Inhalt

Titelseite

Verena Themsen
Uschi Zietsch
Elfenzeit
Band 4
Eislava
Das Ende der Anderswelt naht!

David und Rian reisen nach Norden, um den Drachen Nidhögg, der seit Anbeginn der Welten an den Wurzeln der Weltesche Yggdrasil nagt, nach dem Quell der Unsterblichkeit zu befragen.

Nadja und Fabio sind derweil unterwegs nach Sizilien – dort findet Nadja ihre tot geglaubte Mutter, die wandernde Seele, und in dem düsteren Vulkan entdeckt sie die Erste Stadt.

Der Ätna ist die Verbindung zwischen allen Welten, und in ihm will der Getreue den Stab setzen, um seine Königin aus dem Schattenland zu befreien.

Doch er hat nicht mit Widerstand gerechnet, allen voran Morgana, der Königin von Luft und Dunkelheit, Wächterin der Insel, die uralte Mächte aus der griechischen Mythologie beherrscht …

Zwei Romane in einer Ausgabe – Spannung pur!
Band 4 von 10 der größten Urban-Fantasy-Saga.

fabEbooks

Die Autoren:

Verena Themsen verfasst regelmäßig seit Jahren Romane für Perry Rhodan. verenathemsen.de

Uschi Zietsch publiziert seit 1986 erfolgreich in verschiedenen Genres und kann auf weit über zweihundert Veröffentlichungen zurückblicken. www.uschizietsch.de

Impressum

Dieser Titel ist auch als Paperback erschienen.

Umschlag Bildmaterial: kellepics/Stefan Keller
Umschlag Gestaltung und Logo: Michael Steinmann Agentur
Die Karte schuf Dirk Schulz Animagic
Lektorat und Redaktion: Uschi Zietsch
Handlungsrahmen und Serienkonzept: Uschi Zietsch
© dieser überarbeiteten und erweiterten Ausgabe 2020 by Fabylon Verlag
www.fabylon.de
eMail: team@fabylon-verlag.de

Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-946773-24-5

Karte

Was bisher geschah

Nadja Oreso hat eine turbulente und gefahrenvolle Zeit hinter sich. Nachdem sie David in Venedig gerettet hatte, ist sie inzwischen sogar bis nach Annuyn gegangen, um den Schatten von Rian auszulösen. Kein geringerer als Darby O’Gill/Alebin hat die Prinzessin getötet und damit Chaos ausgelöst.

Nadja begleitet deshalb David nach Earrach, um König Fanmór die Stirn zu bieten. Sie hat vor niemandem mehr Angst, seit sie weiß, dass sie eine Halbelfe und dadurch ein verhasstes Mischblut ist und durch Zufall erfahren hat, dass sie schwanger ist. Wer der Vater ist – Darby oder David –, ist nicht bekannt.

Dem Getreuen ist es inzwischen gelungen, 4 Knotenpunkte zu besetzen – dadurch ist es ihm möglich, das Tor zum Schattenland von der Menschenseite aus zu öffnen und kurzzeitig stabil zu halten. Er erhofft sich, das Tor mit Setzen des 5. Stabs dauerhaft zu stabilisieren. Aus diesem Grund ist er unterwegs nach Sizilien, einem der bedeutendsten zentralen Orte in allen Welten. Das Land ist nicht nur sehr geschichtsträchtig, es bildet die Verbindung zur Magie an sich. Im Ätna brodelt weitaus mehr als nur Lava.

Die kleine Gemeinschaft muss sich trennen, denn der Kampf um die Unsterblichkeit und die Erhaltung der Welten findet nunmehr an mehreren Fronten statt.

Pirx und Grog, die sich dem Getreuen an die Fersen geheftet haben, sind spurlos verschwunden.

Nadja Oreso und Fabio, der nunmehr seine Vergangenheit als Elf Fiomha offenbart hat, sind auf Sizilien gelandet, um den Getreuen am Setzen des Stabs zu hindern. Und hier soll Nadja zudem ihre totgeglaubte Mutter endlich treffen.

Die wieder gesundeten Elfenzwillinge derweil sind unterwegs nach Niflheim, um nachzuforschen, ob der neidische Drache Nidhögg, der seit Ewigkeiten an den Wurzeln der Weltesche Yggdrasil nagt, den Quell der Unsterblichkeit hütet.

Dramatis personae

Nadja Oreso ist 25 Jahre alt, geborene Münchnerin mit italienischen Wurzeln. Als freiberufliche Journalistin genießt sie das ungebundene Leben und die ständigen Ortswechsel. Privat häufig chaotisch, ist sie im Beruf professionell. Ihr Appetit – ohne dabei zuzunehmen – ist legendär. Dass sie einige Geheimnisse mit sich herumträgt, wird ihr bald auf schmerzvolle Weise bewusst.

Rhiannon/Rian Bonet ist selbst als Elfe noch jung, sieht wie Anfang 20 in der Menschenwelt aus. Sie ist die Prinzessin der Sidhe Crain, deren Vater Fanmór über das Reich Earrach herrscht. Sie ist Dafydds Zwillingsschwester.

Dafydd/David Bonet sieht ebenfalls wie Anfang 20 aus und seiner Zwillingsschwester sehr ähnlich. Als Erbprinz soll er eines Tages die Nachfolge des Vaters antreten. Kein leichtes Unterfangen bei Unsterblichen.

Pirx ist ein Pixie, ein Feenkobold, ein aufrecht gehender Igel mit roter Mütze. Er ist pfiffig, fröhlich und verspielt, gewitzt und mutig. Sein besonderes Merkmal: er kann nicht lügen.

Der Grogoch, genannt Grog, ist ein haariger alter Feenkobold, der stets vermittelnd eingreift, ruhig und liebenswürdig, er denkt zuerst nach, bevor er handelt, treu und fürsorglich.

Der Getreue – er ist im Auftrag der Dunklen Königin unterwegs, mächtig, skrupellos, eiskalt und sehr gefährlich. Seine wahren Motive sind unbekannt, seine Identität kennt niemand, sein Gesicht nur Bandorchu – aber ist es denn sein wahres Gesicht?

Der Kau und Cor, der Spriggans – die beiden sind Helfer des Getreuen, absolut boshafte Geschöpfe, die sich um niemanden scheren.

Fabio Oreso, Nadjas Vater, ist sehr viel mehr in die Geschehnisse verstrickt, als es zunächst den Anschein hat. Er trägt jede Menge Geheimnisse mit sich herum, von denen Nadja bisher keine Ahnung hat.

