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Peter Patzak

Der Geist der Farbe

(Roman)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Der Geist der Farbe (Roman) 

ISBN: 978-3-99041-794-2 

1

 

 

Einst im Winter. Phillippe berührte das junge Gesicht des jungen Herrn, als würden die Fingerkuppen sein Sehen schärfen: ein Durchsetzergesicht, eine Visionsstirne, Pionieraugen, Sehnsuchtslippen, Geschäftskinn - und dennoch Luftschlossbauer.

   „Wir müssen noch etwas warten”, sagte Phillippe leise und blickte in den klaren Himmel. Kobaltblau, weiß gehöht. Die Wintersonne näherte sich dem Nebel, der scharf begrenzt über der Stadt lag.

   „Vielleicht vierzig Minuten Vorbereitung, dann dauert es nur einen Augenblick.”

   Mit einem runden Pinsel begann Phillippe Wasser auf das Gesicht zu stupfen, welches in wenigen Sekunden zu einer dünnen Optik gefroren war.

   „Kalt, kalt, kalt”, sagte er leise. Als würde er sich bei dem jungen Herrn für sein Tun entschuldigen. Immer wieder kontrollierte er den Sonnenstand, ohne sein Gegenüber aus seinen Augen zu verlieren. Wieder Wasser auf die Stirne, in die Augenhöhlen. Tropfen, die von der Eiseskälte, in ihrem Lauf über die Wangen, gestoppt wurden, erstarrten.

   „Eislasur, Kristallmalerei, Gefrierpunktchirurgie, Bildhauerei mit lebenden Steinen.”

   Da und dort verschwanden die Gesichtskonturen des jungen Herrn. An manchen Stellen, besonders bei den Lippen, wollte das Wasser nicht erstarren, als würde sein Atem die Verwandlung nicht gestatten. Aber die Visionsstirne und das Geschäftskinn waren bald in einer Wundersamkeit von Millionen Eispunkten verborgen. Phillippe hauchte auf die gewölbte Schicht über den Augen des Pioniers. Eisblumen. Dann trat er zurück, die Blicke kreuzten sich auf halbem Weg. „Es ist Zeit.”

   Die Sonne war im Nebel versunken, begrenzte sich zur perfekten Scheibe. Ein nicht nachvollziehbares Lasurrot. Eine Farbe, die es nicht gibt, weil sie aus zehntelsekündiger Veränderung besteht. Eine Farbe aus winzigsten Zeitteilen gemischt.

   „Keine Versuche, keine Varianten, keine Kompromisse. Nur einmal abdrücken.”

   Phillippe stand dem jungen Herrn ohne vorgetäuschte Liebe gegenüber.

   „Keine Sicherheitsvorkehrung. Nicht einmal ein Gedanke an den Bildausschnitt. Wer trifft nicht wenigstens einmal, wenn er einen ganzen Film verschießt?”

   Dann, für diesen einen Augenblick, traf das Rot der Schleiersonne das gläserne Gesicht. Es drang in die unterschiedlichen Eisstärken ein, erfasste Kristalle und Tropfen, um endlich, für einen noch kürzeren Augenblick, wie ein glühender Eisstock auf der Stirne zu tanzen, sich zu drehen und als roter wuchernder Knopf in den Eisblumen vor den Augen des jungen Herrn zu spiegeln.

   Klick. Phillippe hatte den Auslöser seiner Kamera betätigt.

 

Es wurde rasch dunkel und erst jetzt hörte Phillippe das Klappern seiner Zähne und den Lärm der Vermummten, die allerlei an Technik aus dem ehemaligem Flugzeughangar hinter ihm trugen und auf Lastwägen warfen.

   Das war das Ende des „Wienfilm”-Studios in Sievering.

   Phillippe ging die vereiste Auffahrt Richtung Straße, Richtung geschmiedetes Doppelflügeltor, welches jetzt aus den Angeln gerissen am Boden lag, um Schnee und Eis zu stabilisieren, um Diebe vor dem Fallen und Lastwägen vor dem Schleudern zu bewahren.

   „Winterabend, Abschied Nummer eins”, dachte er.

   „Bring me the head of Alfredo Garcia”, hatte Nicholas, der kanadische Filmträumer, zu ihm gesagt und dabei gelacht. „Wenn du ihn an seiner Wirkungsstätte fotografiert hast, ruf mich an, dann schlag ich ihn aus der Tafel und erpresse mit seinem Kopf Rede und Antwort von den Klassenbesten, die das Ende des Studios, nach monatelangen Eiertänzen, zu verantworten haben.”

   Kein Hahn hat nach dem Verbleib des Steinkopfes gekräht. Wahrscheinlich hat es auch niemand bemerkt. Das junge Gesicht des jungen Herrn wurde nach dem Tod von Nicholas mit all den anderen Filmkuriositäten aus seiner Wohnung entsorgt. Phillippes Foto war auf den tausend Einladungskarten zum letzten Geburtstag Nicholas’ abgebildet.

   „Ein Wiener Fest zur Erinnerung an Graf Sascha Kolowrat”, stand darunter.

   Nur wenige Gäste waren der Einladung gefolgt, und so spielte die Oldie-Band, auf die Lieder von Dalia Lavi spezialisiert, vor dem nahezu leeren, spärlich beleuchteten Plüschsaal aus einer anderen Epoche.

 

„...brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, alles hat seine Zeit...”

 

Phillippe wusste nicht mehr, wem die Zeilen gehörten, die er von einer alten Weihnachtskarte kannte. Er hatte das Taxi für zwanzig Uhr bestellt. Es waren schon zwanzig Minuten vergangen.

   Als der Mond hinter dem Schornstein neben dem Studio verschwand, gesellte sich ein anderer Wartender zu Phillippe. Ein Bilwiß. Ein Dieb mit offenem Rucksack, aus dem Teile eines Projektors ragten. Ein vom Teufel Gerittener, der jedes vorbeifahrende Auto aufzuhalten versuchte.

   Es schien ihm heute besonders schlecht gegangen zu sein, und mit jedem Fluch wurde seine Einbildung stärker, dass jeder Vorbeifahrende und Schutzsuchende sein persönlicher Chauffeur in die blasse Zukunft sein müsse.

   Phillippes Taxi kam, der Dieb mit dem Rucksack beanspruchte es für sich. Erklärungen funktionierten nicht, die Entschlossenheit eines gekränkten Kobolds ist unerschütterlich. Der Schornstein gab den Mond wieder frei, er war jetzt größer und weißer als zuvor.

   „Bei Homer waren weder der Himmel noch das Meer blau. Der Himmel war ehern, das Meer schwarz, weiß, grau oder dunkel. Niemals blau. Es gab diese Farbe in unserem Sinn damals nicht. Wie sehr hat das Blau die Eigenschaft der Dunkelheit übernommen”, dachte Phillippe.

   Gelbe Scheinwerferkegel, die eine Spur nach Paris legten, tauchten im langbrennweitigen, gestauten Bild des nächtlichen Verkehrs auf. Ein anderes Taxi blieb neben der Wienfilmtür stehen. „Richtung Bahnhof, Richtung Gürtel oder Richtung Zentrum.”

