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Catherine Hunter

Tod um Mitternacht


Thriller


Ins Deutsche übertragen von Henriette Zeltner

Edel eBooks

»Besser, sich hinzuknien auf seine Stubben
Und einen Küchenestrich sauber schrubben
Oder auch Steine klopfen auf den Straßen.«

                               W. B. Yeats, Adams Fluch

1

Vielleicht lag es nur an dem Buch, das sie gerade las, aber Sarah Petursson fühlte sich unwohl. Sie blätterte eine Seite um und versuchte das Gefühl zu ignorieren, dass sie beobachtet wurde. Normalerweise ließ sie sich von ihrer Fantasie nicht so mitreißen, aber manchmal waren die knarrenden Dielenbretter und die klappernden Fensterläden dieses hundertjährigen Hauses einfach zu viel für ihre Nerven, besonders wenn sie wie gerade jetzt in einen guten Thriller vertieft war. Heute Abend schien jedes irritierende Knacken und Knarzen irgendwie verstärkt. Und da war ein seltsames leises Kratzen von oben zu hören. Oder kam es von draußen? Was war das? Sarah seufzte. Zum ungefähr zehnten Mal erhob sie sich aus ihrem gemütlichen Sessel und spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit des Gartens hinter dem Haus. Was waren das für Geräusche?

Da draußen war nichts Ungewöhnliches. Nur eine kühle Mainacht mit leichtem Südwind. Die weißen Blüten des Holzapfelbaums bewegten sich in der Brise, und die Bettlaken auf der Wäscheleine schwangen vor und zurück. Ansonsten war alles ruhig. Die Bettlaken erinnerten Sarah an die Unmengen schmutziger Wäsche, die noch im Keller auf sie warteten, aber sie war definitiv nicht in der Stimmung, sie heute Abend noch in Angriff zu nehmen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine huschende Bewegung auf der schmalen Straße wahr und drehte schnell den Kopf, um zu sehen, was es war. Eine Katze. Es war nur eine Katze, die auf die Mülltonnen sprang, auf der Suche nach einem Mitternachtsimbiss. Sarah lächelte und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Die Anwesenheit der Katze beruhigte sie. Es war natürlich die Katze gewesen, die jene beunruhigenden scharrenden, kratzenden Geräusche da draußen gemacht hatte. Vielleicht auch mehrere. Sie dachte kurz und voller Bedauern an ihren eigenen Kater Max, der in diesem Winter gestorben war. Max, der sie getröstet hatte, nachdem ihre Ehe im letzten Sommer in die Brüche gegangen war. Max, der das einzige weitere Lebewesen in diesem großen alten Haus gewesen war. Jetzt wanderte sie ganz allein darin herum, und jedes Geräusch machte sie nervös.

Sie kuschelte sich in den Sessel und suchte nach einer bequemen Sitzposition. Der eigentliche Sinn eines Urlaubs, ermahnte sie sich selbst, besteht darin zu entspannen. Sie schlug das Buch erneut auf. Wo war sie stehen geblieben? Ach ja. Der Held verfolgte seinen Verdächtigen durch einen verwaisten Vergnügungspark. Aber Sarah wusste bereits, dass es der falsche Mann war. Der Vergnügungspark musste eine Sackgasse sein. Konnte gar nicht anders sein. Der Roman ging noch hundert Seiten weiter, da durfte der Held das Rätsel ja unmöglich schon lösen.

Es war eine gruselige Geschichte über einen Serienmörder, der seinen weiblichen Opfern wochenlang nachstellte, ihnen per Post teure Geschenke schickte – Halsketten mit Smaragden, juwelenbesetzte Haarspangen und schließlich einen Diamantring. Der Ring war der letzte Hinweis auf ihr Todesurteil. Danach schlich er sich in ihre Häuser, wenn sie allein waren, schnitt mit einer Zickzackschere die Telefonleitung durch und schaltete die Sicherungen ab. Das versetzte die unglücklichen Frauen in höchste Panik. Dann spielte er mit ihnen im dunklen Haus Katz und Maus – bevor er sie brutal ermordete. Schlag Mitternacht. Noch dazu mit einem silbernen Brieföffner.