Bandorchu, die Dunkle Königin, die einst Gwynbaen gewesen war, Königin von Earrach und Herrin des Baumschlosses der Sidhe Crain. In einem zerstörerischen Krieg unterliegt die fast überirdisch schöne und mächtige Elfe dem Riesen Fanmór und wird ins höllische Schattenland verbannt. Doch es gelingt ihr, sich nach ihrer Wandlung dort ein eigenes Reich aufzubauen und streckt nun ihre magischen Finger nach der Menschenwelt aus.

Regiatus, der Cervide, ist ein Berater Fanmórs. Bisher überaus streng und konventionell, hat er sich inzwischen auf die Seite der Zwillinge – und sogar Nadja Oresos – geschlagen und unterstützt sie heimlich.

Die Blaue Dame, Herrscherin des Loch Ness, ist ebenfalls eine Beraterin Fanmórs und unterstützt Nadja bereits seit Venedig heimlich.

Ainfar, der Tiermann, Bruder von Regiatus, ist damals freiwillig als Spion ins Schattenland gegangen und versucht von dort aus, Bandorchus Rückkehr zu verhindern. Wären da nicht Bandorchus Liebreiz und Macht …

Donna Letitia/Julia Oreso, die Wandernde Seele. Niemand weiß, wie alt sie ist und wie viele Leben sie geführt hat. Es ist daher besser, sich nicht mit ihr anzulegen.

Morgana, Königin von Luft und Dunkelheit, Herrscherin des Geisterreichs und Wächterin von Sizilien. Eines der mächtigsten Wesen, das noch aus der Urzeit stammt und vermutlich absolut unsterblich ist. Sie heizt dem Getreuen ordentlich ein.

Roman 7

Yggdrasils Wächter

Verena Themsen

Prolog

Weit sah ich, weit, die Welten alle
(Edda, Völuspa)

Wie Elmsfeuer huschte das Eichhörnchen am letzten Stück des Stamms hinauf, lief einen Ast entlang nach außen und hielt dann inne. Es setzte sich auf und reckte den Kopf hoch. Seine Schnurrhaare zitterten leicht im Wind, während es zum Nest hinüber schielte.

»Halte dich fern, Eierdieb«, knarrte die Stimme des Adlers vom Wipfel herunter.

Das Eichhörnchen zuckte zusammen. Seine glitzernden schwarzen Augen richteten sich nach oben.

»Wen interessiert schon dein Gelege! Es ist kalt und hart und gefroren in der Zeit. Ich würde mir die Zähne dran ausbeißen«, keckerte es.

Doch man sagte, die Zeit habe Einzug gehalten in die Welten der Zeitlosen. Man sagte, Dinge würden altern, die früher nie altern konnten. Dem Baum war nichts dergleichen anzumerken, doch wer wusste schon, ob nicht manche der Bewohner trotzdem betroffen waren? Das Eichhörnchen hätte zu gern einen Blick riskiert.

Der Adler breitete in einer langsamen Bewegung die Flügel aus, als wolle er sie im Schimmer des immergrauen Himmels baden. Dennoch warf er keinen Schatten.

»Ich wiederhole: Denke nicht einmal dran, Nagezahn. Du würdest einen mageren und haarigen Happen abgeben, aber ich würde keinen Moment zögern.«

Der Wind strich über das Gefieder des Raubvogels. Ein leises Klingen ertönte, wann immer die silbrigen Federn sich berührten oder aneinander rieben. Der Kopf des Vogels drehte sich, sein Blick schien etwas in der Ferne zu fixieren.

Das Eichhörnchen ließ sich wieder auf seine Vorderbeine hinunter und kletterte ein Stückchen höher.

»Was siehst du, alter Leichenfresser?«

»Wände werden zu Schleiern, und Schleier bekommen Risse. Alte Tore wurden versperrt, neue entstehen. Die Struktur der Welten gerät ins Wanken. Ich sehe Alte, die jung sein sollten, und Vereintes, das sich niemals hätte mischen dürfen. Und ich sehe Kinder, die ausziehen, um die Arbeit von Helden zu tun.«

»Die Welten wanken? Droht das nächste Ragnarök?«

Ein Rauschen erklang, als der Adler die Flügel wieder anlegte. »Ragnarök kommt dann, wenn Ragnarök kommt. Wenn der Baum zu beben und zu wanken beginnt, wirst du es als erster wissen.«

»Wie konnte ich erwarten, von dir jemals klare Worte zu hören«, keckerte das Eichhörnchen mürrisch.

»Die klaren Worte habe ich für die Schlangenbrut am Fuß des Baums reserviert. Was hat er mir zu sagen?« Der Adler drehte den Kopf ein wenig und neigte ihn, bis der Blick eines seiner Augen auf das Eichhörnchen fiel.

»Nicht viel Gutes, wie immer.«

»Manche Dinge ändern sich nie. Und das ist vermutlich richtig so. Zu vieles verändert sich zur Zeit. Es ist nicht gut. Es ist wichtig, die Strukturen zu bewahren und die Regeln zu schützen, auch wenn mein Freund in der Tiefe das nicht immer einsehen will. Also sprich. Ich werde lauschen und meine Antwort überlegen – wie seit dem Anbeginn der Zeiten, und bis zu deren Ende.«

1.
Im kalten Strom

Das Licht der Frühlingssonne durchdrang in schimmernden Bahnen den Morgennebel über dem Fluss, ließ das helle Weiß der Birkenstämme am Ufer aufleuchten und brach sich an den kleinen Wellen, die eine sanfte Brise an der Wasseroberfläche erzeugte. Die Luft trug den Geruch des Schnees in sich, der Schweden noch lange nicht aus seinem Griff entlassen hatte, obwohl die Tage seit fast einem Monat länger waren als die Nächte. Raureif umhüllte die Blätter des frischen Grases, das am Ufer aus dem Boden drängte, und dämpfte das Grün. Lediglich ein einzelnes rotes Bootshäuschen, in der typischen skandinavischen Holzklinkerbauweise errichtet, brachte einen leuchtenden Farbtupfer in die von Nebel und Eiskristallen gedämpfte Szenerie.

David zog leicht an der Pinne des Segelbootes, um gegen die Strömung eines einmündenden Bachs anzuhalten. Die silbrig glitzernden Schoten, von ihm und seiner Schwester schon zu Beginn der Fahrt mit einfachen Elfenzaubern belegt, bewegten sich und passten die Stellungen von Fock und Großsegel so an, dass der von achterlich wehende Wind sie wieder bauchig füllte. Rian, die vor dem Mast an der Backbord-Reling saß und mit über dem Wasser ausgestreckter Hand nach vorn in den Nebel spähte, ließ sich davon nicht stören. Sie schien ganz auf ihre Aufgabe konzentriert, den nächsten Übergang zu einer der kalten Strömungen der Anderswelt zu finden.

