9788711633090

Carsten Nagel

Aqua Mortis

Psychothriller

Aus dem Dänischen von
Anna M. Mondry

SAGA

Diese Geschichte beruht auf Fiktion. Jegliche Übereinstimmung zwischen den Figuren des Romans und wirklichen Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Die im Roman beschriebenen Kopenhagener Orte, Gebäude, und Institutionen hingegen existieren. Was innerhalb dieser Mauern geschieht, beruht hoffentlich ausschließlich auf meiner Fantasie.

Carsten Nagel

Jeder Gedanke, entwickelt aus dem Zirkus der Fantasie, ent­springt der Danse macabre der Wirklichkeit.

B.G. Mills

Prolog

Als die Frau erwachte, schrie eine Möwe über ihr. Der Ätherlappen war weg. Der scharfe Geruch hing ihr noch in der Nase. Sie war immer noch durstig. Abgesehen vom Schrei des Vogels war der Gestank des Betäubungsmittels das Erste, das sie registrierte, während sie langsam zu sich kam.

Es fiel ihr schwer, mit dem Klebeband auf dem Mund Luft zu bekommen; auch durch die Nase bekam sie wegen des Schlags auf diese und der Erkältung, die sie sich eingefangen hatte, keine Luft.

Sollte sie das Risiko eingehen und die Augen öffnen? Soviel wusste sie: Wenn sie aufsähe, käme der Ätherlappen. Allein der Gedanke hielt sie zurück. Sie konnte nicht mehr nachzählen, wie viele Male er sie seit der Entführung betäubt hatte.

Aber wo war sie?

War er in der Nähe?

Und was würde sein nächster Schachzug sein?

Sie war an Händen und Füßen gefesselt, die Arme hinter dem Rücken. Auf ihren Beinen und ihrem Körper lagen irgendwelche losen Schnüre. Die Unterlage, auf der sie lag, war hart und uneben. Ihre Glieder waren eingeschlafen und teilweise ohne Gefühl.

Sie lauschte. Vögel … das Geräusch schwappenden Wassers … der Atem des Mannes!

Sie hielt die Luft an und hoffte, dass er nicht näher kommen würde. Er schien mehr außer Atem zu sein als sonst. Er mühte sich mit etwas ab. Seine Lungen rasselten, als wenn er neben dem Schuppen, der seit ihrer Entführung ihr Gefängnis gewesen war, Brennholz hackte.

Sie spürte, dass ihre Hose im Schritt feucht war. Hatte er sich an ihr vergangen, als sie noch betäubt war? Hatte er irgendeine Art von Instrument benutzt? Es half nicht, darüber nachzudenken. Sie spürte etwas Kühles. Wasser. Sie lag auf dem Boden eines Bootes mit Wasser, das in kleinen Bewegungen hin und zurück schwappte. Waren die Schnüre auf ihren Beinen ein Fischernetz? Die Bewegungen des Wassers waren die Bewegungen des Entführers.

Das Boot konnte nicht groß sein. Vielleicht nur eine Jolle, die einen der vielen sommerlichen Regenschauer abbekommen hatte.

Der Mann hantierte ein paar Meter von ihr entfernt an etwas herum. Es klang, als ob er etwas in Gang zu setzen versuchte. Sein zufriedenes Grunzen erreichte sie gleichzeitig mit dem ekligen Geruch, der sie sofort in Panik versetzte: der Ätherlappen zum allerletzten Mal. Aber dann… Das war kein Äther, das war Benzin.

Wollte er sie mit Benzin übergießen, die Jolle von Land stoßen, sie als lebende Fackel benutzen? Würde sich endlich Zufriedenheit in ihm breitmachen, während er ihr endgültiges Ende beobachtete?

Es folgte ein metallisches Klirren, danach das Gluckern einer Flüssigkeit, die von einem Behälter in einen anderen geschüttet wurde. Während er wahrscheinlich Benzin in den Außenbordmotor füllte, mit dem er sich abgequält hatte, versuchte sie, ihre Hände loszuwinden, mit dem einzigen Resultat, dass sich ein Splitter­­ in ihre Hand bohrte.

Ein Splitter, also eine Holzjolle, sicherlich älteren Datums, das wusste sie nun. Wissen war jetzt alles, ihre einzige Waffe.

Eine Plastikschöpfkelle schaukelte gegen ihre Hüfte. Das Geräusch eines Streichholzes, das entzündet wurde. Dann der wohlbekannte Pfeifenrauch mit Vanillegeruch.

Sie hasste Vanille.

Das Boot bekam einen Ruck versetzt, als der Motor startete. Die Jolle setzte sich in Bewegung und glitt durch das Wasser. Der Seegang war ruhig, sie mussten sich in einer Art Hafen befinden. Die Kelle schlug sachte gegen ihr rechtes Knie.

Stimmen? Ihr Entführer sprach mit einem anderen Mann! Sie schielte zu dem Mann am Außenbordmotor hinüber, versuchte sich aufzurichten, den Körper zu drehen, damit ihr Kopf oder auch nur ein Fuß hinter der Reling zum Vorschein kamen. So dicht an einer möglichen Befreiung war sie bisher nicht gewesen. Aber auf dem Boden des Bootes konnte sie sich genau so wenig bewegen wie in der Aalreuse, in die er sie jede Nacht ihrer Gefangenschaft gezwungen hatte.

»Kabeljau und Schollen, vielleicht sogar ein Steinbutt … und zu den Reusenpfählen.«

Ihr Bewacher sprach, ohne dabei die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Der Motor gewann an Kraft, die Stimmen erstarben.

Bald würde sie nicht mehr sein. Möglicherweise würde sie zum letzten Mal richtig sehen. Vorsichtig schlug sie die Augen auf. Der Himmel war grau und blau gefärbt, schöner als je zuvor. Im Boot um sie herum lagen Fischernetze und Bojen mit weißen Flaggen, auf ihren Beinen befand sich, ganz richtig, ein Netz. Möwen kreisten über ihnen in der Hoffnung auf ein leichtverdientes Mahl.

Würde er sie dem Meer opfern, sie an die Pfähle binden und in Fischfutter verwandeln?

