieren Boulouparis, dann La Foa. Vor dem holzgeschnitzten Ortsschild Petit-Couli hält er und schaut zu mir hinüber. »Und nun, Madame?«

Zwar will ich nach Koné, zum Frauentreff, doch Bergé macht mich neugierig. Gern würde ich ihn näher kennenlernen. Ob ich seinen Stamm besuchen dürfte?

»Nein, Madame. Wir haben keine Zeit, Gäste zu empfangen.«

Ich lasse nicht locker, versuche es mit dem Argument, dass ich eine weite Reise angetreten habe, um das Leben in Neukaledonien kennenzulernen.

»Das ehrt Sie, aber die Reise von Nouméa hierher ist wahrlich nicht weit«, entgegnet er.

»Ich meine die Reise von Deutschland hierher.«

Bergé sieht mich überrascht an. Dann zieht ein freundliches Lächeln über sein Gesicht. »Von so weit her kommen Sie? Oh, da möchte ich Sie nicht enttäuschen, Madame. Sie sind natürlich willkommen in Couli.«

Dieser Stimmungsumschwung kommt für mich völlig unerwartet.

»Die Einwohner meines Stammes werden Ihnen respektvoll begegnen, wenn ich es möchte.«

»Was heißt das?« frage ich mit trockener Kehle, und mein Warnsystem ist kurz davor anzuspringen.

»Einst ging es bei uns viel strenger zu, müssen Sie wissen. Zu Zeiten meines Großvaters durfte zum Beispiel niemand einfach so mit einem Häuptling sprechen und ihm direkt in die Augen sehen. Man konnte sich ihm nur mit geneigtem Kopf nähern, und nur, wenn das Anliegen des Treffens vorher bewilligt worden war. Heute ist es nicht mehr ganz so streng. Und außerhalb des Stammes bin ich ein Mensch wie jeder andere.« Dann macht er eine kurze Pause und holt tief Luft: »In Couli jedoch«, fügt er mit fester Stimme hinzu, »bin ich der Chef.«

»Woran sehe ich das? Ich habe Sie auf dem Parkplatz für einen Manager gehalten, so edel sehen Sie aus!«

»Kleidung, die beeindruckt, kann doch jeder tragen. Das entspricht wohl eher Ihrem westlichen Denken! Ich aber besitze die Prunkaxt. Die habe nur ich als Führer meines Stammes, sie hebt mich von den anderen ab. Es ist die des vorherigen Chefs, die meines Großvaters, es ist die Ndi-ongo. Eine Häuptlingsaxt mit einer Grünsteinscheibe und einem Griff, der mit Nde-re, rot gefärbter Fledermaushaarschnur umwickelt ist. Ndi-ongo gibt mir die Macht.«

Ich zeige mich beeindruckt und erkundige mich, warum Bergé, pardon, der Mann aus Couli, in Nouméa war. Was macht ein Häuptling in der Hauptstadt?

»Ich muss meinen Sohn im Gymnasium anmelden. Und eine Unterkunft besorgen, nun ja, möglicherweise kann er beim Pfarrer wohnen. Den kenne ich gut.«

Ich stutze und frage, ob er getauft wurde und ob er Christ sei.

»Getauft ja, Christ nein. Ich richte mich lieber nach dem Zauber und den Ritualen unserer Ahnen. Viele halten das so. Schwer zu verstehen, wenn man nicht von hier ist, nicht wahr? Doch leider musste ich aus Nouméa vorzeitig abreisen.«

»Warum das?«

»Sie haben sicher etwas Einfühlungsvermögen. Jedenfalls – ich hatte im Haus des Freundes, bei dem ich übernachtete, eine Maus gesehen.«

Dass Bergé sich vor Mäusen fürchtet, hätte ich nicht erwartet. Deshalb hatte er die Flucht ergriffen?

»Es war keine gewöhnliche Maus, sondern eine verkörperte Seele unserer Vorfahren, die Unglück verkündet. Ich hatte sogleich Sorge, dass jemand in meiner Familie erkrankt ist, und darum wollte ich sofort nach Couli zurück.«

»Das tut mir leid. Ich hoffe, dass alle gesund sind!«

Der Häuptling bedankt sich für meine guten Wünsche, wirkt plötzlich zugänglicher und meint, dass er sich trotz der Sorge um seine Familie noch ein klein wenig Zeit für mich nehmen würde: »Ich zeige Ihnen noch etwas Schönes, nämlich die Anhöhe des Col de Petchécara. Es ist nicht weit.«

Wir fahren über trockene, rote Erde bergauf. Kleine Steine knirschen unter den Wagenrädern. Dann hält Bergé an, wir laufen noch ein kleines Stück zwischen dichten Bäumen entlang. Dann plötzlich öffnet sich der Wald und gibt eine atemberaubende Sicht über den Ozean frei, der sich unter der Bergkuppe, auf der wir uns befinden, weit, weit in der Ferne ausbreitet. Eine scharfe Linie am Horizont trennt das Meer vom Himmel, und vor dieser Linie liegen wie Maulwurfshügel die Loyalitätsinseln. O ja, da möchte ich auch noch hin!