David strich sich eine schulterlange blonde Strähne hinters Ohr und beobachtete, wie seine Schwester mit kleinen Bewegungen immer wieder an der unsichtbaren Linie entlang tastete, die ihr sagte, wo das nächste Tor zu finden sein würde. Sie tat es häufiger als notwendig, als hätte sie Angst, sie könnten den Weg verlieren, oder als seien ihre Gedanken anderswo. Doch dann drehte sie den Kopf zurück zu David, und der Blick ihrer violetten Augen begegnete dem seinen.

Sie hatten beide die kleinen Zauber ausklingen lassen, die sonst ihr Aussehen an das der Sterblichen anglichen, da hier auf dem Fluss keine Begegnungen zu erwarten waren. Daher waren es die gewohnten vollständig gefärbten Augäpfel, die David entgegensahen und nicht violette Kreise auf einem weißen Hintergrund. Auf eine Weise, die er nicht recht erklären konnte, gab das dem Prinzen ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe. Er lächelte seine Schwester an, und sie erwiderte sein Lächeln.

So viele Dinge änderten sich, seit die Zeit Einzug ins Reich der Elfen gehalten hatte. Selbst das Haar ihres Herrschers und Vaters, des Riesen Fanmór, wies erste graue Strähnen auf, und sein Gesicht zierten Falten, die nicht nur von den ins unermessliche gewachsenen Sorgen herrührten. Da hatte es etwas Tröstliches, dass zumindest Rian noch immer genau so war wie vor dem langen Schlaf, aus dem sie in jenen Herbst hinein aufgewacht waren, der den Einzug der Zeit sichtbar gemacht hatte. Selbst die Erfahrung des Todes und die Wanderung ihres Schattens ins Reich des Grauen Herrn Samhain hatten ihr nicht nachhaltig etwas anhaben können, auch wenn sie für eine Weile vielleicht vorsichtiger und ruhiger geworden war.

David hingegen hatte die verbrachte Zeit in der Welt der Sterblichen für immer verändert.

Unwillkürlich griff er sich an die Brust, wo er glaubte, das sachte Glühen von etwas zu spüren, von dem er nicht sicher war, ob er es wirklich wollte. Eine Seele. Nur ein Funke bisher, kaum geboren, und noch konnte er entscheiden, ob er sie wachsen lassen wollte oder nicht. Doch sie war da, und egal was weiter geschah, nichts würde für ihn jemals wieder so sein wie zuvor.

Er seufzte.

»Wie lange werden wir brauchen, bis wir den Weltenbaum erreichen?«, fragte er, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Niemand hatte ihnen diesbezüglich etwas sagen können.

Rian fuhr sich mit schlanken Fingern durch das kurze blonde Haar. »Nicht mehr allzu lange, hoffe ich. Grog hat uns gewarnt, dass einige der Völker des Nordens viel Freude daran haben, einem die Durchreise so schwer wie möglich zu gestalten. Immerhin haben wir schon was zum Tauschen.« Sie machte eine Handbewegung zu den Taschen, die direkt vor dem Niedergang zur kleinen Kajüte in der Mitte des Cockpits standen. Modeschmuck, Stoffbänder, Porzellanfiguren, Naschwerk aller Art und andere Dinge waren darin gesammelt, was Rian zuletzt bei ihrem Halt in Kopenhagen gekauft hatte. Vieles davon würde ihnen Türen und Tore in der Anderswelt öffnen können, doch manches hatte Rian zweifelsohne für sich selbst reserviert. Wie zum Beispiel die Nougattrüffel, die neben ihr lagen und nach denen sie jetzt griff. »Wir durchqueren Gebiete, die nahe den Grenzen von Earrach liegen«, fuhr Rian fort. »Selbst zu guten Zeiten hat dort Fanmórs Wort nie so viel gegolten wie in Crain oder den anderen Kernländern. Jetzt, da die Tore versperrt sind, wird das mit Sicherheit nicht besser sein.«

David nickte. Rian hatte Recht. Der Zusammenhalt der Teile des Reiches Earrach war als eher lose zu bezeichnen, soweit nicht Fanmór persönlich mit seiner unmittelbaren Macht eingriff. Mit Sicherheit gab es sogar Gegenden, in denen sie ihre Herkunft als Kinder Fanmórs besser verschwiegen, sei es, weil man dort während des Krieges im Stillen Bandorchu unterstützt hatte, sei es, weil man sich gern unabhängiger gesehen hätte, oder nach mehr Einfluss im Reich verlangte. Die Erinnerungen an Alberich, der die Suche der Geschwister nach dem Quell der Unsterblichkeit hatte ausnutzen wollen, um sowohl sie aus dem Weg zu schaffen als auch sein eigenes Aufsteigen zur Macht sicherzustellen, lagen nicht lange zurück. »Hoffentlich ist Nidhögg überhaupt noch da«, bemerkte er. »Über die Nordgötter wissen wir so gut wie nichts. Schon lange haben sie sich nicht mehr gezeigt. Wer weiß, ob sie überhaupt noch in ihren Hallen sitzen.«

»Und auf Ragnarök warten«, setzte Rian hinzu. »Kannst du dich an Grogs Erzählungen über die Asen erinnern? Ist doch abartig, oder? Götter warten auf den Untergang der Welt.«

David blinzelte sich Nebelwasser von den Wimpern. »Deswegen war Grog sicher, dass Nidhögg nach wie vor da sein wird … weil er danach aufräumen muss, für den Neubeginn. Die Asen gehen davon aus, dass nichts endgültig verschwinden kann.«

»So wie ich.« Sie lächelte schief.

Vor Davids innerem Auge blitzte das Bild von Rians totem Körper auf, gestorben an der klaffenden Wunde in ihrer Brust, die Alebins Dolch gerissen hatte. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Das war etwas, worüber er nicht reden, woran er nicht einmal mehr denken wollte.

»Aber die Frage ist: Weiß Nidhögg wirklich etwas über den Lebensquell?«, fragte er stattdessen.

