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Lis Vibeke Kristensen

Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren

Aus dem Dänischen von

Holger Wolandt und Lotta Rüegger

Saga

Draw a map to get lost.

Yoko Ono

Teile dieses Buchs wurden durch wirkliche Ereignisse und wirkliche Personen angeregt. Die Autorin hat sich dem Material gegenüber Freiheiten erlaubt. Dieses Buch soll als fiktives Werk gelesen werden und nimmt nicht für sich in Anspruch, historisch korrekt zu sein.

Joyce

Ich bin im achten Monat, und der Arzt des Stützpunkts tätschelt mir das Knie unter dem Laken, das entweder mein oder sein Schamgefühl schonen soll, während ich mit den Beinen in den Schienen des Stuhls liege und mich darauf konzentriere, keinen fahren zu lassen.

Solche Probleme seien bei Schwangeren vollkommen normal, sagt er und lächelt sein zuvorkommendes Ärztelächeln.

Die Blähungen sind aber gar nicht mein Problem. Mein Problem ist, daß ich gar nicht schwanger sein will. Ich will nicht in einem Kleidungsstück herumwatscheln, das einem Viermannzelt ähnelt. Ich will in voller Feldausrüstung auf verschneiten Bergpfaden marschieren. Ich will mich hinter einen Busch hocken können, meinen Durst mit lauwarmem Wasser aus einer Feldflasche löschen und die Nächte unter einem Moskitonetz verbringen.

Moskitonetze könnte man in diesem Land an und für sich auch gut gebrauchen, aber Mücken sind meine geringste Sorge an diesem Vormittag, an dem ich an einer Kreuzung in Reykjavík stehe und so diskret wie nur möglich einen fahren lasse.

Meine Gase riechen genauso schlimm wie die Schwefeldämpfe, die in diesem Land überall dort aus der Erde aufsteigen, wo man am wenigsten damit rechnet. Ich hoffe, die Umstehenden halten das für eine Naturerscheinung, während ich darauf warte, daß der Verkehr nachläßt.

Der Gestank aus meinem Inneren ist nur eines der Symptome meines Verfalls. Mein Gehirn ist ein Moorloch, aus dem nur Sumpfgas entweicht. Ich werde ausfällig gegen alle und jeden und besonders gegen den armen Bill, der nur das getan hat, was von einem Mann in seiner Situation zu erwarten war, nämlich mich zu heiraten, als es für die morgendliche Übelkeit und die ausgebliebene Regel keine Ausrede mehr gab.

Ich bin fünfundzwanzig und sitze in einer furchtbaren Falle. Wäre nicht alles so katastrophal, dann könnte ich an dieser Alliteration sogar Gefallen finden.

Bill, durchtrainiert und fürchterlich uninspirierend, hat von mir geträumt, seit wir in der High-School ein Liebespaar waren. Es ist nicht auszuschließen, daß er seit dem Moment, in dem ich sein Organ losließ, kurz bevor er auf der Rückbank des Pontiacs meines Vaters gekommen wäre, mit einer Erektion herumgelaufen ist.

Partner sind, wie meine Basisgruppe schon lange festgestellt hat, ein notwendiges mentalhygienisches Übel und nur dazu geeignet, die Spannungen abzubauen, die einen daran hindern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In meinem Fall mein Fachgebiet, das ich mit unglaublicher Leidenschaft liebe. Sprache ist die Luft, die ich zum Atmen brauche, und die linguistische Anthropologie verleiht meiner Existenz ihren Sinn.

Als Bill also auf der Hochzeit meiner Schwester auftauchte, bei der ich eine etwas überreife Brautjungfer darstellte, sah ich das als reine Entspannung.

Marge rauschte in Taft und Tüll und auf Vaters Arm gestützt durch den Mittelgang, und ich stand in malvenfarbenem Musselin mit einem passenden Strauß Margeriten da, und meine Gedanken kreisten um meine Doktorarbeit, die zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Frage von Zeit und Fleiß war. Und dann stand er vor mir.

Mr. Middle America in frisch gebügelter Galauniform, mit glattrasiertem Nacken und glatter Haut, nach frischgeputzten Schuhen, Menthol und frischgereinigter Gabardine duftend.

Ein alter Beau. Wo fühlt man sich geborgener als in einer Umarmung, die man kennt und die man bequem auf der Suche nach neuen Abenteuern wieder verlassen kann?

Oder eben nicht.

Die Falle ist zugeschnappt. Es ist was unterwegs, und eine illegale Abtreibung ist keine Alternative. Obwohl ich das Geld vielleicht sogar aufbringen könnte, hat die Sonntagsschule trotz allem ihre Spuren hinterlassen. Und Höllenqualen erscheinen mir weniger reizvoll als der schöne, langweilige Bill. Es gibt jedoch keinen Grund, die Familie mit einer weiteren Hochzeit zu behelligen.

Ein Friedensrichter verwandelt in zweieinhalb Minuten Joyce Deirdre Dunne M.A. in Mrs. William D. Turnbull.

In meinem keuschen Jugendzimmer übergebe ich mich so geräuschlos wie möglich in eine Plastiktüte, wenn ich nicht gerade das Notwendigste zusammenpacke, vor allen Dingen meine Reiseschreibmaschine, und einen Artikel über die isländische Sprachpolitik plane, der mein geistiges Überleben sichern soll, bis das Kind auf der Welt ist.

Ich weiß noch nicht, daß jeder Ehrgeiz, der das morgendliche Sich-aus-dem-Bett-Quälen übersteigt, unausweichlich blasenziehend in dem mentalen Morast versinkt, den das Mutterwerden mit sich bringt.

Wenn schon etwas so Normales wie eine Schwangerschaft meine intellektuellen Fähigkeiten in diesem Ausmaß lähmt, wie sieht es dann erst aus, wenn daraus unausweichlich ein Kind mit seinem unbestreitbaren Anrecht auf Stillen, Baden, Wickeln, Wiegen und Trost resultiert?

Das Ergebnis meiner rudimentären Überlegungen über die Zukunft läßt sich in drei Worten zusammenfassen: Angst, Schrecken, Panik.

Der Verkehr rauscht an mir vorbei, so wie der Verkehr in dieser Einöde eben rauscht. Meist sind es klapprige Karren, die die Soldaten des Stützpunktes, die in die Heimat zurückgekehrt sind, mit Profit verkauft haben. Heckflossen und lila Lack dominieren. Auf den Schotterstraßen fahren alle schnell, wie richtige Wikinger eben.

Ein Bus keucht die leichte Steigung hinauf. Im Schutz des Lärms lasse ich noch einen fahren und verlagere dann mein nicht unbeträchtliches Gewicht auf das andere Bein.

