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Juli Faber

Chevyblues

Als Helena den Krieg erklärte

KAPITEL EINS: Aufbruch

Es ist ziemlich beschissen, wenn man die Wahl hat. Es ist anstrengend, qualvoll, chaotisch und auch sehr gefährlich – für sich selbst und für andere. Man weiß nie so ganz wen man gegen die Wand fährt. Unfreiheit ist um so viel leichter. Verantwortung abgeben. Machen, was vorgeschrieben wird und man ist fein raus. Manchmal sehne ich mich heute nach der Zeit, als ich einfach das tat, was man mir sagte. „Helena, steh auf, du musst zur Schule, Helena, räum dein Zimmer auf, Helena, du bist um zehn wieder Zuhause, Helena, je besser du im Abitur abschneidest, umso einfacher wirst du es im Leben haben.“

Und ich habe gemacht. Alles gemacht. Und mich selbst dabei gegen die Wand gefahren.

Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich damals so dachte. Ob ich überhaupt dachte. Keine Ahnung, wie mein Hirn damals funktionierte. Ich kann mich erst später an diesen einen Gedanken erinnern, diesen einen Gedanken an jenem Tag, an dem sich alles änderte. Dieser erste Gedanke in meinem Bewusstsein war:

Ich hasse den Geruch von Bratwurst.

Kein Witz. Zugegeben, dieser Satz klingt nicht gerade nobelpreisverdächtig, aber mit ihm fing alles an. Es war an diesem viel zu herrlichen Sommertag, als mir zwischen dem Geklapper von Silberbesteck auf Porzellantellern und dem kreischenden Gelächter von den Frauen aus Bad Birnbach, die in einem mir unbekannten Grade mit mir verwandt waren, geradezu speiübel wurde von diesem Geruch, diesem Gestank, von Bratwurst. Auf Porzellantellern. Wer bitte isst schon Bratwurst von Porzellantellern?

Gestatten, ich heiße Helena. Helena Wallenstein. Und ich möchte euch eine Geschichte erzählen, die hier auf der Grillparty in dem Garten der Villa meines Vaters begann. Es ist eine sehr traurige Geschichte.

Da war das Wetter Thema, Tante Lottas neuer Hut, die Zahnschmerzen vom kleinen Tom, meinem Vetter. Ich saß am Rande unseres Pools auf einem Stuhl zwischen Oma Trude und ihrer Schwester Irmgard, und musste mir das Geplapper der zwei älteren Damen über Charlotte Rothaupts Hämorridenprobleme anhören. Da platzte irgendetwas in mir. Als hätte in meinem Inneren jemand einen Ballon mit einer Nadel gepiekst. In aller Stille machte es puff. Heimlich und leise. Und ich selbst konnte nicht anders reagieren, als in aller Stille einmal tief Luft zu holen.

Nicht dass Charlotte Rothaupts Hämorriden daran Schuld wären, ich litt in diesem Moment wirklich mit dieser armen Frau. Nein, eigentlich war es der Anblick von Papa, der gut gelaunt in Hemd, Krawatte und strahlendweißer Schürze hinter dem Grill stand und seinem mit ausgeprägter Pupertätsakne verzierten Neffen Tobias ein noch halb blutiges stück Fleisch auf den Teller legte, während meine Mutter mit einem angestrengten Lächeln neben ihrem Gatten hockte und einen Gesprächsschwall ihrer Schwägerin über die Blumenarrangements bei der Hochzeit von Sybille Jakobsen über sich ergehen ließ. Ich fühlte mich geblendet von all den Menschen in ihren saisongerechten rosa-gelb und hellgrünen Sommerkleidern und mit Schleifen verzierten Sonnenhüten. Diese perwollgewaschene Reinheit stach mir so sehr in die Augen, dass ich sie für einen Moment zusammenkneifen musste. „Schätzchen, ist dir nicht gut?“, hörte ich Oma Trude besorgt fragen und zuckte unwillkürlich zusammen, als sich eine mit Altersflecken besprenkelte Hand auf mein Knie legte. „Keine Sorge, mein Kind“, plapperte sie weiter „Wenn du schwanger wirst, wird es dir damit sicher besser ergehen. Mit zwei Ärzten in der Familie! Und außerdem sind bis dahin ja noch zwei, drei Jährchen Zeit, nicht wahr? Bis dahin haben die bestimmt ein Mittel gefunden, das einem diese grauenvollen Operationen erspart.“

Das war zuviel.

Schwanger? Hämorriden? In zwei, drei Jahren? Was denn? konnten sie denn nicht damit zufrieden sein, mir ihr Familienporzellan zu vermachen? Mussten sie mir jetzt auch noch halb rohes Fleisch essende und vor Zahnschmerzen brüllende Bälger anhängen, die es nicht einmal schaffen würden, ihre Schürzen zu versauen, wenn sie direkt hinter einem rußenden und Fett spritzenden Grill standen? Außerdem war mein Vater Chefarzt für Radiologie und würde mir bei einem Hämorridenproblem wohl kaum helfen, ganz zu schweigen davon, dass ich ihm niemals meinen nackten Hintern zeigen würde. Und meinem Bruder Moritz erst recht nicht. Der studierte im fünften Semester Allgemeinmedizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Genau wie mein Vater. Natürlich.

Um nicht laut aufzuschreien leerte ich mein noch halb volles Sektglas in einem Zug. Danach war mir schwindelig.

Erstaunlich wie umfangreich sich die Welt innerhalb von nur drei Monaten ändern kann. Und ich meine tatsächlich die Welt, nicht nur mich, sondern die Welt. Sie sieht inzwischen ganz anders aus. Ich meine, ich bin nun hier, in diesem Haus voller Gesellschaftsaussteiger, irgendwo in Zürich, in einem Haus für das wahrscheinlich nicht einmal ein Mietvertrag existiert. Und es ist charmant. Es ist nicht leichtsinnig und würdelos, sondern aufregend. Der Staub auf den Regalbrettern ist nicht widerwärtig, sondern romantisch und macht das Zimmer wohnlich. Der Geruch erinnert an eine Dachkammer, die unzählige Schätze birgt, es mieft nicht, es riecht nach Geschichten. Geschichten von jedem einzelnen Menschen, die schon in diesem selben Bett geschlafen haben, in dem auch ich diese Nacht verbringen werde, mit einer durchgelegenen Matratze und einem fleckigem Kissenbezug – der nach Kernseife duftet. So verändert sich die Welt. Sie duftet nicht mehr nach Perwoll, sondern nach schimmerndem Dachkammerstaub und Kernseife. Und ich weiß ganz genau, wem ich das zu verdanken habe.