Sarah wusste, dass es eine psychologische Erklärung für all diese eigenartigen Details geben würde. Sie konnte es kaum erwarten, die Motive des Täters morgen Abend mit ihrer Cousine Morgan und den anderen Mitgliedern des Buchclubs zu analysieren. Aber bis jetzt hatte sie noch nicht herausbekommen, wer der Täter sein könnte. Sie wusste nur, dass es jemand Reiches sein musste; schließlich hatte er seinen Opfern Schmuck im Wert tausender Dollar geschickt. Aber in dem Roman gab es eine ganze Reihe wohlhabender Charaktere. Es konnte jeder von ihnen sein.

Sie begann ein neues Kapitel: Der Vollmond ging über dem verlassenen Park auf und beschien die Silhouette der Achterbahn, die wie das skelettierte Rückgrat irgendeines Monströsen leuchtete

Plötzlich wurde es dunkel im Raum. Sarah erstarrte in ihrem Sessel und umklammerte das Buch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Ihr Mund stand zwar offen, aber sie war zu überrascht, um zu schreien.

Der neue Polizeichef von Winnipeg hatte einige Neuerungen in der Stadt eingeführt. Eine der beliebtesten war, dass in jedem Stadtviertel wieder regelmäßig ein Polizist die Runde machte.

Morgan Wakeford hielt das für eine ausgezeichnete Idee, und ihre Bewunderung für die Initiative des neuen Chefs wuchs jedes Mal, wenn sie den gut aussehenden blonden Officer sah, der für ihr eigenes Viertel, Wolseley, zuständig war. Er ging gerade an ihr vorbei, während sie am Fenster von Zinas Mystery Au Lait Café saß. Morgan prüfte ihr Spiegelbild im getönten Glas. Sie zupfte am gestickten Ausschnitt ihrer Bauernbluse und schüttelte das dichte, kastanienbraune Haar von ihren nackten Schultern. Dann hob sie die Hand und pochte zart an die Scheibe.

Der Polizist wandte sich in ihre Richtung. Morgan winkte ihm zu, und seine ernste Miene hellte sich auf, als er sie entdeckte. Er winkte zurück und tippte an seine Mütze. Seine dunkelblauen Augen strahlten geradezu. Morgan lächelte herzlich und wandte sich dann wieder dem Buch zu, in dem sie gerade las. Es würde nichts bringen, ihm zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Hinter den Buchdeckeln grinste sie in sich hinein.

»Wem winkst du da?«, fragte Zina. Sie stand mit einem Handfeger in der einen und einer Kehrschaufel in der anderen Hand hinter Morgans Stuhl. In ihrem »Mystery Au Lait Café«, einer Mischung aus Buchhandlung und Restaurant, war es heute Abend ganz schön zugegangen, aber jetzt, um Viertel nach elf, waren die meisten Gäste längst gegangen. Bis auf ihre Freundin Morgan und natürlich den allgegenwärtigen Byron Hunt, der sein Notizbuch und Unmengen von Papieren auf dem Tisch hatte liegen lassen, um telefonieren zu gehen.

»Dem neuen Cop«, sagte Morgan.

»Wem?«

»Ach, wart einfach ab, bis du ihn siehst«, sagte Morgan. »Mein Freund und Helfer.«

Zina lachte. »Du bist einfach unverbesserlich.« Sie schüttelte den Kopf und warf ihre von silbernen Strähnen durchzogenen Zöpfe nach hinten, dass ihre langen Ohrringe klingelten. »Fast dreißig, aber in Herzensangelegenheiten immer noch ein Teenager.«

»Tja, wenigstens lebe ich noch. Schau dich an – zweiundvierzig und tut so, als sei schon alles vorbei.«

»Hey«, sagte Zina. »Was vorbei ist, ist vorbei.«

»Du solltest hin und wieder in den Spiegel schauen«, erwiderte Morgan. »Es ist noch längst nicht vorbei, meine Liebe.«

Trotz des hektischen Abends sah Zina toll aus, dachte Morgan. Sie schrieb das vor allem sich selbst zu. Zina trug ausgesuchte Schätze aus Morgans exklusivem Secondhandladen. Ein hochsommerliches mintgrünes Kleid mit Blumenmuster von etwa 1967 und einen roten Zigeunerschal mit Fransen aus der gleichen Epoche – dem Summer of Love. Morgan hatte die Sachen ausgesucht, denn sie wusste, sie würden perfekt zu Zinas Rolle als Gastgeberin für die Hippies der zweiten Generation aus Wolseley, dem »Müsli-Viertel« von Winnipeg, passen.

