Käthe van Beeker

 

Guste, Gretel und ich

 

Eine Erzählung für Mädchen

 

Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Illustrationen: Richard Gutschmidt

Digitalisierung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke




ISBN

9783961187904 (ePub)

9783961187911 (mobi)

2018 andersseitig.de


andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


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I

Wer kennt nicht das Märchen von der armen Prinzessin, die mit Schauder und Grauen den häßlichen, glotzäugigen Frosch zum Gefährten nehmen, mit ihm aus einem Schüsselchen essen und in einem Bettchen schlafen muß, und dadurch den allerschönsten und allerfreundlichsten Königssohn von seiner Verzauberung erlöst, der sie zu seiner Königin macht und ihr Leben in eitel Glück und Wonne kleidet?

Wenn ich aufs Leben zurückblicke, meine ich, daß fast jeder von uns Menschen einmal solch arme Märchenprinzeß ist, die mit Thränen und Widerstreben vor einem Froschungeheuer steht, und dann, wenn sie sich ins Unvermeidliche fand und es tapfer auf sich nahm, dahinter einen leuchtenden, köstlichen Königssohn des Glücks fand.

Wenigstens mir ging es damals so, damals als ich vierzehn Jahre zählte und ein so unausstehlicher, arroganter und anspruchsvoller Backfisch war, daß ich eigentlich gar nichts Besseres verdient hätte, als in Wirklichkeit einem Froschungeheuer vorgeworfen zu werden, damit es mich mit Haut und Haaren und mit all meinen Einbildungen, Zierereien und Affigkeiten schlankweg verschlänge.

Ja, das sage ich jetzt, nachdem manch wechselvolles Jahr über mich hingezogen ist, aber damals fand ich das durchaus nicht, damals hielt ich mich direkt für ein Muster – wenigstens meistenteils –, und es war mir einfach unbegreiflich, was Mama meinte, als sie mit solch tiefem Seufzer sagte: »Vor allen Dingen, Delia, brauchst du diese Veränderung der Verhältnisse, damit ein vernünftiges Mädchen aus dir wird!«

Das sollte erst aus mir werden, sollte – o Schauder und Graus – in einem ländlichen Pächterhause aus mir werden! In einem Pächterhause, dessen Bewohner in meinen Ideen nicht viel höher standen wie unsre Butterfrau und unser Kohlenmann. Bauern, Bauern, wie alles, was vom Lande stammte.

Mama machte ein sehr strenges Gesicht, als ich in flammender Empörung mit dieser Ansicht herausplatzte.

»Da fangen schon die verkehrten, überspannten Ideen an,« sagte sie kopfschüttelnd. »Es ist wirklich hohe Zeit, daß das alles anders wird. Da wächst einem solch ein Brennesselchen unter den Fingern empor und man merkt bei den zarten Blättchen nicht eher das Unkraut, bis es anfängt zu stechen. Papas Krankheit ist mir nur dazwischen gekommen, sonst hätte ich dich längst ernsthaft vorgenommen und dir all die thörichten Mucken aus dem dummen, kleinen Kopf verjagt. Früher warst du solch ein liebes, einfaches Kind, aber seitdem wir hieher versetzt sind und du durch die Schule in den neuen Umgang hereingekommen bist –«

Damit traf Mama meine empfindlichste Stelle. Mein Umgang beherrschte mich vollständig, auf ihn war ich grenzenlos stolz, und wenn er mich verändert hatte, so war das nur zum Besseren, Höheren – wenigstens nach meiner Ansicht.

Also unterbrach ich jetzt auch Mamas Standrede, die mir so wie so nach keiner Seite hin gefallen hatte.

»Aber, Mama, besseren Umgang kann ich doch nicht haben! Es sind die feinsten Mädchen aus der ganzen Stadt!«

»Siehst du, da steckt es! Allein das dumme Wort ›fein‹ charakterisiert alles. Wenn du gesagt hättest: die nettesten, tüchtigsten Mädchen –«

»Gott – das sind sie nebenbei –«

Aber das sagte ich kleinlaut, denn eigentlich so furchtbar nett und tüchtig fand ich sie selbst nicht. Aber ich muß auch gestehen, daß ich auf diese Eigenschaften damals weniger Wert legte, wie auf die von meiner Mama verachtete Feinheit.