   Die Fenster waren beschlagen, vermittelten Phillippe eine spezielle Form der Wahrnehmung. „Zwingt das Unscharfe, das Getrübte den Blick in einen besonderen Ausschnitt, wird der dort genauer oder fantasiereicher?”

   Phillippe überlegte, ein Spähloch in die beschlagene Scheibe zu wischen, ließ es dann aber.

   „Denn Begrenzung hat nichts mit optischer Verschmutzung zu tun.”

   Eine weibliche Stimme vom Fahrersitz: „Wo immer sie hin wollen, es wird dauern. Stoßzeit und dazu noch Glatteis.”

   Phillippe beugte sich nach vorne, das Gesicht einer Nomadin. Die langen dunklen Haare glatt zurückgekämmt, durch ein Gummiband im Nacken zusammengehalten, verlorenes Profil, hohe Backenknochen, sprechende Nase, Mundwinkel nach oben, Kinn leicht gerötet, Jacke undefinierbar. Schwarzer Seidenschal fiel auf. Geruch unauffällig, angenehm. Am Beifahrersitz ein durchsichtiger Plastiksack mit roten Tomaten.

 „Mozzarella mit Tomaten?”, fragte Phillippe.

   „Eventuell ein Abendmahl. Bin seit dreizehn Stunden hier eingesperrt”, antwortete sie.

   Dann schwankte das Auto über eine Bodenwelle. Einsatzfahrzeuge der Polizei. Das sich spiegelnde Blaulicht blitzte noch ein- zweimal in den kleinen Perlen in den kleinen Ohren der Taxifahrerin auf.

   Phillippe nahm den Film aus der Kamera. „Im Labor einwerfen oder selbst ausarbeiten?” fragte er sich. „Einwerfen. Nichts braucht an diesem festgehaltenem Moment manipuliert werden. Am besten den Film Nicholas übergeben. Ich erinnere mich an die Baustellen seines Sylvesterumzugs.”

   Die Taxifahrerin brauste wie ein Pfeil dahin. Phillippe überlegte sich das erste Ziel der Fahrt.

   „Welcher Pfeil fliegt für alle Zeiten? Der, der sein Ziel getroffen hat oder jener, der das Ziel verfehlt hat? An den, der sein Ziel verfehlt hat, erinnert man sich ewig.”

   „Sie fahren zu schnell, haben Sie vor zu sterben?”, fragte Phillippe.

   „Sie nicht?”

   Sprechende Nase, Mundwinkel nach oben.

   „Mozzarella mit Tomaten”, wiederholte Phillippe, „zum Frühstück im Morgengrauen? Wer wartet auf Sie?”

   „Auf wen warten Sie?”

   Die Nachtarbeiterin nahm ihren schwarzen Schal ab. „Soll ich die Heizung abschalten? Aber ohne Heizung keine Sicht.”

   „Es ist mir egal, an beidem bin ich im Moment nicht besonders interessiert.”

   „Woran denken Sie?”, fragte sie Phillippe über den Rückspiegel.

   „An Rot, in Pulverform, als Erdfarbe, als Badezusatz. Rot als Farbe der Wut und der Liebe. - Sie haben mich eben auf eine Idee gebracht. Können sie umdrehen und mich zu dieser Bar bringen?”

   Phillippe zeigte auf ein Lokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

   „Darf ich Sie bitten, ein wenig zu warten? Die Tomaten werden nicht alt und die Zeche wird bezahlt.”

 

„Tralala, Phillippe, mach ein Foto von mir, es wird dich berühmt machen.”

   „Nicht heute”, sagte Phillippe.

   Der Autor hing mit seiner glühenden Zigarre, in der Luft fuchtelnd, so an der Bar, dass es für alle anderen und für ihn ein Geheimnis war, warum er nicht vorne oder hinten aufschlug.

   „Alles, was wir tun, ist nutzlos, aber unheimlich gemein. Dadüdl Dadüdl.”

   „Eine Begrüßung?”, überlegte Phillippe.

   „Ich schreibe an zehn Drehbüchern für zehn Sender.”

   Ein Blick über den Brillenrand gab diesem Satz Bedeutung.

   „Die Geschichte ist die gleiche, beim Sender 1 ist der Kommissar die Hauptfigur, beim Sender 2 die Assistentin, die bald Kommissarin sein wird, beim Sender 3 der Assistent der Assistentin, der ein Doppelleben fährt, beim Sender 4 der Täter, beim Sender 5 das Opfer, beim Sender 6 der Zeuge, beim Sender 7 der zufällige Beobachter, beim Sender 8 der Hund des zufälligen Beobachters, beim Sender 9 muss ich aufpassen, weil der zuständige Redakteur einmal beim Sender 1 war. Da ist die Heldin die Frau des Kommissars. Beim Sender 10 kann ich etwas mutiger werden, die Helden sind die jugendliche Gang, die aus den Kindern des Kommissars, der Assistentin, des Täters, des Opfers und der Zeugen besteht. Nicht blöd, was?”

   „Drehbücher gedeihen und bleiben nicht ohne Folgen”, dachte Phillippe.

   „Bist du in Begleitung hier oder alleine?”, fragte der Autor.

   Phillippe griff nach einem Glas Wasser.

   „Allein. In Begleitung. Sich über etwas im Klaren sein. Obenauf sein. Kein Pappenstiel sein. Quitt sein. Am Ruder sein. Ein Schlachtfest sein. Deine Kragenweite sein. Zum Mäusemelken”, dachte Phillippe.

   „Eigentlich bin ich in Begleitung”, sagte er. „Sie wartet im Taxi.”

   „Warum zeigst du sie mir nicht?”, fragte der Autor.

   Phillippe blickte auf die Uhr oberhalb der Bar. „Ich suche Nicholas, den Kanadier.”

   „Nicholas? Ist er nicht irgendwo in Italien ermordet worden?”

   „Das war ein anderer.”

   „Ich bin kurz vor dem totalen Durchbruch. Im Übrigen, sieht dein trainiertes Auge, dass ich ein Toupet trage?”

   Der Autor legte seine Hand auf Phillippes Schulter.

   „Was gibt es Klareres als Bierbrauen und Aristokratie, Berge und Doktoren, Hotels am See, sowie all die Pfarrer, Anwälte und Tierzüchter? Mein nächster Hit: Die Hebammen-Serie. Ich habe die amerikanischen Spitäler studiert. Hebammen, das sind Hände am Kopf des Winzlings, der das Licht der Welt erblickt.”

   „Und die Totengräber?”, fragte Phillippe.

   „Kein guter Witz”, entgegnete der Autor und wirres Zeug quoll aus ihm wie aus einem steuerungsgestörten Roboter: „Der Angeklagte verzog keine Miene, als die Zeugin in Tränen ausbrach. Er büßte kaum Haltung ein. Doch sein Soldatenherz blutete. 08/15. ... Eine Flasche gratis und franco, und du schweigst darüber für immer. Die Fernsehserie zwischen Licht und Dunkel der Welt. Morgen fange ich an zu schreiben. Das wird Way of Life. Augenstimuli für die Jungen. Horror, Action, Happy End. Fit for Fun.”