Ich stehe an einer Kreuzung in einem Ort, bei dem es sich wahrscheinlich um Reykjavík handelt. Direkt nach meiner Ankunft, ehe meine Figur ihre gegenwärtigen nilpferdhaften Ausmaße annahm und mein Gehirnschwund einsetzte, wußte ich noch, was der Name der Stadt bedeutet. Ich legte mir ein Wörterbuch zu, machte mich mit den Deklinationen der Substantive vertraut und telefonierte mit dem nationalen Sprachinstitut.

Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob Straßen über Namen verfügen oder Substantive Deklinationsendungen besitzen. Mein Horizont endet beim gegenüberliegenden Bürgersteig, wo ein roter Ballon im Wind treibt.

Ein roter Ballon. Keiner dieser eleganten, heliumgefüllten, die befreit in den Himmel fliegen, sondern einer, den irgendeine ermattete Mutter mit der letzten Kraft ihrer erschöpften Lungen aufgeblasen hat. Vielleicht kommt er direkt von meinem eigenen Stützpunkt. Ein echter amerikanischer Ballon, den ein Windstoß jetzt über die Straße treibt.

Ein kleiner Junge wirft sich bereits über die Bordsteinkante. Seine entsetzten Augen sind auf den Ballon gerichtet. Seinen Ballon, vermute ich. Den am heißesten begehrten Ballon in der Geschichte Reykjavíks, nach dem Geheul des Knäbleins zu urteilen, als ihn seine Mutter am Ärmel packt und davor bewahrt, sich vor den Bus zu werfen.

Zwei kräftige Windstöße schleudern den Ballon auf meine Seite, aber meine Körperfülle hindert mich daran, ihm nachzueilen, und er treibt weiter. Über den Rasen des kleinen Parks, über die nächste Straße und den Abhang hinunter auf den schwarzblauen Atlantik zu.

Der Junge heult. Seine Mutter schüttelt ihn. Der Junge stampft wütend auf. Die Mutter schüttelt ihn noch mehr.

Mit einem Quietschen hat der Bus gebremst. Vorn auf der Hose, die der Junge trägt, breitet sich rasch ein dunkler Fleck aus. Ein dünnes gelbes Rinnsal läuft aus seinem Hosenbein und bildet auf dem rissigen Asphalt des Bürgersteigs eine Pfütze.

Schwerfällig fährt der Bus an, und als er vorbei ist, sind die beiden fort. Vermutlich sind sie auf die unterirdische Toilette verschwunden, die auch ich ab und zu benutze.

Sie sind fort, aber ich habe genug gesehen.

Getrieben von dem Willen, mit dem ich auch mein Studium als Mitglied von Phi Beta Kappa in Rekordzeit mit Bestnote abgeschlossen habe, getragen von unsichtbaren Flügeln und ohne nach rechts und links zu sehen, lege ich die Meilen zurück, die mich von dem trennen, was man als die Freiheit bezeichnen könnte.

Statt die Schritte Richtung Stützpunkt zu lenken, biege ich zum Verkehrsflugplatz ab, und obwohl die Nachrichten am Morgen voll davon waren, habe ich vergessen, daß heute Bobby-Tag ist. Mr. Fischer, das Schachwunder, hat endlich eingesehen, was sich gehört, und sein Erscheinen angekündigt. Auf der anderen Seite des Globus bomben unsere Jungs die Kommunisten zurück in die Steinzeit, auf dieser Seite konzentrieren wir uns darauf, sie im Schach zu besiegen.

Eine größere Menschenmenge sammelt sich an, aber die Größe meines Bauchs verschafft mir freien Durchgang. Niemand hat den Mut, in der Nähe zu sein, wenn das Fruchtwasser abgeht. So kann ich ungehindert Bobbys wieselähnliche Gestalt in Augenschein nehmen, die sich in den Schutz eines niedrigen, europäischen Autos flüchtet, um sich zu der Arena zu begeben, in der er die sogenannte Zivilisation gegen die Barbaren verteidigen will.

Sie haben uns reingelegt, Bobby. Ich melde mich jetzt ab, was ist mit dir?

Als ich schließlich in der Abfertigungshalle stehe, fällt mir ein erschwerender Umstand auf. Ich habe kein Geld für ein Ticket.

In Colorado ist es mitten in der Nacht. Das hindert meinen Vater jedoch nicht daran, ein R-Gespräch anzunehmen.

»Hast du das Telegramm bekommen?«

Welches Telegramm? Etwas an Vaters Stimme, etwas Zerbrechliches, das ich nicht wiedererkenne, läßt meinen Atem stocken.

»Sie behalten sie vorläufig da.«

Sie behalten sie? Wen? Marge? Mutter? Die Großmütter haben schon längst das Zeitliche gesegnet, nur die engste Familie ist übrig.

»Marge ist unterwegs«, schluchzt Vater. »Niemand weiß, wie lang es noch geht.«

Die Verzögerungen der transatlantischen Telefonleitung lassen seine Stimme künstlich klingen, so wie die eines Roboters im Kino.

Marge ist unterwegs. Es muß sich also um Mutter handeln. Ist ihr etwas zugestoßen? Danach klingt es nicht. Es klingt nach etwas Schleichendem, Unberechenbarem.

Viele tausend Meilen entfernt putzt sich mein Vater die Nase.

Als ich drei Stunden später in der nächsten Maschine sitze, weiß ich alles, was es in diesem Stadium zu wissen gibt.

Die Betrachtung des Stuhlgangs und des Toilettenpapiers, mit dem meine Mutter ihr ganzes Umfeld terrorisierte, hat ein Ende. Sie braucht sich keine Gedanken mehr zu machen.

Es ist unter dem Radar hindurchgeschlüpft, während sie einen Augenblick lang unaufmerksam war, während sie noch eine Pille einnahm oder noch einen Schluck eines Spezialgebräus trank.

Jetzt ist es ernst. Krebs im Enddarm, offenbar fortgeschritten. Eine palliative Operation ist übermorgen geplant. Ein künstlicher Darmausgang ermöglicht es, alles im Beutel im Auge zu behalten.

Vielleicht hätte sie sich so einen schon längst zulegen sollen, vielleicht wäre ihr Leben dann glücklicher gewesen.

Jetzt wird es nur kurz.

Wladimira

Der Wagen ist bereits verspätet. Wladimira steht auf dem Bürgersteig neben dem, den sie nicht leiden kann, und wartet.

Sie haben ein weiteres Treffen in dem weißen Gebäude hinter ihnen absolviert. Daß es ergebnislos verlaufen ist, liegt nicht an ihr. Wladimira beherrscht die Kunst, die Worte bedeutungsmäßig korrekt und mit einem Gefühl, das demjenigen des Absenders haargenau entspricht, wiederzugeben.