»Sie denken nicht daran,« behauptete Mama denn auch kaltblütig. »Eingebildete, kleine Affen sind sie, und dich haben sie allmählich auch zu einem solchen gemacht.«

»Aber, Mama, wie kannst du das sagen! Marie Luise von Amstätten ist schon beinahe sechzehn Jahre.«

»Nun ja, sie ist dann eben ein großer Affe, die Eingebildetste und Großthuendste von euch!«

»Ja, ihr Papa ist auch Kammerherr, – das ist doch eine Stellung!«

»Gewiß, für ihren Vater, aber lange nicht für sie.«

»Ja, aber sie wird mal Hofdame, und da ich das auch werden soll –«

Mama schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Was sollst du werden? Hofdame? – Es scheint, als wenn du schon vollkommen übergeschnappt wärest! Wie kommst du denn auf diese unmögliche Idee?«

»Unmöglich?« Ich war ernsthaft beleidigt; Mama verstand mich auch gar nicht in meinen feinsten Gefühlen. »Großmama war doch auch Hofdame, und sie hat gesagt, ich könnte es werden –«

»Mein liebes Kind, deine Großmutter wuchs in ganz andern Verhältnissen auf wie du. Ihr Vater war hoher Beamter an einem kleinen Hof, da lag es fast auf der Hand, daß sie Hofdame wurde. Mittlerweile hat sich das alles sehr verändert, und wenn Großmama auch mal im Scherz so etwas geäußert hat, weil ihre Jugenderinnerungen ihr die Hofdamenlaufbahn reizender wiederspiegeln, wie sie eigentlich war, und sie ihrem einzigen Enkelkinde das Beste wünscht, so sind das doch nur die liebevollen Phantasien einer alten Dame, die aber mit dem wirklichen Leben gar nichts zu schaffen haben. Du bist vorläufig ein dummer, kleiner Backfisch und hast an nichts andres zu denken, als daß du aus diesem für dich und deine Umgebung wenig anmutigen Zustand herauswächst zu einem vernünftigen, tüchtigen Mädchen!«

»Na ja, Mama, meinetwegen. Wenn schon nichts Besseres aus mir werden soll, so laß mich wenigstens hier.«

»Adele, Adele!« Ich bekam meinen vollen Namen, was nie ein Zeichen besonderen Wohlgefallens war. »Was ist nur aus dir geworden! Es ist wirklich doppeltes Elend, Krankheit im Hause zu haben! Erstens der Krankheit halber, zweitens weil es jeden Überblick über die Umgebung raubt. – Da muß eben eine Änderung kommen, es ist die höchste Zeit.«

»Mamachen, ich will ja ganz vernünftig sein. Gott, ich weiß bloß nicht, was du eigentlich willst! Ich thue doch nichts Böses!«

Meine Thränen flossen. Wirklich, ich wußte nicht, was Mama an mir auszusetzen hatte. In meinen Augen war ich ein tadelloses Mädchen. Ich machte eben solch tiefe Knickse und verstand mich ebenso zierlich zu benehmen und zu bewegen wie Marie Luise, die eine Zierde jedes Salons war, wie sie selbst sagte. Ich war dabei fleißiger wie sie, die mit ihren fast zwei Jahren Altersvorsprung in betreff des Wissens mir ganz gleich stand.

Und wenn ich erst an die andern Mädchen dachte! Tilly Nottersen war eigentlich, wie wir in schwachen Stunden unter uns sagten, faul, dumm und gefräßig; bloß war sie schrecklich reich. Solche Kleider, wie sie, hatte keine von uns, und wenn es regnete, kam stets die Equipage sie abholen.

Marie Luise war auch immer sehr freundlich zu ihr, wenngleich sie über die Dicke, wie wir sie nannten, mehr spottete wie über alle andern.