   „Nichts wie weg.”

   „Bleib hier. Wie siehst du das?”

   Der Autor stürzte sich auf Phillippe.

   „Ich hab ein schiefes Wertesystem”, murmelte Phillippe. „Aus der Tonne des Diogenes. Soll ich dem Narren zuliebe, meine Sichtweise in Gefahr bringen?”, dachte er.

   „Winterabend, Abschied Nummer zwei.”

 

Tür auf, Tür zu. Die Tomaten waren immer noch prall, das Parfüm der Taxifahrerin war jetzt etwas auffälliger. Es war noch kälter geworden.

   „Zweihundert Schilling”, sagte sie. „Geben Sie auf?”

   „Das ist erst meine zweite Verabschiedung”, antwortete Phillippe. Das ist die Fahrt, an die ich mich halten möchte, dachte er.

   „Wie Sie wollen...”

   Am Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen hob eine junge Frau mit einem Spaten ein kleines Grab aus.

   Aus einem Lokal wurde eine Prosciutto-Kiste gebracht und neben ihr abgestellt. Sie öffnete den Deckel und hob einen kleinen toten Hund hoch, küsste ihn, legte ihn zurück und versenkte die Kiste in der Grube. Mit dem Fuß beförderte sie die Erde in das Loch zurück, stampfte ein paar Mal energisch auf die darüber gebeeteten, gefrorenen Grasnarben und ließ ein indisches Seidentuch fallen. Sie schniefte deutlich hörbar und ging in das Lokal.

   „Halt”, sagte Phillippe zu seiner Chauffeurin, „ich möchte kondolieren.”

   Im Lokal. Phillippe neben der jungen Frau. „Angela?” Sie hatte eine geschminkte Narbe im Gesicht, ein Blick, der ohne Dioptrien nur noch aus Traurigkeit bestand.

   „Homer”, sagte sie, „zwölf Jahre alt. Vor kurzem unter meinem Tisch gestorben. Geistesspaltung.”

   Sie sprühte sich Parfüm auf den Hals.

   „Warum verwenden alle Frauen heute Nacht das gleiche Parfüm?”, fragte sich Phillippe.

   „Winterabend, Abschied Nummer drei.”

   „Du stehst auf meiner Tanzkarte und du warst mein Liebhaber. Ich bin vor einigen Tagen aus Indien zurückgekommen, wo du mich vor einigen Jahren versteckt hast. Also bleib bei mir”, zerrte die Frau mit der geschminkten Narbe.

   „Nichts wie weg. Wie lobt doch Homer bei Aeneas dessen Kunst zu fliehen.”

 

„Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken”, tönte es von der Theke. „Oi, Oi, Oi, Phillippe, mach ein Foto von mir.”

   „Nicht heute”, sagte Phillippe.

   Der Produzent, umstellt von mehr Anwälten als gebraucht wurden, zog Phillippe an sich, drängte ihm einen Grappa auf und beschleunigte seine Worte bis zum enthusiastischen Gekreische.

   „Ich kenne einen Autor, der schreibt zehn Drehbücher gleichzeitig, für zehn Sender. Egal, in welchen Sender du hineinknallst. Alles Familie, lauter Verwandte, verstehst du? Mega-Verflechtung. Das Opfer, der Mörder, der Kommissar, alles Gäste, die vorbeischauen. Ein virtuelles Lagerfeuer. Einstieg garantiert, weil: wie besetzt? Nichts Virtuoses, nichts Gekonntes, nichts Herausragendes. Wir müssen die Wirklichkeit unterlaufen. Unser Zehnmalzehn-Held darf nicht klüger, nicht schlauer und vor allem nicht interessanter sein als unsere Zuschauer, die mit gestärktem Selbstbewusstsein aus der Fernsehgeschichte aussteigen und in ihre eigene Geschichte einsteigen wollen. Traumfabrik am Kopf stehend. Minderwertigkeitstherapie für Konsumenten, Sozialarbeit für das Publikum.”

   „Zynisch?”, fragte Phillippe.

   Am „Klar doch” verschluckte sich der Produzent.

   Nach einem Hustenanfall setzte er seinen Wortschwall fort: „Die Kolonialisierten wünschen sich nichts so sehr, als wie der Kolonialherr auszusehen und auch so zu agieren. Damit bin ich erfolgreich, schon blinkt das weiße Haus am weißen Strand an der blauen Meeresbucht.”

   „An der schwarzen, weißen, grauen oder dunklen Meeresbucht”, dachte Phillippe und versuchte das Lokal zu verlassen. Ein beglaubigter Idiot, aus dem Kreis des Produzenten, hielt ihn fest.

   „Bleib hier. Wir rutschen ins neue Jahr.”

   „Ich suche Nicholas, ich will ihm den Kopf von Alfredo Garcia übergeben.”

   „Lebt der noch? Ewig nicht gesehen, wie auch dich nicht. Wie geht es dir? Geht es dir gut?”

   Über die so schlecht gespielte Besorgnis musste Phillippe lachen. Und die Blaupausen um den Produzenten lachten über Phillippes Lachen.

„Nicht mein Strand, nicht mein Haus, nicht meine Saison. Winternacht. Abschied Nummer vier.”

 

Endlich fiel die Lokaltür hinter Phillippe zu. Die Taxifahrerin wartete.

   „Danke, Wagenlenkerin. Was brauche ich, wenn ich vom gespendeten Grappa blind werde? Wenn verlorene Sehkraft, Wissen, Denkkraft, Fühlen erhellt. Jemanden, der die Straße beschreibt. Den Wagen richtig lenkt”, dachte Phillippe.

   Autotür auf, Autotür zu. Sie rauchte.

   „Ich habe Hunger”, sagte Phillippe. „Mozzarella mit Tomaten”, sagte sie.

 

Sie gingen eine Holztreppe hinauf. Tür auf, Tür zu, Klick, eine Papierkrause an der Decke, als Mittelpunkt eine hundert Watt helle Lampe. Tapeten in verschiedenen Rottönen. Wieder eine Tür, hinter der die Taxifahrerin Badewasser einließ. Ein Fenster in den Hinterhof, in der Wohnung gegenüber wurde gefeiert. Ein junger Mann streckte einen Arm in Asbest ins Freie, ein Feuerzeug wurde nachgereicht: Rakete um Rakete wurde so in den Himmel geschossen. Nur das laufende Wasser und das Krachen der Raketen war zu hören. Phillippe sah sich um. Kein Radio, kein Fernsehapparat.

   „Es ist vollkommen egal, ob ich fernsehe oder nicht, nichts verändert mein Leben, wenn ich es tue, aber auch nichts verändert mein Leben, wenn ich es nicht tue. Alle Empfehlungs-Quartette werden mir am nächsten Tag sowieso ins Taxi nachgeliefert. Auf die meisten Kosmetika bin ich allergisch, der Elektrosmog macht mich nervös. Was entgeht mir? Nichts entgeht mir, das Öl für den Mozzarella ist dort, wo die restlichen Lebensmittel sind.”