Ihr Körper protestierte, versuchte, Macht über die Dinge zu gewinnen, sie rollte vor und zurück, wodurch sich ihre Bewegungen auf das Boot übertrugen und der Motor knurrte.

»Na, du bist wach, jetzt dauert es nicht mehr lange. Wir müssen nur noch ein wenig weiter hinaus, dann bist du frei. Zappeln nützt nichts. Denk an etwas Schönes, denk an … die kleine Meerjungfrau!«

Sie konnte immer noch nicht über die Reling sehen, sie sah nur ihn und den Himmel. Er wendete ein wenig den Kopf und spähte hinaus, sodass der große schräge Halsmuskel, einem unüberwindbaren Widerstand gleich, hervortrat. Eine Ader pochte schwach, aber rhythmisch auf seiner Schläfe. Als er von der Meerjungfrau sprach, klang das wie von außen eingegeben. Auf einmal wusste sie, dass sie dabei waren, den Kopenhagener Hafen zu verlassen. Plötzlich ließ er die Ruderpinne los, ließ den Motor Motor sein, stand auf, ging fast singend auf sie zu:

»… The Little Mermaid … Die kleine Meerjungfrau … La Petite Sirène …« Sie beeilte sich, die Augen zu schließen, wusste aber, dass sie für ihren Blick würde bezahlen müssen; es blieb keine Zeit mehr, bald würde sie im Dampf des Äthers entschwinden, er beugte sich erneut über sie … Aber nein.

Mit einer schnellen Bewegung riss er ihr das Klebeband vom Mund.

»So soll dein letzter Tag nun auch nicht aussehen«, sagte er, bereits auf dem Weg zurück zum Außenbordmotor.

Das Boot machte eine Wende und schlug nun stärker gegen die Wellen. Das monotone Klopfen des Motors verwandelte sich in ein konstantes, niemals aufgebendes Klagen, die Jolle schob sich weiter, entfernte sich mehr und mehr vom Land.

Jedes Mal, wenn sie aus dem Ätherrausch erwacht war, überrascht darüber, noch am Leben zu sein, hatte sie den Erstickungstod gefürchtet, wegen der verstopften Nasenlöcher und des viel zu strammen Klebebands auf ihrem Mund.

Nun kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass der Tod durch Ersticken vielleicht gnädig gewesen wäre im Vergleich zu dem, was sie erwartete.

War sie dabei aufzugeben? Unschädlich gemacht auf dem Boden der alten Jolle, wusste sie nicht, wogegen sie ankämpfen sollte.

Eine Welle spritzte über den Steven, der Motor brummte, das Boot stieg und fiel hart zurück, sie schlug mit dem Nacken auf.

Während der Schmerz sich in Kopf und Schultern ausbreitete, erinnerte sie sich an das wenige, was sie über den Tod durch Ertrinken gelernt hatte.

Das Ganze war so furchtbar. Doch in dieser Furcht keimte Trotz auf. Sie konnte jetzt nicht sterben, schon gar nicht mit ihm, als letzter Akt seiner wahnwitzigen Vorstellungen! Sie musste kämpfen, nicht nur für sich selbst, sondern für ihr kleines Mädchen und alle kleinen Mädchen. Sie musste alle Mittel einsetzen, sich nicht brechen zu lassen, was auch komme.

Wenn möglich würde sie den Mann am Steuer erschlagen.

Aber was konnte sie schon tun, verschnürt und gefesselt wie sie war? Ohne Waffe und mit einem Körper, der bald nicht mehr konnte.

Nur die Sprache war ihr geblieben. Und selbst die war immer wieder bedroht. Durch ein beschissenes Stück Klebeband!

Sie sah wieder auf. Trotziger, immer trotziger betrachtete sie den Pfeife rauchenden Mann, der so viel Übel verursacht hatte.

»Ich will mit dir reden«, sagte sie. »Es gibt etwas, das du wissen solltest.«

1

Mads Højlund raste auf seinem Fahrrad durch Kopenhagens Straßen. Wie konnten sie ihm das antun? Er wollte weg von dem Ganzen, nicht nur von der Winterkälte und den unerträglichen Frauen in der Kinderkrippe in Christianshavn. Ebenso von den ständig besorgten Eltern, ihrem Verhätscheln der Kinder, weg von der ganzen verfickten Gesellschaft. Es war ihre, nicht seine. Sogar Nick, mit dem er sich eine Wohnung in Nørrebro teilte, und zu dem er jetzt auf dem Weg nach Hause war, war unerträglich geworden und pisste ihn an – zuletzt mit seinen rücksichtslos lärmenden Gästen, einer Horde Aktivisten, deren Stimmen rund um die Uhr durch Mark und Bein drangen. »Zu Hause«? Auf gewisse Weise war dieses Wort für einen Erwachsenen noch sonderbarer als für ein Kind. Nein, er gehörte nicht in diese Scheißstadt, in der sich genau jetzt irgendwelche Politiker, überreiche Wirtschaftskapitäne und protestierende Jugendliche aufhielten; ein weiterer hoffnungsloser Versuch, die Welt daran zu hindern, Amok zu laufen.

Mads gab auf seinem Fahrrad erneut Gas. Dänemark, gut und gerne fünf Millionen Menschen, in einer lächerlichen Umfrage wieder einmal zur Heimat des »glücklichsten Volks der Welt« ernannt, in der nun alle Medien schwelgten. Wonach hatte man sie gefragt? Wie waren ihre Antworten aufgefasst worden? Wo versteckte das glücklichste Volk der Welt all sein Glück? Vielleicht im Hafen, der den prahlenden Behörden zufolge so sauber war, dass man problemlos darin schwimmen könne. Nur vergaßen sie zu erwähnen, dass das Wasser nur zwei, drei Monate im Jahr warm genug zum Baden war, und dass das Hafenbecken nach jedem größeren Regenschauer von ertrunkenen Ratten geflutet wurde. Reine Selbstzufriedenheit, typisch dänisch, dachte Mads, just bevor er das Nationalmuseum erreichte und scharf nach rechts schwenkte, die Rådhusstræde hinauf in Richtung Nørreport Station.