Überhaupt Marie Luise spottete gern, sie that einem manchmal sehr weh, aber sie sagte, das wäre geistreich und gehöre zur guten Erziehung. Und schließlich ließ ich mir das noch lieber gefallen als Blanche Wrights Pomadigkeit, die zwar mit einer gewissen Gutmütigkeit gepaart, aber auf die Dauer sträflich langweilig und manchmal direkt grob war.

Aber Blanche war Ausländerin und deshalb sehr interessant. Ausländerinnen, besonders wenn sie aus England oder Amerika stammen, können thun und sein wie sie wollen, es ist immer schön und fein. Sie sagte dann stets, das wäre bei ihnen so Sitte, sie wären freier im Denken und bedachtsamer im Reden wie wir beschränkten Deutschen, die man bedauern müsse. Besonders die Frauen wären bei uns geknechtet und dürften nie eine eigene Meinung haben.

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Da stimmte Marie Luise ganz mit ihr überein und sagte, Blanche wäre ein bedeutender, strebender Geist und man müsse ihr deshalb viel verzeihen, sie hätte es innerlich.

Na ja, äußerlich hatte sie es auch nicht, denn sie war ganz klein, schmal und häßlich, und die Pomadigkeit kam mir auch nie wie ein Zeichen von Bedeutung und Strebsamkeit vor, aber vielleicht verstand Marie Luise das so mehr im großen. Und darin hatte Blanche ja recht, eine eigene Meinung durfte eine deutsche Frau nicht haben. Ich sah es eben wieder, bei der Unterhandlung mit Mama, – ließ sie mich zu einer eigenen Meinung kommen?

Nein, sie unterbrach mich schon wieder.

»Böses? Nein, mein Kind, davor möge dich der Himmel bewahren, aber Thörichtes, Verkehrtes, was dir die Fesseln alberner Vorurteile und Kleinlichkeiten um die junge Seele legt und dich daran hindert, ein fröhliches, unbefangenes, ausgelassenes Kind zu sein, wozu dich deine Jahre glücklicherweise noch berechtigen.«

Ich rümpfte die Nase. Das Wort »Kind« paßte mir gar nicht mehr. Man konnte nie zeitig genug anfangen, sich als junge Dame zu fühlen, sagte Marie Luise, und damit hatte sie mir in den anderthalb Jahren, die wir uns nun schon kannten, manches abgewöhnt, was mir sonst noch sehr in der Art lag und was ich nur mit einem schweren Seufzer aufgab.

Aber ich steckte gerade in dem Alter, in dem man sich an Vorbilder klammert, weil man selbst nicht recht weiß, wie man mit sich daran ist. Überall hat man Halbes und Unsicheres, und da folgt man nun blind dem anscheinend sicheren Führer, ob er zur Tiefe oder zur Höhe lenkt, man merkt und unterscheidet es nicht, man geht unentwegt mit ihm.

Das wäre wohl nie so weit gekommen, wenn Mama in dieser Zeit mehr auf mich hätte achten können. Aber im Anfange, als wir in die neue Garnison kamen, hatte Mama viel damit zu thun, sich in die veränderten Verhältnisse einzuleben, dann quälte sie sich monatelang mit einem bösen Magenleiden, und als sie dieses kaum überwunden hatte, fing Papa mit dem Rheumatismus an, schleppte sich lange Zeit mit Stöhnen und Zähneknirschen hin und brach dann endlich doch zusammen.

In den traurigen Monaten seiner Pflege fand Mama erst recht nicht Zeit und Sinn für Beobachtung ihres heranwachsenden Töchterleins, das mittlerweile seine eigenen Wege gegangen und nach eigenem Geschmack sich zu einer richtigen eitlen und oberflächlichen kleinen Närrin entwickelt hatte.

Die schöne Frühlingszeit brachte in Papas Befinden allmählich Besserung, Mama fing an aufzuatmen, sich wieder einmal mit frischerem Blick umzusehen und zu bemerken, daß ihre Einzigste ihr nicht gefiel, nach keiner Seite hin gefiel. Denn ich war in letzter Zeit zwar endlich etwas gewachsen, aber nebenbei noch schmächtiger wie vorher, blutarm, müde und verdrießlich geworden und zeigte zu all diesen körperlichen Annehmlichkeiten auch noch eine große Neigung, mich beleidigt zu fühlen und in Thränen zu zerfließen.

