Peter Handke

Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 — März 1977)

Suhrkamp Verlag

 
 
 
 
 

Der Text folgt der Taschenbuchausgabe. Sie ist gegenüber der Erstausgabe geringfügig gekürzt.

Außerdem: ich hätte das Buch gern in Phantasie der Ziellosigkeit umgetauft, gemäß der Notiz vom 27. Oktober 1976. Wer mag, möge das Buch für sich so nennen.

Vornotiz

Diese Aufzeichnungen sind in der Form, wie sie hier erscheinen, nicht von vornherein geplant gewesen. Es wurde mit ihnen in der Absicht begonnen, sie in einen Zusammenhang zu bringen, etwa einer Geschichte oder, wie noch an der häufigen Beschreibung von bloßen Gesten am Anfang zu erkennen, eines (stummen) Theaterstücks.

Die täglichen Wahrnehmungen wurden also im Kopf zunächst übersetzt in das System, für das sie gebraucht werden sollten, ja, die Wahrnehmungen an sich, wie sie zufällig geschahen, wurden auch schon ausgerichtet für einen möglichen Zweck. Eindrücke, Erlebnismomente, bei denen es nicht gelang, sie auf den gemeinsamen Bezugspunkt der im voraus gewählten literarischen Form einzustellen, wurden dabei vernachlässigt; sie »konnten vergessen werden«.

Gerade durch den Zustand der angespannten Aufmerksamkeit, in den ich mich für die Aufzeichnungen hineingedacht hatte, fiel mir dieses tägliche Vergessen besonders auf. Es erschien mir sehr bald als ein Versäumnis, und so fing ich an, auch die nicht-projektdienlichen Bewußtseins-Ereignisse sofort festzuhalten. So wurde allmählich der Plan zerstört, und es gab nur noch die spontane Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen.

Je länger und intensiver ich damit fortfuhr, desto stärker wurde das Erlebnis der Befreiung von gegebenen literarischen Formen und zugleich der Freiheit in einer mir bis dahin unbekannten literarischen Möglichkeit.

Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren, und merkte, wie im Moment des Erlebnisses gerade diesen Zeitsprung lang auch die Sprache sich belebte und mitteilbar wurde; einen Moment später wäre es schon wieder die täglich gehörte, vor Vertrautheit nichtssagende, hilflose »Du weißt schon, was ich meine«-Sprache des Kommunikations-Zeitalters gewesen. Einen Zeitsprung lang wurde der Wortschatz, welcher mich Tag und Nacht durchquerte, gegenständlich. Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem »Augenblick der Sprache« von jeder Privatheit befreit und allgemein.

Mit immer größerer Lust konzentrierte ich mich also auf solche Momente der Sprachlebendigkeit, die dann auch immer häufiger sich ereigneten, schließlich das Momenthafte verloren und zu einem ruhigen, auch heftigen, jedenfalls ständigen Ereignis wurden.

Das Buch hier könnte man also eine Reportage nennen; es ist keine Erzählung von einem Bewußtsein, sondern die unmittelbare, simultan festgehaltene Reportage davon.

Die Vermutung der Anmaßung, die eine solche Reportage eines Einzel-Bewußtseins, veröffentlicht als Buch, vielleicht sein könnte, ist hoffentlich widerlegt durch meine Überzeugung, daß dieses Bewußtsein (ich) auf etwas aus ist, pathetisch gesagt: sich unablässig durchdringen will.

Die äußeren Ereignisse (der Tod eines Freundes, ein Krankenhausaufenthalt, ein Umzug) sind, anders als vielleicht sonst in Journalen, nie ausgeführt, aber in der Reportage der Sprachreflexe auf solche Ereignisse jedenfalls durchscheinend.

Die notwendige Fast-Gleichzeitigkeit der Reflexe und ihrer Aufzeichnung brachte es mit sich, daß sie in allen Lebenslagen gemacht wurden, nur nicht am Schreibtisch; bis in den Schlaf hinein zwang ich mich, sofort zu reagieren; zum Zustandekommen mancher Aufzeichnungen könnte man Geschichten erzählen, wie man sie erzählen hört zu Bildern, die jemand von einer Expedition mitbringt; nur vielleicht komischer.

Zugleich geschah natürlich auch die andere literarische Arbeit, an der Erzählung »Die linkshändige Frau«, u. ‌s. ‌f., mit zielgerichteten Notizen.