Nein, das Großstadtleben hatte bestimmt nicht mehr dieselbe Anziehungskraft wie vor vier Jahren, als er den Hof seiner Eltern verließ und mit einem Rucksack voller Träume vom Land in die Stadt zog. Weder übertriebene noch unerreichbare Träume hätte man meinen sollen: ein eigenes Heim, ein süßes Mädchen, ein passabler Job.

In Wirklichkeit hielt er es in Kopenhagen nicht mehr aus. Und schon gar nicht nach der heutigen Demütigung in der Kinderkrippe. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, war völlig absurd. Er stand da, mitten im Toilettentraining mit Klein-Ida auf dem Töpfchen und der großen Ida auf der Kindertoilette. Und da steckt die Leiterin plötzlich ihren Kopf herein und erzählt ihm, quasi so nebenbei, dass er nicht mehr allein mit den Kindern sein dürfe, wenn er ihnen die Windeln wechselt, sie gewaschen würden, oder man ihnen erklärte, wie man auf die Toilette geht. Oder in anderen vergleichbaren Situationen, die als »potentiell intim, sexuell, oder auf andere Weise grenzüberschreitend« gedeutet werden könnten. Klein-Ida kicherte und streckte sich begeistert nach ihm, die große Ida sang. Es habe so viele Geschichten mit Pädophilievorwürfen gegeben, fuhr die Leiterin fort.

Mads stand bereit, um den Kleinen zu helfen, erstarrte aber.

Jetzt sollte er zum Teufel noch mal überwacht werden.

»Nimm es nicht so persönlich, Mads, du siehst ja fast aus wie jemand, der einen Geist gesehen hat.«

»Ich finde, das ist sehr weit hergeholt.«

»Das gilt für alle, nicht nur für dich.«

»Gilt das auch für dich?«

»Nein, für alle Männer, meine ich.«

»Aber hier gibt es doch keine anderen Männer außer mir.«

»Nicht jetzt, aber wir suchen ja … vielleicht wird das eines Tages auch für Frauen gelten. Das sind nur vorbeugende Maßnahmen.«

»Willst du stehenbleiben und dabei zuschauen, wie ich die Kleinen fertig mache?«

»Hör auf, aus allem ein Problem zu machen, Mads. Ich wollte es nur vor meinem Freizeitausgleich gesagt haben. Jetzt weißt du jedenfalls, wie es aussieht.«

Dann war die Leiterin gegangen. Erst aus dem Raum, dann aus der »Kinderbastion«, während Mads die Kleinen abwischte. Die vorbeugenden Maßnahmen traten erst später am Tag in Kraft, als die Stellvertreterin kam. Die Leiterin und einige Freundinnen wollten für ein paar Tage zum Weihnachtsshopping nach London.

Warum nannte man die Dinge eigentlich nie beim Namen? Warum sagten sie nicht einfach, dass Männer gefährlich waren und dass er als Mann ein Sicherheitsrisiko darstellte?

Weil es in der Kinderkrippe nicht mehr Männer gab, galt das selbstverständlich nur ihm. Kein erwachsener Mann würde sich damit abfinden, verdächtigt zu werden, nur weil er seiner Arbeit nachging. Das konnte sich nur in einer reinen Frauenwelt abspielen, oder wie immer man das auch nennen wollte.

Unmittelbar vor Nørreport musste Mads hart bremsen, doch die glatte Straße ließ ihn direkt weiter geradeaus schlittern, hinein ins Chaos, das sich plötzlich vor ihm auftürmte – ein Wirrwarr aus Demonstranten, Beamten, Schildern, Schutzschilden, Visieren, gezogenen Schlagstöcken, laut bellenden Schäferhunden und dem widerlichen Geruch von Pfefferspray.

»Nehmt sie fest!«, hörte Mads eine Stimme kommandieren, während er kurzzeitig den Druck von Fuß- und Handbremse nahm, um gleich darauf wieder zuzudrücken. Das Fahrrad blieb stehen, aber Mads flog über den Lenker, der beständig wachsenden Menschenreihe entgegen, die die Beamten in Kampfkleidung gerade formten, eine akkurat arrangierte, gleichmäßige Linie mitten auf der Fahrbahn. In einer Nanosekunde führte ihn die Erinnerung zurück zu den Märklinzügen seiner Kindheit, es blitzte die Dänische Bahngesellschaft auf, bevor Mads sein Fahrrad in Zeitlupe und begleitet von den Sirenen der Einsatzfahrzeuge gegen einen Würstchenwagen schleudern und die Knüppel der Polizeibeamten auf die flüchtenden Demonstranten runterhageln sah – all das, während er selbst auf die panische Menschenmenge zuflog.

Mads landete auf einem rothaarigen Mädchen, das offenbar keine glückliche Dänin war, denn sie schrie in einem nicht sehr glücklichen Ton »fascist pigs«, einen Augenblick bevor sie, infolge von Mads’ nicht unerheblichem Gewicht sowie der Knüppel der Ordnungsmacht, mit den Schneidezähnen und dem Gesicht auf den Straßenbelag knallte und bewusstlos wurde. Mads registrierte gerade noch eine schwedische Flagge, einen Greenpeace-Sticker und eine Art Zugangskarte, die an ihrem Anorak baumelte. In roter Handschrift stand da etwas mit Alma. Unmittelbar darauf spürte er die Kraft der Polizeiknüppel auf seinen eigenen Schulterblättern, den Geruch von Pfefferspray, das in seinen Augen und seiner Kehle brannte, danach den Polizeigriff, der seinen 85 Kilo schweren und 1,90 Meter großen Körper so leicht, als wäre er eine Schneeflocke, ans Ende der Reihe hievte, ein weiterer Waggon in dem anscheinend endlosen Zug der Festgenommenen.