Wladimiras Übersetzungen sind Klone des Originals und enthalten keinerlei Anteile ihrer eigenen Persönlichkeit. Wenn sie einmal selbständige Gedanken faßt, dann läßt sie sich von niemandem in die Karten sehen. Das ist am effektivsten und auch am sichersten.

Der Mann, um den sich alles dreht, liegt noch in seinem Bett im Hotel. Obwohl alles unternommen wird, um ihn zu beschützen, läßt es sich nicht vermeiden, daß er mit fremden Mikroben in dem fremden Land in Kontakt kommt. Nun hat er sich eine Infektion der Atemwege zugezogen.

Der Meister muß auf sein tägliches Tennismatch verzichten und hinter den dicken Mauern des Hotels seinen Schnupfen auskurieren wo er, wie man allgemein annimmt, die Zeit nutzen wird, um die früheren Schachpartien seines Herausforderers Zug um Zug durchzugehen.

Aber der Mann, der schniefend, eine Kanne Tee in Reichweite, in seinem Hotelbett liegt, der Mann mit dem kräftigen Haar und den traurigen Augen, hat größere Probleme als eine banale Erkältung. Wladimiras Zimmer liegt direkt unter seiner Suite. Nachts kann sie seine Schritte hören. Auf und ab, auf und ab. Sie kann ihn auch stöhnen hören.

Vermutlich das Lampenfieber des Gladiators, ehe die Gitter der Arena hochgehievt und die Löwen losgelassen werden.

Vielleicht ist es auch etwas anderes.

Der Mann, den sie nicht mag, tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern sind halb geschlossen. Die Oberlippe ist ständig etwas über seine dunkelgelben Zähne hochgezogen. Das läßt sich nicht als Lächeln, aber auch nicht als Grimasse bezeichnen. Außerdem stinkt er.

Erst hier auf Island ist Wladimira ihr Geruch aufgefallen. Sie riecht. Der Weltmeister und sein handverlesenes Gefolge riechen.

Nach dem Rauch brennender Briketts. Nach Kohl. Nach harter Seife. Nach Körperausdünstungen. Nach Fußschweiß.

In diesem Land herrschen andere Gerüche. Was nicht nach Fisch riecht, riecht nach Parfüm. Die Seife im Hotelzimmer ist hellrot. Sie schäumt und duftet.

Jetzt stampft er wieder ungeduldig mit den Füßen.

Wladimira ist geduldig. Der Wagen wird schon kommen. Wenn man auf seine Chance wartet, dann kommt sie. Früher oder später, das ist ein Naturgesetz. Und es hängt von einem selbst ab, ob man sie ergreift.

Man nehme sich an ihr selbst ein Beispiel.

Wladimira glaubt nicht an Wunder. Dennoch steht sie in diesem Augenblick wie durch ein Wunder auf einem Bürgersteig in der Hauptstadt der Heimat ihrer Eltern.

Die Dolmetscherin der Botschaft, vom KGB geprüft und genehmigt, wird von einer Hirnhautentzündung heimgesucht, und gegen Krankheiten solcher Art ist nicht einmal der Sowjetmensch gefeit.

In der Panik des Augenblicks wird man auf sie aufmerksam, und jetzt ist sie hier. Rasch eingeflogen und schon bei der Arbeit. Ein unentbehrliches Rädchen in der Maschinerie, die das Schachturnier des Jahrhunderts ermöglicht, welches den endgültigen Beweis dafür liefern soll, daß das System, an das Wladimiras Eltern geglaubt haben, an das ihre Mutter, die überlebt hat, immer noch glaubt und dem Wladimira, ohne zu viele Fragen zu stellen, immer noch dient, zu guter Letzt siegen wird.

Der Vormittagsverkehr ist rege. Breite, chromblitzende Autos geben Gas und verschwinden in Richtung des Sees in der Mitte der Stadt. Weißblonde Frauen mit Kinderwagen, aus denen weißblonde Kinder in die Sonne blinzeln, halten inne und unterhalten sich. Die Männer in den Autos haben es eilig. Die Frauen sehen aus, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Wladimira versteht fast immer, was sie sagen, dafür um so seltener, was sie damit meinen. Eine Sprache muß den Dingen entsprechen, die man kennt, wenn sie etwas anderes sein soll als bloße Worte. Die blonden Frauen unterhalten sich über Waschmaschinen. Sie verwenden dabei das Wort Seifenflocken.

Wladimira kann die Worte übersetzen, das schon. Aber die Wirklichkeit, der sie entsprechen, ist eine andere als ihre. Das macht das Ganze komplizierter oder einfacher, je nach Temperament.

Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich Wladimira immer für das Einfache.

Eine Schwangere geht wiegenden Schritts mit ihrem großen Bauch auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig entlang und versucht die stark befahrene Straße zu überqueren. Sie setzt probehalber einen Fuß auf den Bordstein und zieht ihn dann rasch wieder zurück. Ein Oberbekleidungsstück, eine Art Mantel oder Umhang –, Wladimira sucht einen Augenblick nach dem passenden Ausdruck und entscheidet sich für Mantel –, verbirgt ihre umfangreiche Figur.

Verschwenderische Mengen eines aufgerauhten Stoffs haben für diesen Mantel Verwendung gefunden. Er ist großkariert in Lila und Gelb, was besser zu Wladimiras schwarzen Haaren gepaßt hätte.

Wladimira steckt sich ihr Haar jeden Morgen zu einem festen Knoten hoch. Hochgestecktes Haar muß man nicht so oft waschen wie offenes, und das spart Zeit und Seife.

Die Frau auf der anderen Seite ist größer als Wladimira, in der Tat ungewöhnlich groß für eine Frau, und sie sieht, wie Wladimira selbst auf diese Entfernung feststellt, provozierend gesund und gepflegt aus. Das Gesicht unter der rotblonden Mähne ist fein geschnitten und hätte besser zu einem anderen, schlankeren Körper gepaßt. Sie ist etwa zehn Jahre jünger als Wladimira, die gerade vierunddreißig Jahre alt geworden ist.

Wladimira wurde in einer Winternacht gezeugt. In der Nacht vor dem Morgen, an dem sie ihren Vater abholten. Das behauptet zumindest ihre Mutter.

Wladimira verspürt Genugtuung bei dem Gedanken daran, daß ihre Mutter eine letzte Liebesnacht erlebte, ehe sich die Dämmerung über sie und das Kind legte, das nach dem eigentlichen Erfinder der Revolution benannt worden war.

Die Geschichte von Wladimiras Namen gehört zum Repertoire ihrer Mutter.