Das that ich denn auch jetzt redlich, und diesmal hatte ich wirkliche Berechtigung dazu, denn das wird keinem gefallen, einen ganzen Berg Tadel herunterschlucken zu müssen und nebenbei in die Verbannung geschickt zu werden, in ein Dorf, während die Eltern in große, vornehme Bäder, in das Hochgebirge und in Gott weiß was für sonstige Schönheiten gehen!

Von allem andren abgesehen, wie hätte das mein Renommee bei den Freundinnen gehoben, wenn ich solche Reisen gemacht hätte!

Tilly ging in jedem Jahr die Sommerferien über nach der Schweiz, Blanche zu den Eltern nach England, was hochfein, und Marie Luise auf das Stammgut der Familie, was das Hochfeinste war, und ich krankte infolgedessen schon seit Jahresfrist an glühenden Reisewünschen.

Nun konnten sie erfüllt werden. Es lag ganz nahe, daß meine Eltern ihre Einzigste mitnahmen, – nein, es war sogar selbstverständlich, und da kam Mama mit der haarsträubenden Idee, mich zu einer Jugendfreundin aufs Dorf zu schicken, aufs Dorf in ein Pächterhaus! –

»Da wirst du Leib und Seele auskurieren, ein rosiges, frisches, gesundes Mädchen werden und einfache, vernünftige Ansichten bekommen,« sagte Mama. »Widersprich mir nicht, Kind, es ist alles wohl überlegt und du änderst nichts daran. Dich mit uns auf die weiten Reisen zu nehmen ist erstens zu teuer und zweitens habe ich mit einem Leidenden gerade genug zu thun. Dazu auch noch auf eine zweite Person zu achten, die hier piepst und da piepst, geht über meine Kräfte. Dort, bei Tante Regine wirst du dir das schnell abgewöhnen. In der reinen, guten Landluft, beim einfachen, regelmäßigen Leben und gesunder Beschäftigung gehen die Stadtpflanzen Bleichsucht und Nervosität bald ein.«

Das klang nun wieder nicht nach meinem Geschmack. Bleichsüchtig und nervös waren alle meine Freundinnen, das gehörte zur Vornehmheit, nur die dicke Tilly nicht. Natürlich, die aß zu viel und dachte zu wenig, das war eben unvornehm.

Das meinte auch Marie Luise, wenn sie in ihrer Mokierlaune war, – und nun sollte ich auch so werden, dick und gefräßig!

Ich begriff Mama nicht, aber diesmal ließ ich meine Gedanken nicht laut werden, Mama hatte ja doch kein Verständnis dafür, sie würde nur noch mehr schelten.

Ach, und dabei war sie so gut! Mit ihren weichen, weißen Händen, die ich so liebte, strich sie mir liebevoll über das Haar, und nun küßte sie mein thränenfeuchtes Gesicht.

»Kleines Dummchen, quäl' dich und mich doch nicht, sondern bemühe dich, einzusehen, daß deine Eltern nur das Beste für dich wollen,« sagte sie zärtlich. »Du findest dort eine gütige Pflegemutter und eine liebe, verständige Freundin. Die Guste ist nur ein Jahr älter wie du – –«

Guste! Nun hieß die auch noch Guste, wie unser Milchmädchen, die ich ihres festen Schrittes und überkräftigen Körperbaues halber stets den Milchdragoner nannte!

So würde jene Guste gewiß auch sein, denn wenn man einen so plebejischen Namen hatte, mußte man schon wie ein Dragoner aussehen!

Aber als ich das mit der ganzen Geringschätzung, die ich dafür empfand, aussprach, wurde Mama ernstlich böse, verbat sich jedes fernere Wort des Widerspruchs und Unsinns, und ließ mich in meinem ganzen Jammer und Elend allein sitzen.