Leicht taumelnd erhob ich mich damals von meinem weißen Stuhl unter dem weißen Gartenpavillon und suchte den Eingang in unsere weitläufige Wohnküche, die senilen Rufe meiner zwei greisen Verwandten missachtend. Ich umrundete den Pool, der so elegant in der goldenen Sommersonne glitzerte, als wäre ein ganzes Team engagierter Lichttechniker am Werk, das Wasser in Szene zu setzen. Damals wusste ich nicht wie Kernseife riecht. Oder Oleander. Überall in Spanien riecht es nach Oleander. Und Frankreich, ja Frankreich riecht nach Thymian und Lavendel. Die einzigen Gerüche, die ich damals auf Anhieb und eindeutig zuordnen konnte waren der von frisch aufgetragenem Nagellack und der von dem Chlorreiniger, den Meine Mutter immer für Lola, unsere portugiesische Haushälterin, kaufte. Und natürlich Bratwurst.

Noch bevor ich die Terrasse mit der rettenden Tür, die ins Hausinnere führte, erreichte, hörte ich es hinter mir rufen. „Helena! – Mensch Helena, bleib bitte stehen, wenn ich mit dir rede!“

Widerwillig drehte ich mich um und blickte in das begeisternd strahlende weil geschäftige Gesicht meines Vaters, ein Gesicht, wie man es kleinen Jungs zumutet, kurz vor einer Fahrt in einem riesigen Bagger – oder eben einem Mann am Grill. Samt Würstchenzange und blitzblanker Schürze stand er da. „Willst du nicht ein paar Worte an deine Gäste richten?“

Nein, bitte, Papa, sag es nicht.

„Wie es sich für eine Dame deines Alters gehört – schließlich bist du nun Abiturientin.“ Lieber Papa, halte einfach deine Klappe „Mit einem 1,0-Durchschnitt!“ Nun bekamen seine Augen noch diesen zusätzlichen Ausdruck, der bisher nur Ausschweifungen seiner eigenen, schon Jahrzehnte zurückliegende Doktorarbeit vorbehalten war. Daher wäre eigentlich nun der Moment gekommen, mich geschmeichelt zu fühlen. Papa war stolz auf mich. Und zeigte es öffentlich. Ich weiß noch, wie ich in diesem Augenblick dachte, wie seltsam das ist. Hatte ich mir das nicht immer gewünscht? So von ihm angeblickt zu werden? Nicht krittelnd, nicht mahnend, nicht belehrend. Sondern stolz. Und es regte sich nichts in mir. Nicht der kleinste Funke. Ja, das war der Moment, in dem ich hätte zufrieden sein können. Doch mir war nicht danach. Ganz im Gegenteil. Das ganze hier, der Garten, die Party, mein Vater in Schürze machte mich unzufriedener, als ich es bei jedem vorherigen Tadel von Papa jemals gewesen war. Ich habe es noch gar nicht erwähnt. Aber das hier war eine Party mir zu Ehren. So sagten sie. Papa, Mama, Moritz, die gesamte verdammte Masse der Gäste. Sie logen. Eine verlogene Masse. Es war keine Party mir zu Ehren, es war eine Party meiner schulischen Leistung zu Ehren und zu Ehren meines bald beginnenden Studiums an einer der renommiertesten juristischen Fakultäten des Landes. In München. Scheiße. Ich wollte nie nach München. Ich hasse Weißbier.

„Deine Gäste erwarten, dass du sie begrüßt.“

Jetzt waren es plötzlich meine Gäste.

„Ich halte es für angemessen das zu üben. Als Anwältin wirst du schließlich sehr häufig vor Publikum sprechen müssen.“

Ich hatte nie vor, Anwältin zu werden.

„Ich erwarte dich in zehn Minuten am Salatbuffet. Keine Widerrede!“

Es geschah aus dem Affekt. Ich hatte das nicht geplant oder so. Ich dachte in diesem Moment auch nicht wirklich viel nach. Es geschah aus einem Impuls in meiner Magengegend, bestimmt ein instinktiver Abwehrmechanismus, ein Überbleibsel aus der Steinzeit. Meine Beine taten plötzlich wenige schnelle Schritte auf meinen Vater zu, meine Arme bewegten sich ruckartig, es gab einen lauten PLATSCH, eine riesige Wasserfontäne schoss in die Höhe und stob glitzernde mit Chlor versetzte Funken in alle Richtungen. Ich stand am Poolrand, mein weißes Kleid von dem kurzen, niederprasselnden Schauer durchnässt, bestimmt war es durchsichtig geworden, doch ich achtete nicht darauf. Die Stimmen im Garten, das Klirren von Geschirr, ja selbst das Summen der Bienen schien verstummt zu sein. Fünfzig Augenpaare starrten starr vor Schreck auf den Mann mit der Schürze, der prustend und ungläubig Luft holend aus dem Wasserbecken auftauchte. Entsetzt stierte er mich durch triefnasse Haarsträhnen an, die ihm in seinem schmalen, sonst so klug dreinschauenden Gesicht klebten. Ich weiß nicht wer von uns beiden mehr über meine Tat verblüfft war. So wütend und verletzt ich eben noch gewesen war, so verwirrt war ich nun über mein Handeln und als der Doktor sich mit triefender Schürze und an den Beinen klebenden Hosen aus dem Becken quälte, sackte etwas in mir zusammen und ich empfand nur noch Scham. Mühsam die Tränen zurückhaltend drehte ich mich um und floh nun endlich in das Innere des Hauses. Ich erwartete einen wütenden Rückruf. Entschlossene Schritte, die mir folgten, eine kräftige Hand, die mich an der Schulter packte und heftig durchschüttelte, ich erwartet eine Schimpftirade oder sogar höhnisches Gelächter der Gäste. Doch nichts. Als die Terrassentür hinter mir zufiel, schloss sie nichts als atemlose Stille aus und Angst zog sich in meiner Brust zusammen. Ich wollte nichts weiter, als mich in mein Zimmer flüchten, die Bettdecke über den Kopf ziehen und erst an Weihnachten wieder ans Tageslicht kommen.