»Würden wir ein Kind bekommen, so sollte es Lenins Namen tragen.« Hier machte ihre Mutter immer eine Kunstpause. »Zu Ehren der Revolution.«

Unter Schmerzen geboren, etwas anderes kam ohnehin nicht in Frage, während ihr Vater sich außer Reichweite befand oder gar tot war.

Wladimiras Vater war Spion. Ein Volksfeind. Sogar ihre Mutter glaubte das und glaubt es immer noch. Aus welchem Grund hätten sie ihn sonst festgenommen?

Aber der Volksfeind war trotz allem ihr Mann und Wladimiras Vater, und seinem Mann bringt man Essen. Soviel, wie man sich nur vom Mund absparen kann. Und Zigaretten. Auch die, die man gut selbst hätte rauchen können.

Vielleicht haben ja die Gefängniswärter das Essen gegessen und die Zigaretten geraucht, das kann die Mutter nicht ausschließen. Aber sie waren die Diener der Revolution. Sie arbeiteten hart für einen niedrigen Lohn. Die Wurstzipfel und Zigaretten konnte man ihnen gönnen.

Der Mann, den Wladimira nicht mag, nimmt sich immer das größte Bratenstück mit dem wenigsten Fett und Knorpel. Rein mit der Gabel, und schon liegt der Klumpen auf seinem Teller. Er läßt auch immer etwas übrig. Er nimmt mehr, als er essen kann, und läßt den Rest übrig. Jetzt sucht er in seiner Manteltasche nach den Bonbons, die er dauernd lutscht und von denen er nie jemandem anbietet.

Der Schachkommissar ist ein Diener der Revolution. Es bereitet Wladimira ein schlechtes Gewissen, daß sie ihn nicht mag.

Loyalität, Wladimira. Die Stimme ihrer Mutter hallt in ihren Ohren wider, während ein plötzlicher Windstoß sie erschaudern läßt. Obwohl es mitten im Sommer ist, ist es hundekalt. In Reykjavík gebe es kein Wetter, hat ihre Mutter gesagt. Jetzt weiß Wladimira, was sie damit meinte.

Die Loyalität der Sache gegenüber, die das Ich übertraf, hatte ihren Vater und ihre Mutter dazu veranlaßt, ihre Heimat zu verlassen, um den wirklichen Sozialismus mit aufzubauen.

Mutters Geschichten sind die Märchen ihrer Kindheit. Sie haben ebensowenig mit einer wiedererkennbaren Wirklichkeit zu tun wie die Diktatur des Proletariats und die gleichen Rechte für alle Menschen. Von der Mutter erhielt Wladimira ihre beiden Sprachen, Isländisch für die einfachen Dinge, Russisch für die wichtigen wie Solidarität, Pflicht und Kollektiv.

Auf der Universität lernte sie, die Sprachen mit der Genauigkeit eines Chirurgen anzuwenden. Im Laufe der Zeit hat sie gelernt, zwischen Worten und wirklichen Sachverhalten zu unterscheiden.

Der Mann, den sie nicht mag, sagt etwas, aber die Worte werden vom Lärm eines Busses verschluckt, der keuchend in die Kurve am Fuß des kleinen Hügels biegt.

Das Geschrei des kleinen Jungen, der neben Wladimira steht, übertönt das Keuchen des Busses. Ein Ballon hat sich aus seiner kleinen Faust losgerissen und treibt über die Straße. Eine Frau packt den Arm des Jungen. Seine Mutter, vermutet Wladimira.

Der Ballon ist so rot wie das Abzeichen, das die Mantelkragen der Delegation schmückt, mit Hammer, Sichel und den Strahlen der Sonne. Rot wie der rote Stern, wie das Halstuch der Pioniere, wie ihr eigenes Pionierhalstuch.

Ein Kind, das sich nicht beherrschen kann, ist ein scheußlicher Anblick. Glücklicherweise schüttelt die Mutter den Jungen, er hat es nicht besser verdient. Wladimira hätte ihm an ihrer Stelle wahrscheinlich eine Ohrfeige gegeben, damit er es sich merkt.

Mit unartikulierten Gefühlsausbrüchen hat Wladimira gar keine Geduld.

Vielleicht waren ja mit ihrem Vater die Gefühle durchgegangen. Vielleicht hatte er ja deshalb das Vertrauen der Herrschenden verloren oder war in einer Zeit aufgefallen, in der es lebensnotwendig war, unsichtbar zu sein. Einige der Geschichten der Mutter ließen dies erahnen.

Der Ballon treibt Richtung Meer. Der Junge hätte besser auf ihn achtgeben sollen. Er hat es sich selbst zuzuschreiben. Einen Ballon bekommt man nicht jeden Tag.

Hinter dem Bus taucht die große Limousine der Botschaft auf. Der Fahrer ist ein mürrischer Mann mit einer Warze im Nacken, die Wladimira während der Fahrten vom Hotel zu verschiedenen offiziellen Niederlassungen ausgiebigst hat betrachten können.

Wladimira kratzt es im Hals. Vielleicht bekommt sie die Erkältung ja auch. Wie auch immer, sie rechnet damit, bis spätabends arbeiten zu müssen. Hoffentlich sind die letzten Verhandlungen mit dem Vorsitzenden der Schachunion dann abgeschlossen. Dieser lebhafte Mann ist allen wohlgesinnt, aber auch nur eine Figur in einem Spiel, das sein Verständnis und sein Auffassungsvermögen übersteigt.

Es ist nach Mitternacht, als Wladimira endlich wieder ihr Hotelzimmer betritt. Das Zimmermädchen hat die Tagesdecke entfernt, und das Bett sieht mit seinen gestärkten weißen Laken, dem Federbett und den weichen Kissen sehr einladend aus.

Eine Thermosflasche Tee steht auf einer ausgebreiteten Serviette auf dem kleinen Schreibtisch. Dazu das dunkle, süße Brot, das Wladimira so schmeckt, Butter und geräucherte Forelle statt des Abendessens, das sie verpaßt hat.

Die Schritte über ihrem Kopf halten sie noch lange, nachdem sie fertiggekaut hat und in die weiche Wärme des Bettes gekrochen ist, wach. Schwere Schritte auf einem leise knarrenden Boden. In regelmäßigen Abständen putzt er sich die Nase – und stöhnt.

Oh, oh, oh.

Dort oben leidet ein Mensch. Ein lautstarkes Leiden, das sie wach hält. Der Druck, der auf dem Mann mit den traurigen Augen lastet, ist groß. Aber Leid läßt sich wie alles andere beherrschen.

Jedenfalls gibt es nichts, was sie tun könnte, um es zu lindern.