»Geht es dir auch so, dass dir die Welt größer erscheint, wenn du das Meer siehst?« Bergé duzt mich nun, ich deute das als ein Zeichen von Vertrauen. »Mehr noch«, spinne ich den Gedanken weiter, »ich habe das Gefühl, das Meer weitet die Welt und teilt die Zeit.«

Bergé legt den Kopf leicht zur Seite, hebt die buschigen Augenbrauen und kneift leicht die Augen zu. »Ja, am Meer hört immer etwas auf und fängt was Neues an.« Ich muss loslachen, es klingt ein bisschen wirr, doch ich bin froh zu lachen, denn das Lachen erlöst mich, nimmt mir die Anspannung, die Unsicherheit, hier in der Fremde, neben diesem unbekannten Mann, den ich langsam sympathisch finde.

Er klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. »Genieß den Ausblick! Nachher bringe ich dich zu Florence, da kannst du die Nacht bleiben. Sie ist eine Freundin meiner Familie. Morgen hole ich dich ab, und wenn nichts Schlimmes passiert ist bei mir zu Hause, bist du willkommen im tribu, im Stamm.« Er zückt sein Handy und schreibt ein texto, eine SMS, die mich bei der Freundin ankündigen soll.

Florence kommt uns winkend entgegen. Bergé begrüßt sie herzlich und entschwindet, ohne sich von mir zu verabschieden, so als habe er seine Pflicht getan und könne nun endlich zu Hause nachsehen, was passiert ist, – welche Botschaft die vorbeiflitzende Maus aus Nouméa überbringen sollte. Florence, eine kleine Frau mit einem gütigen Gesicht, hakt mich unter und führt mich zu einem Holzhäuschen, am Eingang ein Schild: Le Refuge. Was so viel wie Zufluchtsstätte bedeutet.

Mitten im Raum steht ein Bett als Blickfang, ein Lattenrost auf vier klobigen Baumstämmen, darauf eine Matratze mit einer dünnen Baumwolldecke. Daneben ein Stuhl mit runder Lehne. Ich lasse meinen Rucksack von der Schulter gleiten. »Danke, dass ich hier übernachten darf.« Am liebsten würde ich mich gleich auf das Bett legen, doch ich fürchte, sofort einzuschlafen, später aber hungrig wie ein Wolf aufzuwachen und nicht zu wissen, wo ich etwas zum Essen bekomme. »Gibt es in der Nähe ein Bistro?«

»Wozu das? Du bist unser Gast! Komm.«

Auf der überdachten Veranda des Anwesens deckt Florence den Tisch. Ihr Mann, der gerade vom Feld kam, sieht müde aus. An den zerkratzten Lederschuhen kleben feuchte Erdklumpen, die er abklopft. Schließlich schüttelt der untersetzte, pausbäckige Mann mir freundlich die Hand und wendet sich seinen Kindern zu, drei Jungs zwischen fünf und neun, die nicht zu bändigen sind. Sie quietschen und kreischen, rutschen unruhig auf ihren Stühlen hin und her, springen auf, setzen sich wieder und warten eigentlich nur darauf, weiter spielen zu dürfen, da für sie das Abendessen eine lästige Unterbrechung mitten in ihrem Abenteuer ist. Der Hunger ließe sich offenbar noch ertragen, nicht aber die Unterbrechung des erfundenen Spiels, zu dem Erwachsene keinen Zugang haben. Doch sie müssen sich fügen, der Vater haut mit der flachen Hand auf den Tisch: »Arrêtez. Silence!«

Es gibt Süßkartoffeln, in einer großen Glasschale angerichtet, dazu Kochbananen, grüne Bohnen, und auf einem länglichen Brett liegt eine gegrillte Dorade. In einer Keramikschale an der Seite des Tisches steht als Nachtisch ein Kokoskuchen. Ich bin viel zu erschöpft, um zu reden, und will nach dem Essen schnellstmöglich in mein Zimmer verschwinden. Florence reicht mir noch ein Bier: »Hier, damit schläfst du gut!« Dann folgt eine Warnung: »Übrigens, nachts darfst du nicht raus und in den Wald gehen! Da verstecken sich Kobolde, die in der Dunkelheit Schabernack treiben.« Ich unterdrücke ein Lächeln und beruhige sie, denn ich habe nicht vor, Le Refuge zu verlassen und eventuell noch auf Kobolde zu treffen. Allerdings würde ich allzu gerne wissen, wie die Kobolde aussehen, doch als ich mich danach erkundigen will, ist Florence mit ihrem Mann in der Küche verschwunden. Und selbst die Jungs, die mir sicher hätten Auskunft geben können, schnellen in diesem Augenblick wie Raketen von ihren Stühlen hoch und rennen in den Garten.

