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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

Epilog

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 1997

 

Das Ende des Sonnentresors

 

Das Geheimnis der Wlatschiden – es wacht in der Kristallwüste

 

von Arndt Ellmer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

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Nach wie vor halten die Auseinandersetzungen zwischen der Koalition Thoregon sowie ihren Feinden an. Das gilt sowohl für die Milchstraße, in der es zuletzt gelang, die Kosmische Fabrik MATERIA zu vernichten, als auch für die Galaxis Chearth.

Doch während in der Milchstraße mittlerweile eine weitere Kosmische Fabrik auftauchte und der Diener der Materie den ganzen Planeten Terra als Geisel nahm, wissen die Beteiligten in Chearth von diesen Geschehnissen noch gar nichts. Hier steuert alles auf eine Entscheidung zu, von der das Leben zahlloser Intelligenzwesen in dieser Sterneninsel abhängt.

Nach wie vor kontrollieren die Flotten der Algiotischen Wanderer große Teile der Galaxis. Doch mittlerweile sind sie in zwei Fraktionen zerfallen, zwischen denen demnächst große Konflikte ausbrechen dürften.

Die Manipulationen, die von den Tazolen am sogenannten Sonnentresor vorgenommen wurden, führten dazu, dass dieser immer instabiler wird. Es ist damit zu rechnen, dass bald die Sonnenwürmer ausbrechen und die Guan a Var, die ehemaligen »Monster von Louipaz«, über Chearth herfallen werden.

Mit den Halutern und dem Yaronag verfügen die Verbündeten über ein wirkungsvolles Gerät, um die Sonnenwürmer alle töten zu können. Doch Sirku, der Splitter der Superintelligenz Nisaaru, rät davon ab. Nun droht DAS ENDE DES SONNENTRESORS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Vincent Garron – Der ehemalige Todesmutant setzt sich für das Überleben einer Galaxis ein.

Sirku – Der Splitter der Superintelligenz verhält sich mehr als geheimnisvoll.

Veldenhovv – Der Meisterdieb der Vlatschis erkennt das Geheimnis der Kristallwüste.

Vredentaich – Der Kristallhüter von Gunjal spielt Schicksal.

Myles Kantor – Der terranische Wissenschaftler arbeitet auf den Termin für das Gan Grango Ranka hin.

Prolog

 

Die Zeit drängt, meldete sich Sirkus telepathische Stimme bei Vincent Garron. Gan Grango Ranka muss stattfinden. Die Probleme sind jedoch größer, als ich erwarten konnte. Die Naturgesetze im Innern des Sonnentresors besitzen teilweise keine Gültigkeit mehr. Die Störungen in dem Bereich, den ihr UHF-Frequenzband nennt, sind übermächtig. Ich erhalte nur noch zu den Yaronag-Modulschiffen auf dieser Seite des Sonnentresors telepathischen Kontakt.

»Was bedeutet das im einzelnen?«, fragte der Avatara-Androide.

Du bist das einzige Wesen in meiner Reichweite, das dank seinen Fähigkeiten den Kontakt herstellen kann.

»Ich wusste es.« Garron stöhnte auf. »Sei dir aber nicht zu sicher, Sirku. Meine Kräfte sind begrenzt. Länger als ein, zwei Stunden an einem Stück werde ich dir kaum zur Verfügung stehen.«

Der Sprung durch das Große Nichts ist wichtiger als alles andere, lautete die orakelhafte Antwort.

Der Mutant schwieg. Er kannte Sirku inzwischen gut genug. Es war zwecklos, mit dem Splitter Nisaarus zu diskutieren.

1.

 

Die plötzliche Stille im Innern des Gebäudes verhieß nichts Gutes.

Veldenhovv duckte sich unter die Balustrade und spähte zwischen den Säulen der Kranzwinder-Halle hindurch. Die beiden Vlatschi-Wächter am vorderen Eingang bewegten sich unruhig. Ihre Speere kreuzten sich und bildeten ein unüberwindbares Hindernis.

Höchstens ein Tier oder ein Vogel hätte noch durchschlüpfen können. Oder ein trickreicher Dieb wie Veldenhovv.

Die elektrostatische Aufladung der Luft erhöhte sich – ein deutliches Zeichen, dass jemand die Türen zum Innenhof geöffnet hatte. Die hohe Luftfeuchtigkeit des Areals mit seinen dampfenden Wasserbecken filterte schwache Gerüche aus und klärte die Wahrnehmungsfähigkeit eines jeden Vlatschis.