Zu guter Letzt muß sie eingedöst sein, denn sie befindet sich mitten in einem diffusen Traum, als ein dumpfes Geräusch sie veranlaßt, sich aufzurichten und Licht zu machen.

Etwas ist dort oben zu Boden gestürzt. Ein Möbelstück? Ein Mensch?

Jetzt ist es ganz still. Wladimira hört ihr eigenes Herz pochen. In ihrem Magen spürt sie ein Brennen. Die unregelmäßigen Mahlzeiten, die ihre Arbeit mit sich bringt, fordern ihren Tribut. Normalerweise schläft sie trotz Sodbrennen ein. Jetzt liegt sie wach und lauscht, obwohl sie es eigentlich nicht will.

Ein neues Geräusch. Jemand klopft laut gegen die Decke ihres Zimmers. Klopf. Klopf. Jetzt ist wieder ein Stöhnen zu hören. Lauter als vorher.

Oooh. Oooh.

Unter solchen Umständen kann man nicht schlafen.

Wladimira zieht ihre Bluse an und ihren Faltenrock. Dann schlüpft sie mit nackten Füßen in die Schuhe, die zwar schon den ganzen Tag drücken, aber ihre schönsten sind.

Sie geht die Treppe hoch und überlegt, ob es statthaft ist, jemanden zu bitten, etwas leiser zu leiden.

Als sie vor der Tür steht und die Hand zum Klopfen hebt, kommt ihr in den Sinn, daß sich der Mann dort drinnen verletzt haben könnte.

Der Mann, den sie nicht mag, hat sein Zimmer etwas weiter den Gang hinunter. Das korrekte Verhalten in dieser Situation wäre zweifellos, bei ihm anzuklopfen und ihn zu bitten, sich des Problems anzunehmen, aber sie weiß nicht einmal, wie sie es formulieren soll, worin es überhaupt besteht.

Statt dessen legt sie ein Ohr an die Tür. Von innen ist nichts zu hören.

Wladimira bleibt einen Augenblick stehen und horcht in die überraschende Stille. Bestenfalls ist er dort drinnen eingeschlafen. Und schlimmstenfalls? Die Stille verheißt nichts Gutes.

Ganz von selbst hebt sich ihre rechte Hand. Mit dem Mittelfinger schlägt sie zweimal auf die braune Türfüllung, ein zweifaches, diskretes Klopfen.

Ein Geräusch. Jemand bewegt sich auf der anderen Seite der Tür. Es klingt, als würde jemand kriechen, wie Knie auf einem Teppich. Dann wird es wieder still.

Die Tür ist nicht abgeschlossen und läßt sich halb aufdrücken. Etwas ist im Weg, so daß sie sich nicht ganz öffnen läßt. Ein liegender Mann.

Nun richtet er sich mit Mühe auf. Das bekannte Gesicht taucht im Türspalt auf, das kräftige, rotbraune Haar, die grünen, traurigen Augen.

Dann steht sie plötzlich mitten im Zimmer. Zwei Hände haben sie an den Oberarmen gepackt, und sie wird durchgeschüttelt, wie der Junge vorhin, aber sie hat nichts getan, nichts gewagt. Schließlich war nicht sie es, die sich einem roten Ballon hinterher- und um ein Haar vor einen Bus geworfen hätte.

Den ganzen Tag ist sie ihrer Arbeit nachgegangen, hat Worte in andere Worte übersetzt, und jetzt ist sie müde und will schlafen. Sie ist gekommen, um das zu sagen.

Sie bringt kein Wort über die Lippen.

»Setzen Sie sich«, sagt der Mann.

Die Stühle des Zimmers, Empire mit Intarsien, sind mit Kleidern und zerknülltem Papier bedeckt. Ein Tennisschläger lehnt an dem riesigen Sofa. Auf einem zierlichen Schreibtischstuhl steht ein Schachbrett mit den Figuren in der Ausgangsposition.

Der Gestank von Zigarettenkippen ist überwältigend.

Durch die Tür zum Schlafzimmer sieht sie, daß das breite Doppelbett gemacht ist, die Bettdecke ist festgesteckt.

»Kommen Sie.«

Ein Finger deutet anklagend auf ihre Nase. Dann wird er zur Decke gehoben. Sie folgt ihm mit dem Blick.

Nun deutet der Finger zu Boden. Wladimira starrt auf das Muster des Teppichs. Dunkelblaue Blumen auf rotem Grund. Der Teppich sieht persisch aus.

Das ist ein Perserteppich, sagt eine Stimme in ihrem Kopf. Die Stimme spricht isländisch.

Eine Hand packt ihr Kinn. Sie muß ihn ansehen, wenn sie nicht die Augen schließen will. Die Hand drückt ihren Kopf hin und her, immer fester und immer schneller.

Noch nie hat sie jemand so behandelt. Ihre Mutter hat nie die Hand gegen sie erhoben. Kein Lehrer hatte je einen Grund, sie zu bestrafen.

Endlich läßt er los.

»Was denken Sie?«

Er wirkt ungeduldig, aber seine Stimme klingt beunruhigend normal. Ist er verrückt? Bei Genies ist das möglich. Und er ist zweifellos ein Genie.

»Was ich denke?«

»Was denken Sie, wenn ich Sie so schüttele? Was denken Sie?«

»Das weiß ich nicht.«

Denkt sie überhaupt?

»Setzen Sie sich.« Er nickt in Richtung eines Stuhls und fegt mit der Hand einen Stoß Papiere zu Boden. Wladimiras Beine geben nach, und sie setzt sich. Sie wagt es nicht anders.

»Stehen Sie auf.«

Sie zögert. Wenn das so weitergeht, muß sie um Hilfe rufen. Sie hofft, daß ihre Stimme, wenn nötig, bis zur Außenwelt durchdringt.

»Stehen Sie auf, habe ich gesagt.«

Chaotische Signale erreichen ihre verschiedenen Körperteile. Hinter ihren Augen hat sich etwas Warmes angesammelt.

»Stehen Sie endlich auf.«

Ihr Körper gehorcht mehr schlecht als recht. Sie kommt auf die Beine.

»Gehen Sie rüber zur Wand. Kommen Sie zurück. Gehen Sie rüber zur Wand. Kommen Sie zurück. Schneller. Machen Sie schon. Rüber zur Wand. Zurück. Rüber zur Wand. Zurück.«

Sie tut es. Hin und her, bis sie nach Luft ringt.

»Was denken Sie? Was denken Sie? Was denken Sie?«

Seine Hand hält sie auf. Seine Finger bohren sich in ihre Schulter. Sein Mund ist ganz nah an ihrem Ohr. Jetzt schreit er.