Ich ziehe meine Sandalen aus und beginne langsam mit den Fußsohlen über das stoppelige Gras zu streifen, mit weit schwingenden Bewegungen, sodass es kitzelt. Dann laufe ich hinüber zu meiner Hütte, jeden Schritt ganz bewusst aufsetzend, staksend wie ein Storch. Eine Wonne.

Es ist nun still, ganz still. Ein Hauch von würzigem Holzfeuer liegt in der noch warmen, feuchten Luft. Hinter meinem Refuge beginnt der Wald mit dicht beieinanderstehenden, mir völlig unbekannten hohen Bäumen und Zypressen, die in der Finsternis aussehen wie Giraffen mit verdrehten Hälsen oder Flamingos mit riesigen, geschwungenen Schnäbeln. Das ist alles nicht wirklich furchteinflößend, aber doch ein bisschen schaurig, gespenstisch, und heizt die Phantasie an. Schon vorstellbar, dass da auch Kobolde aus dem Dickicht hervorspringen könnten. Auch ohne Kobold-Saga würde ich es nicht wagen, jetzt in den Wald zu gehen, obwohl es in Neukaledonien keine giftigen oder gefährlichen Tiere gibt. Ich hätte Angst, mich zu verlaufen – um meine Orientierung war es noch nie besonders gut bestellt.

Ich schaue weiter in den tiefschwarzen Wald, in diese märchenhafte Geisterkulisse, und plötzlich schiebt sich klar und schön ein runder Mond dahinter hervor.

Da fällt mir die Geschichte von dem Jungen ein, der mit seinem Fahrrad in der Dunkelheit unterwegs war und sich immer wieder umdrehte, um den Mond zu sehen. Nach einer Weile schlussfolgerte er, dass der Mond ihm folgen würde, wahrscheinlich, um ihn zu beschützen. Doch fragte sich der Kleine, woher der Mond am Himmel wisse, wo er wohnt. Als er schließlich zu Hause angekommen in sein Bettchen kroch, sah er ihn in sein Fenster scheinen und war sich sicher, dass er ganz allein nur in sein Fenster schaute und nirgendwo anders hinein. Ich glaube, ich werde immer fasziniert zu dem Dicken nach oben schauen und mich an seinem Schein erfreuen.

Nachdem ich lange durch das weiche Gras gelaufen bin, setze ich mich auf einen Baumstumpf vor dem Haus und spüre, wie erschöpft ich bin. So oft ich auch unterwegs bin, auf jeder Reise unterschätze ich, dass es Zeit braucht, um wirklich anzukommen, auch wenn man schon da ist. Ich spüre einen leichten Druck an den Schläfen. Nun erst fühle ich, wie es in mir pocht, alles in mir ist darauf ausgerichtet, sich der neuen Umgebung anzupassen, all die Eindrücke aufzunehmen, obwohl noch nicht klar ist, wie sie einzuordnen sind.

Es überfällt mich eine Müdigkeit, die mich jedoch noch nicht in den ersehnten Schlaf entlässt. Die Gedanken kreisen und kreisen, zu viel Neues, Unbekanntes muss verarbeitet werden. Ich fühle mich schutzlos, als wäre meine Haut dünn wie Pergament. Eine zum Zerreißen gespannte Aufmerksamkeit durchzieht mich, die erst mit der Zeit abnehmen wird, wenn Blicke, Worte, Gesten, Bilder sich wiederholen und ich das Geschehene besser verstehen kann und sich nach und nach eine gewisse Vertrautheit einstellt. Noch weiß ich nicht, was der morgige Tag bringt, wohin ich fahre, wer mir begegnet, wie ich mich fühlen werde. Als ich mich auf meine Matratze sinken lasse, die dünne Decke zur Nasenspitze ziehe, falle ich sofort in einen tiefen Schlaf und träume, dass die Zeit wie kleine Wimpelfähnchen aussieht, die ich zum Trocknen auf die Wäscheleine aufhänge.