Gleichzeitig bedeutete das Öffnen der Türen eine Richtungsänderung des Luftzugs. Und exakt das hatte Veldenhovv ein paar Sekunden zu spät bemerkt.

Sekunden, die den Bewohnern des Gebäudes seinen Geruch zutrugen und sie buchstäblich mit der Nase darauf stießen, dass sich ein Fremder hereingeschlichen hatte.

Sie stuften den Vorgang als Gefahr ein, was in diesen schwierigen Zeiten kein Wunder war. Flotten der Algioten bedrohten die Planeten, und die Bewohner der noch freien Welten stöhnten unter den Belastungen des Krieges. Mancherlei Gesindel trieb sich herum und machte sich die unübersichtlichen Verhältnisse zunutze.

Selbst die Welt der Väter, wie die Vlatschis die Urheimat aller Wlatschiden-Völker nannten, blieb nicht davon verschont.

Die Wächter tuschelten miteinander. Was sie besprachen, konnte Veldenhovv nicht verstehen. Da der Wind ihren Geruch in die andere Richtung trug, blieb ihm nicht einmal die Chance, es auf Pheromon-Basis zu erahnen.

Der linke der beiden verließ seinen angestammten Platz. Mit nach vorn gestrecktem Speer betrat er die Halle und schlich an den Säulen entlang. Sein scharfer Geruchssinn führte ihn auf direktem Weg ans Ziel. Er gab sich unentschlossen, doch Veldenhovv war sicher, dass er den Standort des Eindringlings längst herausgefunden hatte.

Drei Säulen trennten die beiden Vlatschis noch voneinander. Wenn die Augen des Wächters dieselbe Qualität besaßen wie seine Nase, musste er die Gestalt unter der Balustrade bereits entdeckt haben.

Die Spitze des Speers ruckte ein Stück nach oben. Obwohl es sich um eine reine Schmuckwaffe handelte, war der Speer spitz und tödlich. Der Wächter nahm den Geruch des Eindringlings jetzt in voller Intensität wahr. Mit einem Satz erreichte er die letzte Säule.

Irritiert hielt er an. Sein Blick ging durch Veldenhovv hindurch, als fasziniere ihn das Marmor-Muster der steinernen Wand über alles. Er bewegte den Kopf hin und her, schnupperte intensiv und – ging weiter.

Die Augen des Diebes funkelten zufrieden. Er nahm die Gelegenheit wahr und huschte davon. Den Beutel mit den Wertsachen presste er an den Körper, damit das Geschmeide und die Hightech keine Geräusche verursachten und ihn verrieten.

Der Wächter schlich weiter. Irgendwann hielt er an und kehrte um. Verwirrt stellte er fest, dass die Spur sich verflüchtigte und dafür in Richtung Tür an Deutlichkeit zunahm.

Er rief seinem Kameraden eine Warnung zu. Zu spät.

Veldenhovv erreichte den Artgenossen an der Tür und schlüpfte an ihm vorbei. Der Vlatschi witterte in seine Richtung, sah aber niemanden.

»Wir haben uns getäuscht«, antwortete er in die Halle hinein. »Der Wind hat den Geruch hereingetragen.«

Die anderen begnügten sich mit der Erklärung und beantworteten Zurufe aus den oberen Stockwerken entsprechend.

Wer immer das Kommando über die Wächter innehatte, schien mit der Auskunft nicht zufrieden. Das Trampeln von Stiefeln auf der Treppe und das metallische Klirren von Schusswaffen deuteten an, dass das Versteckspiel noch lange nicht zu Ende war.

Veldenhovv atmete tief durch und drosselte seine Ausdünstung. Für die weitere Fortsetzung war er bestens gerüstet.

 

*

 

In den oberen Stockwerken lagen die Privaträume des Hauseigentümers und Protektors der Kranzwinder-Gilde. Irgendwo dort vermutete der Dieb einen Safe oder eine Geheimkammer mit den eigentlichen Schätzen, derentwegen er in das Haus eingedrungen war.

»Besetzt alle Ausgänge!«, erklang von oben eine dunkle Stimme mit deutlichem Timbre, wie es nur wenige Vlatschis besaßen. Auf Veldenhovv wirkte es fremdartig und daher alarmierend. Ein paar Augenblicke lang lenkte ihn die Stimme von den Gedanken an sein Ziel ab.

»Noch besser wird sein, ihr verschließt alle Türen! Lasst keinen hinaus, egal wie er heißt!«

Wieder lauschte der heimliche Besucher der Stimme hinterher. Der Sprecher hielt sich zwei Stockwerke über ihm auf.