„Du hast ganzz schön Scheize gebaut!“ Lola stand am Küchentresen und räumte schmutziges Geschirr zusammen. Das S in „Scheiße“ sprach die schon etwas in die Jahre gekommene Portugiesin immer ganz weich, was dem Wort eine groteske Eleganz verlieh. Tadelnd sah sie mich über die Ränder ihrer Lesebrille an, die, wenn sie nicht gerade auf ihrer spitzen Nase saß, an einem schweinchenrosafarbenen Band über dem Ausschnitt ihres geblümten Kittels baumelte, der sich über ein für ihr Alter außergewöhnlich prallen Busen spannte. Moritz behauptete steif und fest, dass der üppige Vorbau nie und nimmer naturgegeben sein konnte („so alt wie die ist!“) und war mir Monate lang mit einer Wette in den Ohren gehangen – ein ganzer Satz neuer Reifen wäre ihm die Sache wert gewesen. Letztendlich war er dann aber doch zu feige gewesen, Lola über die Beschaffenheit ihrer melonenförmigen Weiblichkeit zu befragen.

Beim zweiten Blick in ihr kantiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den penibel gezupften Augenbrauen, erkannte ich allerdings ein schelmisches Zwinkern in ihrem rechten Lid und ein sanftes verschwörerisches Lächeln war auf ihren Lippen abzulesen, während sie mit dem üblichen Temperament das feine Porzellangeschirr übereinander stapelte – während ihrer gesamten fünfzehn Jahren in diesem Haushalt, war ihr kein noch so zerbrechliches Gut zwischen den schlanken, wohl kräftigen Fingern zerbrochen.

Ich glaube, ich hatte vergessen wie sprechen geht.

„Zzunge verschlugt?“, fragte Lola. „Das ist mir noch nie passiert.“ Und sie pfefferte das Besteck in das Spülbecken.

In diesem Moment öffnete sich hinter mir die Terrassentür und ein kurzer Fetzen an Stimmengewusel drang in die Wohnküche. Intuitiv zog ich den Kopf ein und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Doch es war nicht Papas Bariton, der durch den Raum schnitt.

„Helena!“ in einer einzigen Bewegung packte mich meine Mutter an den Schultern und drehte mich zu ihr um. Sie musterte mich von oben bis unten. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Meine Mutter war keine besonders große Frau. Ihr Haar war immer noch Strohblond, ohne dass sie es färben müsste, doch ihr zartes Gesicht sah oft älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Es war das Gesicht einer Mutter, die ihre Kinder mit bestem Wissen und Gewissen erzog und für die das Leben sonst nicht viele Aufgaben bereitstellte. Ich hatte mich oft gefragt, warum sie eine Haushälterin beschäftigte, wenn sie doch selbst nicht berufstätig war. Irgendwann hatte ich den Eindruck gewonnen, dass meine Mutter sich dasselbe fragte und hatte aufgehört darüber nachzudenken.

„Was ist denn nur passiert?“ Ich las die Verständnislosigkeit und die Sorge in ihren Augen, doch da war auch noch etwas anderes.

„Ich weiß es nicht.“ Und so war es auch. Und da kamen die Tränen. Sie liefen einfach stumm über meine Wangen und tropften auf mein immer noch feuchtes Kleid. Hinter mir pfiff Lola La Cucaracha.

Mutters Griff um meine Schultern wurde fester, nur ein kleines bisschen, wahrscheinlich merkte sie es selbst nicht einmal. Doch ich konnte am eigenen Leibe ihre steigende Anspannung spüren. „Fahr zu Tante Klara.“ Sagte sie. Verwundert sah ich sie an.

„Wieso?“, fragte ich entsetzt.

„Weil das kleine Mädchen erwachsen werden muss.“, kam es von der Spüle her geträllert.

„Ich werde Klara anrufen und dein Kommen ankündigen. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.“

„Mama, ich verstehe das nicht.“ Ich war kurz davor laut loszuschluchzen. Tante Klara, die Schwester meiner Mutter, lebte in dem alten Bauernhaus ihres verstorbenen Mannes in einem kleinen Ort in der elsässischen Pampa, der nicht einmal ein Namensschild hatte. Als wir noch Kinder waren hatten Moritz und ich unsere Mutter ab und zu begleitet, wenn sie ihre Schwester für ein langes Wochenende besuchen ging. Papa war nie mitgekommen. War das die Strafe für mein Handeln? Oder wollte Mama mich einfach nur loswerden?

„Dein Vater ist sehr wütend auf dich.“

Besorgt schielte ich durch das Verandafenster in den Garten, doch ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Plappernd, essend und Sekt trinkend standen und saßen die Gäste in verirrten Grüppchen beieinander.

„Keine Sorge“, beruhigte mich meine Mutter. „Großonkel Paul hat eine seiner Anekdoten erzählt, das hat die Situation entschärft.“

„Wo ist er jetzt?“

Sie wusste, wen ich meinte. „Er grillt.“ Was sonst. „Los! Geht deine Sachen packen, während ich kurz telefoniere.“ Mit sanfter Gewalt schubste sie mich zu der gewundenen Treppe aus Mahagoni, die in das obere Stockwert führte. Mit der einen Hand auf dem Geländer drehte ich mich noch einmal um. „Mama, ich–“ Ich stockte. Die Worte schwirrten in meinem Kopf, fanden ihren Weg zum Mund nicht. Ein zaghaftes Lächeln zeichnete sich auf den Lippen meiner Mutter ab. „Ich weiß, mein Schatz. Geh jetzt!“

Und ich hastete die Stufen hinauf.

Meine Tanze Klara ist die ältere der beiden von-Bering-Schwestern und gilt in der Familie als geächtet. Sie hat es tatsächlich gewagt eine solch unehrenhafte Wissenschaft wie Theaterpädagogik zu studieren. Das war es allerdings nicht, was sie letzten Endes auf die Abschussliste setzte. Sie hat noch nie besonders viel auf ihren Familiennamen mit dem kleinen Vermerk der Blaublütigkeit gegeben und nach einem Auslandssemester in Frankreich Hals über Kopf einen verarmten französischen Landwirtssohn geheiratet, Aymeric Gaspard, ihre große Liebe. Leider verstarb er bereits vor zehn Jahren an einer Krankheit, dessen Namen ich noch nie aussprechen, mir geschweige denn merken konnte. Doch Klara blieb in dem alten Haus des längst still gelegten Hofes wohnen, und wird es auch zu Lebzeiten wohl nicht mehr verlassen.

