image

Christlich geht anders
(Hg.)

Solidarisch
antworten

auf gesellschaftliche
Herausforderungen

image

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Gabriele Kienesberger

Welches ist das wichtigste Gebot?

Zur Einheit von Gottes- und Nächstenliebe

Regina Polak

Gottes- und Nächstenliebe konkret

Markus Inama SJ

Wann haben wir dich hungrig gesehen?

Option für die Armen

Rainald Tippow

Wenn Theaterspiel und Passion die Menschen verbindet

Lydia Haider

Wann ist ein Staat sozial?

Eine kritische Würdigung des österreichischen Sozialstaats

Margit Appel

Ein starkes soziales Netz für Vera, Karl und Christine

Martin Schenk

Wie kommt der Staat zu seinem Geld?

Steuergerechtigkeit – eine Annäherung

Stephan Schulmeister

Geld ist nicht alles

Jörg Alt SJ

Was kennzeichnet christliche Politik?

Grundsätzliches am Beispiel des Rechtspopulismus

Michael Hainz SJ

Christliches Engagement und regionale Menschenrechtspraxis

Josef P. Mautner

Wann wird Hoffnung gesellschaftspolitisch relevant?

Christlicher Glaube macht Hoffnung, nicht Angst

Magdalena Holztrattner

Sinnvoll tätig sein – ein Grundeinkommensexperiment

Karl Immervoll

Ist ein gutes Leben für alle möglich?

Frieden – Gerechtigkeit – Bewahrung der Schöpfung

Thomas Hennefeld

Für ein gemeinsames Ringen um ein gutes Leben

Anja Appel und Franz Helm SVD

Statt eines Nachworts:
Zukunftswort der Katholischen Jugend Österreich

Verwendete Literatur

VORWORT

Gabriele Kienesberger

Im Herbst 2016 zeigte die Politik ein bis dahin nicht gekanntes unsoziales Gesicht: Die empfindliche Kürzung der Mindestsicherung in Niederösterreich war ein Angriff auf den österreichischen Sozialstaat und damit auf jene Menschen, die ihn brauchen. Empörung über diese Maßnahme und die Sorge, dass das Zurückschrauben sozialer Unterstützungen weitergehen würde, führte zu einer Stellungnahme von Einzelpersonen und von Vertreter*innen katholischer, evangelischer und orthodoxer Organisationen unter dem Titel „Christlich geht anders!“ Diese Stellungnahme zur gesellschaftlichen Lage, insbesondere zu Arbeitslosigkeit, zu prekärer Beschäftigung, zu Armut und zur Not geflüchteter Menschen, erwuchs aus der Grundbotschaft des Christentums, dass Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe einander bedingen und ein Ganzes bilden, das soziale Gerechtigkeit und Frieden ermöglicht.

Damit war eine Plattform entstanden, die der Dominanz des individuellen Gewinnstrebens zu Lasten gelebter Solidarität eine klare Absage erteilt.

In den vergangenen Jahren war ein Ausbreiten von Unsicherheit, Verbitterung, Hoffnungslosigkeit und Angst zu orten. Der Einfluss von Parteien und Bewegungen des (extrem) rechten Spektrums, die gegen Sozialhilfeempfänger Stimmung machten und diese gemeinsam mit Flüchtlingen, Muslimen und „den“ Fremden ganz allgemein zu „Sündenböcken“ stempelten, wuchs. Selbst innerhalb der Traditionsparteien wurden jene Kräfte stärker, welche Zuflucht in der Anpassung an den rechten Populismus suchen. Das alarmierte aufmerksame Bürger*innen.

Manifest

In dieser Phase präsentierte die Initiativgruppe am 18. November 2016 in Wien ihr erstes Manifest. In diesem stellte sie klar, dass es nach christlichem Verständnis der Sozialstaat ist, welcher als „organisierte Solidarität“ die Grundbedürfnisse der Menschen zu sichern und so den sozialen Frieden zu erhalten hat. Diesem Appell schlossen sich die ersten hundert prominenten Unterstützer*innen an.