Als der Morgen graut, bin ich sofort munter, springe aus dem Bett, trete hinaus und sehe vor der Hütte den kleinen Holztisch gedeckt, ein Tablett mit einer Thermoskanne Kaffee, einem getoasteten Baguette, etwas Butter, Ananaskonfitüre, dazu Litschis. Während ich die harte Schale der roten Früchte abpule, um das saftige, weiße Fruchtfleisch freizulegen, sehe ich Bergé durch den Wald auf mich zukommen.

»Es war unhöflich von mir, mich gestern so schnell zu entfernen«, begrüßt er mich. »Ich war sehr unruhig und tatsächlich, mein Neffe ist erkrankt. Die Maus in Nouméa gab mir dafür ein Zeichen.«

Ich drücke mein Bedauern aus und wünsche dem Jungen rasche Genesung.

»Es ist nicht so schlimm, wie ich vermutet habe, lediglich eine Überlastung. Der Kleine braucht Ruhe, seine Seele ist wund.« Dann hält er kurz inne: »Wenn ich Seele sage, meine ich keine Seele in dem Sinne, wie du das Wort möglicherweise gebrauchst. Aber immerhin ist Seele noch die beste Übersetzung für unser Wort wi. Ein wi ist etwas Lebendes, nicht flüchtig und nicht vergänglich.«

Bergé versucht mir zu erklären, dass man in der Tradition seines Stammes unter wi eine Doppelgängerseele meint, die ihre Gestalt wechseln kann, sodass sie bisweilen auch als Tier erscheint. Und sie kann Botschaften überbringen. Wi ist die Seele der Vorfahren. Sie wird jedem von uns in seiner Kindheit gegeben. Damit kleine Kinder gedeihen, bitten Eltern den Zauberer, ihnen ein wi herbeizurufen, das von einem Ahnen stammt. So wird dem Sohn oder der Tochter eine Seele eingehaucht, die sich zum Kinde gesellt und dessen Gestalt annimmt. Nach dem Tode verlässt das wi den Körper wieder und wartet, bis es erneut gerufen wird.

»Und der Zauber bleibt unsichtbar?«, will ich wissen.

»Aber natürlich!«, entgegnet Bergé überrascht.

»Pack deine Sachen! Es wird mir eine Freude sein, dir mehr zu erzählen und dir meinen Stamm zu zeigen!«

Welch ein Glück, dass sich Bergé meiner annimmt!

2

Der Stamm von
Bergé

Wir ruckeln einen ausgefahrenen, lehmigen Weg entlang. Plötzlich tauchen mitten im Wald meterhohe Rundhütten auf. Eine Allee mit hoch gewachsenen Palmen und buschigen Nadelbäumen führt zum Eingang zweier markanter Hütten, vor denen aufeinandergestapelte, flache Steine das Terrain umzäunen. »Die beiden Häuser dort sind mein Zuhause.« sagt Bergé. »In dem einen wohne ich mit meiner Familie, und das andere ist meine Residenz. Die Bäume hier sind hundert Jahre alt, die Kiefern wurden zu Ehren der Männer, die Kokospalmen in Hochachtung unserer Frauen gepflanzt.«

Am Ende der majestätischen Allee steht eine riesige Holzfigur, ein ernst dreinblickender, grob geschnitzter Kerl mit einem überlangen Phallus, der auf dem Boden aufsitzt und mit der Erde verbunden ist. Die stilisierten Kopfhaare sind zu einem Turban geflochten, zwischen schmalen Augen hebt sich eine breite Nase ab, unter einem wulstigen Mund hängt ein dichter, langer Bart. Die Gestalt hat schmale Schultern, einen kleinen Bauchansatz und Füße, die wie die Fänge eines Adlers aussehen. »Das ist der Beschützer meines Clans. Er soll alles Übel der Welt von uns fernhalten.«

»Das könnte klappen«, witzele ich, »jeder Besucher erschrickt sich vor ihm und will auf der Stelle kehrt machen!«

Bergé geht nicht darauf ein. Entweder versteht er meine scherzhafte Anspielung nicht, oder er will sie nicht verstehen, da ihm die Sache zu ernst ist.

Neben dieser monströsen Gestalt, der ich nicht unerwartet im Dunklen gegenüberstehen möchte, ragt eine Bambusstange empor, an der rote, grüne, weiße Baumwolltücher befestigt sind. Um sie herum spielen zwei kleine Mädchen jauchzend Fangen. Die geflochtenen Zöpfe wehen im Wind und der Rocksaum der rosa Kleidchen wippt auf und nieder. Es sind Bergés Töchter, die ihrem Vater kurz zuwinken und dann auf dem lehmigen Boden mit einem Stock Linien ziehen. Die Linien fügen sich zu Kästchen, in denen sie hin- und herhüpfen, ähnlich wie ich es von Himmel und Hölle aus meiner Kindheit kenne.