Durch die Heirat mit Aymeric, fiel sie bei den von Berings allerdings in tiefste Ungnade. Meine Mutter ist die Einzige aus der Familie, die noch mir ihr spricht. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Mama ihre Reisen in das kleine Dörfchen Kientzville, in dem Klaras altes Bauernhaus die Zeit überdauert, selbst vor Papa geheim hielt. Selbst ich könnte nicht sagen, wann sie das letzte Mal dort gewesen war. Meine letzte Reise ins Elsass lag mindestens schon fünf Jahre zurück. Dementsprechend heftig klopfte mein Herz, als ich meinen kleinen Citroën C3 Pluriel (Papas Geschenk zu meinem 18. Geburtstag) die holprige Dorfstraße entlang lenkte. Ich fuhr mit offenem Verdeck und die Frische der dämmrigen Abendluft blies mir um die Nase. Ziemlich erschöpft von der langen Fahrt, bog ich um die letzte Baumgruppe, die die kurvige Straße säumten, und fand mich in einer hügeligen Landschaft wieder, mit kleinen Feldern und verwilderten Weiden, in weiter Ferne die bläuliche Silhouette der Vogesen. Aufmerksam musterte ich die in regelmäßigen Abständen vorbeiziehenden Häuser und dankte allen Göttern der Welt, dass ich Kientzville trotz zweimaligem Verfahren noch vor Einbruch der Nacht erreicht hatte. Im Dunkeln wäre ich sicherlich am richtigen Haus vorbei gefahren. Aufmerksam musterte ich die vorbeiziehenden Gebäude. Alles halb verfallene Bauernhäuser mit riesigen Gärten, manche sorgsam gepflegt, andere verwildert. Schließlich entdeckte ich die mir bekannte riesige Doppeltür aus morschem Holz, die eher an ein Scheunentor erinnerte, mit der blauen Bank daneben, auf der sich Klara so oft zum Stricken niederließ. Mein Herz zog sich zusammen und ich ließ langsam den Wagen ausrollen, saß einen Moment nur da und starrte den bröckelnden Putz an. Die wilden Weinranken, die an der Fassade empor kletterten, schienen das Haus einzuwickeln wie ein seidener Kokon eine Raupe, kurz bevor sie zum Schmetterling wird.

„Helena, meine Schöne!“ Noch bevor ich die Autotür hinter mir schließen konnte, stand Tante Klara mit ausgebreiteten Armen auf der Türschwelle. Ihr langes, braunes Haar zu einem dicken Zopf geflochten, klimpernden Armreifen und einer weiten Tunika-Bluse über der dreckigen Jeans kam sie mir über das kurze Rasenstück entgegen und drückte mich fest an ihren großzügigen Busen. „Wie wunderbar, dass du mich besuchst.“ Ihre Stimme. Wie hatte ich die nur vergessen können? Rau und weich schlüpft sie einem ins Ohr und kitzelt dort angenehm. Dann die Augen. Klaras Augen. Wie zwei kleine Sonnen, stets von fröhlichen Lachfalten umgeben. Ich bin mir nicht sicher was genau es war, vielleicht diese kompromisslose Herzlichkeit dieser Frau, vielleicht dieser unerschütterliche Ort mit seiner unbestechlichen Romantik, die mir ins Herz stach und all meine inneren Mauern niederriss. Ich ließ mich mitreißen von Tante Klaras warmen Umarmung, sank tiefer in ihre mollige Brust und gab mich haltlos meinem Schluchzen hin.

KAPITEL ZWEI: Kientzville

Die Zeit stand angenehm still. Das Zwitschern der Vögel vermischte sich mit den Melodien alter französischer Revolutionslieder, die Tante Klara durchs Haus trällerte, während sie Marmelade einkochte, ihre Tongefäße töpferte, Wäsche wusch oder Unkraut in dem riesigen Garten jäte, der an das Haus grenzte. Ich las jeden Morgen die Zeitung, die der Milchjunge mitbrachte und pries meine guten Französischkenntnisse. Der Kaffee schmeckte so gut wie nirgendwo sonst auf der Welt und das Blau des Himmels strahlte wie ein Teppich aus Saphiren.

Nachts schlief ich tief und erholsam. Klara hatte mir den Raum neben der Küche hergerichtet, mit einer Daunenmatratze weich wie Watte, in der ich beinahe bis zur Gänze versank. Bei meiner emotional sehr aufgeladenen Ankunft hatte Klara mit ihrem kräftigen Griff meine Reisetasche gepackt, ihren Arm um meine Schultern gelegt und mich durch den Rundbogeneingang ins Haus geführt, direkt in die riesige Küche, in der es stets nach frischem Hefezopf und gemahlenem Kaffe duftete, mit einem gusseisernen Ofen aus dem vorletzten Jahrhundert, auf dem sie leidenschaftlich kochte und buk. Dann hatte sie mir einen eigens angesetzten Anislikör vorgesetzt, der mir alles Sorgen aus dem Leib brennen sollte – was sehr schmerzhaft war – und mich ins Bett geschickt, in dessen wohligen Tiefen ich sofort einen traumlosen Schlaf fand.

Mittags verbrachte ich viel Zeit im Garten, dem prachtvollen Garten, der Klaras Händen entwachsen war und sog den süßen Duft der Rosen- und Lavendelbüsche ein. Oft saßen wir zusammen dort, unter einem schmiedeeisernen Pavillon, um dessen Streben sich wilde Efeuranken schlängelten, und tranken Kaffe, abends Wein und natürlich den selbst angesetzten Anislikör aus Klaras Keller. Ein Heilmittel, das Wunder bewirkte.

„Klara, ich liebe deinen Garten“, gestand ich ihr schließlich eines Abends und nippte an meinem weißen Chardonnay. Die Luft war mild, die Sonne war eben hinter dem Horizont verschwunden und hatte Vater Mond an den Himmel geschickt. Sachte legte sich die ländliche Stille von zirpenden Grillen über die Wiesen.