»Was denken Sie?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Nichts, habe ich gesagt. Nichts.«

Sie hört selbst, daß sie schreit. Das ist überraschend.

Noch mehr überrascht sie, daß sie isländisch spricht.

Das verwirrt ihn so sehr, daß er eine Sekunde lang losläßt, aber einen Augenblick später hat er ihre Schulter schon wieder im Schraubstock.

»Natürlich denken Sie nichts. Wer kann schon mit einer Pistole an der Schläfe denken? Sie können es nicht. Ich kann es nicht.

Man kann weinen, man kann sich in die Hose machen, aber man kann nicht denken.«

Der Junge mit dem Ballon konnte das Wasser nicht halten. Das Bild der kleinen Lache auf dem Bürgersteig ist plötzlich wieder da. Sie wußte nicht einmal, daß es ihr aufgefallen war. Ihre eigene Blase drückt unter dem Faltenrock.

Seine Augen sind immer noch traurig. In ihnen ist keine Wut. Vielleicht kann sie ihn überreden, sie gehen zu lassen.

»Können wir uns nicht hinsetzen?«

Das wirkt. Er deutet durch die Tür auf das Fußende des Bettes.

»Dort.«

So langsam, wie sie es nur wagt, begibt sie sich mit ihm auf den Fersen ins Schlafzimmer und läßt sich ganz außen auf die Bettkante sinken.

Er selbst setzt sich auf den Fußboden.

Dann sitzen sie da. Die Minuten vergehen. In Wladimiras Kopf drehen sich die Worte im Kreis. Isländische und russische durcheinander. Wenn sie etwas sagen soll, so muß sie die Worte wählen, die ihn dazu bringen, sie gehen zu lassen.

Er bricht das Schweigen.

»Das ist meine Aufgabe. Mein Gehirn zu gebrauchen.« Er spricht diese Worte aus der Hocke. »Mir den Zug vorzustellen, bevor ich die Figur bewege. Ich lasse mir Zeit. Oder ich bin schnell. Manchmal ist es das beste, schnell zu sein. Überraschungsangriff. Man muß die richtige Entscheidung treffen. Jeder einzelne Zug muß korrekt sein. Und elegant. Daran denke ich. Jedesmal. Korrekt und elegant. Vorgestern sagten sie, wir würden nach Hause fahren. Sie wollten mich ohne Kampf zum Sieger ernennen. Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die dem Gegner den Rücken zukehren. Egal, wie er sich benimmt. Er ist der Gegner. Ich habe mich bereit erklärt zu spielen, und ich spiele.«

Die Worte richten sich nicht an sie, sondern an die Wand hinter ihr.

In Wladimiras Kopf verwandeln sie sich in isländische Worte, korrekte Worte, eins nach dem anderen. Auf diese Weise ergeben sie keinen Sinn, und sie muß zu ihnen nicht Stellung nehmen.

»Wenn ich nicht denken kann, dann gibt es mich nicht.«

Wenn sie so tut, als sei sie bei der Arbeit, dann braucht sie nicht zu reagieren. Sie kann ihn ausreden lassen, dann kann sie gehen und hat sich nichts vorzuwerfen. Morgen ist sie dann wieder die Dolmetscherin, eine von vielen, die irgendeine Funktion erfüllen. Morgen ist er wieder der Weltmeister. Alles kann so weitergehen wie bisher.

Nichts ist mehr gefährlich. Sie ist in Sicherheit.

Die Wärme hinter ihren Augen ist verschwunden. Ihre Knie fühlen sich wieder normal an.

Er schweigt. Wladimira sieht auf ihre Uhr. Eine Minute vergeht. Zwei. Sie stemmt ihre hohen Absätze auf den Boden und erhebt sich probehalber. Vielleicht kann sie ja an ihm vorbeihuschen und die Tür erreichen, bevor er aufgestanden ist.

»Sie bleiben sitzen.«

»Können wir nicht Schluß machen? Der Tag war anstrengend. Man muß auch mal schlafen.«

Er hat nicht das Recht, sie zu tyrannisieren. Sie weigert sich, ihm das zu erlauben. Sie ist sowjetische Staatsbürgerin. Er ist sowjetischer Staatsbürger. Sie hat Rechte.

»Schlafen kann man immer. Würde. Ich spreche von Würde. Beruflicher Ehre.«

Wladimiras Gehirn überschlägt sich fast bei dem Versuch, diese Worte zu übersetzen, sie zu entschärfen, aber er spricht weiter.

»Wenn er der Beste ist, dann ist er der Beste. Wer immer er sein mag.«

Er macht eine Pause und wartet auf eine Antwort. Als keine kommt, fährt er fort.

»Er darf es nicht sein. Nasche Lutschsche. Wir sind die Besten. Das Zentralkomitee hat es so beschlossen. Das Politbüro hat das beschlossen. Die Partei hat das beschlossen. Ich bin kein Mitglied des Zentralkomitees, ich bin nicht mal Mitglied der Partei. Aber Befehl ist Befehl. Mein Kopf weiß das. Aber er kann keine Befehle befolgen. Ich empfinde, was ich empfinde. Der Kopf gehorcht nicht mehr. Ich habe Angst. Ich bin wütend. Ich bin aufgebracht.«

»Niemand kann es sich erlauben, sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen.«

Die Worte kommen ihr unüberlegt über die Lippen. Ein ungläubiger Ausdruck breitet sich auf dem Gesicht des Mannes aus.

»Wo habe ich das schon einmal gehört?«

Er lacht. Ein trockenes Lachen wie ein Husten. Es hört nicht auf.

»Wladimira«, hustet er.

Sie wußte nicht, daß er ihren Namen kennt. Sie erfüllt eine Funktion. Deswegen ist sie mitgekommen, nicht um ein Individuum zu sein.

»Wladimira hat ihren Glauben.«

Sein Gelächter übertönt ihren Versuch, zu protestieren. Ein befreites Lachen.

»Erzählen Sie mir eine Geschichte, Wladimira.«

Das Lachen hat ihm die Tränen auf die Wangen laufen lassen, auf denen sich die Bartstoppeln wie ein Schatten abzeichnen. Seine Haut ist braun und glatt, das Haar gewellt und so dicht, daß man mit den Fingern hindurchfahren will.

»Wladimira.«

Das ist ihr Name. Zu Ehren der Revolution. In seinem Mund klingt er wie eine lebensgefährliche Liebkosung.

»Eine Geschichte?«

Sie kann ihre Hand gerade noch davon abhalten, etwas Dummes zu tun. Ihre Gedanken kann sie aber nicht aufhalten. Und auch nicht die Wärme. Sie breitet sich von ihrem Schoß über die Brust bis zur Kehle aus und wird zu zwei heißen Flecken auf ihren Wangen.