Während Mads einer Leibesvisitation unterzogen und mit auf dem Rücken gefesselten Händen hingesetzt wurde, verstand er, der Worte sonst liebte, zum ersten Mal die Bedeutung des Begriffs »das globale Dorf«. Ohne ein anderes Ziel zu haben, als nach Hause zu kommen und sich den Schmutz des Tages abzuwaschen, war er plötzlich ein Teil genau dieses Dorfes geworden. Er hatte immer davon geträumt auszureisen und Teil einer größeren, fremden Gruppe zu werden, doch bisher hatte er seinen Traum nicht verwirklicht. Nie zuvor war er mit so vielen unterschiedlichen Menschen aus so verschiedenen Ländern zusammen gewesen wie in diesem Gefangenenzug der Polizei. Erst mit dem Gipfeltreffen hier im Dezember war in Dänemark ernsthaft der Winter eingebrochen. Jetzt breitete sich die eisige Kälte vom Bürgersteig über seinen Hintern in alle Glieder aus, seine Zähne klapperten, sodass er sich auf die Zungenspitze biss, und seine Finger waren so gefühllos vom Frost, dass Mads dachte, sie könnten in Wirklichkeit auch genauso gut amputiert sein; Teufel aber auch, dass er die gefütterten Schweinslederhandschuhe vergessen hatte, als er wie ein verwundetes Tier geradezu aus der Kinderbastion geflüchtet war.

Die Leute rieben sich immer noch die Augen, husteten inzwischen aber etwas weniger, der Pfefferspray war also offenbar in die Uniformtaschen zurückgekehrt. Selbst die bellenden Schäferhunde hielten das Maul, jetzt wo in Mads’ Teil der Reihe Ruhe herrschte. Lediglich die Einsatzfahrzeuge stießen nach wie vor infernalischen Lärm aus, wenn sie vorbeidonnerten, anscheinend in alle Richtungen, mit blinkenden Lichtern und laut heulenden Sirenen. »Where are you from?«, schrie ein Beamter Mads plötzlich an. »I was born in Little Skensved«, übersetzte Mads, so gut er konnte, und dachte, die englische Anrede müsse seinem kurzen, dunklen Bart geschuldet sein, der auf Ersuchen der Eltern ebenfalls ein Punkt auf der Tagesordnung der Kinderkrippe gewesen war; ein Bart konnte offenbar Brutstätte für alles sein, von Läusen bis hin zu bösen Absichten, hier wahrscheinlich das Merkmal eines Selbstmordattentäters. »Where?«, rief der Beamte weiter. Erst jetzt bemerkte Mads, dass es eine Frau war, die sich hinter dem Visier verbarg. »Ich komme aus dem verdammten fucking Dänemark, und ich bin auf dem Weg nach Hause von der Arbeit, ich wohne in Nørrebro.«

Zu Mads’ großer Überraschung teilte die Beamtin ihm mit, dass er gehen dürfe. Vielleicht hatte sie seine großen, blauen Augen gesehen. Ein Friseur hatte Mads einmal gesagt, dass sie seinem Gesicht etwas Mildes und Unschuldiges verliehen. Auf jeden Fall half die Beamtin ihm, die Kabelbinder zu entfernen, er kam auf die Beine und hielt Ausschau nach seinem Fahrrad. An den Mannschaftswagen, die bereitstanden, um die Leute wegzufahren, hatten sich lange Schlangen gebildet. Dann entdeckte er sein Fahrrad, das halb unter den Würstchenwagen gerutscht war. Mads befreite es und stellte fest, dass es, abgesehen von einem leicht wackeligen Vorderreifen, auf wundersame Weise unbeschädigt geblieben war. Der Heimweg konnte fortgesetzt werden.

Mads schwang sich auf den Sattel und trat in die Pedale. Das Letzte, was er sah, bevor er weiter auf die Frederiksborggade fuhr, war das rothaarige Alma-Mädchen, das auf einer Bahre in den Krankenwagen geschoben wurde.

2

»Könnt ihr etwas leiser sein? Ich muss morgen wirklich ziemlich früh aufstehen. Please?«

Der Lärm wurde fast noch lauter und verwandelte sich in Lachen und Heulen, während Mads zum dritten Mal zurück in sein Zimmer ging. Das Klirren von Flaschen, Techno, und der Lärm unzähliger, alle möglichen Sprachen sprechender Stimmen folgten ihm bis hinter die geschlossene Tür.

Mads wünschte sich einen tiefen, betäubungsähnlichen Schlaf und versuchte, sich selbst in eine Art Trance zu versetzen, wie der Psychologe in der Gruppentherapie es ihm beigebracht hatte, als er noch aufs Gymnasium ging. Ab und zu funktionierte es, aber an diesem Abend wurde er nur noch wacher. Und verärgert.

Ein paar der NGOs waren sich über die Strategie hinter einer Aktion nicht einig, der Rest trank Bier und rauchte Gras hinter der dünnen Wand, die Mads’ Zimmer vom Rest der alten Wohnung auf der Jægersborggade trennte.

Mads hatte genügend Respekt für Nicks Engagement in allen möglichen und unmöglichen Gesellschaftsangelegenheiten. Respekt dafür, dass sein Kumpel begonnen hatte, an der Kopenhagener Universität Philosophie zu studieren, und jetzt noch aktiver war als vorher. Er kam nur damit nicht klar, dass dieser Narr die Tür zu ihrer gemeinsamen Zweizimmerwohnung mit Erker für so viele Aktivisten, wie hineinpassten, geöffnet und sie eingeladen hatte, bei ihnen zu wohnen, bis das Gipfeltreffen überstanden war. Warum sollte eine solche Horde alternativer Idioten die Welt ausgerechnet in seiner Wohnung retten?

Morgen früh hatte Mads zudem noch die unliebsame Aufgabe, die Kinderbastion zu öffnen. Der einzige Vorteil, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, bestand darin, die erste halbe Stunde die Kinderkrippe für sich allein zu haben. Dann das Eintreffen der Stellvertreterin. Und dann kam der Rest der Mitarbeiter, eine nach der anderen.

Chaos und Konfrontation, Kanonenfeuer und Knüppelhiebe, occupy dieses, befrei jenes, was kratzten die EU, die Weltbank, das Klima und all der andere Scheiß ihn, der er nur schlafen wollte? Finanzgeier waren nichts Neues; neu war, dass sie es auf die Titelseiten gebracht hatten, sodass nun allgemein bekannt war, dass sie sich die Taschen füllten, während gewöhnliche Menschen ihre Ersparnisse, Renten und Jobs verloren.