„Es ist Aymerics Garten“, antwortete sie mir, während sie ihren Tabakbeutel auspackte. „Er hat ihn angelegt. Der Rosenbusch da“, mit einem Filter zwischen den Lippen deutete sie auf einen mächtigen Strauch, an dem kaminrote Blüten in der aufziehenden Dämmerung wie Lampions leuchteten, „der war der Erste. Er hat ihn für mich gepflanzt. Ach, mein Aymeric! Wenn das Wetter es zuließ, hat er mehr Zeit in diesem Garten verbracht als im Haus. Seine Blumen waren ihm das Teuerste.“

„Nach dir natürlich.“

„Selbstverständlich!“ Klara zog einer ihrer buschigen Augenbrauen hoch, was sehr seltsam aussah. „Schließe dich niemals in die Herzensliste deines Liebsten ein, aber gehe immer davon aus, dass du ganz oben stehst.“, sagte sie mit kluger Mine. Das Feuerzeug knipste und sie blies weißen Rauch in die laue Abendluft, der emporstieg und sich im Efeugewirr verlor. „Und dein Liebster? Woran hängt er sein Herz? Ich hoffen nicht nur an Autos und Sportillustrierte.“

Ich musste lachen. „Ich habe keinen Liebsten.“

„Was?“ schockiert sah Klara mich an. „Jedes junge, hübsche Mädchen braucht einen Liebsten“, sagte sie und klang dabei fast wie Oma Trude. „Wie beweisen wir der Welt sonst die Existenz einer menschlichen Schönheit?“

„Ich brauche keinen Beweis für meine Schönheit“, erwiderte ich scherzhaft mit aufmüpfigem Lächeln und klimperte mit meinen aquamarinblauen Augen, während ich mir spielerisch durch mein langes, blondes Haar fuhr. Goldhaar, wie Papa es gerne nannte.

„Es geht auch eher um die Bestätigung der männlichen Schönheit“, schalkhaft zog Klara an ihrer Zigarette und wir mussten beide lachen. „Na gut“, sagte sie, als wir uns wieder beruhigt hatten. „Du fährst also nicht aus Liebeskummer mutterseelenallein in die elsässische Pampa um deine alte Tante zu besuchen?“ Mama hatte ihr also nichts von dem Vorfall auf dem Fest erzählt. So viel Diskretion hätte ich meiner Mutter gar nicht zugetraut.

Ich schüttelte den Kopf. „Wie kommst du denn darauf?“

„Das ist naheliegend für ein junges Mädchen. Liebeskummer treibt etliche Menschen zu außergewöhnlichen Taten.“

„Zu Dummheiten meinst du.“

Klara bekam wieder diesen Gesichtsausdruck, mit dem sie aussah wie der Weihnachtsmann bevor er seinen Sack öffnet. Seid ihr auch alle schön brav gewesen, liebe Kinder?

„Wer auf sein Herz hört, hat schon erstaunliche Dinge vollbracht, die nicht zuletzt einen selbst überrascht haben“, sagte sie und ich spürte, wie sie plötzlich ernst wurde. Die Dämmerung wurde dichter. Einen Moment schwiegen wir beide.

„Schön. Du musst mir nicht erzählen warum du abgehauen bist, ich will nur, dass du verstehst, dass es immer einen Platz gibt, wo man hingehört. Es dauert manchmal nur eine Weile bis man ihn gefunden hat.“

„Wie kommst du darauf, dass ich abgehauen bin?“

„Du kamst noch nie alleine zu mir, schöne Helena. Ich bezweifle, dass du mit der Zustimmung deines Vaters hier bist.“

„Ach, komm schon! Wir waren doch noch nie mit der Zustimmung meines Vaters bei dir.“

Da musste Klara lächeln. „Ja, aber dieses Mal stört es dich nicht.“

Perplex starrte ich sie an. Sie war so anders als der Perfektion heuchelnde Rest meiner Familie und doch so vollkommen. Sie hatte ihren Platz gefunden. Erst bei Aymeric, nach seinem Tod, hier in diesem Garten, in dem er für Klara immer weiterleben würde. Ihr Platz war nicht bei den Staatsexamen- und Adelstitelträgern. Sie war dennoch glücklich.

Mit zufriedener Mine drückte sie ihre Zigarette aus und stand auf. „Wenn du magst, kannst du mir tagsüber gerne im Garten helfen. Körperliche Arbeit befreit den Geist.“ Es war keine Frage, sondern eine Anweisung. „Ach ja, und morgen muss ich ins Dorf zur Fromagerie“, fügte sie noch auf halben Weg zur Tür hinzu. „Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest.“ Und schon war sie im Haus verschwunden.

Wir fuhren mit Klaras Wagen ins Dorf. Ein alter, klappriger Transporter, ein Dreisitzer mit offener, verwitterter Ladefläche und verbeulten Kotflügeln, in dem man auf der holprigen Landstraße, die zum Dorf führte, noch ordentlicher durchgeschüttelt wurde als in meinem kleinen, süßen Citroën C3.

Die Fromagerie war nur halb so spannend wie ich mir erhofft hatte. Sie war nicht mehr als ein kleines Kabuff, in dem zwei mit Käse voll gestopften Vitrinen gerade so Platzt fanden.

„Salut, Marie, ça va?“, begrüßte Tante Klara die füllige Verkäuferin mit Wangengrübchen, die hinter der Theke stand. Während die zwei Frauen auf schnellem Französisch ihren Smalltalk austauschten und Klara ihre Bestellung aufgab, beobachtete ich mäßig interessiert die menschenleere Straße durch das Schaufenster. Der Himmel war heute von einer grauen Wolkenschicht verhangen, unter der sich die Sommerhitze zu einer unangenehmen Schwüle ballte. Ich wusste, dass Klara auf Regen für den heutigen Tag hoffte, schon allein ihrer Blumen wegen, und nicht zu letzt der Bauernfelder im Umland. Ich weiß noch, ich wünschte mir damals die Sonne zurück.

Irgendwo kläffte ein Hund.

Irgendwo knatterte ein Motor.

Ich gähnte ausgiebig, es war noch Vormittag.

Das Motorengeräusch wurde lauter. Bestimmt noch so einen Schrotthaufen von einem Truck, dachte ich und war dann ziemlich überrascht, als eine Kolonne von sieben, acht Motorrädern an mir vorbeirauschte. Breitbeinig, mit schwarzen Lederjacken und silbernen Schnallen an den Schuhen, brausten die Biker mit lärmendem Motorengebrüll die Straße hinab. Eine Attraktion, wie es das Dorf nur selten zu sehen bekam, vermutete ich, und sah ihnen interessiert hinterher, wie sie um die nächste Kurve bogen.