   „Wo sind die restlichen Lebensmittel?”, fragte Phillippe durch die angelehnte Badezimmertür.

   „Am Küchenregal, dort wo das Aspirin liegt.” Im Hinterhof ertönten laute Schreie und Lärm. Der Raketenschütze dürfte sich trotz Handschutz verbrannt haben. Ein Blick vorbei an der Häuserfront.

   „Feuer!” Ein Holzschuppen stand in Flammen.

   „Raketeneinschlag, Scherbenhaufen”, lächelte Phillippe.

   Hinter der Badezimmertür ging ihr Zwitschern weiter: „Glaubst du an Wunder? An die große Beteiligung am Geschehen? An den Bildschirm als ganze Welt? Wie auch immer, ausschnittsweise miterlebt. Geht dir das Erstaunen glatt über die Lippen? Bist du immer noch enttäuscht von dem, was deinen Eltern tun? Glaubst du, wer die Gegenwart auf diese Weise erlebt, kann gelassen in die Zukunft schauen?”

   Eine Feuerwehrsirene näherte sich, sie hörte sich wirklicher an als alles, was Phillippe in der letzten Zeit gehört hatte.

   „Was machst du ... ich meine beruflich?”, fragte sie ihn.

   Die rote Unterwäsche der Taxifahrerin lag auf dem Boden vor der Badezimmertür.

   „Bilder, Fotos. Meine allererste Bilderfolge war ein Lesezeichen”, erzählte Phillippe gegen die Tür. „Papier in Papier. Die obere Schicht durchsichtig. Wenn man an einer kleinen Quaste zog, schlüpfte die Abdeckung nach unten und die abgebildete Frau stand in roter Unterwäsche da. Blickte einem in die Augen. Und lächelte mit weit nach oben gezogenen Mundwinkeln. Gerötetes Kinn. Am Schulweg wurde diese Bilderfolge beim Durchqueren einer Gartenlandschaft: hinter einem Stein versteckt. Am Weg zurück wieder in die Schultasche verfrachtet. Die Bilder hielten Monate. Die Entdeckung des Sujets durch Freunde machte sie zum Star. Frau im Kostüm, Frau in roter Unterwäsche. Fünf Minuten, fünf Stunden, fünf Wochen und nie eine Lösung. Kostüm, Unterwäsche. Unterwäsche, Kostüm. Welche Geschichten? Welche Fragen? Erst keine Antworten, dann Fantasie und viele Antworten. Der Beginn der krummen Wege.”

   „Wo bist du?”, fragte sie hinter der Badezimmertür.

   Phillippe überlegte kurz, die Wohnung zu verlassen.

   „Heute Nachmittag hat mir jemand mit zwei kleinen Perlenohrenclips eine Fahrt bezahlt. Wir fuhren stundenlang im Kreis. Als ich irgendwann angehalten habe, bat er mich, mich nackt auszuziehen. Er blieb noch eine Stunde lang stumm sitzen, dann entschuldigte er sich für die verlorene Zeit.“

   „Zeit verlieren, heißt nicht: verlorene Zeit.”

   „Als er draußen war, wurde ich das Zentrum des Guckkastens. Kein Bedürfnisse, den Fahrgast wieder zu sehen, aber ein Verbot an das Vergessen. Andere Fahrgäste haben auch dafür bezahlt, mich so da sitzend zu sehen. Nickelodeon, mehr noch: ich war mein eigener Spiegel.“

   Im Hinterhof wurde wieder gelacht.

   „Wer lebt hier? Was sind das für Leute?”, fragte Phillippe.

   „Alle aus einem Käfig entsprungen”, antwortete sie. „Haben sich zwischen den Gitterstäben der Information davongemacht.”

   Phillippe entdeckte, vor dem Regal stehend, viele Teller mit Tomaten, in jedem Zustand. Manche noch frisch, andere gealtert, einige vom Schimmel zerfressen.

   „Warum will sie ausgerechnet an Tomaten Vergänglichkeit studieren? Abgestelltes Leben oder still gestelltes Leben?”

   Die Tür zum Badezimmer öffnete sich und die Taxilenkerin trat nackt in den roten Raum. Sie stand da wie eine Kadettin bei der Musterung. Phillippe sah die Schnitte an ihrem Körper.

   „Für wie alt hältst du mich?”

   „Sag es mir, wenn du willst, dass ich es wissen soll.”

   „Ich bin vierunddreißig und habe noch kein Kind.”

   „Irgendwo gibt es ein Lokal, wo man um vier Uhr nachmittags frühstücken kann und um drei Uhr früh zu Abend isst. Fahren wir dort hin. Nicholas' Lieblingslokal.”

   „Fotografier mich”, forderte die Kadettin mit leiser Stimme.

   „Nicht heute”, antwortete Phillippe genauso leise und blickte auf ihre artigen Zehen.

   „Zehn kleine Kadettenkinder.“

 

Phillippe am Beifahrersitz: „Nicholas war durchaus erfolgreich und machte durchaus erfolgreiche Filme, aber die kleinste alltägliche Erschütterung konnte er nicht beantworten. 'Was mache ich jetzt', hatte er mich gefragt. ,Ich lebe anders, als ich leben möchte, und ich liebe anders als ich lieben will'. - 'Du stellst mir diese Frage als Geschichtenerfinder und Schreiber und weißt keine Antwort auf deine eigene Situation?' - 'Keine Ahnung', hatte er geantwortet, 'ich variiere die Problematik aus einer vorhandenen Dramaturgie. Meine Trennung, meine Scheidung sind ein Ergebnis dessen, was ich von der Leinwand kenne. Und was ich von der Leinwand kenne, kennen auch andere von der Leinwand.'“

   Die Taxilenkerin schwieg.

   Lautes Hundegebell ertönte am rechten beschlagenen Seitenfenster. Parallel zum Taxi fuhr ein Geländewagen. Eine Dogge bellte aus dem geöffneten hinteren Seitenfenster, konnte gar nicht präsenter sein, obwohl nur ab und zu ihr Augenlicht von Phillippe erkannt wurde.

   „Warum muss immer alles beantwortet werden? Sind nicht die Sterne über der Wüste ganz einfach größer, weil sie einem größer erscheinen? Ist die Frage nach dem Murks nicht ganz einfach zu beantworten? Wie schaut der Griff nach dem Schopf des Münchhausen aus? Ist das erlernbar, wie das Anlegen einer Schwimmweste? - Er wollte den Kopf von Alfredo Garcia. Ich habe ihn in der Manteltasche.”

   Die Taxilenkerin stellte den Motor ab und zog die Handbremse.

   „Ist es das Lokal, das du mit vier und drei gemeint hast?”

 

Es war brechend voll. Ein Männergesicht, das in der Zukunft Damien Hirst die Idee aufdrängen sollte, es in Formaldehyd einzulegen, bewegte sich auf Phillippe zu. - „Du bist in den Jahren, die du weg warst, um mindestens zehn Zentimeter geschrumpft, Diavoletto.” - Meckerndes Lachen. - „Aber einen Meter weitergekommen.” - Wieder meckerndes Lachen.