»Meine Frau ist noch auf dem Feld, um Süßkartoffeln und Karotten zu ernten. Sie kommt gleich zurück und dann gibt es Mittagessen.« Bergé erzählt, dass es gut sei, wenn die Kleinen mal für sich allein sind, denn sonst werden sie ständig von Mutter und Großmutter betreut. Es wäre ein bisschen zu viel des Guten, die Kleinen hätten zu wenig Freiraum, um sich jenseits der Aufsicht der Erwachsenen auszuprobieren. Was für eine Überlegung, denke ich im Stillen. Ist es bei uns nicht eher umgekehrt, sodass die Eltern oft zu wenig Zeit für ihre Kinder haben und gerne mehr für sie da wären? Und das würde den Kindern, zumeist jedenfalls, auch gefallen.

Ich folge dem Häuptling auf der Allee bis zu seiner Residenz und schaue mir die Rundhütten, die auf der Wiese verteilt stehen, genauer an: Es sind Häuschen mit kreisrundem Grundriss und überlangen Dächern, die sich zuweilen bis fast auf den Boden erstrecken und am unteren Ende einer fransigen Ponyfrisur ähneln.Oben, aus der Spitze des zylinderförmigen Giebels, ragt ein langer Pfeil, der aus rot und weiß bemalten Holzornamenten zusammengesetzt ist.

Bergés Residenz besitzt eine nach meinem Empfinden viel zu kleine Eingangstür, so als würde er nur Zwerge empfangen, die lediglich ein winziges Schlupfloch brauchen, um in sein Reich einzutreten.

»Deine Hütte steht sicherlich schon sehr lange, oder?«, frage ich. »Möglicherweise waren deine Vorfahren so klein, dass sie mit solch einem niedrigen Eingang zufrieden waren. Oder haben sie sich am oberen Türpfosten ständig die Stirn blutig geschabt?«

Bergé schaut mich überrascht an, fährt sich mit der rechten Hand über seine schwarzen Bartstoppeln und reibt nachdenklich sein Kinn. »Stimmt, das kannst du nicht wissen. Nein, jeder, der durch diese Tür tritt, soll dies mit gesenktem Haupt tun, um sich mit Respekt vor mir zu verneigen.« Das gelte für alle Stämme: Wer in die Residenzhütte tritt, darf dem Häuptling nicht in die Augen schauen, um so seine Verehrung und Ehrfurcht zum Ausdruck zu bringen.

Bergé bückt sich, ich folge ihm und muss mich bei meiner Körpergröße von eins siebzig recht weit bücken. Eigentlich, denke ich beim Hineingehen, müsste es für den Häuptling eine extra Tür geben, damit er erhobenen Hauptes sein Domizil betreten kann. Aber gut, er sitzt ja bereits im Innenraum, wenn er Gäste oder Stammesmitglieder empfängt.

Es ist ziemlich dunkel im Raum. Es gibt kein Fenster. Immerhin bleibt die Tür geöffnet und zudem flackert ein kleines Feuer in der Mitte der Hütte, beides spärliche Lichtquellen im heiligen Anwesen. Je weiter ich in den Raum hineingehe, desto stärker umhüllt mich ein würziger Duft, den ich tief durch die Nase einziehe. Es riecht herb nach verkohltem, harzigem Kiefernholz. Durchsichtige Rauchschwaden schweben durch den Raum, ehe sie nach oben durch die Dachluke ins Freie abziehen. Genau in der Mitte der Hütte ist ein dicker Pfahl gepflockt, eine Art Stützpfeiler, verziert mit geschnitzten Mustern aus Dreiecken, Kreisen, Quadraten und trapezförmigen Zacken.

Um die Feuerstelle herum liegen locker übereinandergeworfen geflochtene Matten und Sitzkissen.

»Hier bist du also tagsüber. Ist das so etwas wie dein Arbeitszimmer, dein Büro?«

Bergé lacht los, seine tiefe Stimme vibriert in seiner gewaltigen Brust. »Wenn du so willst, ja, der Vergleich ist nicht falsch. Das hier ist Treffpunkt unseres Stammes, vergleichbar mit einem Rathaus. Hier empfange ich Häuptlinge von anderswo und Bürgermeister aus den Gemeinden. Hier halten wir unsere Besprechungen und Versammlungen ab.«

»Es gibt Bürgermeister?«, frage ich erstaunt.