Dokumentation

Es folgten öffentliche Stellungnahmen, Diskussionsveranstaltungen und Flashmobs, 2017 etwa zur Frage, wie sozial das neue Regierungsübereinkommen sei. Mittels Informationsfoldern und großen Türhängern wurde angeregt, in Pfarrgruppen, in den Gliederungen der Katholischen Aktion und in den Gemeindestuben darüber zu reden, was denn die richtigen Antworten auf die sozialen Fragen der Gegenwart seien.

Eine Website mit wissenschaftlichen Texten, Blogs und Podcasts zu den politischen Strömungen Rechtspopulismus und neuer Nationalismus sowie zur Lage der Demokratie wurde eingerichtet. Auf der Internetseite www.christlichgehtanders.at sind auch die Diskussionsveranstaltungen dokumentiert, die sich u. a. mit der Frage nach einem sozialen Europa, mit der Verbindung von Sozialstaat und Menschenrechten oder mit der Notwendigkeit beschäftigten, soziale Gerechtigkeit ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken.

Testimonials

Bis dato legen 50 Persönlichkeiten aus Kirchen und Zivilgesellschaft auf unserer Homepage Zeugnis davon ab, warum sie sich der Initiative angeschlossen haben und welchem Christsein sie sich verpflichtet fühlen. Michael Willam vom EthikCenter der Katholischen Kirche Vorarlberg etwa schreibt, dass „Christsein ohne eine solidarische Haltung gegenüber den Schwachen, gegenüber jenen am Rande der Gesellschaft, gegenüber jenen Menschen, die geflüchtet, gescheitert oder zu kurz gekommen sind, im Leben seinen innersten Kern und letztlich seine Legitimation verliert.“

Unterschriften

Über 3000 Menschen haben mittlerweile ihre Unterschrift unter die sechs Grundsatzstatements der Initiative gesetzt. In diesen wird die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe bezeugt, der Sorge um die Armen Priorität eingeräumt, ein aktiver Sozialstaat und ein gerechtes Steuersystem gefordert und davor gewarnt, Ängste zu schüren und Menschen gegeneinander auszuspielen. Auch der notwendige Einsatz für eine ökologisch verträgliche und friedliche Zukunft des gesamten Planeten Erde wird in diesen sechs Punkten angesprochen, die auch in diesem Buch vertieft werden.

Bündnis für soziale Gerechtigkeit

Christlich geht anders ist ein Bündnis zwischen sozial engagierten Christ*innen, kirchlichen Organisationen und Amtsträger*innen sowie Hilfsorganisationen der Zivilgesellschaft, das wachsen will. Ein friedliches Zusammenleben in sozialer Gerechtigkeit ist das große Ziel. Wir zeigen Wege auf, wie man diesem Ziel näherkommen kann in einem Prozess des Suchens, der gelebten Solidarität, aber auch des politischen Engagements. Denn „niemand darf sich von der Sorge um die Armen und um die soziale Gerechtigkeit freigestellt fühlen“ (Enzyklika Evangelii gaudium von Papst Franziskus, 205).

Besonders in Zeiten sozialer Not von immer mehr Menschen verlangt Nächstenliebe auch politisches Engagement. Wie sagte die Dichterin und Theologin Dorothee Sölle treffend: „Da kann man nichts machen, ist der gottloseste aller Sätze.“

Zu diesem Buch

Der hier vorliegende Sammelband ist entstanden in einem Klima zunehmender Entsolidarisierung, systematischer Abwertung gesellschaftlicher Gruppen und einer Politik, durch die der Sozialstaat geschwächt wird.

Mit diesem Sammelband wollen die Autor*innen Orientierung geben und aufzeigen, warum unsere Gesellschaft solidarische Antworten braucht, um Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erhalten. Diese Orientierungslinien speisen sich aus der christlichen Überzeugung, dass die bedingungslose Liebe Gottes zu allen Menschen auch in soziale und gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu übersetzen ist. Denn „Politik ist eine nachhaltige Form der Nächstenliebe“ (Papst Franziskus).