Auf der Treppe erschienen die ersten Bewaffneten. Sie trugen Strahlengewehre und musterten jeden Winkel des Treppenhauses sowie der sich anschließenden Korridore. Ein paar schauten Veldenhovv unmittelbar ins Gesicht. Ihre Blicke wanderten weiter zu den Türöffnungen.

Augenblicke später identifizierten sie den fremden Geruch des Eindringlings. Sie hielten inne und versuchten die Richtung zu bestimmen, aus der er in ihre Nasen drang.

Veldenhovv wechselte seinen Standort und schlüpfte unter der Treppe hindurch auf die andere Seite. Erwartungsgemäß wandten sich die Wächter dorthin, wo er sich bisher aufgehalten hatte.

Mit einem lautlosen Triumphschrei erreichte der Dieb den Fuß der Treppe und huschte die Stufen empor. Ein paar Vlatschis in seiner Nähe spürten den Luftzug, den er dabei verursachte. Sie sahen in seine Richtung, ohne ihn wahrzunehmen.

Zehn Sekunden benötigte er bis ins nächste Stockwerk, acht bis ins übernächste. Inzwischen führte die Geruchsspur seine Wächter zurück zur Treppe, wo sie ratlos stehenblieben.

Die letzten Stufen überwand Veldenhovv mit einem einzigen Satz. Seine Fußsohlen setzten geräuschlos auf. Er verließ den Bereich an der Treppe und wandte sich einem der Korridore zu.

»Das ist aber eine Überraschung«, erklang die Stimme mit dem fremdartigen Timbre.

Aus dem Halbdunkel einer Nische erschien der Lauf eines Kombistrahlers und zielte auf Veldenhovvs Brust.

Die Gestalt hinter der Waffe war klein und hager. Kränkelnde, alte Vlatschis im Endstadium ihres Lebens sahen so aus. Dieser hier wirkte hingegen ausgesprochen gesund und beweglich.

»Gib dir keine Mühe!«, fuhr der Artgenosse hinter der Waffe fort. »Hier ist für dich Endstation.« Er ging direkt auf Veldenhovv zu. Vor seiner Waffe gab es kein Entrinnen.

»Wer – wer bist du?«, stieß der Dieb hervor. »Wieso kannst du mich sehen?«

»Das bleibt ebenso mein Geheimnis, wie du deins für dich behältst«, lautete die Antwort. »Los, umdrehen und hinlegen! Auf das Gesicht! So ist es gut.«

Veldenhovv resignierte. Der andere wusste genau, was sich abspielte. Er kannte den Trick. »Wer bist du?«, wiederholte der Dieb seine Frage.

»Kannst du es dir nicht denken? Ich bin Boningarey, der Protektor der Gilde.«

»Du bist kein Vlatschi.«

Boningarey lachte. »Natürlich nicht. Ich bin ein Wylka. Hast du das nicht gewusst?«

Ein Wylka! Einer der Letzten seines Volkes.

Veldenhovv fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Wylkas waren ein kleines Teilvolk der Wylatschos gewesen und hatten empathische Fähigkeiten besessen. Zu Beginn der Algioten-Invasion hatten die Fremden sie überfallen und die viertausend auf Wylkado lebenden Wylkas getötet. Nur wenige hatten überlebt, weil sie sich nicht auf ihrer Heimatwelt aufhielten. Damals hatte zwar Vil an Desch die Algioten kommandiert. Aber der befehlshabende Scoctore bei diesem Angriff war Dro ga Dremm gewesen.

»Du hast mich hereingelegt«, zischte Veldenhovv.

»Warum sollte ich einen Dieb nicht hereinlegen? Natürlich kann ich dich ebenso wenig sehen wie jeder andere. Aber ich spüre deine Anwesenheit und weiß, wo du dich befindest.«

»Du siehst mich noch immer nicht?«

»Deine Umrisse werden langsam deutlich. Gib dich keinen falschen Hoffnungen hin! Ich werde nicht zulassen, dass du mich erneut ansiehst. Du besitzt die Fähigkeit, nach dem Blinden Fleck auf meiner Netzhaut zu greifen. Hernstal allein mag wissen, wie du es machst.«

»Das werde ich dir selbst unter der Folter nicht erzählen.«

»Mir genügt, dass du dich dadurch verraten hast. Du bist kein gewöhnlicher Dieb. Die verdecken ihren Körpergeruch, um unerkannt stehlen zu können. In deiner Zunft jedoch gilt ein solcher Trick als verpönt.«

Veldenhovv stöhnte. Der Wylka wusste offenbar alles.