Das Problem des vorliegenden Journals ist nur, daß es kein Ende haben kann; so muß es abbrechen. Aber ein erklärtes Ende wäre wieder das allzu klaglose Gewährenlassen des ohnehin ewigen Vergessens.

 
 
 
 
 

Für den, den's angeht

1975

November

Als ob man sich manchmal bücken müßte zum Weiterleben. (Endgültige Selbstaufgabe: »Ich werde nichts mehr in Reparatur geben«)

Er schlägt die Beine übereinander — sie werden ihm mit Gewalt entflochten; er stützt die Ellenbogen auf — sie werden ihm weggeschlagen; er steckt die Hände in die Taschen — sie werden ihm herausgezogen; er legt die Hände vors Gesicht — sie werden ihm herabgerissen (einschreiten, sobald jemand sich selber berührt)

Eine Flucht: eine Frau verfolgt einen Mann. Die verfolgende Frau reißt sich im Laufen die Perücke herab und entpuppt sich als Mann; der flüchtende Mann verliert den Hut und entpuppt sich als Frau, und beide fallen einander in die Arme

Polizisten versperren den Weg, tun aber, als merkten sie das nicht; sobald sich ihnen, die nur geradeaus starren, jemand nähert, verscheuchen sie ihn, indem sie kurz gegen ihre Pistolentaschen schlagen

Ein Paar: die Frau geht immer wieder telefonieren; jedesmal, wenn sie zurückkommt, rückt sie ein weiteres Stück von dem Mann ab; nach dem letzten Telefonieren aber umarmt sie ihn und bleibt mit ihm umschlungen

Ein Herr, der zusammengesunken dasitzt, versucht immer wieder, sich aufrecht zu setzen, um Haltung zu zeigen, sinkt aber jedesmal wieder zusammen; schließlich ist er zufrieden so

Zwei Personen in einem Amtszimmer flüsterten einander was ins Ohr, lächelten; sogleich wurde eingeschritten

Traumgeräusche: »als wäre das ganze Haus voll auftauender Maikäfer«

Der Mann legt die Hand auf die Schulter einer Frau; die Frau wirft die Haare zurück und hebt das Kinn; der Mann legt die andre Hand auf die Hüfte der Frau: diese senkt nun langsam den Kopf, bis die Haare ganz ihr Gesicht bedecken, löst sich vom Mann, geht so herum, das Gesicht hinter den Haaren, vorwärts, rückwärts, so daß man schließlich nicht mehr weiß, wo Gesicht ist und wo Hinterkopf: ein Kind kommt dazu und sucht das Gesicht der Frau

Sie streicheln einander und verachten einander gleichzeitig

Ungeduldig werden mit jemandem: weil ich ihm nicht zuschaue

Jemand berührt einen andern, mit einem Gesichtsausdruck, mit dem man inspizierend einen Finger in Staub tupft und dann die Fingerkuppe betrachtet

Vorstellung eines langen Monologs einzig aus Bewegungen und Aktionen; ein andrer träte heimlich dazu und beobachtete das, und der erste, seltsam ertappt (es war gar nichts Bezeichnendes an seinen Aktionen), würde erschrecken

Eine Person, die etwas sieht, was man selber nicht sehen kann — und plötzlich ereignet sich an dieser Person eine lange Folge von stummen Gebärden des Entsetzens und Zeichen des Todes: aber wir sehen nur sie und nicht, was sie sieht (Mauerschau aus Gebärden)

Eine Frau, die eine Arbeit verrichtet und sich gleichzeitig unablässig die Tränen abtrocknet

Etwas auspacken und statt das Papier den Inhalt in den Abfall werfen

Großer Streit; aus einem Blumentopf zu Häupten der Streitenden fließt plötzlich Wasser; die Beteiligten hören auf zu streiten und vertiefen sich in das fließende Rinnsal

Jemand geht vor einem andern auf und ab, bis dieser endlich aufschaut; da verabschiedet sich der erste stumm und verschwindet

Leise sein wollen und dabei mit jeder der äußerst vorsichtig ausgeführten Bewegungen doch im Abschluß wieder Lärm machen

Übereinkunft, daß man liegend nicht zum Reden gezwungen werden kann: »Steh auf! Sprich!«

Was mich jeweils ungeschickt werden läßt: die Lustlosigkeit (Unlust, die zum Slapstick führt)

Er schreibt etwas in die Luft; die andern schauen gespannt zu und lächeln schließlich, als er zu Ende ist