Zina rollte mit den Augen und wendete sich wieder dem Fegen zu. Vor langer Zeit hatte sie den Dielenboden mitternachtsblau gestrichen und mit weißen und gelben Sternen verziert. Das Motiv wiederholte sich in den Vorhängen an den hohen Fenstern, in den tiefen Nischen der roten Ziegelwände sowie in den Tischdecken auf zwölf kleinen Tischen im vorderen Teil des Cafés, nahe am Fenster, wo Morgan saß. Bücherregale aus Kiefernholz, voll gesteckt mit minderten von Kriminalromanen, füllten den hinteren Teil des Cafés, wo es auch ein paar gemütliche Sessel zum Lesen und eine alte Telefonkabine aus Holz gab, aus der jetzt gerade Byron Hunt heraustrat. Er kehrte an seinen Tisch zurück und musterte seine Papiere mit ernster Miene. Unter seinem Lockenschopf glühte sein rundes, sommersprossiges Gesicht vor Anstrengung, und das, obwohl er den ganzen Tag nichts geleistet hatte, außer Kritzeln und Seufzen, dachte Morgan.

»Sperrstunde«, sagte Zina zu ihm.

»Ich weiß.« Byron notierte etwas mit Bleistift, runzelte dann die Stirn und strich es wieder durch.

Zina wandte ihre Aufmerksamkeit dem großen Regal an der vorderen Theke zu. Jeden Samstagabend erneuerte sie die Auslage und präsentierte einen neuen Thriller für das Treffen des Mystery Book Club am Sonntagabend. Sie nahm einen Filzstift zur Hand und schrieb in Druckschrift »INTERESSENTEN IMMER WILLKOMMEN« oben auf ein Schild, das für den Club warb. Der Sommer war die Jahreszeit schlechthin, um Krimis zu verkaufen, und Zina wollte vermeiden, dass irgendein neuer Kunde den Club für einen exklusiven Zirkel hielt. Er war von ihr als informelles Treffen gedacht, bei dem man keine Unterschiede zwischen gelegentlich vorbeischauenden Mitgliedern und eingefleischten Fans machte.

Morgan zählte wie ihre Cousine Sarah zu den echten Fans und wartete jeden Samstagabend schon begierig auf das neue Buch.

»Wo ist das neue Buch der Woche?«, fragte Morgan. »Stellst du es noch nicht aus?«

»Doch, aber ich habe es noch nicht«, sagte Zina. »Alfred sollte es heute Abend vorbeibringen.« Sie hielt die beiden letzten Exemplare von Bloody Midnight hoch, dem Buch, das morgen Gesprächsthema sein würde. »Das hier war unheimlich gefragt«, sagte sie.

»O ja.« Morgan hielt ihr eigenes Exemplar hoch. »Man kann es wirklich kaum aus der Hand legen. Ich lese es heute Abend noch aus.«

»Ich bin irgendwie nicht richtig reingekommen«, gab Zina zu. »Diese Woche hatte ich so viel zu tun, und das Buch war mir ein bisschen zu –«

»Zu blöd«, warf Byron ein, während er seinen leeren Kaffeebecher auf die Theke knallte. »Ich verstehe nicht, wie ihr solchen Mist lesen könnt.«

»Das ist ein guter Krimi«, erwiderte Morgan. »Er ist eher – ich weiß nicht, wie ich sagen soll –, er ist besser als die üblichen. Geht mehr ins Detail. Und er ist kanadisch. Die Geschichte spielt hier in Manitoba. Im Whiteshell Park.«

»Das ist kanadisch?« Byron nahm das Buch zur Hand und betrachtete es prüfend. »Walter White? Nie von ihm gehört.«

»Wenn dir das Buch gefällt, wirst du auch das nächste mögen«, meinte Zina zu Morgan. »Es ist von demselben Typ. Alfred hat mich überredet, die ganze Reihe zu nehmen.«

Die Reihe bestand aus fünf Titeln. Fünf Wochen mit Walter White. Zina wusste, dass sie damit ein Risiko einging, aber Alfred hatte ihr einen so immensen Rabatt angeboten, dass sie nicht hatte widerstehen können.