»Wir müssen uns an jeden rettenden Halm klammern«, antwortete Rian. »Zumindest wissen wir dann mehr.«

David verzog das Gesicht. »Ein zerstörerischer Sammler und Fresser von Leichen …«

»Er steht auch für den Neubeginn, weil er Ordnung bringt«, erwiderte Rian. »Der Beiname ›Neumond‹ deutet darauf hin – der Neumond ist das erste Leben, die erste schwache Sichel nach dem ›Tod‹ des Mondes. Er steht ebenso für die Wiedergeburt wie für den Tod davor. Vielleicht ist Nidhögg selbst sogar der Lebensquell für die folgende Welt, und er braucht die Toten, um diese Quelle für alle zu öffnen.«

»Hoffen wir es mal. Und hoffen wir, dass Nadjas Befürchtung sich nicht bestätigt, dass bei ihm die Quelle aller Probleme liegt. Andererseits könnte das auch die Lösung bedeuten.« David drückte die Pinne etwas beiseite, um einem im Fluss treibenden Ast auszuweichen. »Auf wen ist der Drache eigentlich neidisch?«

Rian zuckte die Achseln und griff nach einer Trüffelpraline. »Vermutlich auf alle, die im Freien leben. Insbesondere aber auf den Adler im Wipfel von Yggdrasil. Der ist wohl auch einer von denen, die auf Ragnarök warten, und wird sich genauso wie Nidhögg um die Toten kümmern, wenn es soweit ist. Aber der Adler hat da oben im Wipfel einen Logenplatz, von dem aus er alles überblickt, was in den Welten passiert, während Nidhögg nichts anderes sieht als Wurzeln, und noch nicht mal die Flügel strecken kann in seiner Höhle, geschweige denn fliegen. Kein Wunder, dass unter solchen Umständen so einiges an einem nagt und man auch selbst das Nagen anfängt.« Genüsslich an der Praline lutschend streckte sie die Hand wieder nach der Linie aus. Ihr Blick versank in dem sich langsam lichtenden Nebel, und David spürte, wie die Gedanken seiner Schwester zu wandern begannen.

Eine Weile glitten sie so in Schweigen weiter den Fluss hinauf, wie seit vielen Tagen schon der Strömung entgegen, die sie an den Ursprung aller Kalten Flüsse führen sollte. Der Wind, der sie vorantrieb, war stetig, halb aus dieser Welt und halb aus einer anderen geboren. Sie segelten auf verschlungenen, immer nach Norden führenden Wegen – ein Netz aus Flüssen verschiedener Welten, dem zu folgen nur den Elfen möglich war.

Sie hatten Stromschnellen durchschnitten und Flussdeltas durchfahren, in denen man kaum mehr die Ufer hatte sehen können, waren vorbei an Inseln aus Sand und Fels, an Wäldern, Feldern, Häuserfronten und Fabriken gesegelt. Die Natur des Landes hatte sich in dem Maße verändert, wie es kälter geworden war. Die Buchen waren Birken gewichen, die Nadelbäume häufiger und niedriger geworden, und der Fels, der aus dem Boden brach, war rundgeschliffen von Wind, Eis und Wasser.

David ließ seinen Blick auf den Bäumen ruhen, die noch immer in lockerer Reihe die Uferböschung säumten. Die Sonne hatte inzwischen auch die letzten Nebelstreifen vertrieben und trocknete den Tau von den Blättern, der unter der Wärme aus dem Reif entstanden war.

»David?«

Der Prinz drehte den Kopf und begegnete Rians nachdenklichem Blick.

»Was ist? Sind wir nah dran?«

Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Nein. Oder, ja, aber das war es nicht, was ich sagen wollte.«

»Sondern?« Er hob die Augenbrauen. Es war selten, dass Rian nicht direkt mit der Sprache herauskam. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, wie es die Menschen so schön ausdrückten.

Dieses Mal schien sie sich jedoch zum Sprechen durchringen zu müssen.

»Ich fand es sehr mutig, dass du Fanmór gefragt hast, ob er wirklich unser Vater ist«, sagte sie schließlich. »Und … und dass du von unserer Mutter gesprochen hast. Mutiger als alles andere, was ich je von dir erlebt habe. Das wollte ich dir schon lange sagen.«

Davids Gedanken wanderten zu jenem Moment im Thronsaal zurück, in dem er zum ersten Mal in seinem Leben so offen gegen den Herrscher der Crain angetreten war. Die kaum gebremste Wut des Riesen hatte ihm Angst gemacht, doch er hatte auch die darunter liegende tiefe Sorge gespürt.

»Es war nicht mutig, es war nur … notwendig.« Er zögerte kurz. »Mutig war Nadja, als sie dich aus Samhains Reich zurückgeholt hat. Sie war diejenige, die am wenigsten dafür konnte, dass du dort warst, und die geringste Verpflichtung hatte, aber sie bestand darauf, es zu tun.«

»Was wieder einmal zeigt, wie ähnlich ihr zwei Dickköpfe euch seid«, antwortete Rian mit einem Schmunzeln. »Beide habt ihr Fanmór die Stirn geboten. Und du hast es sogar zum Teil aus … aus Liebe zu ihr getan, oder? Irgendwie erinnert ihr mich manchmal an die Leute in meinen Lieblingsserien …« Das Lächeln flog von ihren Zügen. Sie biss sich auf die Unterlippe und sah wieder auf den Fluss hinaus.

Über das Band, das die Zwillinge seit ihrer Geburt verband, spürte David ihren Zwiespalt. Sie mochte Liebesgeschichten, fand sie faszinierend, weil Elfen normalerweise keine Liebe kannten. Doch für ihn war es Realität geworden. Etwas war geschehen, damals im Kerker der venezianischen Insel Tramonto, als Nadja ihn befreit hatte. Das Tor zu Samhains Reich hatte bereits für ihn offen gestanden, sein Schatten den Weg dorthin angetreten, doch die Sterbliche hatte ihn zurückgeholt. Und dabei hatte sie ihm die Seele geschenkt. Er wusste um Rians Befürchtung, dass seine Seele ihn möglicherweise eines Tages von ihr trennen würde.

Er hegte dieselbe Befürchtung. Er wollte Rian nicht verlieren. Nie wieder. Ihr vorübergehender Tod saß ihm noch immer tief in den Knochen. Obwohl es seine Seele gewesen war, die ihm in diesem Moment das Leben bewahrt hatte, war die Angst vor der Trennung von Rian einer der Gründe, warum er deren Wachstum momentan nicht zuließ. Das, und dass er sich um seine Liebe betrogen fühlte. Weil Nadja vielleicht das Kind eines anderen trug, das Kind des Mörders und Verräters Alebin.

Er wusste, dass er ungerecht war, wusste, dass es geschehen war, bevor ihre Liebe geboren worden war. Auch sein eigenes Bett war zu dieser Zeit fast keine Nacht leer gewesen, wie konnte er es dann Nadja übelnehmen? Zudem hatte Alebin Nadja getäuscht und beeinflusst. Aber das Gefühl ließ sich nicht einfach beiseiteschieben, der Eindruck, dass sie nie vollauf zu ihm gehören würde, dass womöglich immer etwas da sein würde, das sie mit einem anderen verband. Und das war ihm unerträglich.