„He, mein Mädchen, pack mal mit an!“ Klara tauchte neben mir auf und drückte mir einen schweren Karton in die Hand. Sie selbst stapelte sich zwei auf die Arme und drückte mit ihrem gewaltigen Hintern die Ladentür auf. „Salut Marie et dis Bonjour à Pascal de ma part!“

„Was willst du denn mit so viel Käse?“, fragte ich sie als wir über den Parkplatz liefen und musterte die drei Kartons.

„Na einlagern! Nie bei mir im Keller gewesen? Da reift nicht nur der Anislikör vor sich hin.“

Ich rümpfte die Nase. Stinkekäse mochte ich gar nicht. Und Klaras Keller mied ich zum damaligen Zeitpunkt grundsätzlich. Dort hingen mir zu viele Spinnen an der Decke.

Wir verstauten die Kartons auf dem Rücksitz. „Willst du zurückfahren?“, fragte mich Klara und hielt mir die Schlüssel hin.

„Nein!“, antwortete ich entsetzt und wich sogar ein Stück zurück. Keine zehn Pferde würden mich hinter das Steuer einer solchen Klapperkiste bekommen, deren Baujahr garantiert weit vor meinem Geburtsjahr lag. Klara lachte bei meinem entsetzten Gesichtsausdruck. „Wieso denn nicht? Sag bloß, dein chiques Stadtwägelchen fährt mit Automatikgetriebe.“

Ertappt senkte ich meinen Blick.

„Tatsächlich?“ spöttisch kniff mir Klara in den Oberarm.

„Ja, lach mich ruhig aus! Damit komme ich wenigstens vorwärts“, versuchte ich mich zu verteidigen und drängte den demütigenden Gedanken an die vielen Übungsstunden beiseite, die ich gebraucht hatte, um zur Führerscheinprüfung zugelassen zu werden. „Glaube mir, du würdest noch mehr lachen, wenn du mir dabei zusehen würdest, wie ich mich mit so einer doofen Kupplung abmühe.“

Als wir die Hauptstraße zurückfuhren (mit Klara am Steuer), sah ich die Motorräder, die vorhin als lärmende Kolonne das Dorf durchquert hatten, in Reih und Glied vor der nächsten Gaststätte geparkt, während ihre Besitzer damit beschäftigt waren, ein paar Tische im Freien zusammenzustellen. Bei dem ganzen Hin- und Hergeschiebe ging ausversehen ein leeres Glas zu Bruch, das der Kellner noch nicht abgeräumt hatte. Das Splittern von aufkommendem Glas auf dem steinernen Asphalt war deutlich im Truck zu vernehmen.

„Die Biker dort sind nicht von hier, oder?“

„Nein, hier kommen des Öfteren reisende Motorradfahrer durch.“

„Habt ihr keine Probleme mit ihnen?“

„Wieso sollten wir?“

Ich zuckte mit den Schultern „Sie sehen nicht gerade wie unschuldige Christen aus.“

„Was für ein netter Vergleich“, stellte Klara fest. „Du dagegen siehst aus wie ein Engel und schmeißt trotzdem das Studium gegen den Willen des Herrn Doktor Wallenstein.“

Überrascht sah ich sie an.

„Deine Mutter hat sich gestern Abend noch einmal gemeldet“, klärte mich Klara auf. „Sie wollte wissen, wie es dir geht. Und war um einiges gesprächiger als bei ihrem letzten Anruf.“, fügte sie hinzu. Mit zusammengepressten Lippen starrte ich auf die Straße vor mir, die sich zwischen alten Häusern und Wiesen verlor. „Ich habe nie gesagt, dass ich das Studium nicht machen will.“

Klara zog ihre markanten Augenbrauen hoch und ledrige Falten zogen sich quer über ihre Stirn. „Erna vermutet das.“ Ein kurzes Schweigen erfüllte das Fahrerhäuschen. „Und? Hat sie recht?“, fragte sie dann gleichmütig. Fast klang es gleichgültig.

„Nee, nein. Nein, natürlich nicht.“

„Also nein?“ Klara musste schmunzeln.

„Nein.“

„Schön. Willst du wissen, was ich denke?“

„Nein.“

Wir verließen das Dorf und fuhren in die Hügel. Das Holpern begann.

„Doch“, gab ich zu. „Sag mir, was du denkst.“

„Ich denke, du solltest machen, worauf du Lust hast. Wenn du noch nicht weißt, was du studieren willst, dann mach eben zuerst etwas anderes. Du bist noch jung und hast Zeit. Nicht jeder muss gleich nach dem Abi auf die Uni. Oder überhaupt auf die Uni“, fügte sie noch hinzu.

„Du findest also, ich soll kein Jura studieren?“

„Wenn es nicht das ist, was du willst, nein.“

Ich seufzte und sank tief in den Autositz. Sofern das unter den gegebenen Straßenbedingungen möglich war. Das nächste Schlagloch ließ nicht lange auf sich warten und schleuderte mich wieder zehn Zentimeter in die Höhe. „Ich merke schon warum Papa nicht will, dass ich dich besuche. Du bringst mich noch auf die Schiefe Bahn.“

„Auf die Schiefe Bahn.“, wiederholte Klara belustigt. „Glaubt er ich baue Hanf in meinem Garten an oder was?“

Ein fröhliches Glucksen entsprang meiner Kehle, wich aber sogleich wieder nüchterner Ernsthaftigkeit. „Für ihn liegt alles auf der Schiefen Bahn, was sich nicht Jura- oder Medizinstudium nennt.“

Jetzt war es Klara, die seufzte. „Ach, meine schöne Helena. Was machen wir nur mit diesem engstirnigen Medizinmann? Was meinst du, vielleicht würde ihm die eine oder andere Hanfdosis mal ganz gut tun.“

Diesmal konnte ich nicht an mich halten. Ich prustete los.

Ich schwitzte in Klaras Garten. Und zwar nicht gemütlich unter dem mit Efeu bewachsenen Pavillon bei einer Tasse Kaffe, sondern während dem Jäten der Unkrautbüschel. Sie hatte es tatsächlich geschafft mich bei der Arbeit in ihrem Garten einzuspannen und das, obwohl ich einen Löwenzahn nicht von einer Geranie unterscheiden konnte. Das war ziemlich mutig von ihr. Damit allerdings keine allzu große Gefahr für ihre heiligen Botaniken entstand, hatte sie mir ein verwildertes Stück unbepflanzter Wiese zum arbeiten zugeteilt. In meiner gutmütigen Naivität hatte ich vermutete, dass sie ihren Garten erweitern wolle. Heute weiß ich es natürlich besser.