Ja, da hatte ich nun das Froschungeheuer vor mir und konnte es ebensowenig wie die Königstochter im Märchen in die abgrundtiefen Wasser meines Widerwillens werfen, sondern war der ekelhaften Zusammengehörigkeit mit ihm anscheinend unrettbar verfallen.

Vorläufig sorgte und ängstigte ich mich am meisten vor dem Augenblick, da meine Schulfreundinnen das mir drohende Unglück erfahren mußten, denn darüber war ich sicher, zu all meinem Leid und Kummer würden sie, besonders Marie Luise, noch Spott und Verachtung häufen. Natürlich, – wenn man aufs Land zu Pächtersleuten geht!

Mama hatte mir zwar gesagt, daß es durchaus nichts gesellschaftlich Erniedrigendes wäre, eine Pachtung zu haben, daß Herr und Frau Nord, beide aus sehr guter Familie stammten und nur nicht Vermögen genug besäßen, um sich ein eigenes Gut zu kaufen. Aber das kam gar nicht zur Geltung vor meinen verdrehten Ideen, nach denen Pächtersleute ein für allemal nur eine Kleinigkeit höher rangierten wie Bauern, und mit Wohnung, Sprache und Benehmen sich keinesfalls unter jene Menschen rechnen konnten, die ich als ebenbürtig, und deren Umgang ich für wünschenswert ansah.

Und so würden meine Freundinnen auch urteilen, ich wußte es, besonders Marie Luise. Die hatte schon immer so wegwerfend gesprochen von den Bauern, die das bewußte Stammgut verwalteten, ebenso wie meine künftigen Pflegeeltern auf einem Vorwerk desselben wohnten und von den Herrschaften, wenn diese zur Sommerszeit dort einkehrten, gar nicht beachtet wurden.

»Selbstverständlich, sie zählen nicht zur Gesellschaft!« sagte Marie Luise, kniff die Augen halb zu, rümpfte die etwas breite Nase, die ich eigentlich in lichten Momenten gar nicht aristokratisch, sondern ganz gewöhnlich fand, mit ganz eigener Hoheit und sah furchtbar vornehm und imponierend aus, wenigstens nach ihrer und auch nach meiner Ansicht.

Und da sollte ich nun gestehen, daß ich zu Leuten ging, die selbstverständlich nicht zur Gesellschaft zählten!

Wenn ich es nur hätte verschweigen können! Aber keine Idee daran, das Schicksal des Bekennens traf mich schon in den nächsten Tagen.

»Du, Delia,« sagte mein Vornehmheitsideal, »deine Mama hat meiner erzählt, daß ihr für Monate auf Reisen geht, erst nach Wiesbaden, dann ins bayrische Gebirge und vielleicht noch nach der Schweiz. Du hast doch mehr Glück wie Verstand,« – man sieht, Marie Luise verwöhnte mich nicht durch rücksichtsvolle Höflichkeiten – »die langweilige Schule so lange schwänzen und großartig auf Reisen leben, das könnte auch eine treffen, die das mehr zu würdigen verstände!« – Damit meinte sie sich – »Du bist doch noch ein halbes Kind! Freilich, ich würde ja immer vorziehen, auf unser Stammgut zu gehen, das ist doch feudaler!«

Unter andern Verhältnissen wäre ich ihr schon vorher in die Rede gefallen und zwar auch nicht höflich, denn trotz aller Hochachtung vor der Kammerherrntochter wuchs mir sonst doch niemals der Mund zu. Aber jetzt schwieg ich. Mein Verhängnis lastete zu drückend auf mir.

»Gott,« sagte Tilly und rümpfte nun ihrerseits die auch nicht schmal geratene Nase – »du immer mit deinem ›Stammgut‹ und dem ›feudal‹. Meine Eltern haben auch in Sachsen ein großes Gut, aber wir finden es viel feiner, im Sommer in die großen Hotels zu gehen. So gut ißt man nämlich auf dem Lande doch nicht, denn unser Koch geht nicht mit aufs Land, dafür ist er zu fein.«

»Das nenne ich schon Protzentum,« ereiferte sich Marie Luise, die immer gereizt wurde, wenn jemand ihr Stammgut nicht genügend anerkannte. »Auf Reisen gehen des Essens halber, wie gewöhnlich!«

»Ach was, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, das ist gar nicht gewöhnlich, du bist bloß neidisch!« Tilly zuckte die Achseln und holte als Beleg für ihre Lebensweisheit ein appetitliches Frühstücksbrötchen vor.