»Kanadisch, was?«, murmelte Byron, schlug das Buch auf und begann zu lesen.

Die plötzliche Dunkelheit in Sarahs Haus war nicht total, sondern nur partiell. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie, dass sie den Schein der Deckenlampe in ihrem Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flurs noch sehen konnte. Also war es kein Stromausfall. Für einen Moment sackte sie in ihrem Sessel vor Erleichterung zusammen. Dann drückte sie den Schalter der Lampe neben dem Sessel. Einmal. Zweimal. Dreimal. Kein Licht. Es musste schlicht die Glühbirne durchgebrannt sein.

Sie stand auf und schraubte sie heraus. In ihrem Schreibtisch hatte sie neue Birnen, also machte sie sich auf den Weg, eine zu holen. »Was für eine Idiotin du doch bist«, sagte sie zu sich selbst und lachte laut. Aber der Versuch war schwach und klang hohl.

Warum um alles in der Welt vertiefte sich eine intelligente Frau wie Sarah bis an den Rand der Hysterie in Kriminalromane?, pflegte ihr Ehemann Peter zu fragen. Als er und Sarah sich auf dem College kennen gelernt hatten, hatte Peter sie für eine hochgeistige Person mit künstlerischen Neigungen gehalten. Schließlich war Sarahs Großvater ein bekannter Bildhauer und ihre Mutter eine Dichterin mit einer kleinen, aber treuen Leserschaft gewesen. Das machte Sarah in Peters Augen schon zu einer kleinen Berühmtheit. Er stellte sie seinen Freunden immer als die Tochter von Carolyn Yeats vor. Sarah war überrascht, dass diese Tatsache so viele von ihnen beeindruckte, insbesondere Peters besten Freund Byron Hunt, der selbst ein aufstrebender Poet war. Für Kunst oder Lyrik interessierte sich Sarah jedoch nicht. Aus ihrer Sicht hatte die Lyrik das Leben ihrer Mutter zerstört. Peter und Byron dachten, Carolyns Dasein müsse schrecklich romantisch gewesen sein. Sarah sah das anders. Carolyn hatte nie geheiratet. Sie hatte allein mit Sarah draußen auf Persephone Island gelebt und versucht, mit den kargen Einnahmen aus ihrer Lyrik über die Runden zu kommen. Als Sarah noch ein kleines Mädchen war, starb Carolyn sozusagen aus Unachtsamkeit, was Sarah ihr nie verzieh. Nein, an Carolyns Leben war gar nichts romantisch gewesen. Es war ein leichtsinniges, tollkühnes Leben gewesen, und als Sarah aufs College kam, war es ihr bereits gelungen, einen Großteil davon zu vergessen. Sie studierte Rechnungswesen und wurde Mitglied im Laufteam, um sich in Form zu halten. Nach dem College machte sie eine eigene Steuerberaterkanzlei auf und vergrub sich in ihre Arbeit. Sie hielt ihre Fantasie streng im Zaum und war stolz auf ihre praktischen Talente. Ihre einzige Ablenkung vom Alltag war die Krimilektüre, ein Hobby, das sie sich von Morgan abgeschaut hatte und das sie bis zu ihrer Hochzeit irgendwie vor Peter geheim halten konnte.

Zunächst hatte Peter Sarahs Liebe zu Krimis als liebenswerte Eigenart toleriert. Wenn seine ansonsten so ruhige junge Frau sich von einem spannenden Thriller aus der Fassung bringen ließ, pflegte er nur in liebevollem Staunen den Kopf zu schütteln. Aber gegen Ende ihrer Ehe, als es mit seiner Musikkarriere bergab ging, kam seine niederträchtige Seite allmählich zum Vorschein. Er begann sie zu quälen, wann immer sie einen unheimlichen Roman las. Er nutzte die Gegebenheiten des riesigen Hauses und die Tatsache, dass sie nicht immer ahnen konnte, wo genau er sich versteckte. Manchmal lauerte er gleich um die Ecke, am liebsten in der Küche, und wartete, bis sie ganz in ihre Lektüre vertieft war. Dann sprang er auf sie zu und schrie »Huu-aah!«, einfach nur, um sie loskreischen zu hören.