Rians Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Das Tor ist nah«, sagte sie und streckte ihre Hände über das Wasser aus, um erneut die Linie zu erspüren, der sie folgten. Sie schob sich näher an die Reling und beugte sich vor, führte die Fingerspitzen dicht über das Wasser. »Es könnte sein, dass es Unterwasser liegt. Die Linie senkt sich ab.«

»Dann sollten wir anfangen, einen Zauber zu weben, der uns erl…«

Ehe David seinen Satz zu Ende sprechen konnte, durchbrach etwas an der Seite des Bootes die glatte Wasseroberfläche. Eine grauschimmernde Gestalt sprang hoch, beschuppte Arme schlossen sich um Rians Körper, und noch ehe sie auch nur Zeit für einen Ausruf hatte, zog das Wesen sie mit sich zurück in die Tiefen des Flusses.

Im ersten Moment saß David wie erstarrt da. Dann stieß er einen Schrei voller Wut und Angst aus, der alles andere verstummen ließ, sprang auf und hechtete über die Reling ins eiskalte Wasser des Flusses.

Rian, ich komme … halte nur so lange durch, bis ich euch gefunden habe!

Der Elfenprinz drehte sich, versuchte, unter der Oberfläche etwas zu erkennen oder in der eiskalten Strömung Wirbel zu spüren. Das Wasser war recht klar und der Fluss nicht so tief, dass der Grund dunkel gewesen wäre. Tatsächlich sah David eine Bewegung weiter flussaufwärts, einen aufgescheuchten Fischschwarm und ein Glitzern wie von einer Glasperlenschnur.

Luftblasen!

David hielt mit kräftigen Stößen darauf zu. Weit vorn schälten sich mehrere schemenhafte Gestalten aus dem Halbdunkel. Fünf Wesen, die nur als dunkle Schatten zu erkennen waren, scharten sich am Flussgrund um ein kleineres, helles, das sich heftig bewegte.

Rian!

In dem Moment, in dem er ihren Namen dachte, stießen die Gestalten sich ab und zogen die Elfe mit sich. Noch immer wand sie sich erfolglos in den Griffen ihrer Entführer. Die Wesen hatten etwas über sie gestülpt, das ihre Gestalt unscharf wirken ließ und sie zugleich in der Bewegung hemmte.

Die Angst um Rian ließ David noch mehr Kraft in seine Schwimmstöße legen, obwohl die Eiseskälte ihm trotz seiner robusten Konstitution langsam bis auf die Knochen ging. Zudem behinderte ihn die Kleidung. Er hielt für einen Moment inne, um sich aus dem schweren Mantel zu befreien und die Schuhe abzustreifen. Beides sank unwiederbringlich in den dunklen Schlamm des Flussgrundes hinunter.

Nun konnte David die Verfolgung schneller aufnehmen, doch durch die Verzögerung hatte er Rian und ihre Entführer schon aus dem Blick verloren. Er behielt die Richtung bei, die sie zuvor eingehalten hatten.

Aus dem Augenwinkel registrierte er eine Bewegung. Ein weiterer Schwarm, der aufgeregt davonstob, als hätte ein Raubfisch sie aufgescheucht. Und erneut eine kleine Kette von Luftblasen. Ohne zu zögern wechselte David die Richtung und folgte der neuen Spur. Da, eine Bewegung. Ein dunkler Schatten, dazu ein hellerer … er hatte sie wieder.

Hoffnung flammte in ihm auf und trieb ihn voran durch das dunkle Wasser. Seine Glieder wurden allmählich taub von der eisigen Kälte, dennoch gehorchten sie weiter den Befehlen seines Gehirns, schoben ihn voran und ließen ihn dicht über den Flussgrund dahinschießen. Sein Blick verschwamm, und in den Randbereichen seines Sehens setzte ein graues Rauschen ein. Vor ihm tauchte ein dunkler Umriss so plötzlich auf, dass er beinahe nicht mehr ausweichen konnte. Ein Fels.

Das Wasser wurde trüber und erschwerte seine Sicht auf die dunklen Gestalten vor ihm. Trotz der zusätzlichen Last der Elfe entfernten sie sich immer weiter von ihm. Es schien, als habe Rian allen Widerstand aufgegeben.

Oder sie ist bewusstlos.

Erneut feuerte die Verzweiflung ihn an, obwohl er allmählich ein Stechen in seinen Lungen spürte, und sein Blick schnürte sich langsam auf einen schmalen Tunnel ein. Wenn er für sich eine Atemblase schuf, würde ihn das extrem verlangsamen – er musste so hindurch. Erneut war ein Fels im Weg, und diesmal reagierte er zu spät und stieß dagegen. Für einen Moment trieb sein Körper unkontrolliert durch das Wasser, und die Kälte bekam etwas Tröstliches, denn sie betäubte den Schmerz. Ein Fischschwarm tauchte direkt vor ihm auf, silbrig schillernde Körper wimmelten um ihn herum und versperrten seine ohnehin schon eingeschränkte Sicht.

Der Schwarm verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und von Rian und ihren Entführern war nichts mehr zu sehen. David schloss die Augen, riss sie dann wieder auf und wollte mit purer Willenskraft den grauen Schleier vertreiben, der sich vor die Sicht schob. Einen Moment lang schärfte sich sein Blick, er sah scharf gestochen den unregelmäßigen schlammigen Grund, die Steine und rundgewaschenen Felsen, jeden einzelnen Wasserfarn und die Fische, die dazwischen nach Algen und Plankton jagten. Doch nicht mehr. Keine Spur zeigte ihm, in welche Richtung er sich wenden musste.

Erneut schloss er die Augen und ließ sich weiter treiben.

Auftauchen, dachte er. Luft …

Mühsam zwang er die Augen wieder auf und versuchte, sich zu orientieren. Wo war oben, wo unten? Er trieb im grauen Dämmerlicht, wohin die Strömung ihn in den vergangenen Augenblicken getragen hatte, und wusste nicht, wo das war. Sein Blick war durchsetzt mit tanzenden Lichtern und dunklen Punkten, die es schwer machten, irgendetwas zu erkennen. Er zwang Arme und Beine unter seinen Willen zurück, wagte einen schwachen Schwimmstoß auf eine helle Fläche zu, und noch einen. Es musste die Oberfläche sein, nur dort war es hell. Im nächsten Moment stieß er an etwas, das seine Knochen zusammenstauchte.

Ein Fels. Ein heller Fels … ich bin zurück zum Grund geschwommen.

David wollte lachen, doch er hatte keine Luft mehr dafür. Stattdessen schloss er die Augen, breitete die Arme aus und ließ sich treiben.

Da geschah der Übergang.

Es dauerte einige Atemzüge, bis David bewusst wurde, dass er atmete. Er hatte aufgehört, seine Luftwege zu verschließen, als der Schmerz der Atemnot zu groß wurde. Körper und Geist waren zu betäubt gewesen, um eine rettende Luftblase zu schaffen. Er hatte tief das eingesogen, worin er trieb, und die Qual in seinen Lungen hatte nachgelassen.