Der inhaltliche Bogen der vorliegenden Artikel spannt sich deshalb vom wichtigsten Gebot, der Nächstenliebe, die Jesus Christus vor allem den Armen gegenüber eingefordert hat, zum Sozialstaat und der Frage, wie dieser steuergerecht finanziert werden kann. Wir fragen, was christliche Politik kennzeichnet, und betonen, dass sie Hoffnung stiften und sich weltweit für ein gutes Leben aller einsetzen soll. Zu jedem dieser sieben Themen finden Sie zwei Artikel: einen eher allgemeinen und einen praktischen, der anhand von konkreten Beispielen aufzeigt, wie es gehen kann.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die sich mit großer Leidenschaft an diesem Buchprojekt beteiligt haben, und freuen uns auf die Auseinandersetzung mit unseren Leserinnen und Lesern.

Gabriele Kienesberger ist Diözesansekretärin der Katholischen ArbeitnehmerInnen-Bewegung Wien und Koordinatorin der Initiative Christlich geht anders.

WELCHES IST DAS WICHTIGSTE GEBOT?

Zur Einheit von Gottes- und Nächstenliebe

Regina Polak

Gottes- und Nächstenliebe konkret

Markus Inama SJ

Zur Einheit von Gottes- und Nächstenliebe

Regina Polak

Es scheint so klar und selbstverständlich: Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe bildet die Grundlage christlichen Lebens und somit auch des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Engagements der Kirche. Aber so einfach ist das nicht. Denn je nachdem, was man unter „Liebe“, „Gott“, „Nächsten“ und „Einheit“ versteht, wird man zu unterschiedlichen praktischen Konsequenzen kommen.

So kann man unter „Liebe“, wie in der westlichen Kultur weit verbreitet, ein sich körperlich manifestierendes Gefühl der Zuneigung verstehen. Die Fülle dessen, was sich Menschen unter „Gott“ vorstellen, ist unter Gläubigen groß. Ob „der Nächste“ nur der unmittelbare Nachbar oder jeder Mensch ist, der meine Hilfe braucht, wird aktuell in den Bibelwissenschaften, aber auch in der Politik intensiv diskutiert. Und mit „Einheit“ kann man Uniformität und Identität ebenso assoziieren wie Zusammengehörigkeit.

Die politischen Auswirkungen sind dementsprechend plural. Wenn „Liebe“ ein Gefühl ist, könnte das Gebot der Nächstenliebe gegenüber Menschen, die einem unsympathisch sind, zum Problem werden. Wer die Liebe Gottes nur auf sich und die eigene Gruppe bezieht, wird jene, die nicht zu seinem Volk oder zur eigenen Religion gehören, schwer anerkennen. Flüchtlingspolitik sieht anders aus, je nachdem, ob man nur in Menschen mit der gleichen Staatsbürgerschaft oder Religion den bzw. die Nächsten erkennt oder ob man ein universales Verständnis vom „Nächsten“ hat. Eine identifizierende Gleichsetzung von Gottes- und Nächstenliebe wiederum kann dazu führen, dass man meint, Nächstenliebe allein genüge, um die Liebe zu Gott zum Ausdruck zu bringen.

Dass Schlüsselbegriffe des Glaubens vielfältig ausgelegt werden, gehört zum Wesen des Christentums. Die eine, einzige und wahre Interpretation gibt es nicht. Gleichwohl hat diese Pluralität Grenzen, d. h. es gibt einen Rahmen, an dem sich die Auslegungen zu orientieren haben. Dieser Rahmen ergibt sich aus katholischer Sicht aus den biblisch bezeugten Glaubenserfahrungen sowie den theologischen und lehramtlichen Traditionen. Im Folgenden sollen einige dieser Kriterien exemplarisch und mit biblischem Schwerpunkt fragmentarisch skizziert werden.