»Du bist einer der legendären Meisterdiebe«, hämmerten die Worte Boningareys in sein Bewusstsein. »Es ist mir eine Ehre, dich entlarvt zu haben. Und ich werde dir keine Gelegenheit geben, aus diesem Haus zu entkommen. Noch ehe es draußen dunkel geworden ist, versammelst du dich mit deinen Ahnen.«

Der Wylka rief die Wächter. Sie trampelten hektisch die Treppe herauf und umringten Veldenhovv.

»Er hat dieses Haus entweiht und sich von mir erwischen lassen«, verkündete der Protektor. »Zur Strafe werdet ihr ihn vierteilen und die Überreste auf der Straße verstreuen. Es soll allen Dieben zur Warnung und Mahnung gereichen. Hernstal, gib uns Kraft!«

»Hernstal, gib uns Kraft!«, brummten die Soldaten.

Veldenhovv schloss die Augen und schob langsam die rechte Hand in Richtung Gürtel, wo die Giftkapsel steckte. Wenn er dieses Haus nicht lebend verließ, wollte er Boningarey den eigentlichen Triumph verwehren. Der Wylka würde nie von sich behaupten können, einen Meisterdieb getötet zu haben.

Jemand warf sich auf ihn, riss ihm die Arme auf den Rücken und entfernte die Kapsel aus dem Gürtel.

»Du unterschätzt die Fähigkeiten eines Wylka-Empathen«, zischte die Stimme dicht neben seinem Ohr. Der heiße Atem streifte seinen Nacken und ließ ihn frösteln.

Veldenhovv ergab sich scheinbar in sein Schicksal. Während die Soldaten ihn aufhoben und davontrugen, musterte er unauffällig die Umgebung.

Nur seine antrainierte Fähigkeit, sich gewissermaßen unsichtbar zu machen, konnte ihn jetzt noch retten. Er lauerte auf eine Gelegenheit, bei der alle im Raum anwesenden Vlatschis ihn ansahen.

Aber die Soldaten machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie stülpten ihm einen Sack über den Kopf und banden ihn am Hals zu.

Das, so erkannte der Meisterdieb in endgültiger Konsequenz, war das Ende seiner viel zu kurzen Karriere.

 

*

 

In das Klirren metallener Gestänge mischte sich das Gemurmel der Zuschauer. Die Vlatschis verströmten Gerüche und Düfte zwischen purer Neugier und Mordlust.

Die Fesseln, mit denen sie seine Handgelenke auf den Rücken gebunden hatten, schnitten ins Fleisch. Die Finger der linken Hand fühlten sich bereits taub an.

Den Geräuschen nach zu urteilen, errichteten die Vlatschis den Vierteiler am hinteren Ende des Innenhofes zwischen den Springbrunnen. Veldenhovv hatte in der Schule der Meisterdiebe selbst ein solches Museumsstück zusammengebaut und kannte jeden Handgriff. Der Vierteiler gehörte zu den Relikten aus der Vergangenheit, um die jemand wie er am besten einen großen Bogen machte.

Das Gedränge der Schaulustigen nahm zu. Spöttische Rufe erklangen und reizten den Meisterdieb zur Weißglut. Jemand versetzte ihm von hinten einen Stoß, der ihn taumeln ließ. Er fiel auf die Knie.

Veldenhovv grub in seinem Gedächtnis. Es war die erste Vierteilung in der Heiligen Stadt seit annähernd hundert Jahren. Damals hatten die Wächter an Hernstals Tor einen Meisterdieb erwischt, der in die Kristallwüste eindringen wollte. Die Kristalle behinderten seine Fähigkeit, deshalb hatten sie ihn entdeckt.

Veldenhovv wusste den Namen des Bedauernswerten nicht mehr. Es spielte jetzt auch keine Rolle. Er konzentrierte sich auf sich selbst. Die Fähigkeit der Autosuggestion gehörte zu den sekundären Tugenden der Ausbildung, aber jeder Meisterdieb beherrschte sie ebenso perfekt wie die der Unsichtbarkeit.

Die Geräusche um ihn herum wurden leiser. Sie hörten sich an wie das Murmeln eines fernen Baches. Gleichzeitig schärften sich seine Sinne um das Drei- bis Vierfache. Seinen Spitzohren entging kein Laut und kein Atemzug im Innenhof. Das plötzliche Verstummen aller metallischen Geräusche kündete vom Ende der Aufbauarbeiten.