»Ich hörte auf, oberflächlich zu sein — ich dachte nichts mehr«

Einer, der nur herumsteht, immerzu sinnlos Sachen zurechtrückend, einen Kugelschreiber am Mund: der Patron eines Restaurants? (nein, der Geschäftsführer); beim Herumstehen hakt er sich mit einem Finger über sich an der Türfüllung fest oder macht sich die sauberen Fingernägel sauber

Unwillkürlich, mit angeekeltem Gesicht, schlug ich mit dem Fuß den Takt zur Marschmusik

Vorstellung, daß einem alle Verlegenheits- und Hilfsgesten unterbunden würden: das Klicken mit dem Verschluß des Uhrarmbands, ein Auf- und Zuknöpfen am Hemd, das Streichen übers Haar — so daß man schließlich nichts mehr zum Festhalten hätte

Das versteckte Kneifen, aus Feigheit, wirklich zu schlagen

Die schon unwillkürlich gewordenen Mienen von Mißbilligung, wenn zum Beispiel auf der Straße ein Motorrad aufheult, wenn man von jemand Vorbeilaufendem angerempelt wird, usw.

»Rache an der Schöpfung«: Lust, aus Leibeskräften falsch zu singen

Eine Frau ging, geradeausschauend, energisch dahin und hielt die Hand hinter sich ins Leere, damit das nachstolpernde Kind sie ergreifen konnte

Es fällt einem etwas herunter, und am Nebentisch schaut man sich um, aber nur ganz schnell

Ohne Gepäck sein, Gepäck los sein wollen, das Glück der freien Hände, »nichts als eine Zahnbürste«

Die Frau allein auf der Straße, jemanden erwartend und ihm, den man noch nicht sieht, zulachend: ihre seltsamen Bewegungen vor dem Schaufenster, ihr Erwartungstanz, ihr Griff in die Haare, ihr Augenaufschlag, und wie sie sich immer wieder ins Schaufenster umblickt — und dann tritt endlich der Erwartete auf, und die beiden gehen, ohne sich zu berühren, ohne ein Wort, schnell weg

Durch die dröhnende Stadt gehen, und überall sitzt jemand lädiert und wird von allen Seiten betrachtet, und ein mit dem Schrecken Davongekommener erklärt, wie es gekommen ist, und überall ist ein Polizist da, der sagt: »C'est fini! Partez!« — Und trotzdem torkelt das Gefüge

Wie die Zunge eines Schlagersängers im Mund zittert; und wie er beim Singen die Augen schließt; die Hand ausgestreckt, als ob er beschwichtigt; die schmerzlichen Stirnfalten beim Singen; das Haareschütteln; balzend eine Schulter höher als die andre!; sich zum Verbeugen vorfallen lassend »wie erschöpft«, »müde und glücklich« lächelnd — als ob er, zumindest für einige Takte, den andern die Sehnsucht vorführt und zugleich sie ihnen nimmt!

Während sie etwas Erhabenes verrichtete, streckte sie dabei immer wieder verlegen die Zunge heraus

Wenn nach dem Tanzen die Bewegungen abbrechen und nur noch Geräusche und Weggehen sich ereignen: »Besänftigung zog in sein Herz«

Jemand, der auch auf Zehenspitzen ganz laut geht

Eine Frau schiebt einen Mann im Gedränge vor sich her, wie es oft Männer mit Frauen machen

Jemand wiederholt eine Gewalttätigkeit, weil es beim ersten Mal dabei so einen schönen Klang gab

Ein Mann trägt unter dem Smoking ein T-Shirt mit der Aufschrift: Faded Glory

Er benützt seine Geistesabwesenheit als Widerstandswaffe

Wie in dem Krankenzimmer den ganzen Nachmittag lang die Tulpenblätter zu Boden fielen

Einen Kugelschreiber aus der Tasche holen wollen, und was dabei unabsichtlich alles vorher erscheint: Münzen, Fotos, Klosettpapier

Oft gehöre ich ganz zur Menge, mit mir und meinem Gesicht; aber im schlechten Sinn

Indem er nachdrücklich ausatmet, will er zeigen, daß er sich langweilt

Eine Frau beim Geschäft des Zahlens: sie legt mit spitzen Fingern, in ihre feine Börse greifend, die Münze hin und zieht sich nach dieser unfeinen Geste (sie und das Geld!) den seidenen Poncho zurecht

Einen Gegenstand, mit dem in der Hand man durch eine Stadt geht, ihn unablässig an einem Zaun, an Mauern, Häusern entlangschleifend (einen Schlüssel, ein Stück Holz), und das stundenlang, als Bedürfnis; großer Mangel, wenn das unterbunden würde!