Liebe: Praxis und Pflicht zu Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Die biblische Tradition bezeugt ein praktisches Verständnis von Liebe – man müsste genauer von „Liebestaten“ sprechen. Das Gebot der Nächstenliebe im Alten wie im Neuen Testament zielt nicht auf Gefühle, sondern auf konkrete Handlungen zugunsten des Lebens eines anderen Menschen, v. a. dann, wenn dieses bedroht oder beschädigt ist. In Lev 19,18 bezieht sich das Liebesgebot auf den Nächsten, in Lev 19,34 auf den Fremden: „Der Fremde, der sich bei dir aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ Der Fremde ist jener, der von sozialem Ausschluss und Rechtlosigkeit bedroht und daher stärker verletzbar ist. Diese Liebe ist überdies sowohl eine Pflicht wie auch ein Recht, das den Nächsten bzw. Fremden geschuldet wird.

Liebe wird im Alten Testament mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Verbindung gebracht. Diese sind die Quellen und Ausdrucksformen der Liebestaten. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit (דחמים, rahamim) hängt mit dem Wort für Mutterschoß bzw. Gebärmutter zusammen, beschreibt also die weiblich konnotierte Praxis der Fürsorge, des Aufnehmens, Bergens und Schützens. Im Altgriechischen wiederum wird mit Erbarmen (σπλάγχνον, splangchnon) das Zusammenziehen der Eingeweide verbunden. Beide Wörter erinnern an die emotionale, körperliche und praktische Dimension der Liebe.

Biblische Barmherzigkeit hängt untrennbar mit Gerechtigkeit zusammen. Sie ist nicht deren Gegenteil. Das Gegenteil von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind Ignoranz und Herzenshärte. Barmherzigkeit ist Sinn, Inhalt und Ziel der Gerechtigkeit. Diese ist umgekehrt die konkrete Form von Barmherzigkeit. Denn Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist blind und willkürlich, Gerechtigkeit ohne Liebe wiederum erbarmungslos. Erst die Barmherzigkeit macht die Gerechtigkeit von einer blinden zu einer sehenden: In der biblischen Tradition hat die Gerechtigkeit daher eine besondere Aufmerksamkeit für jene, die verletzbar, verwundet und marginalisiert sind. Freilich fallen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nur in Gott untrennbar zusammen. Als Bild Gottes aber hat der Mensch Anteil an dieser Fähigkeit und kann sie in Liebestaten konkret werden lassen. Deshalb kann im Liebeshandeln von Menschen Gottes Wirklichkeit erkennbar werden.

Wenn Jesus von Nazareth also die Nächstenliebe und die Gottesliebe zusammenbindet, weiß er um diese Zusammenhänge. Er steht ganz in seiner jüdischen Tradition.

Gott: untrennbar mit Ethos und Recht verbunden

Die Verfasser der heiligen Schriften haben schrittweise gelernt, dass der Glaube an Gott untrennbar mit Ethik und Recht verbunden ist. So schließt Gott am Sinai den Bund (lateinisch testamentum) mit seinem Volk Israel nicht nur aus zeitgebundenen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen in der Form eines Rechtsvertrages. Diese im Alten Orient durchaus übliche Form hat freilich eine neue Qualität: Das Ethos des Sozialen wird sakralisiert, d. h., indem man sich an Gottes Sozialgesetze hält, heiligt man zugleich Gott. Die Verpflichtung, die Schwächeren vor den Stärkeren zu schützen – das war auch für die Pharaonen Ägyptens verpflichtend –, wird der politischen Macht entzogen und wird zu göttlichem Recht. Die „Witwen, Waisen und Fremden“ sowie die Armen stehen also unter Gottes besonderem Schutz, sich an ihnen zu vergehen ist ein Vergehen gegenüber Gott. Die Liebe zu Gott ist daher nur dann authentisch, wenn sie sich diesem Ethos und Recht verpflichtet weiß.

mir