Ich schuftete ziemlich hart. Nach zehn Minuten bekam ich Blasen an den Handballen. Nach einer viertel Stunde brach der erste Fingernagel ab. Nach einer Stunde tat mir der Rücken so weh, als hätte eine Horde Elefanten darauf herumgetrampelt. Doch ich hielt wacker durch und schwang tapfer die Harke. Einmal hätte ich dabei fast einen Maulwurf aufgespießt, den ich zunächst für eine Maus oder etwas noch Schlimmeres gehalten hatte, das da in der Erde wühlte. Als er schnüffelnd seine Nase aus der Erde steckte, führte ich einen von Kreischlauten begleiteten Tanz auf und flüchtet mich schnurstracks auf den nächsten Gartenstuhl, der dabei fast umfiel. Eilig kam Klara aus dem Haus geeilt und fragte was los sei.

„Da war eine ganz fette Rate!“, quengelte ich und übertrieb dabei maßlos in meiner Panik. „Verdammt, jetzt hab ich bestimmt die Pest.“

„Das kann schon sein“, pflichtete mir Klara trocken bei. „Du hast ja ganz schön was geleistet“, stellte sie dann mit einem anerkennenden Blick auf das von mir kahl gezupfte Fleckchen Erde fest.

„Mit Blut und Schweiß“, teilte ich ihr mit und zeigte ihr nicht ganz ohne Stolz meine geschundenen Hände. Mindestens ein dutzend Mal hatte ich mich an Brennnesseln verbrannt oder an wuchernden Dornen gestochen, ganz zu schweigen von den Blasen an der Handinnenfläche, die inzwischen zu beträchtlicher Größe angeschwollen waren.

„Wieso hast du nicht die Handschuhe angezogen, die ich dir hingelegt habe?“ Vorsichtig nahm Tante Klara meine Hände in die ihre und strich sanft über die Schwielen und Rötungen.

„Was denn für Handschuhe?“

Klara deutete auf den kleinen Tisch unter dem Efeugewächs. „Die Gartenhandschuhe da.“

So ein Mist. Beschämt zog ich meinen Kopf zwischen die Schultern. „Die sind für den Garten? Ich dachte das sind Handschuhe zum Motorradfahren.“

Klara musste lachen. „Siehst du hier irgendwo ein Motorrad geparkt?“ Doch dann schmunzelte sie liebevoll. „Immer noch in Gedanken bei den Bikern, schöne Helena?“

Ich kam mir ziemlich blöd vor.

Ich verbrachte fünf Tage bei Tante Klara, ohne dass etwas passierte. Ich meine, mit mir passierte. Eine Einsicht etwa, ein kleiner Geistesblitz oder gar eine Erleuchtung. Klara hatte gesagt, ich solle tun, was ich will, und wenn ich nicht wüsste was das ist, sollte ich mir Zeit nehmen um das herauszufinden. Nun, ich wusste nicht was ich will. Und jetzt? Hirnen. Doch da war nichts. Rein gar nichts. Ich hatte immer für die Schule gelebt und viel Zeit mit meiner Familie verbracht. Freitagabends war ich gelegentlich mit Julia ins Kino gegangen, vielleicht danach mit ihr noch in eine Bar, um den einen oder anderen Margarita zu trinken, ohne jedoch jemals später als mit der letzten Bahn nach Hause zu fahren. Bei schönem Wetter stand derweilen Shoppen mit Nina und Jessica auf dem Programm. Schlendern in der Fußgängerzone. Sehen und gesehen werden. Manchmal, wenn mir langweilig war, las ich ein Buch. Dabei beschränkte ich mich neben der klassischen Pflichtlektüre, die uns der Deutschlehrer aufbrummte, auf anspruchslose belletristische Junge-Frauen-Literatur, die ich per Zufallsentscheid aus dem Bestsellerregal zog und kaufte, wenn mir das Cover gefiel.

Ich war immer ganz normal gewesen. Ganz vernünftig. Wieso kam ich dann ausgerechnet jetzt auf die Idee, irgendetwas anders machen zu wollen? Stand mir das überhaupt zu?

„Helena?“

Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Klara stand im Türrahmen ihrer Töpferwerkstatt, in der ich es mir in einem Sessel am Fenster bequem gemacht hatte und streckte mir das Telefon entgegen. Mir war gar nicht aufgefallen, dass es geklingelt hatte. „Für dich. Erna ist dran.“ Mama also. „Hallo?“, meldete ich mich automatisch am Hörer.

„Helena, ich bin’s, Mama.“

„Hallo, Mama.“ Entspannt lehnte ich mich im Sessel zurück. Es tat gut, ihre Stimme zu hören.

„Wie geht es dir, mein Schatz?“ Sie klang erfreut mich zu hören.

„Weiß nicht so genau“, gestand ich.

„Ist es denn schön bei Klara?“

Ich musste lächeln. „Klara ist fantastisch“.

„Nimm dich vor ihrem Anisschnaps in Acht!“

Wir lachten beide.

„Liebes, Papa will dich sprechen.“

Ein unangenehm heißes Kribbeln überlief meinen Rücken. Ich sagte nichts.

„Es ist alles gut, wir haben uns lange unterhalten.“, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen, die meine plötzliche Anspannung wohl erahnte. Ich konnte nicht sprechen.

„Ich hab dich lieb. Pass auf dich auf!“ Dann war sie weg.

„Hallo, Tochter“ Das war mein Vater. „Wie geht es dir?“ Er klang sachlich, wie immer.

Ich fand meine Stimme wieder. „Gut“, log ich.

„Gefällt es dir bei deiner Tante?“

Ich überlegte, ob Mama wohl noch neben ihm stand und ihm einen Zettel hinhielt, mit Phrasen, die er sagen sollte.

„Klara ist toll“, sagte ich noch einmal, jedoch um einiges emotionsloser als beim vorherigen Mal. Eine kurze Pause entstand.

„Wann hast du denn vor wieder nach Hause zu kommen?“, fragte er schließlich.

„Ich weiß nicht.“

„Noch vor dem Wochenende? Oma hat Geburtstag, wenn ich dich daran erinnern darf.“

„Ich weiß es nicht, wann ich wieder komme.“, wiederholte ich, plötzlich gereizt.