Aber es war seine erfundene Geistergeschichte, die bei Sarah das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Eines Tages, als sie gerade in einen Roman über ein Geisterhaus vertieft war, hatte sie Peter stocksteif im Flur des zweiten Stocks vorgefunden, mit kalkweißem Gesicht. Er sagte ihr, er habe eine Frau gesehen, die die Treppe zum Dachboden hinaufgeschwebt sei, eine Frau in einem weißen, altmodischen Kleid mit einem großen Buch unterm Arm. Sie sei schnurstracks durch die geschlossene Dachbodentür geschwebt. Sarah wusste, dass Peter sich über sie lustig machte. Sie an der Nase herumführte. Sich kindisch über ihre Furcht freute. Er war ein Tyrann, wie sie inzwischen wusste, einer mit einem Hang zum Sadismus.

Doch sein Gesicht war überzeugend weiß gewesen und als sie seinen Arm berührte, hatte der sich eiskalt angefühlt. Sarah schauderte noch immer bei dem Gedanken daran. Lass dich von ihm nicht drankriegen, ermahnte sie sich. Er ist inzwischen aus deinem Leben verschwunden, und das ist auch gut so.

Sie betrat ihr Büro und fand die Glühbirnen sofort. Das Zimmer war im Moment extrem ordentlich. Sarah hatte nämlich die Steuerberaterkanzlei, die sie von zu Hause aus führte, den Sommer über geschlossen und sich den ersten Urlaub seit drei Jahren gegönnt. Die Steuersaison war auch in diesem April nicht hektischer gewesen als in anderen Jahren, aber sie hatte sich danach ausgelaugt und erschöpft gefühlt. Deshalb hatte sie beschlossen, keine neuen Aufträge mehr anzunehmen, bis es ihr besser ginge. Sie hatte sich vorgenommen zu lesen, zu entspannen und vor allem zu laufen. Bis zum Manitoba-Marathon dauerte es nur noch einen Monat, und Sarah trainierte ernsthaft: Sie lief zehn Meilen täglich und hatte sich zum Ziel gesetzt, dieses Jahr ihren persönlichen Rekord zu brechen.

Sie warf die ausgebrannte Glühbirne in den Papierkorb und nahm die neue mit. Im Flur blieb sie am Fuß der Treppe stehen und lauschte. Was war das für ein kratzendes Geräusch? Es klang, als sei dort oben jemand. Ganz oben. Wahrscheinlich war es Wasser in den rostigen Leitungen. Oder der Wind, der an den lockeren Dachschindeln rüttelte. Oder eines von hundert anderen Problemen. Die Farbe, die von den Wänden blätterte, vielleicht.

Manchmal hasste Sarah dieses alte Haus. Nicht dass sie an Peters Geistergeschichte glaubte. Der Kasten war nur einfach zu groß. Wozu brauchte sie drei Stockwerke, sechs Schlafzimmer, drei Bäder sowie ein vorderes und ein hinteres Treppenhaus? Sie hatte das Haus schon verkaufen wollen, seit sie im Alter von achtzehn Jahren erfahren hatte, dass ihr Großvater es ihr vererbt hatte. Doch ihre Cousine Morgan und ihr Cousin Sam hatten ihr das Versprechen abgenommen, es im Familienbesitz zu behalten. Obwohl sie drei Enkelkinder gewesen waren, hatte Sarah alles geerbt. Keine erheblichen Geldbeträge, aber eine Menge Grundbesitz: dieses Haus und die Insel im Lake of the Woods, wo sie aufgewachsen war. Ihr gehörte jetzt ganz Persephone Island und alles, was sich darauf befand – oder besser: was davon noch übrig war. Und das, obwohl sie nie wieder dahin zurückkehren würde.