»Setzen Sie sich hierher.«

Er klopft auf den Teppich neben sich.

Wladimira läßt sich zögernd zu Boden gleiten.

»So ist es gut.«

Sein Kopf liegt in ihrem Schoß. Seine Hände fallen kraftlos zur Seite.

»Wladimira«, sagt er. »Sie ähneln einem Apfel. Ihr Haar ähnelt einem Apfel auf einem Apfel. Wenn Sie alt werden, dann werden Sie aussehen wie zwei Äpfel, ein glatter und ein verschrumpelter.«

Sein Kopf liegt schwer auf ihren unter dem dünnen Stoff ihres Rocks verborgenen Schenkeln. Es pocht in ihrer Brust.

»Eine Geschichte, Wladimira. Ich brauche Geschichten.«

Sie zögert. Dann sagt sie: »Ich habe heute einen kleinen Jungen gesehen.«

Das ist keine Geschichte, aber es ist das einzige, was ihr einfällt.

»Er hat seinen Ballon verloren. Einen roten Ballon. Der ist wohl einfach weggeflogen. Er hat ihn nicht ordentlich festgehalten. Er ist weggeflogen. Vielleicht übers Meer. Fast wäre er vom Bus überfahren worden. Seine Mutter hat ihn gerettet.«

Er hat die Augen geschlossen. Jetzt öffnet er sie.

»Hat ihn seine Mutter gerettet?«

»Sie hat ihn geschüttelt, weil er heulte.«

»Müßte man mich schütteln?«

Wladimira sucht nach dem isländischen Wort für schütteln. Einen festen Punkt, während sich alles um sie dreht.

»Das weiß ich nicht.«

Die Wärme hinter ihren Augen ist wieder da.

»Erzählen Sie mir noch eine Geschichte.«

»Ich weiß keine.«

»Versuchen Sie es.«

Eine der Geschichten ihrer Mutter. Sie läßt sich alle möglichen durch den Kopf gehen, aber keine von den üblichen eignet sich.

Dann taucht eine auf.

»Es war einmal ein Mann, der hieß Gunnar.«

Die Stimme der Mutter, feierlich wie die einer Rezitatorin an einem Rednerpult.

Ein Bauer wird von seinesgleichen für vogelfrei erklärt. Nur die eigenen Leute können einen verurteilen, Wladimira. Dein Vater wurde von seinesgleichen verurteilt.

Vielleicht ist das wahr. Zumindest hat sie sich daran gewöhnt, das zu glauben.

»Er sattelt sein Pferd. Er packt seine Satteltaschen. Er wird seinen Hof, seine Frau und seine Kinder verlassen und nie mehr zurückkehren. Jeder, der ihm begegnet, kann ihn erschlagen. Er ist vogelfrei. Das bedeutet dieses Wort. Er hat einen Mann erschlagen und darf nun seinerseits erschlagen werden.«

Die Bilder tauchen in rascher Folge vor ihrem inneren Auge auf.

Das Bild des Mannes zu Pferd, die grüne, hügelige Landschaft, das klare Wasser des Flusses. Überall blüht es. Es ist Frühling.

»Er reitet vom Hof weg. Niemand sieht ihm nach. Er soll von dannen ziehen können, ohne daß ihn jemand zurückhält. Es muß sein.

Sein Gesinde hat vor vielen Sommern eine Brücke über den Fluß gebaut. Die Brücke hätte repariert werden müssen, aber es gab zuviel anderes. Zwietracht. Ein Balken ist unter dem Schnee des Winters verrottet. Das Pferd rutscht aus, es stolpert und verliert den Halt.

Gunnar steigt vom Pferd. Er will es über die Brücke führen, damit sie beide sicher auf die andere Seite gelangen.

Bevor er sich wieder in den Sattel schwingt, dreht er sich um. Ein letztes Mal will er seinen Hof sehen.

Hinter ihm ist der Abhang grün. Das Gras scheint ihm üppiger denn je. Die Sonne funkelt im Tau.

Gunnar steht da, und er schaut. Er betrachtet das Grün. Die Sonne. Die Tautropfen. Den Himmel. Die Blumen, gelb und lila. Er steht lange da und schaut, bis das Pferd ungeduldig mit den Hufen stampft.

Aber Gunnar steigt nicht aufs Pferd. Er ergreift die Zügel und führt das Pferd den schmalen Pfad hinauf. Zurück zum Hof. Zurück zu dem grünen Hang und den Torfkaten und dem Leben, das er für sich und seine Familie gewählt hat.«

Sie schweigt.

Der Mann hat die Augen geschlossen.

»Schläfst du?« flüstert sie. Seine Mundwinkel zucken.

»Was ist dann aus ihm geworden?« fragt er.

Wladimira hebt die rechte Hand vom Boden und läßt sie einen kurzen Augenblick über dem schweren Kopf schweben. Dann fährt sie mit den Fingern durch sein kräftiges Haar.

So muß es sich anfühlen, mit bloßen Händen einem Pferd durch die Mähne zu fahren.

»Das weiß ich nicht mehr«, sagt sie.

Olivier

Jetzt, wo seine Mutter tot ist.

Jetzt, wo er niemandem mehr Rechenschaft schuldig ist.

Jetzt, wo er sich ganz seinen Wünschen hingeben kann.

Jetzt.

Unmittelbar bevor ihm der Traum verriet, was er eigentlich begehrt, erwacht er.

Irgend etwas, vielleicht ein Donnern, hat ihn geweckt, ein rollendes Krachen, das weitergeht, sich verwandelt, sich zu etwas Mahlendem verstärkt, zu etwas Pfeifendem abschwächt und sich zu etwas Knirschendem verdichtet. Dann wird es still. Die Stille ist genauso ohrenbetäubend, wie der Lärm es war.

In seiner Kajüte riecht es nach seinem Erbrochenen. Seekrank tagsüber, seekrank in jeder Nacht der ganzen langen Reise. Das Fett hängt in schlappen Wülsten an seinem wenig beeindruckenden Skelett.

Eigentlich wäre es natürlich gewesen, zu bereuen, sich je auf diese Reise begeben zu haben. Olivier weiß nicht, ob er es bereut. Das Meer hat ihn davon abgehalten, darüber nachzudenken.

Die Dünung. Das Rollen. Die kurzen, kräftigen Wellen. Die schaumbedeckten Hügel, die brodelnden Täler.

Sein ganzes Leben lang hat er an Land gestanden und sie betrachtet. Jetzt erlebt er zum ersten Mal, welche Wirkung sie auf seinen Körper ausüben.