Vor seinem geistigen Auge sah er den Vierteiler emporragen. Viermal so hoch wie ein Vlatschi war das stählerne Monstrum. Das Gestell besaß vier senkrechte Führungsschienen, in denen der gekreuzte Messerbalken nach unten raste. Nirgendwo in der fortschrittlichen Galaxis Chearth gab es heutzutage ein einsatzbereites Gerät dieser Art außer in der Heiligen Stadt auf Gunjar. In diesem Areal schien die Zeit stehengeblieben, seit das Hauptvolk der Wlatschiden den Planeten aufgegeben hatte.

Der Gedanke an die Zeitlosigkeit des Vorgangs hob sein Gespür für die Umgebung auf. Und er half ihm, den eigenen Körper zu vergessen. Das Bewusstsein des eigenen Gewichts ging ebenso verloren wie der Bezug zu unten und oben. Als kräftige Arme ihn packten und emporrissen, war er sich über die Bewegungsrichtung nicht im Klaren.

»Ein solches Ende hast du nicht erwartet, oder?«, höhnte eine Stimme. »Wir werden dich auf den Schlitten legen und ein wenig zappeln lassen. Wenn du es zischen hörst, ist es soweit. Der Messerbalken stanzt deinen Körper in vier Teile, verschont aber deinen Kopf.«

Veldenhovv ahnte nur, was der Soldat sagte. Die Worte selbst gingen im Gemurmel des fernen Baches unter.

Sie zerrten ihn davon und legten ihn mit dem Rücken auf das blanke und kalte Metall der Apparatur. Inzwischen hatte der Meisterdieb sich vollständig unter Kontrolle. Seine Ohren nahmen das Gemurmel der Menge und das Klirren des Metalls nicht mehr wahr. Vielleicht war Hernstal gnädig und gab ihm die Kraft, diesen Zustand bis zum Eintritt des Todes beizubehalten.

Der Schlitten begann zu beben. Jeden Augenblick musste es geschehen. Der gewaltige Aufschlag des Messerbalkens auf seinen Körper ...

Der Schlitten bebte stärker. Etwas wie ein fernes Grollen drang in sein Bewusstsein.

Veldenhovv fröstelte übergangslos am ganzen Körper. Den Zuschauern schien es ebenso zu ergehen. Das Klappern von Zähnen holte den Meisterdieb teilweise aus seiner Selbsthypnose. Erste Rufe des Schreckens erfüllten den Innenhof. Das aufgeregte Raunen der Soldaten ging reihum und ermöglichte es dem Meisterdieb, ihre Anzahl und ihren Standort zu bestimmen.

Der Wind trieb einen Geruch herbei, der Veldenhovv alle Pelzhaare zu Berge stehen ließ. Er gehörte zu einem Vlatschi, trug aber gleichzeitig eine erschreckende Fremdartigkeit in sich.

»Die Hinrichtung wird verschoben.«

Das war zweifellos die Stimme Boningareys. Aber sie klang anders, als der Meisterdieb sie in Erinnerung hatte. Etwas wie Selbstzweifel ließ sich darin erkennen, gepaart mit höchster Wachsamkeit.

Und dann entrang sich der Kehle des Wylkas übergangslos ein schriller Schrei.

»Was ...«, keuchte er. »Was willst du von mir?«

»Nichts!« Tief und grollend drang die Antwort durch den Innenhof. »Ich komme weder zu dir noch zu einem deiner Leute.«

Veldenhovv hob ruckartig den Kopf. Diese Stimme ... Im Unterschied zu der des Wylkas klang sie, als käme sie aus einer anderen Welt. Eine solche Stimme hatte er in seinem ganzen Leben nicht gehört.

»Ich will zu ihm

»Er ist dem Tod geweiht. So will es das Gesetz der Heiligen Stadt.«

»Ich stehe über dem Gesetz«, lautete die Antwort. »Dieser Mann darf nicht sterben.«

»Er ist ein Meisterdieb!«

Das Rütteln des Bodens verstärkte sich. Schreie erklangen, als sich von einer der Fassaden Mörtel löste und herabstürzte.

»Was immer er ist oder war, es hat keinerlei Bedeutung. Bringt ihn zu mir!«

Die Soldaten zögerten. Erst beim zweiten Mal befolgten sie die Anweisung des Ankömmlings. Sie schnallten Veldenhovv los, stellten ihn auf die Beine und nahmen ihm die Armfesseln ab.

»Versprich mir, dass du nicht fliehen wirst!«, forderte der Unbekannte in seine Richtung.