Vor dem Fotoautomaten auf ein Foto warten; dann käme ein Foto mit einem andern Gesicht heraus — so finge eine Geschichte an

»Ja, ich fühle mich jetzt niedergeschlagen, ich fühle die Gleichgültigkeit zwischen uns — aber ich akzeptiere das nicht mehr!« (Früher hätte ich die Gleichgültigkeit als Gesetz hingenommen)

Schön: seine Geschichte, seine Vorgeschichte plötzlich nicht mehr zu fühlen, nicht mehr das jetzige Glück bestritten zu fühlen durch das, was man früher, als Kind, Heranwachsender usw., einmal war

Man nennt sie »zickig«: dabei ist ihr nur keine Beziehung selbstverständlich

Nachdem ich mir die Lächerlichkeit meiner Handlungen bewußt gemacht habe, fühle ich mich wohl dabei

Die Kennmelodie der Warenhausreklame noch draußen auf der Straße nachsingen, gegen den Willen (ein Komponist von Pausenzeichen werden)

Im Vollgefühl des Versagens nichts mehr reden

Das Mädchen erzählte: »Ich bin einem Mann in der Métro nachgefahren und mir von Station zu Station schöner vorgekommen — und als er mich dann anredete, war ich schon unnahbar, so schön war ich«

»Wenn du dabei bist, muß ich mehr weinen.« — »Warum?« — »Ja, dann seh ich dich, wenn ich mir weh tu, und dann möcht' ich dich haben.«

An einem dunklen Fenster vorbeigehen, hinter dem früher ein Freund gelebt hat

Tage voll von Lebenszusammenhängen, stille Winterstimmung auf den Bahnhöfen; und dann Tage, da man sich immer auf dieselbe Stelle der Lippe beißt

Zwei liegen in zwei Badewannen nebeneinander und reden, wie zwei nach dem Überstehen großer Mühen in einem Western

Im Auto stellt der Mann das Radio an, und die Frau fragt: »Soll also die Musik dich wieder retten?«

Ein alter Mann saß in einer halbzugedeckten Kalkgrube, bis zum Hals im Kalkwasser, und ruhte sich so aus; es war sein üblicher Ruheplatz

Ein Kind singt ein Lied; es wird von ihm gefordert, es solle das Lied sagen, aber das kann es nicht

»Was deine Eltern waren, was deine Eltern taten — hör doch endlich auf damit!«

Eine Frau, die ihre Geschlechtsteile häßlich findet

Er starrte mich an, als ob er sich mein Gesicht einprägen wollte für eine spätere Anzeige

Zum Himmel schauen, da ziehen die Wolken, und denken: Nein, ich werde nie Selbstmord begehen!

Auf dem Platz, der in der Dämmerung, mit all den abgefallenen Blättern bedeckt, plötzlich wie ein Park erscheint, ein Glücksgefühl, das man immer haben könnte

Die Warenhaus-Verkäuferin: als ob sie eine Freundlichkeit schon lang nicht mehr erwarte, von niemandem mehr

Beim Anblick der abgefallenen Blätter: die Vorstellung, ein Jahr später könnte es nichts mehr zu entdecken geben

Bevor die Frau von der Straße mit den Einkaufssachen ins Haus geht, bleibt sie auf der Straße stehen und wartet auf etwas, auf eine kurzfristige Lösung

»Ich muß mir abgewöhnen, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich nichts fühle«

Manchmal sich selber anschauen, um nachdenken zu können. (Kurzsichtig werden davon, daß man sich selber anstarrt)

Daß ich von mir selber rede, geschieht oft nur aus Verlegenheit

Die Gedanken oder Bilder, die man einmal hatte, wieder vergessen wollen, damit man sie sich nicht immer wiederholt und sich an sie klammert, während zwischen ihnen sich die Leere ausbreitet

Manchmal das Gefühl, ich müßte mir mit den Fingern den Mund auseinanderreißen, um nicht immer der alte zu bleiben

»Was du mir da über mich sagst, das sage ich mir natürlich auch — aber vielleicht ist es gut, daß ein andrer es mir sagt, weil man sich selber ja oft nicht glaubt«