Er hat sich nie fürs Schwimmen begeistern können. Er wollte sein Fett nicht den Augen der Welt darbieten, es war so schon schlimm genug. Nie zuvor hatte er seinen Fuß auf ein Schiff gesetzt. Selbst wenn er Lust dazu gehabt hätte, hätte seine Mutter jeglichen Versuch unterbunden.

Wer hätte geglaubt, daß er sich erst mit achtundfünfzig seiner Mutter widersetzen würde.

Das Schiff liegt still. Jetzt merkt er es. Ein leises Schwanken, das ist alles.

Schlaf. Sich so ausgiebig wiegen lassen, daß man nie mehr erwacht. Vielleicht ist es ja das, wovon er sein Leben lang geträumt hat.

Ein Poltern an der Tür.

»Wir liegen im Hafen.«

Vor Durst klebt ihm die Zunge am Gaumen. Er trinkt fast eine ganze Flasche Wasser. Dieses Mal dreht es ihm ausnahmsweise nicht den Magen um. Er taumelt aus seiner Koje, zieht eine Hose und ein Hemd an und einen Wollpullover über den Kopf.

Oben haben sie bereits die Gangway in Position gebracht.

Sie befinden sich im Hafen. Lagerhäuser begrenzen die Sicht auf Kräne und Öltanks. Auf dem Kai haben sich stämmige Männer in Ölzeug aufgebaut, Blonde und Dunkelhaarige mit Schirmmützen. Der durchdringende Geruch von Fisch steigt ihm in die Nase.

Hier genauso wie zu Hause.

Auf der Brücke unterhält sich der Kapitän in Zeichensprache mit einem Mann, dessen unnatürlich breite Schultern seine blaue Uniform zu sprengen drohen. Auf einem Bord hinter ihnen stehen eine Cognacflasche und zwei geleerte Gläser.

So ist es recht. Olivier kennt die Methode. Ein kleines Glas kann einen Weg bahnen, der bis vor kurzem unpassierbar erschienen ist.

»Ich wollte mich eben noch verabschieden.«

Der verbindliche Händedruck. Der Kapitän weicht seinem Blick aus. Vielleicht glaubt er, Olivier würde einen Teil des Geldes zurückfordern.

Die Reise hat er im voraus bezahlt. Eine stattliche Summe, die auch die Rückfahrt umfaßt, auf die er lieber verzichtet hätte, wie auf all das, was er auf der Fahrt ohnehin nicht hatte essen und trinken können.

Auf dem Schiff hat er nichts mehr verloren. Für die Heimreise kann er sich ein Flugticket leisten, aber er wollte mit dem Schiff ankommen.

Der harte Koffer schlägt unangenehm gegen das rechte Bein, als er, nach dem langen Fasten ganz schwach, die Straße hochstolpert.

Außerhalb des Hafengebiets ist die Luft salzig und sauber. So weit das Auge reicht, gibt es keine hohen Gebäude und keine Fabrikschornsteine. Der Himmel über ihm ist mit dramatischen Wolken überzogen. Hinter ihm ragt jenseits der Bucht ein beeindruckender, schwarzblauer Gebirgskamm auf.

Ein fremdes Land. Er hat an dieses Land gedacht, jetzt ist es plötzlich da. Er weiß nicht, was er sich vorgestellt hat und ob er sich überhaupt etwas vorgestellt hat. Eis muß es geben, warum sollte es sonst Island heißen? Islandponys und isländische Vulkane kennt er. Er hat eine Fernsehsendung über eine Insel gesehen, die aus dem Meer aufgetaucht ist, eine Vulkaninsel.

Trockenfisch. Das Schiff, mit dem er gekommen ist, würde eine Ladung getrockneten, gesalzenen Dorsch mit zurücknehmen.

Der Dorsch hat seinen Vater das Leben gekostet. Jetzt ist es fast schon soweit, daß sich die Fischer wegen dieses Fisches gegenseitig umbringen. Dorschkrieg. Als ob es nicht auch so schon genug Kriege gäbe.

Über die Sprache, die hier gesprochen wird, weiß er nichts. Er beherrscht nur seine Muttersprache. Mit den zwei bis drei englischen Ausdrücken, die er sich mit Rücksicht auf die Touristen mühsam angeeignet hat, wird er nicht weit kommen.

In einem Hotel wird er sich wohler fühlen. Hotels sind überall auf der Welt gleich.

Ein Hotel wie sein eigenes zu Hause, wo er sich waschen und umziehen und etwas essen kann, jetzt wo die Übelkeit langsam in Hunger übergeht. Eine Flasche Wein. Schlafen, tief und lange. Ein breites Bett statt der unbequemen Koje. Frische Bettwäsche. Ein Boden, der nicht unter seinen Füßen schwankt.

Bereits morgen will er in den Norden. Vielleicht kann er ja mit der Bahn fahren. Oder mit dem Bus. Sein Führerschein steckt in der Innentasche seiner Jacke. Vielleicht kann er ja einfach ein Auto mieten und selbst dorthin fahren.

Er weiß den Namen des Ortes. Fáskrudsfjördur. Er hat ihn auf der Landkarte gefunden. Ein kleiner Flecken auf einer Landzunge, die nach Osten weist.

Im Hotel werden sie schon Bescheid wissen. In Hotels weiß man immer Bescheid. Dort werden Fremdsprachen gesprochen, vielleicht sogar Französisch.

Die Kleider schlottern ihm um den Körper. Unrasiert ist er außerdem. Vermutlich sieht er aus wie ein Landstreicher.

Die Stadt erinnert an den Fußboden im Kinderzimmer, wenn er die Kiste mit den Bauklötzen darauf ausgekippt hatte. Der schwarzgraue Asphalt der Straßen ist rissig. Schwarzer Splitt knirscht unter seinen Sohlen.

Die Straße, an der er wartet, um sie überqueren zu können, beschreibt einen leichten Bogen. Er steht auf dem Rücken eines gestrandeten Riesenwals.

Wale gibt es auch hier, fällt ihm plötzlich ein. Er hat Fotos von Harpunen auf großen Schiffen gesehen, von der blutigen Arbeit des Ausnehmens, von Speck und Tran.

Er kann sich nicht vorstellen, Walfleisch zu essen. Er will eine Suppe und Brot, um es in die warme Flüssigkeit zu tunken. Er braucht etwas, um seinen Magen wieder in Gang zu bringen. Gebratenen Fisch. Vielleicht etwas Käse zum Dessert, vorzugsweise einen weichen, tröstenden. Karamelpudding.

Im Kopf hat er das Menü bereits zusammengestellt. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen.

Autos brausen an ihm vorbei. Schwere, flache Autos, wie er sie in amerikanischen Fernsehfilmen gesehen hat. Chevrolets und Chryslers und riesige Fords.