»Nein, du bist neidisch, weil unser Gut ein Stammgut ist, und ihr das nicht haben könnt!« höhnte Marie Luise zornrot, und es wäre zu einem regelrechten Zank gekommen, was mir damals in Bezug auf meine Enthüllungen, die dann noch etwas hinausgeschoben blieben, ganz recht gewesen wäre, wenn sich nicht unglücklicherweise Blanche ins Mittel gelegt hätte.

Sie war die Ruhigste von uns und zankte am wenigsten, vielleicht auch, weil ihr das Deutsche noch immer etwas schwer wurde und sie mit unsern flinken Zungen nicht gleichen Schritt halten konnte.

»Laßt doch euer langueiliges Streit,« sagte sie. »Ein Stammgut ist serr gut, aber gutes Essen auch. Das kennt man alles in England, oh yes! Man muß nich streiten um Sachen uo natürlich seind. Delia kann uns sagen besser, uann sie geht und uohin?«

So, nun mußte ich heran, mich rettete kein Engel, rein nichts mehr, denn jetzt wandten sich auch die andern beiden an mich mit ihren Fragen, und ich mußte Farbe bekennen.

Ach, erst das Erstaunen und dann der Sturm, der losbrach! Ganz wie ich es mir gedacht hatte! Ich mußte mich beinahe tot schämen!

Natürlich hatte ich zuerst nur zugestanden, daß ich aufs Land zu Bekannten von Mama ginge, aber dann wurden mir die Pächtersleute auch abgefragt. Sie waren ja alle neugierig wie die Nachtigallen.

»Pächter sind es? Was, Pächter? O Gott, du Arme! Wie ist das möglich? In so kleinbürgerliche, nein, in so bäuerliche Verhältnisse kommst du?« Marie Luise wich ordentlich wie vor einer Pestkranken zurück. »Den Leuten nicke ich so von oben herab zu und spreche mal ein paar freundliche Worte mit ihnen, weil Papa darauf hält, daß man human ist, auch gegen Untergebene; aber in Beziehung zu ihnen treten –«

»Ja, Leute, die nicht genug Geld haben, um sich was zu kaufen, die müssen was pachten,« bestätigte Tilly verächtlich. Leute, die kein Geld hatten, waren in ihren Augen überhaupt nur halbe Menschen. »Na, da wirst du aber gewiß nicht gut zu essen bekommen, da kannst du noch spindeldürrer werden wie du jetzt bist.«

Und dazu saß sie so breit und vollgegessen da, daß ich sie ganz greulich fand und ihr gern einen Klaps gegeben hätte, ebenso wie Marie Luise mit ihrem hochmütigen Gesicht. Nein, im Moment hatte ich meine Freundinnen gar nicht lieb!

»Uas ihr nur uollt? Pachtersleute können serr gute, feine Leut' sein. Bei uns in England haben manche jüngeren Söhne Landsitze gepachtet und sind serr in die gute Gesellschaft,« trat Blanche auf meine Seite.

Aber diesmal ließ sich Marie Luise von der Ausländerin nicht imponieren.

»Gott ja, in England!« fiel sie mitleidig ein. »Da ist alles so anders! Manchmal seid ihr schrecklich freidenkend, schon zu freidenkend! Bei uns geht das nicht. Nein, so auf einem Pachthof leben! – Na, weißt du, da kannst du ja nun die Hofdame spielen! Hahaha! Unter den Enten, Gänsen und den Vierfüßlern, die ich nicht nennen will!«

Sie schüttelte sich vor Lachen. Das kam ihr gelegen, mir die Hofdame vorzuhalten. Darüber ärgerte sie sich schon lange, daß sie nicht das Privilegium der Hofdame allein haben sollte, sondern ich auch immer darüber sprach.