Der Lärm hörte nicht auf, die lauten Stimmen hinter der Wand schienen aus allen Richtungen zu kommen: Skååål, cheeers, à votre santé, Faschistenmethoden, neue Aktionen, bottoms up. Die Stimmen schwirrten durch Mads’ Kopf, dicht gefolgt von blitzartigen Bildern der Ereignisse des Tages – die Krippenleiterin in Kommandostellung vor dem letzten Aufruf nach London, der Flug über den Fahrradlenker, das rothaarige Mädchen, das weibliche Visier, das ihn gehen ließ.

Alma, Alma, wiederholte Mads ein paar Male für sich, doch dann stimmte der ewig bellende Schnauzer des Nachbarn unter ihm ein, an diesem Abend lauter und beharrlicher als sonst, der Köter hätte schon lange das Zeitliche segnen sollen.

Seine Schulter tat immer noch höllisch weh, sein Rücken war ebenfalls ein wenig wund, die Handgelenke rot und von den verdammten Kabelbindern geschwollen, die so stramm gesessen hatten, dass sie durch die Haut am rechten Handgelenk gescheuert hatten.

Nicht einmal ein langes, heißes Bad half. Mads warf ein paar Schmerztabletten ein und ging ins Bett. Pfefferspray, verdammt, warum hieß etwas wie ein Gewürz, wenn es sogar nach einem Bad in den Augen brannte und roch wie ein verwesendes Stinktier?

Im Bellen des Nachbarhundes, das durch den Dielenboden drang, hörte er das Echo der Polizeischäferhunde. Einen Augenblick lag Mads einfach da und stellte sich vor, wie er nach unten ging und klingelte, dem Nachbarn eine knallte und sich in der Kehle des Schnauzers verbiss.

Nørrebro, Nick und ganz fucking Kopenhagen waren ein großes Missverständnis gewesen. Wenn er an die guten Zeiten mit Mutter und Vater zu Hause in Landlyst nahe Lille Skensved zurückdachte. Und dann hatte das System seine Mutter getötet.

Ordentliche Frauen wie seine Mutter gab es fast nicht mehr. Die Kindergartenleiterin hingegen … Ordentliche Frauen waren eine aussterbende Rasse, und der Rest einfach nur geil, nicht auf Sex, sondern auf Macht.

Ab und zu setzte Mads sich an H. C. Andersens Grab auf dem Assistens Kirkegård und dachte an seine Mutter. Wenn er dort saß, konnte er immer noch die Worte des Dichters aus ihrem Mund vernehmen. In der Regel tat ihm das gut. Außer wenn er auf »Die Geschichte von einer Mutter« kam, und sich an all das Leid erinnerte, das seine eigene Mutter durchgemacht hatte.

Der Nachbarhund lief nun voll und ganz Amok. Inmitten des Ganzen ertönte auch wieder die Stimme der laut schwatzenden Leiterin der Kinderbastion. Als bekäme er während der Arbeitszeit nicht genug Frauengegacker und Kinderlärm ab. Die Stimmen und der Lärm des Tages umzingelten ihn vollständig im Bett, er kämpfte gegen sie an, so gut er konnte, aber es waren zu viele und sie drangen durch seine Haut. In ihm entstand eine Unruhe, die auf ihn einschlug und in ihm die Lust weckte zurückzuschlagen.

Mads zitterte unter dem Laken vor Wut. Er war in der Tat so wütend, dass er gezwungen war aufzustehen, um nicht ganz durchzudrehen.

Der Zorn köchelte in seinen Adern und schien unaufhaltsam. Bald würde er zu blinder Raserei werden, so gut kannte er sich. Die ganze Scheiße riskierte zu explodieren, wenn er jetzt nicht etwas dagegen tat.

3

Mit langen, zielstrebigen Schritten umkurvte Mads die Ecke an der Jægersborggade und kam so zum Jagtvej. Von dort aus nahm er direkten Kurs auf den Kiosk am Nørrebro Kreisverkehr, wo er sechs Tuborg Gold kaufte, die man ihm in einer Plastiktüte überreichte.

Die Leute gingen dem großen Mann instinktiv aus dem Weg, der auf dem Gehweg vor dem Kiosk ein Bier mit dem Kronkorken eines anderen öffnete und in großen, gierigen Schlucken trank, bevor er wieder dahin zurückging, wo er hergekommen war. Niemand, der ihn sah, zweifelte daran, es mit einem wütenden, jungen Mann zu tun zu haben, der jedes Hindernis aus dem Weg räumen konnte und wollte.

Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Jægersborggade, lag der Jagtvej-Eingang zum Assistens Kirkegård. Dort bog Mads ein und befand sich gleich darauf auf dem Weg, der sich durch den ganzen Friedhof schlängelte – vom Jagtvej am einen bis zum Kapelvej am anderen Ende.

Jægersborggade – Jagtvej – Kapelvej. Mads folgte dem dunklen Pfad, während er die Worte auskostete: Jäger, Jagd, Kapelle, Bumm, das klang fast wie ein Gedicht, dachte er und orientierte sich an den großen, schlanken Pappeln, die den Weg säumten und ihre langen, dunklen Schatten über die Ruhestätten der Toten warfen.

Seine Worte hatten einen sonderbar versöhnlichen Klang, der Mads ein neues Gefühl von Geborgenheit, Konsequenz und Ordnung gab.

Etwa in der Mitte zwischen Jagd und Kapelle, ein Stück abseits des Wegs, setzte Mads sich auf eine Bank, abgeschirmt von einer Ligusterhecke, die immer noch grün war. Eigentlich ist es unglaublich, dachte er, während er sich ein neues Bier aufmachte, was Pflanzen aushalten können. Und manchmal auch Menschen und andere Tiere. »Fast imponierend«, murmelte er und prostete sich selbst zu. Der Hopfen wirkte schon und tat gut in der kalten Dunkelheit.

Eigentlich konnte er doch tun, was er wollte. Niemand zwang ihn, in der Kinderkrippe zu bleiben. Auch nicht bei Nick und all seinen lärmenden, idiotischen Bekannten. Oder in fucking Kopenhagen.

Von nun an würde er von dem Moment, da er zur Arbeit kam, bis er nach Hause ging, überwacht und verdächtigt werden. Mit Ausnahme von morgen früh. So kontrollsüchtig waren trotz allem weder die verklemmten Pädagogen noch die emsigen Helikoptermütter, dass sie eine Stunde früher aufstehen würden, um ihn beim Öffnen der Kinderkrippe zu beaufsichtigen.