   Ein Buch erschien vor Phillippes Nase. Laut startende Autos auf der Straße vor dem Lokal.

   „Leser auf der Flucht?”, dachte Phillippe. Es war ein Rennen bis zur nächsten Ampel, im Retourgang. Eine junge Frau streckte ihm den Buchumschlag entgegen. Darauf ein Mädchen, ein tief ausgeschnittenes Leibchen, ein kleiner Körper, die rechte Brust wieder einmal blau beleuchtet, die linke Brust halbiert durch einen tiefen schwarzen Schatten.

   „Du hast an das Buch nicht geglaubt, Träumer. Du hast mir deine Bilder von der Unterhaltungskraft, mit der roten Unterwäsche, nicht zur Verfügung gestellt”, sagte die Verführerin aus der Werbebranche mit perfektem Lockvogelmakeup. Aber unter ihrer Maske war sie schweißnass vor Ehrgeiz.

   Phillippe und die Taxilenkerin setzten sich an einen Tisch.

   „He!”, rief die Verführerin, „Phillippe, wo bist du mit deinen Gedanken! Du solltest Ananas essen. Ananas sind gut für Kettenraucher. Ananas machen schmerzunempfindlich, sagen die Indianer.”

   „Rot sind die Indianer, von Dining bis Dying”, erwiderte Phillippe.

   „Du, Rufzeichen, machst Witze. Tiger, Fragezeichen. Sechzigtausend verkaufte Bücher”, sagte die Verführerin. „Riechst du mich, fühlst du mich, Fragezeichen. Überflügle mich.”

   „Gratuliere. Ich weiß nicht einmal, wovon dein Buch handelt”, sagte Phillippe.

   „Von einer Serienkillerbraut. Idiot. In erster Linie...”, sagte das Fräulein-Wunderfräulein, „galt es zu unterscheiden, ob Slip oder Boxershorts. In zweiter Linie, ob geschminkt oder ungeschminkt. In dritter Linie, wie ungeschminkt geschminkt. In vierter Linie, wie geschminkt ungeschminkt. Fünftens: mit den Flügelmännern. Sechstens: gegen die Flügelmänner. Siebtens: mit den Flügelmännern gegen andere.”

 

Das Autorennen auf der Straße fand jetzt im Vorwärtsgang statt. Gleichzeitig begann die Kaffeemaschine im Lokal zu sprechen. Die Viel-PS-Motoren und die Bohnenzerreibung und der Wortschwall der Verführerin ergaben Schmerzen. Die Verführerin setzte sich zu Phillippe und der Taxilenkerin an den Tisch. Sie hielt sich das Buch an das Gesicht.

   „Mach ein Foto von mir!”

   Phillippe schaute in die Augen der Taxilenkerin. „Nicht heute, Rufzeichen”, sagte er lauter als ihm lieb war.

   „Eine Gans flog über den Rhein, als Gans kam sie wieder heim. Winternacht. Abschied Nummer vier”, dachte Phillippe.

   „Wo ist Nicholas?”, fragte er die Verführerin.

   „The last Movie war auch sein letzter. Jesus was a Capricorn und so weiter. Ich bin froh, dass er hier nicht mehr auftaucht.”

   Sie stand auf und verschwand, umarmt von den Schlauen und Schönen.

   „Gut abgeschlossener Leistungskurs. Netsuke aus Sacharin.”

   Phillippe war kurz froh, sich auf nichts mehr einlassen zu müssen.

   Aber es ertönte ein hyperventilierendes „Taratara, Taratara”. Ein stilisierter Mann. Wasserfrisur, Wasserhaut, Wasseraugen. Der Musikproduzent. Sein Schützling, ein Schauspieler, begnadeter Körper, seit neuestem Gesangskünsler: „Ich bin der Hase, der aus der Grube springt ... usw. ... Ich bin frei und geh zur Polizei... usw.”

   „Wir sind unabhängig und ausfinanziert”, sagte der Wassermann und riss sich mit den Fingern einige Haare aus den Wellen. Wohlgesichtig und verkrampft wirkte er neben seinem Schützling und presste sich artig den Recorder ans Ohr, um zu bestätigen: „Ich bin der Hase, der aus der Grube springt... usw.”

   „Ich bin frei und geh zur Polizei ... usw.”, stimmte der Schützling ein und umarmte dabei seinen Produzenten.

   „Phillippe, mach ein Foto von uns”, rief der von der Umarmung gerührte Wassermann und richtete sich mit der Hand die Wasserfrisur. Eine schwarze Limousine fuhr vor. Wächter in frostfesten Mäntel betraten das Lokal. Flimmern und Aufgeregtheit. Weg mit der ... Dingsbums, der Texterin! Weg mit dem Musikproduzenten! Weg mit dem Schauspieler! Das Modell kommt!

   Phillippe schaute in die Augen der Taxifahrerin, dunkle Kohlestückchen, gestreichelt von den Blättern des Scheibenwischers.

   „Schönheit siegt, Heizerin. Frau, die warm macht.”

   Blitzlichter. Das Modell, herausgeputzt, mit einstudierten Schritten, präsentierte alles, außer sich selbst. Begrenzt, aber wirksam. Der springende Punkt, wurde ihr versichert. Ökonomisch perfekt.

   Die Taxilenkerin band einen Knopf in ihren schwarzen Schal. „Ich lasse dich jetzt hier alleine”, sagte sie. „Ich bin froh, dass ich dich hier abgeliefert habe. Freigelassen.”

   „Hast du eine Ahnung ... Ich wohne in der Milchstraße, dort wo die Lichtpunkte nebeneinander leben. Die Rosenvase, die mir vor einigen Jahren noch wichtig war, ist leck und das Wasser verwischte die Worte der Aufzeichnung, auf denen die Vase stand. Wie heißt du, Kadettin?”

   „Ich bin ein Refrain”, antwortete die Taxilenkerin, „mein Name ist Bobby McGee und als Wiener Vorstadtbraten heiße ich so, weil meine Mutter ab dem dritten Monat ihrer Schwangerschaft Tag und Nacht „The Pilgrim 33” gehört hatte. Davor wollte sie mich Carlos nennen, denn bis dahin hatte sie nur Santana gehört.”

   „Bobby McGee ist gut”, sagte Phillippe, „Busted flat in Baton Rouge me and...”

   Ihre Antwort - „Mir hat der Name nicht gut getan ... wenn ich mit mir spreche, sage ich Katharina zu mir ...” - verlor sich im Rütteln einer Spraydose. Ein morgendlicher Spaziergänger, mit diesem kalten, blauen Mondlicht im Haar - „graues Mondlicht”, dachte Phillippe - hatte auch nur eine Fut mit weißen Buchstaben auf die schwarze Limousine des Modells gesprayt.

   „Nichts wie weg”, dachte Phillippe und berührte die Hand der Taxilenkerin. Doch das Modell Margery entdeckte ihn.