Ich denke oft so falsch, so ungültig, weil ich so denke, als spräche ich dabei zu jemand anderm

Ich kenne jemanden, dem seine Gedanken so gefielen, daß ihm mittendrin die Tränen in die Augen kamen

Die Frau, nach so viel elegantem Gang, geht plötzlich mit äußerster Schlampigkeit, geil, ordinär, erleichtert

Alles fallen lassen; dann selber zu Boden fallen (alles, was man in den Händen hat, fallen lassen, eins nach dem andern — dann aufatmen)

Eine Frau, die, für sich dasitzend, aus ihrem Schuh geschlüpft ist, und, als jemand sich nähert, schnell wieder hineinschlüpft

Nachdem er sie lange angeschaut hat und sie ihm immer ausgewichen ist, ihn nicht beachtet hat, geht sie plötzlich lächelnd, einverstanden darauf ein, und er schlägt sie, besinnungslos, enttäuscht, hintergangen

Ein Herr will allein sein. (Er ist ohnehin als einziger im Raum.) Er läutet seinem Diener und sagt zu dem Eintretenden: »Hinaus!« Jetzt ist er endlich allein

Der Mann auf der Bahre hinten im Rettungsauto: treuherziger Blick vor Todesangst

Eine schöne, ernste Frau, die endlich aus den starren Zähnen lächelt: als ob sie Wasser läßt

Mein Selbstbewußtsein ist erfüllt, wenn es mir gelingt, lakonisch zu sein

Sie sieht einen Film von einem Mann über eine Frau und denkt: »Was bildet der sich eigentlich ein?«

Er setzt sich zurecht, beginnt vor sich hinzustarren. Die Frau: »Jetzt fang nur nicht wieder vor mir zu denken an!«

Man sieht einen Film oder liest ein Buch und fühlt sich nachher schön ernst und entschlossen, mit jedem umzugehen, aber sowie man zu reden anfängt, andre Leute trifft, zieht man wieder nur die alten Grimassen

Eine schöne Frau, die ungeschickt ist (Dramenfigur)

Kind zur eleganten Besucherin: »Deine Haare riechen.« — »Hoffentlich nicht nach Küche.« — »Nach Parfum.« — »Gott sei Dank.«

»Jetzt reden Sie so (logisch, vernünftig), und gleich werden Sie zu heulen anfangen«

»Sie sind frustriert.« — »Wie soll ich frustriert sein, ich habe ein paar Bücher neben meinem Bett liegen, auf die freue ich mich schon.«

Am Telefon: »Sag doch ein menschliches Wort, ein warmes oder wenigstens ein kaltes.« Schweigen

Nach der Masturbation erscheint ihr der eigene Körper wie der eines mickrigen fremden Mannes mit dünnen Beinen

Schwefelgelbes Spätnachmittagslicht im Schlafzimmer, und die Vorstellung, darin schon seit einiger Zeit als Leichnam zu liegen

Von Kindern gerufen werden, und die Unlust, zu antworten

(Autismus: endlich dauerhaft gewordene Verzweiflung; als ob der Verzweiflung keine Sprache entspräche)

Selbstaufforderung: »Jetzt gehst du ganz langsam die Straße hinunter, vielleicht kommt dann das Leben zurück.« — Und dann: »Warum läufst du denn auf einmal?« — »Weil ich gerade laufen kann.«

Sich etwas andres vorstellen können, etwas andres nachfühlen können, Lust auf andre Orte und eine andre Zeit zu haben, überhaupt wieder denken zu können, das empfinde ich heute fast als eine Art Gnade

Besserung: Ich verwechsle schon wieder Leute auf der Straße mit Bekannten

Ein Kind über ein andres: »N. strengt sich an zu lachen, damit sie lacht«

Bei vielen Leuten bedauert man fast, daß sie sterben werden, ohne zum Töten gekommen zu sein, für das sie doch bestimmt schienen

Ein Kind hat den Wunsch, auf einer Insel zu leben

Eine Frau, machtvoll allein

Das Wichtigste: die Geschichte nicht für sich reklamieren, sich nicht von ihr definieren lassen, sich nicht auf sie herausreden — sie verachten, in denen, die ihre persönliche Nichtigkeit mit ihr kaschieren — und doch sie kennen, um die andern zu verstehen und vor allem zu durchschauen (mein Haß auf die Geschichte als Asyl für die Seins-Nichtse)