Mit einem Blinzeln sah David sich um. Auch der Schleier um seinen Blick war verschwunden. Er trieb noch immer knapp über dem Grund, zwischen bizarr geformten Gebilden aus porösem Buntgestein, die direkt aus hellem Sand herauszuwachsen schienen. Es war ihm unmöglich zu erkennen, ob er sich noch in dem Flussbett befand. Als er sich auf den Rücken drehte, hatte er das Gefühl, das Wasser müsse sich über ihm ins Endlose erstrecken, trotz des Lichtes, das bis zu ihm durchdrang.

Wasser?

Er hatte den kalten Strom verlassen und war in ein Gewässer geraten, das nicht mehr aus normalem Wasser bestand, sondern aus einem Stoff, in dem er atmen konnte. Wann war das geschehen?

Da war dieses Prickeln, als würde sich jedes einzelne Härchen aufstellen … dieses kurze Gefühl des Schwebens, noch stärker als es ohnehin im Wasser geschieht … der Übergang! Ich muss ihn durch Zufall getroffen haben und in die Anderswelt übergetreten sein. Ich bin in einer Wasserdomäne.

Und trotzdem fühlte es sich falsch an, ungewöhnlich. Als sei etwas Fremdes dabei. Das war nicht Crain, sondern eine der vielen Regionen des Nordens. Manches mochte sich dort anders anfühlen.

Rian! Vielleicht ist sie auch hier?

Der Gedanke setzte seinen Körper unter Spannung. Er drehte sich wieder zurück, suchte nach irgendeinem Anzeichen der Anwesenheit anderer. Da … Spuren im hellen Sand. Jemand hatte nicht weit von ihm am Grund gestanden. Der Sand trieb in Wirbeln darum herum, als seien diejenigen eben erst wieder aufgebrochen, vielleicht während Davids Übergang.

Er schwamm auf die Stelle zu, und tatsächlich nahm er vor sich eine Bewegung wahr, die ihn innerlich aufjubeln ließ. Er sah gerade noch die letzte der Gestalten in einem nahen Tangwald verschwinden. Obwohl sie zügig schwamm, wirkten ihre Bewegungen nicht so, als fühlte sie sich verfolgt. David zog seinen Dolch und verstärkte seine Beinbewegungen. Er überlegte kurz, sich in ein Wasserwesen zu verwandeln – doch das war gar nicht notwendig.

Wellen von Energie durchliefen seinen Körper, als die Runen auf dem Heft des Dolchs mit seinem Körper in Kontakt kamen, und vertrieben den letzten Rest von Taubheit daraus. Mit neu erwachter Kraft trieb er seinen Körper Rian und ihren Entführern nach, in den Tangwald hinein. Die Bewegungen der langen Pflanzenstränge und der aufgewirbelte Sand zeigten ihm deutlich, welche Richtung die Gruppe genommen hatte, und er folgte ihnen mit ausdauernden Schwimmbewegungen. Wo immer ihm Pflanzen in den Weg kamen, schnitt er sich hindurch, wie mit einer Machete im Dschungel.

Nach einer Weile bemerkte er, dass der Boden unregelmäßiger wurde. Erneut tauchten zwischen dem Tang die seltsam geformte Felsen aus löchrigem Gestein auf, und sie wuchsen immer höher hinauf. Schließlich zog sich der Tangwald zurück und machte den Felsen Platz. Für einen Augenblick konnte David die fremden Wasserwesen wieder vor sich sehen. In ihrer Mitte leuchtete Rians heller Haarschopf kurz auf, ehe sie um das nächste Felsgebilde herum verschwand und er nur noch die beiden Wesen sah, die das Ende der Gruppe bildeten.

Ihre dunkle, blauschimmernde Schuppenhaut erinnerte ein wenig an den Kelpie aus Alberichs Rheinhöhle, doch das war die einzige Übereinstimmung. Weder Schleierhäute noch Mähnen waren an ihnen zu sehen, und statt tellerähnlicher Hände und Füße hatten sie schlanke Finger mit Schwimmhäuten sowie an den Enden ihrer Beine kräftige Fischflossen. Ihre extrem kurzen und dicken Hälse waren von eine Krause aus Hautfalten umgeben.

Sie trugen nichts an ihren Körpern, was sie beim Schwimmen hätte hindern können. Lediglich einen Gurt hatte jeder von ihnen über den Rücken geschlungen, in dem mehrere kurze Speere steckten, die vollständig aus Metall gearbeitet waren. Einen solchen Speer hielt jeder von ihnen in der Hand.

Noch während David sie betrachtete, verschwanden auch die letzten beiden der Wasserwesen um den Felsen herum. Wären die Wesen allein gewesen, hätten sie David längst abgehängt. Rian behinderte sie jedoch, sodass er den Anschluss halten und sogar zusehends aufholte. Das war erforderlich, denn nun bewegten sie sich durch ein Felsenlabyrinth. Die Brocken und Nadeln weiteten sich nach oben hin aus, berührten sich, bildeten Brücken oder Tunnel, zusätzlich zu den Löchern, die teilweise in ihr poröses Material gewaschen waren und gewundene Durchgänge darstellten.

Um die nächste Biegung entdeckte er die Gruppe. Es erleichterte David zu sehen, dass Rian sich bewegte. Sie war weder bewusstlos noch gefesselt. Im nächsten Moment erkannte er, dass ihre Bewegungen ruhig und gleichmäßig waren. Die Wesen, zwischen denen sie schwamm, berührten sie nicht einmal.

Rian schwamm freiwillig mit!

Seine Verwirrung ließ David einen Moment in den eigenen Bewegungen innehalten, und da waren sie auch schon in der Dunkelheit eines Felstunnels verschwunden. So schnell er konnte folgte er ihnen.

Als David den Tunnel verließ, hatte die Umgebung sich unmerklich verändert. Hier und da wuchsen wieder Tangpflanzen, zwischen denen sich bunt schillernde Fischschwärme herumtrieben, und der Boden glitzerte, als wäre der Sand mit Quarzen und Gneis durchmischt. Die noch immer vorhandenen Felsnadeln wirkten bearbeitet, als habe jemand ihnen Formen gegeben und Löcher hineingetrieben. Und ungefähr hundert Schwimmstöße vor ihm schwang sich ein Gebilde in die lichterfüllte Höhe, das wirkte, als hätte jemand aus mehreren zusammengewachsenen Felsnadeln ein Schloss geschaffen.

Unzählige dünne Steinspitzen erhoben sich daraus wie Türmchen, und die Wände glitzerten in allen Farben, als wäre Edelsteinstaub darauf verteilt worden. Löcher, die zu regelmäßig waren, um Auswaschungen zu sein, führten in das Innere des Felsenschlosses, in dem ein blau-grünes Leuchten die Hohlräume erfüllte. Die Gruppe hielt auf das Schloss zu.