   „Entschuldige mich”, sagte Phillippe, als ihn das Modell umarmte.

   Er erinnerte sich an den ersten Catwalk dieses verstörten Kindes. Sie war die Treppe hinuntergefallen. Mit gespreizten Beinen liegen geblieben. Aus einer bestimmten Kameraposition war von ihrem Oberkörper nichts mehr zu sehen. Ein Nanoteilchen an Schamlippe schnappte in rotierender Bewegung nach Luft. Phillippe hatte einer Kleiderpuppe den Arm abgezogen und ihn neben ihre Beine und ihr Becken gelegt. Das Foto hatte das Mädchen zum Star gemacht. Das war, bevor er heute nicht befolgt hatte.

   „Ich schäme mich”, dachte Phillippe und wollte sich aus ihrer Umklammerung befreien.

   „Ich wusste, dass du irgendwann wieder auftauchen würdest”, schwärmte sie: „Wo warst du so lange?”

   „In Transsylvanien.”

   Margery lachte auf.

   „Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du bringst mich immer zum Lachen.”

   Ich habe sie nur weinend in Erinnerung, dachte Phillippe. „Arbeitest du noch?”

   „Ich kann nicht anders. Aber ich habe lange nicht gezeichnet ... wie lange nicht”, fragte er sich.

   „Warum ... machst du nicht? ... Du hast als erster meine Möse fotografiert!”, überschlug sie sich mit spitzer Zunge.

   „Es tut mir leid, es war ein peinlicher Vorfall, ich weiß.”

   „Sei kein Frosch.”

   Sie lachte noch immer.

   „Ist sie die Siegerin eines Lachseminars? Im Übrigen, die Geschichte von den Fröschen”, dachte Phillippe.

   „Wann treffen wir uns und gehen essen? Nur wir zwei.”

   „Ich reise ab.”44

   „Wohin?„

   „Ich gehe nach ...”

   Phillippe hatte keine Ahnung, wohin oder wohin zurück. „Immer auf der Suche nach Wasser auf meine Mühlen ... Nach Paris.”

   „Ich habe eine Wohnung in Paris, ich fliege mit dir. Lass uns nebeneinander sitzen.”

   „Sie spricht mit mir so wie früher, als wären wir ein richtiges Paar”, dachte Phillippe.

   „Paris ist nur ein Zwischenstopp. Ich fliege weiter ... mit der Concorde”, sagte er. „Oder gibt es ein noch schnelleres Flugzeug?”, fügte er hastig hinzu.

   „Wenn du niemanden hast, der auf dich aufpasst, solltest du es zumindest selber tun.”

   „Das sind genau die Sätze, wegen denen ich einst aus ihrem Auto gestiegen bin und sie bis zu diesem Zufall nicht mehr gesehen habe”, dachte Phillippe und legte die Stirne in Falten. „Und warum lacht sie noch immer?”

   „Du schaust nicht gut aus Phillippe! Müde und grau, schau in den Spiegel.”

   „Das traue ich mich nicht, Goldlöckchen.”

   Sie ließ Phillippe aus, gab ihm lachend einen Schubs.

   „Alter Frosch ... du weißt, wo du mich findest.”

   „Überall finde ich dich, oder nie mehr. So wie ein im Blättermeer hinauf und hinunter gespültes Feinhäutchen”, dachte er.

   „Ich heirate einen frommen Engländer mit Bürstenfrisur und wünsche mir vierzehn Kinder!”

   Phillippe blickte überrascht zu Boden, kniete sich nieder und gab vor, seinen Schnürsenkel zu binden.

 

„Was habe ich eigentlich gegessen?”, fragte Phillippe die Taxilenkerin. „Ich fühle mich übersättigt und bleiern.”

   „Nichts”, erwiderte sie, „ich hatte Mozzarella mit Oliven. Die Tomaten waren nicht frisch, so habe ich ein Omelette bestellt.”

   „Lass uns das Labor ansteuern. Nicholas ist nicht zu finden. Das Bild steckt sonst meinen Mantel in Flammen.”

   „Ach Phillippe”, dachte die Taxilenkerin, „für einen Moment stellte ich mir vor, ich könnte mit dir auf die Autobahn und nach Mexiko fahren und auf dieser Reise einen Tauchsieder kaufen und uns, angeschlossen an den Zigarettenanzünder, heißen Löskaffee machen. Er würde tausendmal besser schmecken als der mit dem Wasser aus meiner beschissenen, verkalkten Therme. Ach Phillippe, geh schlafen oder wach auf...”

   „Gib mir das erste Wort”, sagte Phillippe. Er saß neben ihr, wie Odysseus an den Mast gebunden.

   „Sagst du Nacht, sag ich weiß, grau, schwarz. Sagst du rot, sag ich dir unverblümt die Meinung. Sagst du der Ring des Feuers, sag ich mehr. Sagst du aus, sag ich Frosch. Sagst du blau, erzähl ich dir die Geschichte von den Fröschen im Wasser.”

   „Blau”, sagte sie.

   „Zwölf war ich damals. Zwei Frösche landeten in zwei Kesseln, der Ofen wurde angeheizt. Ein Brenner auf sacht, ein Brenner auf wild. Die extreme Hitze hat den einen Kessel rasch zum Kochen gebracht - ein Reflex, ein Zucken, und der Frosch saß froh auf meiner Schulter. Im anderen Kessel, das Wasser erwärmte sich langsam, und der Frosch fand nichts Unangenehmes daran. Sein Wille, sich anzupassen, war so groß wie die Neugierde, die mich den Temperaturregler langsam hochdrehen ließ. Spring Frosch, spring! Aber der Frosch schwamm und glaubte nicht an die große Hitze. Irgendwann war es dann zum Springen zu spät. In Hingabe angepasst, ist er zerplatzt.”

   Die Taxilenkerin drehte die Heizung hoch. „Sag du mir rot bei dieser Kälte.”

   „Bring mich nach Erdberg. Ich habe einmal Etiketten für Farbtuben gezeichnet. Tinto Acryl, Englischrot, Rouge anglais, Preisgruppe 1, Sorte 200, Color Fini per Artisti, Inhalt: 25 ml. Die Firma hieß Kaspar und Co.”

   „Kaspar und Co.”, wiederholte die Taxilenkerin, blickte Phillippe an und atmete mit dem Geräusch des Verzichts aus. „Oh je”, sagte sie.

   „Oh je, ein zweisilbiger Hauch. Gibt es den überhaupt in der Sprache? Mir wäre das nicht eingefallen. So verschlossen in der Preisgabe eines Bedauerns”, dachte Phillippe.

 

„Suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, schweigen und reden, alles hat seine Zeit.“

 

Das Ziegelgebäude in einem großen Hinterhof schien genauso zu frieren wie Phillippe, als er aus dem Taxi stieg, und das teilweise mit Holzpfählen abgedeckte Glasdach schien genauso müde wie er selbst.

   „Kommst du mit?”

   „Ich bleib im Auto. Wie lange wirst du brauchen?”

   „Zwei, drei Minuten.”