Dass jemand sowas überhaupt denken konnte … und noch dazu von ihm, der Kinder und Alte so sehr mochte, dass er alles für sie tun wollte. Pädagogische Hilfskraft, das war auch so ein Frauenquatsch, was hatte er sich dabei gedacht, der Job war ein großer Fehler gewesen, es lief völlig falsch.

Die anderen Männer in der Krippe hatten schon früher aufgehört, jetzt war er dran. Ja, er würde sich aus dem Staub machen, wenn die Weihnachtsferien begannen. Dann konnten alle Pädagogikdamen und Eltern ihren Kindern selbst den Hintern abwischen. Es war so dumm und ungerecht. Am Anfang liebte er seine Arbeit, die Kinder mochten ihn, und er sie.

Jetzt aber musste er hier weg.

Er wollte reisen, war sich aber nicht sicher wohin, nur weg. Vielleicht rüber nach Schweden, zum Alma-Mädchen? »Ein jeder muss auf die Wahrheit hinleben.« So fasste Nick eine von Søren Kierkegaards Ideen zusammen, nach ihm war Nick ganz verrückt, er konnte stundenlang über Kierkegaard reden. Der alte Philosoph lag ebenfalls hier auf Assistens, nicht allzu weit von H. C. Andersen. Auf die Wahrheit hin … Hin und zurück war der Weg gleich lang. Vielleicht sollte er sich zuerst wieder auf dem Land einleben, wo er schlafen und atmen konnte, ohne dass die Augen brannten und alles nach Pfefferspray roch. Ja, an und für sich konnte er damit anfangen, seinem Vater einen Besuch auf dem Hof abzustatten. Tabula rasa machen. Es gab genug zu sagen und zu tun.

Es war nur schade, die Kleinen zu verlassen und sie ihren Eltern und dem restlichen Personal zu überlassen. Am liebsten wollte er alle Kinder mitnehmen, aber das konnte er natürlich nicht. Er musste sich etwas anderes überlegen. Ja. Er würde jeden Jungen und jedes Mädchen lange und fest umarmen, und wenn es auch schwer werden könnte, sie alle ganz loszulassen, würde er ihnen in seinem Inneren Lebewohl sagen und nie mehr wiederkommen.

Ein Schatten näherte sich von der Kapelle. Den Lichtflecken mitten auf dem Weg nach zu urteilen musste es sich um einen Fahrradfahrer handeln. Nun war er so nahe, dass Mads den Umriss eines Mannes erkennen konnte. Und nun bemerkte auch der Mann Mads hinter dem Liguster, tat aber sofort so, als hätte er ihn nicht gesehen. Das Fahrrad fuhr extra schnell. Das »Hej«, das Mads auf der Zunge lag, wurde kalt in seinem Hals, während der Fremde vorbeifuhr und sein Rücken kleiner und kleiner wurde, um letztlich ganz im Dunkeln zu verschwinden.

Es störte Mads nicht mehr so sehr, wenn die Leute vor ihm Angst hatten, er hatte sich daran gewöhnt. Wurde es zwischendurch dennoch zu schlimm, öffnete er sich einfach für die Stimme seiner Mutter, das half normalerweise. »Der Schein trügt«, sagte sie bereits, als er in die Pubertät kam und raketenartig in die Höhe schoss. »Die Menschen glauben sonstwas, dabei bist du in Wirklichkeit ein so gutmütiger Schrank.«

An diesem Abend halfen die Worte seiner Mutter allerdings nicht, im Gegenteil. Diese Stimme war eine Erinnerung an den Tod und damit der vierte Fluch des Tages. Ein Fluch, weit schlimmer als die Kinderkrippe, der arschkalte Gefangenenzug und der Lärm in der Wohnung, denn dieser Fluch währte ewig. Dem Tod seiner Mutter konnte er nichts entgegensetzen. Oder konnte er? War es wirklich unwiderruflich vorbei, oder konnte er irgendetwas tun, was ihren Tod ausglich, jetzt, da die Trauer nicht länger jegliche Handlung lähmte, sondern nur noch in seinem Körper steckte und ihm Übelkeit bereitete?

Mit seinen Gräueltaten hatte das ganze verdammte und wohlhabende Dänemark mit dem »besten Gesundheitssystem der Welt« seiner Mutter das Leben genommen. Sie in ein Bett in einem Vorraum ohne ordentliche Beobachtung gelegt, anstatt auf den Operationstisch, der ihr das Leben hätte retten können, wenn sie nicht aussortiert worden wäre. Weil sie nur die war, die sie war: eine ärmliche, ausgelaugte, in die Jahre gekommene Hausfrau, noch dazu vom Land.

Auf gewisse Weise hatte er seinen Vater im Stich gelassen, als die Mutter starb, indem er selbst kurze Zeit später nach Kopenhagen zog. Sein Vater hatte Mads dennoch unterstützt, es war nur natürlich, dass ein junger Mann von zu Hause weg und sich die Hörner abstoßen musste. Ja, er hatte ihn im Stich gelassen. Er konnte sicher seinem Vater auf dem Hof helfen, bis er sich über einige Dinge mehr im Klaren war. Wenn die täglichen Pflichten auf dem Hof erfüllt waren, konnten sie vielleicht sogar gemeinsam auf die Jagd gehen.

Mit Eiskristallen in seinem kurzen, dunklen Bart biss Mads den Kronkorken von dem letzten wohlverdienten Bier.

Alles war in Auflösung begriffen, jede Ordnung und Rechtschaffenheit verschwunden. Alles und alle betrogen, nichts war so, wie es sich ausgab, Kinderbastion, my ass, warum war man nicht einfach ehrlich und sagte Frauenmacht? Die Kultur war Stück für Stück so weiblich durchsetzt, de facto so feminisiert worden, dass man genauso gut die Konsequenzen daraus ziehen und alle Jungen kastrieren könnte. So wie er und sein Vater, soweit er zurückdenken konnte, zu Hause auf Landlyst jeden Wurf Ferkel kastriert hatten. Zwei Schnitte mit einem Skalpell und weg mit den Testikeln. So kastriert man ein Schwein. Wieviel schwerer konnte es mit einem Jungen sein?