»Aber, glaube nur nicht,« fuhr sie höhnisch fort, »daß du nach solchem Eclat jemals wirklich an den Hof kommen darfst. Da sieht man auf eine tadellose Vergangenheit!«

Das war dem Faß den Boden ausgeschlagen, ich brach in Thränen aus. Solcher Hohn, solche Schmach mußte mich treffen, solche Eltern hatte ich, die mich den schrecklichsten Kränkungen preisgaben! Nein, ich mußte noch einmal mit Mama sprechen, vielleicht auch Papa zu bearbeiten suchen! Sie mußten doch einsehen, daß ich für dergleichen nicht geboren und erzogen war.

Aber da kam ich schön an. Papa, reizbar wie die lange Krankheit ihn gemacht hatte, donnerte mich an, als wenn ich der schlimmste aller Rekruten wäre, und Mama, endlich auch am Ende ihrer Geduld, erklärte, daß sie nun von meinen Albernheiten vollkommen genug habe und mich so schnell wie möglich aus der verderblichen Umgebung meiner thörichten Freundinnen herausbringen wolle. Tante Regine sei jeden Augenblick bereit, mich aufzunehmen. Wenn auch noch einige Wochen bis zum Schulschluß fehlten, das mache nichts, ich würde mehr wie das versäumen und es dort mit Privatunterricht wohl auch wieder einholen, jetzt solle ich nur meine Sachen zusammensuchen und mich in stand setzen zur Reise.

Also es half nichts, die Augen zugedrückt und los auf das Froschungeheuer!

Mama redete mir so gut zu, sie that alles, was eine liebevolle, vernünftige Mutter einem ungebärdigen, thörichten Kinde gegenüber thun kann, und als ich sah, daß mein Schicksal unwiderruflich besiegelt war, fand ich mich ja auch äußerlich mit Anstand hinein, hatte sogar den Mut, meinen Freundinnen gegenüber zu behaupten, daß ich Mamas Idee mit dem Landaufenthalt eigentlich reizend fände, aber innerlich war ich verzweifelt und fest entschlossen, den Bauern dort mit so viel Hochmut, Verachtung und Unliebenswürdigkeit wie möglich entgegenzutreten. Sie sollten schon merken, daß ich in ihre Verhältnisse nicht paßte. Vielleicht machten sie das dann auch Mama klar, und die Eltern erlösten mich und ließen mich doch noch nachkommen.

In diesem Vornehmen und in dieser Hoffnung kam ich über den Abschied leichter hinfort, wie ich gedacht hatte. Außerdem belebte mich die Aussicht, zum erstenmal im Leben allein und selbständig auf Reisen zu gehen.

Mama schwebte gerade deshalb in größter Sorge, da sie aber Papa nicht allein lassen konnte und hier an dem immerhin noch fremden Ort keine Vertrauensperson hatte, die sie mir zum Schutz mitgeben konnte, mußte sie sich darein finden, mich für sechs Stunden Wegfahrt mir selbst und der Güte der Eisenbahn anzuvertrauen.

Im Damencoupé saß schon eine junge Frau mit zwei Kindern, eines noch im richtigen Schreialter, mit Tragkleidchen und Milchflasche.

Ich zupfte Mama am Kleide.

»Da gehe ich nicht hinein. Mit solchen Quäksbälgen kann ich nicht stundenlang zusammensitzen, da wird mir übel und ich bekomme Kopfweh!«