   „Gut ich warte zehn Minuten, Dann fahre ich.”

   „Borgst du mir die Taschenlampe, die auf der Konsole Hegt?”

   „Nimm sie, sie ist ein Geschenk.”

   „Kannst du dich mit dem Fahrzeug so hinstellen, dass der Scheinwerfer dieses Glasfenster trifft?”

   „Ich bin Mathematikerin ... noch ein Geschenk.”

   Dann schluckte sie, wollte noch etwas sagen, aber zog es vor zu schweigen.

   Phillippe beschriftete die Filmrolle und warf sie dorthin, wo die Taschenlampe lag. Er ging um das Fabrikgebäude, fand die kleine Tür mit der kaum noch lesbaren Schrift: Kaspar und Sohn. Eingang.

   Eisglänzende Raupenfahrzeuge und Schaufelfahrzeuge standen frontal zur Halle, als würden sie auf einen Startschuss warten.

   Phillippe leuchtete auf den Vorraum, die Büros. Es schien, als ob die Belegschaft sich vor wenigen Stunden verabschiedet hätte, um sich am nächsten Tag mit derselben Aufgabe wieder einzufinden. Aber eine Staub- und Sandschicht auf den Arbeitstischen und die Kälte von allem Liegengebliebenem: Brillen, Feuerzeuge, Schreiber und Stifte, Rechen- und Schreibmaschinen erzählten von dem längst eingetretenen „Aus”.

   Phillippe fand den Weg zur Farbenküche. Er erinnerte sich an den endlos langen Tisch, beladen mit Farbproben, Gläsern, Phiolen, Porzellanschüsseln, Pipetten, an die Lösungsmittel von Safrangelb bis Kastanienbraun. An die Mörser, Trichter, Pinzetten, Mikroskope, an die Bunsenbrenner und die Gasflaschen.

   Genauso fand er ihn vor. Hinter dem Tisch das große Fabrikfenster. An den Ecken des Tisches vier eiserne Säulen, die das Dach trugen.

   Durch das Fenster schienen die aufgeblendeten Scheinwerfer des Taxis. Der Staub in diesem Raum, und auch hier das „Aus”, verwandelten das licht zu Pfeilen, die sich gegen Phillippe richteten.

   „Eventuell ein Abendmahl”, dachte er. „Die Mathematikerin sorgt für eine gewisse Symmetrie.”

   Unterschiedlichste Terpentin- und Harzgerüche und die schmutzige kalte Luft des Gewesenen vermischten sich und erzählten von den Verstecken aller verstorbenen Maler, zu allen Zeiten.

   Phillippe betrat die Werkstatt. Keilrahmen, gerollte Leinwände, Spannzangen, unterschiedlichste Holz- und Metallhämmer, Tausende flachköpfige Nägel. Er ging mit den Bewegungen eines Eisläufers durch die Voraussetzung von Hunderten, guten oder schlechten, auf jeden Fall ungemalten Bildern. Er wusste, wo das Lager war. Noch einen Meter den linken Fuß nach links, den Weg frei schiebend, rollende leere Farbtuben.

   Rechter Fuß nach rechts, Pinsel aller Stärken, aufspringende Spachteln. Synchrongeräusch zu seinem Atem, den er im Schein der Taschenlampe erkannte und dem er nachging. Manchmal nahm er etwas auf, griff es an, ließ es fallen oder trug es einige Eisläuferschritte mit sich, bevor er es wegwarf. Was er vorhatte, erschien ihm das einzig Sinnvolle, Sinnliche, ihm entsprechende Bild dieser Nacht.

   Und dann erreichte er den Raum, den er vor vielen Jahren hätte fotografieren sollen, hätte er nicht aus seiner Scheu vor Motiven, die er zum ersten Mal sah, und der Ablehnung, aus einer Gelegenheit einen hochdotierten Verrat zu liefern, „nicht heute” gesagt.

   Aber jetzt, kurz bevor die Weltschatzpigmente niedergewälzt würden, wollte er dieses Kristall- und Staubarchiv noch einmal sehen.

   Das Glasdach des Lagers war teilweise eingebrochen, den Einsturz sicherten Pfosten, Bretter und gespannte Plastikplanen. Das Licht der Taschenlampe zitterte, ging aus. Rütteln, Knopf hinein, Knopf heraus, zu Ende, wie alles hier. Phillippe brauchte einige Sekunden, um aus dem Schwarzweiß die Farbe wieder zu finden.

   Hunderte Fässer standen in der Halle. Hundert, oder noch viel mehr Jahre gelagert. Vom Gründer der Firma aus der ganzen Welt zusammengetragene Gefäße. Nicht mehr lesbare Aufschriften. Indische Schriftzeichen, arabische, manchmal nur die Nummern eines Katalogs, den es für den Erben der Firma schon nicht mehr gab.

   Phillippe kniete sich zu einem Fass. Rote Kristalle besetzten die Nähte der Holzdauben.

   „Prachensky. Warum habe ich nie seine Malerbürste beim Eintauchen und beim Auftragen seines Rots festgehalten?”

   Das aufkommende graue Pfefferlicht traf die steinernen Farbstreifen und das Fass begann zu leben wie ein Beutetier aus einer vergangenen Zeit, mit der Aufschrift, in Kurrent: Rouge, Congo 1878, attention ne pas respirer!

   In den Bauten um die Fabrik gingen die Lichter an, die Taxilenkerin öffnete ihre schlaflosen Augen, blickte auf die erwachenden Krähen am Dach des Fabrikgebäudes, dann auf die Uhr, startete den Motor und fuhr vom Gelände.

   Winternacht, Abschied Nummer fünf.

   Phillippe, auf der Suche nach mehr Licht, schlug mit dem Sperrbalken der Lagertür gegen die Plastikplane. Eine verrostete Strebe des Glasdaches löste sich und fiel auf die morschen Dauben des Kongofasses.

   Dreißig, vielleicht fünfzig, vielleicht hundert Kilo Rot in Form von feinstem Pulver brach aus der hundertundneunjährigen Gefangenschaft. Das Lager, die Fässer, die Stützen, Phillippe im explodierenden, feinsten roten Pulver. Er blickte gegen das zerbrochene Glasdach, wo die Pigmente ins Freie wirbelten und mit dem Pfefferlicht des Wintermorgens zu kämpfen begannen. Ein Krieg, ein Tanz, ein Hin und Her. Einmal ein Sieg des Kongorots, einmal ein Sieg des Wiener Pfeffers. Ein Wirbelsturm, den Phillippe nie mehr vergessen würde, in vielfacher Hinsicht.

   Phillippe schlug sich gegen die Brust. Er griff nach der leeren Kamera, drückte ab, wissend, dass dieses Bild nur in seiner Erinnerung gespeichert war.

   Er begann zu husten. „Welche Larven in meiner Brust?” Er sah das Tor nicht mehr, durch das er das Lager betreten hatte. Rot. Er sah seine Hände nicht mehr vor dem Gesicht. Er presste sie gegen seinen roten Mund, versuchte seinen Atem zu beruhigen. Dann hielt er es nicht mehr aus.