»Gestern war ein utopischer Tag«

Das Ich empfand ich heute nach einem langen dunklen Tag als eine (von Natur aus) unzuverlässige Maschine zum In-Gang-Setzen der Welt: als ob gleichsam erst das Ich sich einschalten muß (wie ein Kraftwerk), damit die Welt beleuchtet wird (sich erleuchtet)

Das Glück, wenigstens einige Minuten am Tag denken zu können und als ob dazu notwendig eine lange schmerzhafte Gedankenlosigkeit (-entbehrung) vorausgehen müßte

Momente: vor die Tür treten, wo es schon Nacht ist mit Lichtern, und aufatmen

Dezember

Lernen, die Formulierungen für die Erkenntnismomente nicht nachher, wenn auch nur für sich, zu wiederholen — damit man sie (die Erkenntnisse) nicht vergißt (Formulieren als eine Art des Vergessens)

Manchmal besteht mein einziges Denken darin, daß mir ein Muster (z. ‌B. ein Teppichmuster) vor den Augen flimmert

Ein Kind ruft kläglich in einem entfernten Winkel, daß die Notdurft schon sehr drängend sei — und die wirklich satanische Lust, nicht zu antworten, sondern zu warten, was jetzt passieren wird

Ein Nachbar wurde häufig von Freunden besucht, die sich mit einer Autohupe anzukündigen pflegten, welche ein Kuhmuhen nachmachte. Am Tag, als das Kind des Nachbarn gestorben war, kamen die Freunde am Abend zum Kondolenzbesuch. Sie kündigten sich wie üblich mit der Kuh-Hupe an, drückten diese nur leiser

Ich bin meistens zu bewußt zum Traurigsein

Das Fette, an dem ich würge: Österreich

»Ich muß bestehen auf dem, was ich hin und wieder doch sein kann: das ist meine Würde«

»Ich habe dich heute so gern«

»Zwei Tage habe ich gewartet, daß jemand ein liebes Wort zu mir sagt. Dann bin ich ins Ausland gefahren«

»Sie schreiben elitär.« — »Wie könnte jemand, der amerikanische Filme erlebt hat, elitär sein?«

Die mürrische Zeitungsfrau, der Garten im milden dunklen Licht, die Fratze der hundausführenden Frau — das bin doch alles ich

Ein Kind pfeift; endlich ist ihm das gelungen, nach jahrelangen Versuchen

Eins nach dem andern tun, mit größtmöglichem Bewußtsein: am Brot riechen, am Schnaps riechen, das Papier falten — das ist die Rettung

Die Hausfrau: »Was mich so müde macht, ist das Hin- und Hergehen, das Stocken, Umkehren, wieder Umkehren — wenn ich nur einmal geradeaus gehen könnte, stundenlang!«

Fast niemand schreibt mehr Briefe, fast niemand ruft an: als seien alle im Vorwinter verlorengegangen

Die Vorstellung, sich diesem ausländischen Arbeiter nur dann jemals näher fühlen zu können, wenn man einmal auf eine möglichst körperliche Weise mit ihm verfeindet gewesen wäre

Mit dem Eingekauften das Haus erreichen und die Eßwaren im Kühlschrank verstauen: als ob für ein paar Tage nun alles gesichert sei (wie der Zwang zum Hamstern bei jemandem entsteht)

Indem ich ihre Zärtlichkeit abwehrte, zerstörte ich unsere Schönheit

Der Interviewer sagte zum »Einsamen«: »Erzählen Sie mir eine Geschichte von der Einsamkeit!« Der Befragte schwieg

Die Frau in dem Film Truffauts fällt in Ohnmacht; die Frau in dem Film Godards masturbiert

Ich war böse auf sie, weil sie es nicht war

Zeigen, was es heißt, allein zu sein (wenn es zum Beispiel an der Tür klingelt, und wieder steht draußen nur ein Kind)

Eine Frau, die sich in Gegenwart eines Mannes nach einem andern sehnt; aber der anwesende hat diese Sehnsucht bewirkt, erweckt, bedingt

Mädchen, die kaugummischnappend kreuz und quer durch die Pariser Métrogänge irren

»Nicht einmal mehr in Gedanken komme ich an dich heran, Geliebte«

Die Gefühllosigkeit eines Sportlers kurz nach der Anstrengung; herzlos von der äußersten Körperleistung und der Begeisterung daran

Lebendigkeit: ein Blick genügt