Eine Kastration war nichts Besonderes, jedenfalls wenn man zu zweit war. So verhielt es sich mit den meisten Dingen. Allein verlor man die Freude. Man sollte zu zweit sein, mindestens. Sonst war es vielleicht besser, niemand zu sein.

4

Kopenhagen war in eine massive Decke tiefhängender Wolken gepackt, als die Einwohner der Stadt erwachten und auch all die feinen Gäste und NGOs lebendig wurden.

Was Mads betraf, so war er nicht auf mehr als ein paar Stunden Schlaf gekommen, bevor der Wecker in seinem Mobiltelefon ihn weckte.

Er konnte sich nicht erinnern, wie er ins Bett gekommen war. Er hatte de facto einen Blackout, aber glücklicherweise nur einen leichten Kater. Er zog sich rasch an und rannte aus dem Haus. Frühstücken konnte er in der Kinderkrippe.

Die Fahrt mit dem Fahrrad erfrischte ihn. Und wie immer musste er pinkeln, als er an Christiansborg vorbeifuhr, aber aufgrund all der Touristen und Demonstranten war so viel Polizei vor Ort, dass er es heute nicht auf dem Weg schaffen würde, sondern bloß extra in die Pedale trat.

Die zu der Kommune Kopenhagen gehörende Tagesstätte Kinderbastion lag auf der Amagergade 6, Christianshavn. Die Krippe hatte einen weiteren Eingang über Christianshavns Voldgade, wo man jedoch zuerst einen kleinen Spielplatz überqueren musste, bevor man das Gebäude erreichte.

Obdachlose, Alkoholiker und Drogensüchtige kletterten manch-mal über den Zaun und suchten Zuflucht im Spielhaus der Kinder. Für einige war das kleine Haus zu einer Art Unterschlupf geworden. Besonders nachts konnte das dänische Wetter ein harter Gegner sein.

Mads beschloss, den Weg die Christianshavns Voldgade hinunter zu nehmen, sodass er als Erstes die ungebetenen Gäste vom Spielplatz vertreiben konnte. Sie mussten da weg, das gehörte zum Frühdienst dazu. An diesem frühen Morgen jedoch hatte die Situation etwas Beschämendes. Irgendwo mussten die Obdachlosen sich ja aufhalten. Christiania lag nur wenige hundert Meter den Stadtgraben hinunter, aber die Freistadt war schon lange voll.

Alle Menschen brauchen einen Ort, an den sie gehören, dachte Mads, und gleich darauf: Bin ich dabei, weich in der Birne zu werden? Feuchtigkeit und Nebel krochen unter seine Jacke und hinterließen einen nassen Film auf seiner Haut an diesem immer noch dunklen Morgen.

Vielleicht spielte diese alte Fernsehserie da mit rein, »Oh, diese Mieter«. Seine Mutter hatte sie geliebt und alle Folgen auf Video gehabt. Sie hatten sie oft gemeinsam gesehen. Die Serie spielte genau dort, wo Mads jetzt arbeitete, sodass er an jedem einzelnen Tag an seine Mutter erinnert wurde, und an all das, was sie zusammen erlebt hatten. Aber jetzt musste er erstmal an seinen Vater denken. Sich darauf konzentrieren, ein Mann zu sein. Sich auf die Jagd freuen.

Dieselbe Straße und doch zwei ganz unterschiedliche Welten – damals und heute. Zusammenhalt, Solidarität, Gemeinschaft, daran erinnerte er sich, und nicht nur aus dem Fernsehen. Heute, im Zeitalter von Gier und Egoismus, hieß es alle gegen alle. Oder empfand nur er so? Sollte er wieder anfangen, seine Medikamente zu nehmen? Was, wenn die Ärzte nun doch Recht gehabt hatten und er krank war? Vielleicht nur ein bisschen krank. Leider half die Medizin nicht halb so gut wie Bier, im Gegenteil. Sie lähmte ihn so sehr, dass er es einfach nicht mehr mit sich selbst aushielt, aber schließlich auch nicht einfach ausreißen und ein anderer sein konnte.

Die Dunkelheit löste sich langsam auf, als Mads sich der Kinderkrippe näherte. Hier war ja die Hölle los! Unten am Ende der Straße, ein Stück hinter der Kinderbastion, die städtischen Reinigungsdienste waren offensichtlich schon auf dem Wall zugange. Einige der Langzeitarbeitslosen wurden wohl herausbeordert, was auch immer sie zu dem Zeitpunkt auch machten. Die Festangestellten waren selten so früh zu sehen.

Der ganze Wall befand sich in Verwandlung, dort sollte getrimmt und gefällt und entfernt werden. Die Ortsansässigen hatten protestiert, sie wollten das Tierleben und die üppige Natur erhalten. Den Politikern war das egal, sie hatten beschlossen, die alte Festungsanlage neu aufzubauen. Vielleicht passt es auch ganz gut, dass wir wieder zu einer kriegsführenden Nation geworden sind, dachte Mads, und eine Sekunde später: Vielleicht kann ich Soldat werden und nach Afghanistan gehen!

Er öffnete das Tor und betrat den krippeneigenen Spielplatz. Es war keine Seele zu sehen. Und keine leeren Flaschen oder Spritzen, überhaupt kein Durcheinander, der Sandkasten wirkte fast wie frisch geharkt. Er musste nun wirklich dringend, steckte eilig den Schlüssel ins Schloss. Was zur Hölle, die Tür war unverschlossen und glitt auf. Mads blieb stehen und hielt die Luft an. Im Raum, der trotz des grauenden Morgens immer noch in Dunkelheit gehüllt war, war nichts zu hören oder zu sehen.

Er trat ein und blieb wieder stehen. Er musste den Raum durchqueren, um zum Lichtschalter zu gelangen. Doch die Konturen des wohlbekannten Raums und der Möbel traten nun hervor. Der nächste Kindertisch war mit Fichtenzweigen und einer Art Papierschnipseln übersät, und so niedrig, dass er seinen großen Körper beugen musste, um einen davon aufzuheben. Sein Rücken schmerzte wie nach harter körperlicher Arbeit, als er sich wieder aufrichtete und erkannte, was er in der Hand hielt: Es war ein Heinzelmännchen. Naja, bald war ja Weihnachten. Und, Moment mal: Irgendein Weihnachtsfanatiker unter den Erziehern hatte sich offenbar ebenfalls mit Pappmaché beschäftigt, denn vom Querbalken mitten an der Decke hing noch eine Art Elf, ein ganz schön großer Bursche sogar.