Es war Peter gewesen, der sie überredet hatte, in diesem Haus zu wohnen. Manchmal fragte Sarah sich, ob er ihr nicht vor allem wegen des Hauses einen Heiratsantrag gemacht hatte. Nachdem sie es geerbt hatte, hatte sie es Peter und Byron gezeigt, die überwältigt gewesen waren. Byron war ehrfürchtig durch die Zimmer gewandert und hatte die Skulpturen ihres Großvaters und die Bücher ihrer Mutter mit einer Ehrerbietung berührt, die ihr lächerlich erschienen war. Peter hatte von der Architektur geschwärmt, den Giebeln und den kuriosen Fenstern mit ihren Läden, den geräumigen Zimmern voller Familienerbstücke. Sarah hatte argumentiert, es sei zu groß, zu zugig und zu reparaturbedürftig. Doch Peter hatte sie beiseite genommen und ihr ins Ohr geflüstert, wenn sie ihn nur heiratete, würde er sich um die Reparaturen kümmern. Das Haus wäre auch nicht zu groß. Eines Tages würden sie es mit Kindern füllen, und abgesehen davon brauchte er ohnehin viel Platz für sich, wenn er komponiere. Er war ein hoffnungsloser Träumer, wie Sarah aus heutiger Sicht erkannte. Sie hätte es besser wissen müssen und keinen Musiker heiraten dürfen. Aber Peter hatte sie überredet. Sie hatte ihn glücklich machen wollen.

Jetzt wollte Peter natürlich, dass sie das Haus verkaufte. Jetzt, wo es um eine Scheidungsvereinbarung ging, die ihren Besitz gerecht aufteilte, hatte er plötzlich die Tonart geändert und riet ihr zum Verkauf. Er zitierte all ihre Klagen über die Instandhaltungskosten und verwendete ihre früheren Argumente gegen sie.

Sarah schraubte die neue Glühbirne ein, knipste die Lampe an und ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder, wobei sie sich die Kissen so bequem wie möglich zurechtrückte. Es gab keinen Grund, sich heute Abend mit ihren Sorgen als Immobilienbesitzerin herumzuschlagen – nicht, wenn sie einen guten Krimi hatte, in den sie sich vertiefen konnte. Sie fand die Stelle, an der sie die Lektüre unterbrochen hatte, und begann weiterzulesen.

Im Garten hinter dem Haus klopften und kratzten die obersten Zweige des Holzapfelbaums an der Scheibe des Badezimmers im ersten Stock. Sarah ignorierte das Geräusch bewusst. Sie war entschlossen, sich erneut in ihrer Geschichte zu verlieren.

Was würde als Nächstes passieren? Der Held folgte dem Verdächtigen in den dunklen Tunnel eines Kuriositätenkabinetts. Sarah kuschelte sich ein und war bereit, all die Schrecken zu genießen, die dort auf ihn lauern mochten.

2

»Wo ist Alfred überhaupt?«, fragte Morgan.

Zina blickte zur Uhr. »Er hat schon zwei Stunden Verspätung. Eigentlich sollte er vor zehn Uhr hier sein. Viel länger kann ich jetzt auch nicht mehr warten.«

Byron war am Tresen stehen geblieben und blätterte in Bloody Midnight.

»Willst du’s kaufen?«, fragte Zina.

»Was? Oh nein. Ich lese solches Zeug nicht.« Er blätterte eine weitere Seite um.

»Na gut, dann stellst du es jetzt besser wieder zurück«, sagte Zina. »Und zahl mal deine Rechnung, weil ich in einer Minute die Abrechnung mache.«

»Okay, okay. Kannst du mir einen Vierteldollar rausgeben? Ich muss noch einen Anruf erledigen.«

»Mach’s kurz«, sagte Zina. »Ich schließe gleich.«

»Fünf Minuten«, versprach er und sprang noch mal in die Telefonkabine.

»Ich räume meine Sachen selber weg«, bot Morgan an. Sie drückte die Schwingtür zur Küche auf und steuerte auf eine der blinkenden Doppelspülen zu, um ihren Becher und ihren Löffel abzuwaschen. Die Küche war pieksauber, und zwar dank Javier, Zinas neuem Tellerwäscher, einem Musiker aus Guatemala. Er redete zwar nur wenig, sang aber den ganzen Tag lang spanische Lieder in der Küche. Sie hatte sich schon früher am Abend über seinen Gesang gefreut, als er die Stühle im Patio gestapelt und für die Nacht hereingetragen hatte. Bevor er nach Hause gegangen war, hatte er jeden einzelnen sorgfältig abgewischt. Morgan zögerte auf dem Weg nach draußen kurz und legte die Hand auf das Telefon, das an der Wand hing. Sollte sie? Es wurde langsam spät. Sie hatte für heute Abend eine vage Verabredung und wollte wissen, ob die noch galt. Sie hob den Hörer ab. Niemand beobachtete sie, und das Geräusch der Rechenmaschine beim Addieren der Tageseinnahmen würde ihre Stimme bestimmt übertönen.