„Verstehe. Aber dir ist bewusst, dass sie mit deiner Anwesenheit rechnet. Du willst doch deine liebe Oma nicht enttäuschen, oder?“

Schließ nicht von dir auf andere, dachte ich verärgert.

Ich atmete einmal tief durch und entgegnete dann ruhig: „Ich werde ihr eine Karte schicken, dann freut sie sich.“

Ein tonloses Schnauben ertönte am anderen Ende der Leitung und mir wurde klar, dass ich nicht die Einzige war, die sich zusammenriss.

„Nun gut. Deine Mutter ist der Meinung, dass du dir einen kleinen Urlaub verdient hast, bevor das Studium beginnt. Ich erwarte lediglich, dass du früh genug wieder zurückkehrst, um die nötigen Vorkehrungen für deinen Umzug nach München zu treffen. Du bist jetzt schließlich in einem Alter, in dem es wichtig ist Verantwortung–“

„Ich werde nicht nach München gehen.“, unterbrach ich ihn, bevor ich recht wusste, was ich da sagte. Der Tonfall in Papas Stimme, der das Wort „Verantwortung“ trug, hatte einen Steinschlag in meinem Inneren ausgelöst und die Worte purzelten aus mir heraus. „Ich werde weder nach München gehen, noch werde ich Jura studieren. Ich werde machen was ich will.“ Ich stockte und vergaß zu atmen.

„Ach ja? Und was ist das, was du willst?“ Er klang angespannter als je zu vor.

„Das weiß ich noch nicht.“, sagte ich knapp und mir war klar, dass das wenig schlagfertig war. Was er dann jedoch tat, habe ich ihm bis heute nicht verziehen. Er erteilte mir die schlimmste Demütigung, die ein Vater seiner Tochter zufügen kann: Er lachte. Papa lachte mich aus. Und das war’s. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, legte ich auf. Ich schloss meine Hand um den Hörer, als wäre es eine Waffe. Meine Brust fühlte sich an, als wäre ein dumpfer Gegenstand dagegen geprallt und ich kämpfte mit den Tränen. Ob vor Wut oder aus Schmerz wusste ich nicht.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Klara immer noch im Türrahmen stand, sie hatte wohl mitgehört. „Also kein Jurastudium?“, fragte sie und schaute mit prüfend an. Sie schien wohl abzuwägen, ob ich jeden Moment komplett ausrasten oder zusammenbrechen würde. Erst da begriff mein Hirn langsam, was ich ohne es zu beabsichtigen eben entschieden hatte. Und mit einem Mal fühlte ich mich ganz leicht. So leicht, dass ich selbst lachen musste. „Nein, kein Jurastudium“ brach es aus mir heraus und ich konnte Klara deutlich ansehen, dass sie ziemlich stolz auf mich war. „Na also, geht doch“, murmelte sie, dreht sich um und verschwand im Flur.

„Wo willst du hin?“, rief ich ihr fröhlich nach. „Ich könnte jetzt gut und gerne einen Anisschnaps vertragen.“ Und ich musste wieder lachen. Anstatt einer Antwort, flog mir etwas kleines und schweres und metallen glänzendes durch den Türrahmen entgegen und landete in meinem Schoß. Es waren Klaras Autoschlüssel. „Auf keinen Fall, vergiss es!“, rief ich lachend. „Was auch immer du vor hast – ich werde nicht fahren!“

„Und ob du das wirst!“, schallte es laut irgendwo aus dem Haus zurück. „Und die Frage ist nicht, was ich vor habe, sondern was du vor hast.“

Meine gute Laune verflog so rasch, wie sie gekommen war. „Wie meinst du das?“

Klara erschien wieder im Türrahmen, mit einem Straßenatlas und einem Französischwörterbuch in der Hand. „Ich meine“, sagte sie bedächtig und ließ beides zu dem Autoschlüssel auf meine Oberschenkel plumpsen. „dass ich nicht zulassen werde, dass du dir hier ein Loch gräbst, in dem du dich verkriechst, meine Liebe. Du hast noch ein paar Wege zu gehen, bevor du dir das leisten kannst.“

Entsetzt starrte ich zuerst die Gegenstände in meinem Schoß und dann Klara an. „Du wirfst mich raus?“ Das konnte sie unmöglich tun!

„Mit aller Liebe, die ich aufbringen kann.“ Sie schmunzelte. Sie meinte es tatsächlich ernst.

Wie konnte ein so großer Moment sich so jäh offenbaren und nur nach so kurzer Zeit wieder zerplatzen wie eine Seifenblase. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Aber es tat verdammt weh, zu gehen.

„Aber wenn … aber…“ ich suchte nach einem entkräftigenden Argument, doch es gab keines. „Aber–“ setzte ich daher noch einmal an und hob mit spitzen Fingern den Autoschlüssel hoch. „Aber wieso den Truck?“ Wenigstens diese Demütigung könnte sie mir ersparen.

Da stemmte Klara beide Arme in die Hüfte und zog eine Augenbraue hoch, so dass sie aussah wie ein alter Pirat. „Schätzchen, du hast eine weite Reise vor dir – ich bezweifle, dass jemals irgendwer seiner Selbst auf der Sitzbank eines Citroën C3 Pluriel gefunden hat.“

KAPITEL DREI: Besançon

„Aber du brauchst ihn doch um ins Dorf zu fahren.“ Auch am nächsten Tag, dem Tag meiner Abreise, war das Fahrzeug-Thema für mich noch nicht ganz ausdiskutiert. Für Klara blöderweise schon. „Um mich musst du dir keine Sorgen machen“, beteuerte sie mir und hievte meine riesige Reisetasche auf den ausgesessenen Nebensitz des Trucks. Die verblichene Farbe lies nur noch vermuten, dass der Bezug einmal Orange oder so etwas Ähnliches gewesen war.

„Ja, ich weiß.“ Ich hatte einfach keine Chance. Meine Argumentation unterlag.

 Herzlich umarmten wir uns zum Abschied und ich sog noch einmal ihren Geruch in mich ein, wie ein Hungernder, der Schweinebraten riecht. Sanft strich mir meine Tante mit ihren kräftigen Händen übers Haar. „Ich wünsche dir eine wundervolle Reise, meine Schöne.“

Ich ließ von ihr ab und kletterte auf den Fahrersitz. „Und denk immer daran: Ein Stück des Weges liegt hinter dir, ein anderes vor dir. Wenn du verweilst, dann nur, um dich zu stärken, aber nicht um aufzugeben.“