David hatte auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Wann immer er sich umschaute, entdeckte er niemanden, vielleicht die letzten Wirbel von Schwanzflossen der eifrigen Fische.

Jetzt, da das Ziel so nahe war, nahm die Gruppe zügig an Tempo zu. Selbst Rians Schwimmbewegungen waren kräftiger geworden, und David wurde immer verwirrter.

Was geht hier vor sich?

Dicht vor dem Schloss verlangsamte die Gruppe kurz, als wisse sie nicht genau, welchen der zahlreichen Eingänge sie nutzen sollte. Dann steuerten sie auf eines der größeren Löcher zu. David folgte, so schnell er konnte.

Die hinter dem Loch gelegene Höhlung reichte in alle Richtungen tief in das Gestein hinein. Wände und Decke waren rund ausgeformt, zu gleichmäßig, als dass es auf natürliche Weise hätte entstanden sein können, und der Boden war absolut eben. Hier bewiesen Rians Entführer, dass die Flossen ihrer Beine ebenso stabil wie Füße waren, denn sie hatten sich rings um die Elfe niedergelassen, die Speere auf sie gerichtet. Aus dem hinteren Teil der Höhle schossen jetzt weitere Wesen auf sie zu, blitzende Speere in den Händen.

Ohne zu zögern streckte David seinen Dolch vor und stieß auf das erste Wesen zu.

2.
Von Schafen und Wölfen

Glitzernder Kristallstaub tanzte durch die Luft des Gangs in der Zitadelle der Königin Bandorchu, gelöst durch einige kleine Windwirbel, die über die Deckenstuckaturen fegten. Rings um Ainfar sank er zu Boden, während der Elf das grünhäutige, von braunen Linien durchzogene Gesicht nach oben gewendet hielt und mit kleinen Bewegungen seiner schlanken Finger die Wirbel dorthin steuerte, wo ihre Arbeit benötigt wurde. Seine in labyrinthartige Knoten verflochtenen Locken wurden vom Staub belagert und verwandelten den Raum um sein Gesicht in eine schimmernde Aureole, wann immer durch eine Kopfbewegung etwas Licht dorthin gelangte. Doch die Gedanken, die er während seiner Arbeit wälzte, waren düster.

Wer bin ich? Warum bin ich hier?

Ununterbrochen wehte draußen vor der Burg der Wind, der die Schreckenswolken über den grellen Himmel des Schattenlandes trieb, und fegte feinen Kristallstaub von den umgebenden Spiegelhügeln hinunter in das Tal. Dort sammelte er sich rings um die Dunkle Zitadelle und drang durch jede Ritze herein, um sich auf Flächen und in Spalten abzusetzen. Einer von Ainfars Aufträgen war es, in den unteren Wohnebenen des Schlosses gegen diese dauerhafte Invasion anzukämpfen. Es war keine erfüllende Aufgabe, aber besser, als wenn er hinaus auf die Spiegel hätte gehen müssen, ständig dem quälenden Bild seines Innersten und zugleich den Schrecken der Wolkenschatten ausgesetzt, um Pflanzen oder andere Rohstoffe zu suchen. Das war nur noch selten notwendig, aber wenn, dann traf es stets diejenigen, die aus dem einen oder anderen Grund den Unwillen der Königin auf sich gezogen hatten. Ainfar gab sich alle Mühe, das nicht zu tun und auch sonst nicht aufzufallen.

Weder der Königin, noch ihrem engsten Vertrauten, dem Getreuen.

Er versuchte, sich zu geben, als sei er gar nicht da.

Aber ich bin hier. Und es gab einmal einen guten Grund dafür. Einen sehr guten Grund. – Aber wer bin ich jetzt?

Ein hoher, lang gezogener Ton durchschnitt die Luft, riss Ainfar aus seinen Gedanken und brach dann in einem Gurgeln ab, das den Gestaltwandler schaudern ließ. Dennoch wagte er es nicht, die Konzentration von seiner Arbeit zu lösen. Lediglich die großen braunen Augen, die von keinerlei Weiß umgeben waren, verrieten die Angst in seinem Inneren. Sie weiteten sich, und die schwarzen Löcher der Pupillen darin vergrößerten sich wie bei einem Reh kurz vor der Flucht. Doch er widerstand dem Drang des Instinkts, den die Vertrauteste seiner Tierformen in ihm erzeugte. Und wohin hätte er auch fliehen sollen? Jeder Fluchtversuch hätte Fragen aufgeworfen und die Dinge nur verschlimmert, und dann würden andere seine Schreie durch die Zitadelle hallen hören.

Die Gänge, die Ainfar reinigte, lagen direkt über den Katakomben. Dort unten waren die Kerker und Folterkammern, in denen diejenigen endeten, deren Vergehen nicht mehr nur durch die Arbeit draußen abgegolten werden konnten.

Während seine Windwirbel selbstständig den Deckenbögen folgten und die Reliefs reinigten, schob Ainfar einige Haare zurück, die sich aus den Knoten gelöst hatten, und streckte die Hand nach der Mündungsöffnung eines der Kristallschächte aus, die Licht aus mehreren Himmelsrichtungen diffus in den Palast hinein brachten und die gedankengeschwärzten Gänge in ein sanftes Zwielicht tauchten.

Die Gedanken und Erinnerungen der Königin, dachte Ainfar. Sie sind schwarz genug, um damit die aus der kristallenen Materie dieser Welt geschaffenen Wände zu verdunkeln und uns vor den Spiegelungen zu schützen, so wie die Wände selbst uns vor dem Anblick der jagenden Schatten der Schreckenswolken bewahren. Aber zu welchem Preis ist das alles geschehen …

Mit einem Finger strich er über den mit Zierreliefs versehenen Rahmen des Schachts. Gesichter waren dort zu sehen, zu Schreien verzogen, von Wesen, die in verschlungenen Ranken gefangen waren. Zwischen all den Bildern fand sich unter Ainfars Fingern ein Gesicht, das von hochragenden Geweihstangen beherrscht wurde und einen zotteligen Bart trug. Fast zärtlich fuhr der Elf die Linien der Figur nach.

Regiatus …

Er schloss die Augen, und vor ihm erschienen wieder die Bilder, an denen er sich festhielt, seit sie wiedergekehrt waren. Seine letzten Momente im Thronsaal des Baumschlosses. Der geflüsterte Disput mit seinem Bruder.

»Ich werde gehen, Regiatus. Jemand muss es tun. Gwynbaen ist zu gefährlich, sie darf nicht unbeobachtet bleiben.« Ainfars Magen zog sich zusammen, während er die Worte sprach.