Nun konnte er aber nicht länger warten, er musste sofort aufs Klo. Auf dem Weg dorthin verspürte er plötzlich den Drang, gegen die Pappmachéfiguren zu schlagen; warum hatte er nie daran gedacht, dort einen Punchingball aufzuhängen, damit er und die Jungen sich abwechselnd daran abreagieren konnten?

Auf dem Gang zur Toilette schaltete Mads das Licht an und warf einen inspizierenden Blick zurück in den Raum.

Augenblicklich verkrampfte er sich und spürte, wie sein Haar sich sträubte. Dann floss ihm der warme Urin in die Hose und die Schenkel hinab.

Das Kind hing kopfüber am Querbalken an der Decke. Hände und Füße waren gefesselt; die Hände auf dem Rücken, die Füße in einer Schlinge aus demselben Seil, das rauf zum Balken und wieder hinab führte, wie bei einer Art Flaschenzug. Sein Herz hämmerte und das Blut schoss durch seine Adern, als Mads einen Schritt näher trat. Das Kind hing unter dem Balken, den Kopf in einem Eimer verborgen. Er war gefüllt mit schmutzigem Wischwasser, in dem das Kind ertränkt worden war. Das Wasser war übergeschwappt und über den Fußboden gelaufen. Neben dem Eimer lag eine nasse, hellrote Mütze.

5

Mads ergriff die Knöchel des Kindes. Er wollte es ein wenig hochheben. Der Schmerz stach wie ein Eispickel durch seinen Rücken, doch er ignorierte ihn. Es gelang ihm, das Kind ein wenig anzuheben, sodass das Aufwischwasser von seinem Kopf rann. Jetzt noch ein Stück, dann wurde das Wasser zu einem Rinnsal, das aus den Haaren zurück in den Eimer floss. Mads erschrak so sehr, dass sein Griff nachgab und das Kind ihm entglitt. Es war Klein-Ida. Ihr Gesicht war geschwollen und unheimlich verzerrt. Das Seil zuckte, das Wasser platschte und spritzte über den Fußboden. Sie hing dort. Unverändert.

Mads stürzte zum Ausgang, blieb dort stehen und wandte sich wieder dem Raum zu. Was war geschehen? Was bedeutete das alles? Stell dir nur vor, wenn jemand glaubte, dass er … Stell dir nur vor, dass er … Er musste weg! Aber er konnte sie doch nicht einfach da hängen lassen! Nach einigen Sekunden lähmender Schockstarre wusste Mads, dass er Klein-Ida dort runterholen musste, bevor er sich aus dem Staub machte. Aber er musste gut aufpassen, Fingerabdrücke vermeiden.

Mads fielen seine Schweinslederhandschuhe ein, und er ging rückwärts durch den Raum, hin zur Garderobe. Die Handschuhe lagen dort, wo er sie am Tag zuvor vergessen hatte. Er nahm sie und ging weiter in die Küche. Die Messer blitzten am Wandmag­net. Erst das stumpfe Brotmesser, als letztes in der Reihe das für Gefrorenes. Wieder stach es in seinem Rücken, als er über den Tisch nach dem Gefriermesser griff. FISKARS stainless steel stand auf der Klinge. Die Buchstaben auf der Messerklinge schienen ihn einige Sekunden zu blenden, als er zurück in den Gemeinschaftsraum lief.

Das Seil war dick und stark. Mads bearbeitete es ein Stück oberhalb der Knöchel des Mädchens. Die Klinge des Messers fuhr an den dichtgeknoteten Strängen des Seils vor und zurück, die nur langsam nachgaben. Ich gebe auf und verschwinde von hier, dachte Mads, doch im selben Augenblick riss das Seil, und der Körper des Kindes gab der Schwerkraft nach.

Jemand schnappte geräuschvoll nach Luft. Die Stimme der Stellvertreterin drang von der Tür her zu ihm: »Mads, was ...?« Sie traute ihren Augen nicht: Mads, der mit einem großen Messer herumfuchtelte, vor ihm auf dem Boden lag ein offensichtlich lebloser Kinderkörper, über dessen Kopf ein Eimer gestülpt war. Sie schrie.

Mads fuhr herum: »Nein!«, schrie er, von Tränen erstickt.

Die Stellvertreterin stürzte zur Tür, Mads lief ihr hinterher.

»Du darfst nicht, es ist nicht so …« rief er. »Du darfst nicht!«

Er erwischte ihren Haarschopf, ergriff ihn, eine Sekunde, bevor sie die Tür erreichte, die sie nur zu öffnen brauchte, um aus der Kinderbastion zu rennen. Raus und nichts wie weg von dem lebensgefährlichen Wahnsinnigen, auf den sie gerade gestoßen war, wo sie doch geglaubt hatte, einfach wie jeden Morgen den Duft von frischgebrühtem Kaffee zu riechen und in einen ganz normalen Arbeitstag zu starten. Sie kämpfte sich weiter vor, ergriff die Türklinke. Mads riss mit aller Kraft an ihrem Zopf und schrie wieder laut auf. »Neeein!« Sie stürzte und riss ihn mit zu Boden.

Weit entfernt hörte Mads, wie eine Stimme sagte, dass die Polizei endlich angekommen sei. Danach spürte er, wie jemand ihn leicht an der Schulter rüttelte und ihm vorschlug, sich hinzusetzen.

Über ihm standen zwei Männer, der eine im mittleren Alter mit braunem Haar, ruhigen Augen und einer kleinen Narbe am Kinn, der andere nur ein wenig älter als Mads selbst.

Der Junge reichte Mads eine Hand und half ihm auf. Mit seiner hellen Mähne und den blauen Augen erinnerte er Mads an einen durchtrainierten Typen, mit dem er ab und zu im Fitnessstudio in Nørrebro Gewichte hob.

Der Ältere sagte, er heiße Hugo Møller und sei von der Kopenhagener Polizei, Mordkommission.