   Die Larven in seiner Brust begannen zu glühen, er atmete durch, rang nach Luft, atmete noch einmal tief, fühlte sich leichter. Roter Wolkenschatten, Leuchtspuren. Irrlichter. Er wurde noch leichter.

   Phillippe bewegte seine Arme wie ein Vogel, der in einem Fass voll duftendem Wein zu ertrinken droht. Dann phosphoreszierende Schriftzeichen. Er begann zu fliegen, verzaubert, losgelöst, immer schneller. Es zog ihn hinauf, und das Vielfältige, das er, der Vergiftete, jetzt dachte, wurde ein von weither gesehenes großes Bild, als wäre Jackson Pollock auferstanden, um ihm die Hand zu reichen, und hätte diesen Moment vermerkt.

   Und die dem letzten Sklavenschiff entkommenen Krähen krächzten einen neu gestalteten alten Schlagertext: „Bongo, Bongo, Bongo, we don't have to leave the Kongo.”

   Phillippe flog ohne Kraft, aber mit viel Lust davon, so leicht und rasch, dass nicht einmal die jetzt entknechteten, rot gefärbten Krähen, auf der Suche nach dem Ende des Wirbelsturms, ihn einholen konnten.

   Nicholas hatte einen Bekannten und der hatte einen Freund, der Auguste hieß und Arzt war. Ein großer Mann mit großen Bewegungen, kubanische Zigarren rauchend.

   Der diagnostizierte bei seinen Patienten immer nur zwei Krankheitsursachen: Hasenherz oder Gummibeine. Gummibeine oder Hasenherz. Bei Phillippe erweiterte er seinen Diagnosekatalog: Zu viele Farben in einer Seele.

   „Dir steckt Aquamarin-, Smaragd-, Topas-, Turmalin-, Zitrin-, Amethyst- und vor allem Saphirstaub in der Brust. Kein Hinweis auf Afrika, eher auf Brasilien.”

 

Am Neujahrstag beschloss Phillippe wieder abzureisen. Der zweite Jänner versprach Rückenwind. Die diversen Prognosen für das neue Jahr lauteten: ungewiss und wechselhaft.

2

 

 

Als er das Starren beendet hatte, war wieder Tag, und die Sonne strahlte unter der Wolkendecke horizontale Pfeile auf die Glasscheibe, an der sein Kopf lehnte. Das Licht wurde in der Hornhaut seines linken Auges als glühender Punkt sichtbar und erzeugte geliebt schmerzende Regenbogenpunkte in seinem Kopf.

   Wieder einmal stellte er fest, wie leicht und klar ihn die Müdigkeit machte. Wie sehr er sich über das Erwachen des Tages freute und wie stolz er auf die bewusste Sabotage seines Paktes war.

   Die verglaste Veranda war einer weiß gemalten Drei-Zimmer-Wohnung vorgesetzt. In einem Raum schlief Sofia, die sich „Saint” nannte - neununddreißig Jahre alt, Afro-Brasilianerin, eigentlich blauschwarze Haare, graue Augen, sehr braune Haut, rotschwarze Zunge und Zahnfleisch, sehr weiße Zähne, schwarze Brustwarzen und Schamlippen - ihren tiefen und ruhigen Schlaf. Auf die Frage nach ihrem Alter hatte sie immer gelächelt, zweimal die Schultern gehoben, bis ihre Brüste bestätigend mitgehüpft: waren, und geantwortet: „Dreißig Jahre!”

   Nach sieben Jahren Zusammenleben mit Phillippe sagte sie es mit dem gleichen Auf und Ab und einem Lächeln wie am ersten Tag ihrer Begegnung.

   Im Zimmer daneben: ihr Sohn Francesco, zwölf Jahre alt, Vater unbekannt, fast alles an ihm sah so aus wie bei seiner Mutter, auch der Schlaf, den er aber in unregelmäßigen Abständen unterbrach, indem er sich in die Hose griff und sein Glied repetierte.

   In der Küche hantierte Paula, runde Haushälterin ohne Adresse, Witwe und Analphabetin, Gewicht und Alter unbekannt, alles an ihr schwarz, bis auf das graue Haar.

   Phillippe presste mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zusammen, drückte das morgendliche Gespenst der Farbe aus seinem Zustand und griff nach dem von Paula hingestellten Kaffee. Er trank ihn in einem Zug und wartete auf den Schmerz beim Mageneingang, der sich gewohnheitsgemäß nach wenigen Sekunden einstellte. Dann betrat er Saints Zimmer, legte sich zu ihr auf die safrangelbe Bambusmatratze und presste seine brennende Magengrube gegen ihr Gesäß.

   Wie immer lächelte sie. Mit diesen Fremdtönen, die nur sie beherrschte. Die Zunge zwischen den Zähnen, als schwarzroter Knopf zwischen die Lippen geschoben. Gott wohnte in ihrer Zungenspitze. Sie vibrierte mit ihren an ihn gepressten Gesäßbacken, bis er, vom Schmerz befreit, einem anderen, bildhaften Schmerz gewahr wurde. Für Sekundenteile drängte sich das letzte Gemälde Goyas in sein Grübeln. Aus der Dunkelheit tauchte eine seltsame Gestalt - ein Hund? - auf. „Wirfst du mir den Schatten voraus?”

 

Ungefähr vierzig oder fünfzig Minuten stellte er sich regelmäßig, von Montag bis Freitag, schlafend, so dass niemand auf seine Träume treten konnte. Um dem Zirkus zwischen Badezimmer, Küche und Veranda zu entgehen. Dann zehn Minuten Geschirrgeklapper, Wischgeräusche, rinnende Wasserhähne. „Ate logo!”, eine zufallende Wohnungstür.

   Zurück an den Tisch, zur Glasscheibe. Warten. Unter den zwölf Stockwerken des Wohnhauses: das Schwimmbad. Ein kühler Teppich, von verdorrter Natur gerahmt.

   Weiter warten, in wenigen Minuten würde die Sonne das Wasser berühren, und weiße Schlieren würden an der Fassade hinauf tanzen und lichtbogenähnliche Zeichen auf seine Glasscheibe kritzeln.

   Mit dreiunddreißig Jahren war er wieder einmal von Wien weggegangen. Endgültig, wie er dachte. Wieder hatte er geirrt. Auf die Zeichnung eines Gugginger Art-Brut-Malers, die einen quadratischen Teufel darstellte, hatte er zwei Dreier in die Hoden gemalt, ehe er sein Studio verließ.

   „Jeder Tag, den du älter als Jesus Christus wirst, ist ein Luxus”, hatte ein slowakischer Autor nach seiner nächtlichen Geburtstagsfeier zu ihm gesagt und das Fahrzeug auf einer schmalen Straße am weißen Berg in den Abgrund gelenkt. Absichtlich. Phillippe war aus der auffliegenden Tür gerollt und hatte überlebt. Der Dichter war tot gewesen. Dreiunddreißig Jahre alt und eine Stunde. Phillippe war damals noch nicht auf der Seite des Luxus gewesen.