Regiatus schüttelte den Kopf so heftig, dass das eingeflochtene Blattwerk in seinem Geweih protestierend raschelte. »Das ist Unsinn! Sie wird im Schattenland sein! Was soll sie deiner Meinung nach dort anrichten?«

»Sieh sie dir an, Bruder! Sieh dir an, wie ruhig sie ist, wie gefasst, selbst in der Niederlage noch Herrscherin. Du spürst ihre Macht ebenso wie ich! Das ist kein reiner Trotz. Sie hat keine Angst vor der Verbannung, und dafür muss es einen Grund geben.« Beschwörend sah Ainfar den Cerviden an, mit dem er den Vater teilte. »Regiatus, gib mir deine Zustimmung. Ich werde mit ihr gehen, und ich werde mit euch Verbindung aufnehmen, sobald ich es kann. Ich werde einen Weg finden. Du und ich … wir sind uns so nahe. Diese Verbindung muss auch über die Welten hinweg wieder herstellbar sein.«

»Ich will mich ungern darauf verlassen, Ainfar. Ich will dich nicht verlieren. Sie hat uns schon genug gekostet, ohne dass du dich opferst.«

»Es muss sein. Es … es ist auch wegen unseres Bruders.«

»Was soll es dich kümmern, was er getan hat oder tut? Du hast ihn nie gemocht, und er dich nicht. Und ich teile deine Einstellung ihm gegenüber. Er war schon immer arroganter und mehr von sich selbst überzeugt, als es gut für ihn war.«

»Das ändert nichts daran, dass er unser Bruder ist, und dass seine Taten Schande über uns bringen. Und jetzt ist er ein Meidling … einer von denen, die den doppelten Verrat begangen haben, nicht mit Gwynbaen durch das Tor gehen zu wollen. Ein Ausgleich ist gefordert. So sind die Regeln im Gewebe unseres Daseins, und das weißt du genausogut wie ich. Wenn ich es nicht tu, wird der Ausgleich auf andere Weise geschehen, ohne dass wir es steuern können. Und so ziehen wir vielleicht noch unseren Nutzen daraus.«

»Bruder …« Regiatus verstummte, als er Ainfars Entschlossenheit erkannte.

»Ich gehe. Berichte du Fanmór.«

»Er wird nicht erfreut sein.«

Ainfar lächelte schief. »Doch, das wird er. Was kümmern ihn schon unsere Schicksale? Aber die Möglichkeit, einen Spitzel in den Reihen der Weißen Frau zu haben, wird er sehr begrüßen. Er ist ein Herrscher, Regiatus. Er weiß, was wichtig ist und was nicht.«

»Und was, wenn du es doch nicht schaffst? Was, wenn du einfach nur mit ihr dort gefangen bleibst?«

»Das wird nicht geschehen.« Er legte eine Hand auf Regiatus’ Arm. »Vertrau mir, Bruder. Ich werde einen Weg finden.«

Vertrau mir, Bruder …

Er hatte sich bei denen eingereiht, die von den anderen Regionen Earrachs aus zum Baumschloss gekommen waren, um das Portal zu durchschreiten. Niemand hatte ihm besondere Beachtung geschenkt, denn niemand hätte erwartet, dass irgendein Elf ohne den Zwang von Fanmórs Urteil diesen Schritt gehen würde. Und dann hatten die Qualen begonnen, das Leiden unter den scharfen Wolkenschatten und den schneidend grellen Widerspiegelungen und die stetige Gefahr des Vergessens, des sich Verlierens.

Ich habe dich vergessen … habe die Erinnerungen verloren, sie als Auswüchse an mir getragen, bis der Schutz der Zitadelle mir langsam erlaubte, mich wiederzufinden. Und seither lähmt mich die Angst vor all dem, was Gwynbaen … nein, jetzt ist sie Bandorchu, die Dunkle Frau … hier aufgebaut hat. Vor ihrer grausamen Herrschaft, die durch ihre kalte Schönheit noch an Schrecken gewinnt.

Er öffnete die Augen und strich erneut über das Gesichtsrelief. Ob du noch auf mich wartest? Ob du noch glaubst, was ich gesagt habe? Ob du überhaupt noch an mich denkst?

Ein eisiger Hauch strich durch den Gang, und Ainfars Finger verharrten auf dem Ornament. Seine Augen weiteten sich, kalte Angst umschloss seine Gedanken und ließ sie erstarren.

»Welch seltsame Art, die Gänge zu reinigen«, erklang eine heisere Stimme. Eine Aura berührte den Tiermann, die so kalt war wie derjenige, von dem sie ausging. Ainfars Finger krallten sich um den Schachtrahmen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass der Getreue im Gang stand, Bandorchus mächtigster Verbündeter, der tun und lassen konnte, was ihm beliebte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass jemand den scharfen Kristallstaub mit den eigenen Fingern beseitigen würde. Oder willst du dein Blut über die Mauern der Zitadelle verteilen, um die Bemühungen deiner Herrin zu unterstützen? Es wäre bestimmt eine interessante Art, den Kristall am Widerschein zu hindern, und eine, die deine Herrin nicht so viel Kraft kosten würde. – Wie viel Blut wohl in deinen Adern rinnt, und wie viel Fläche man damit verdunkeln könnte? Eine interessante Frage …«

Etwas huschte den Gang entlang, und Ainfar spürte körperlich, wie Blick und Aufmerksamkeit von Bandorchus Verbündetem sich von ihm lösten. Die lange schwarze Kapuzenkutte des Getreuen raschelte, als er herumfuhr. Im nächsten Moment war ein Quieken zu hören. Ainfar drehte langsam den Kopf. Eine kleine wollige Gestalt wand sich im Griff des Getreuen und strampelte. Knopfaugen schillerten zwischen den wuschligen Haaren hindurch, und ein ebenso kleiner Mund stand weit offen. Langgezogenes Winseln drang daraus, während der Getreue das Wesen am Fell in die Luft hob.

»Und was treibt dich hierher? Du hast momentan keine Aufgabe, oder? Ich werde schon etwas für dich finden …«

Das Winseln stieg zu einem durchdringenden Klagelaut an, und der kleine wollige Kerl schlug mit dürren Ärmchen und Beinchen um sich im Versuch, sich aus dem Griff des Hünen zu befreien. Doch all seine Anstrengungen waren vergeblich. Mit langen Schritten ging der Getreue den Gang hinunter, das gefangene Kerlchen fest in seiner Hand, und redete leise weiter mit seiner heiseren Stimme, als wolle er nur plaudern.

Die Kälte ließ nach, und Ainfar schüttelte sich.

Mit einer Handbewegung löste er die Windwirbel auf, raffte sein Gewand und rannte so schnell er konnte den Gang in der entgegengesetzten Richtung hinunter.