Aber Mama war taub für diese berechtigten Einwände. Sie hatte eben gehört, daß die Dame noch über meine Station hinausfuhr, und nun wendete sie sich mit Inbrunst an die freundlich Platz Machende und empfahl mich für die Reisedauer ihrem Schutz. Ich war empört, – auch dieser Spaß verdorben! Was hatte ich nun von meiner selbständigen Reise, die ich mir heimlich mit den wunderbarsten Reizen ausgemalt hatte. Allein im Coupé, die Füße auf die gegenüberstehenden Polster gelegt, was ich entzückend fesch und elegant fand, auf jeder Station Kuchen oder Limonade kaufend, oder mit der Wichtigkeit einer weitgereisten Weltdame etwas auf dem Bahnsteig promenieren. Zwischendurch vielleicht eine interessante Reise-Gefährtin oder -Gefährten finden, denen gegenüber ich mich ganz erwachsen benehmen und ahnen lassen konnte, daß ich eine sehr vornehme, bedeutende Person sei, – überhaupt immer selbständig, sicher, gewandt auftreten, – so hatte mir diese erste Soloreise vorgeschwebt, und nun saß ich hier als halbes Kindermädchen, unter dem Schutz einer lächerlich jung aussehenden Frau, die zwar »liebes Fräulein« zu mir sagte, mich aber dabei vollkommen wie eins ihrer Babys behandelte und auf jeder Station aufs unglaublichste bevormundete.

»Trinken Sie keine Limonade! Sie bekommen die Cholera, liebes Fräulein. Ihre Mama hat Sie mir auf die Seele gebunden, ich kann es nicht zulassen, daß Sie sich den Magen verderben. Hier, wenn Sie Durst haben, etwas abgekochtes Wasser, wie Baby es trinkt, das schadet keinem Menschen etwas. Steigen Sie um Himmels willen nicht aus dem Coupé, der Zug geht gleich wieder ab. – Vorsichtig, vorsichtig, damit Sie sich nicht die Beine brechen! – O Gott, da kommt ein Gepäckwagen, lassen Sie sich nicht überfahren! Ihre Mama hat Sie mir anvertraut, ich muß über Sie wachen« – und so fort, – zum Rasendwerden!

Dazwischen, während der Fahrt, mußte ich Milchen, die Zweijährige, festhalten und bewachen, damit sie aus dem Fenster sehen konnte und beschäftigt war, sonst brüllte sie wie ein kleiner Löwe. Und Baby mußte ich auf und ab schaukeln und ihm etwas vorsingen, während die Mama das Milchfläschchen wärmte und Wäsche vorsuchte.

Das war meine erste selbständige Reise, von der ich mir einen halben Roman zusammengeträumt hatte! Na, ich danke, mein Landaufenthalt bei den Pächtersleuten fing mit einer hübschen Einleitung an!

Trotzdem, als meine Station nahte, wurde mir doch ganz angst und bange. Nun ging es erst wirklich in die Fremde. Die kleine Mama, Milchen und Baby waren noch Heimatsbeziehungen. Sie gefielen mir außerdem wirklich nicht so übel, nachdem ich erst einmal mit meinen Reiseillusionen abgeschlossen und mich entsagungsvoll als Kind und Kindermädchen etabliert hatte, und mir traten die Thränen in die Augen, als es nun ernsthaft an den Abschied ging.

Wie ich ausstieg, schrie Baby, als wenn es am Spieß stecke, Milchen purzelte beinahe aus dem Coupé; die kleine Mama winkte, nickte und erließ noch hinter mir, während der Schaffner schon die Wagenthür zuschlug, eine Flut guter Lehren und Verhaltungsmaßregeln, die sie alle meiner Mama schuldig zu sein behauptete, und ich kam bei dieser ganzen Abschiedsaufregung gar nicht dazu, mich auf dem kleinen Bahnsteig umzusehen.

Als ich endlich schweratmend so weit war, an meine neue Umgebung zu denken, standen neben mir eine stattliche, hübsche Dame und ein schlankes, hübsches, junges Mädchen, die mir von beiden Seiten lachend und herzlich die Hände entgegenstreckten.

»Du bist Adele Helmold, das sehe ich an der Ähnlichkeit mit deiner Mutter,« sagte die ältere Dame und drückte mich herzlich an sich, während das junge Mädchen mir flink und geschickt mein Handgepäck abnahm. »Willkommen, liebes Herz, hoffentlich wird es dir bei uns recht wohl sein und wir werden viel gute, frohe Stunden miteinander verleben!«