Als das Telefon in der Küche klingelte, sprang Sarah aus dem Sessel, und ihr Buch fiel zu Boden. Sie hob es auf und strich die umgeknickten Seiten glatt. Nur ein Mensch konnte um diese Zeit anrufen. Peter. Betrunken und reumütig und mit lauter Versprechen, sich zu ändern. Aber sie würde sich von ihm nie wieder einwickeln lassen. Sie hatte ihn diesen Winter noch zweimal in ihr Bett gelassen, als er mitten in der Nacht vor ihrer Tür gestanden hatte, und beide Male hatte sie es hinterher bereut.

»Hallo?«

Niemand antwortete.

»Peter, lass das. Spiel keine Spielchen mit mir.«

Aber die Leitung blieb seltsam stumm, kein Atmen, kein Knacken. Sarah drückte auf die Gabel, um die Verbindung zu trennen, und lauschte wieder. Kein Freizeichen. Nichts. Die Leitung war tot.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Jemand hatte die Leitung gekappt! Draußen – mit einer Zickzackschere, genau wie in dem Buch!

Sie keuchte und fuhr herum, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Raum wahrnahm. Ihr Herz machte einen Satz, aber es war nur ihr eigenes Spiegelbild gewesen, das sie im Spiegel über der Anrichte gesehen hatte. Sie starrte sich selbst an. Ihre blauen Augen blickten verstört, und ihr schmales Gesicht war so blass, dass die hellen Sommersprossen auf ihrer Nase hervorstachen. Sie sah aus wie das durchgedrehte Opfer in einem Horrorfilm.

Du benimmst dich einfach lächerlich, tadelte sie sich selbst. Dann legte sie den Hörer wieder auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Du liest zu viele Krimis. Kein Mann, keine Kinder. Morgen wirst du fünfundzwanzig Jahre alt, und du hast noch nicht einmal einen Geliebten. Nicht einmal eine Katze, um dich zu wärmen. Holst dir deine Kicks aus Taschenbuchromanen. Du bist zu bemitleiden. Und was noch schlimmer ist, du beginnst zu glauben, was du liest. Sie drehte das Buch um und betrachtete das Hochglanzcover. Die Silhouette einer ängstlichen Frau war darauf abgebildet. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, und ein Schatten stand drohend über ihr. Rote Tinte tropfte wie Blut aus den Buchstaben des Titels und befleckte das Kleid der Frau. Das war Trash. Zweifellos.

Ja, sie benahm sich lächerlich. Morgen würde sie die Telefongesellschaft anrufen und einen Mechaniker bestellen, so viel dazu.

Und sie würde etwas anderes lesen. Eine Zeitschrift vielleicht. Dann wäre sie nicht mehr so nervös. Doch sie zögerte. So unheimlich die Geschichte auch war, sie konnte sie nicht aus der Hand legen.

Also kehrte sie zu ihrem Sessel zurück, nahm ihren Platz wieder ein und begann ein neues Kapitel. Während der Held mutig durch das verlassene Kuriositätenkabinett schritt, öffnete seine Freundin zu Hause gerade ihre Post. Oh nein. Sarah wusste, was als Nächstes käme. Natürlich enthielt das erste Päckchen, das die Freundin öffnete, eine Halskette – einen einzigen Smaragd an einer goldenen Kette. Es war keine Karte beigelegt, aber die Freundin zuckte nur mit den Schultern. Ein kleines Versehen eben. Sie wusste, dass der Held momentan sehr beschäftigt mit einem wichtigen Fall und oft geistesabwesend war. Da wollte sie ihn nicht wegen einer Lappalie stören. Der Held hatte seiner Freundin nichts über den Fall, an dem er gerade arbeitete, erzählt. Er dachte, die Details würden ihr nur Alpträume bescheren. Also hatte sie ihm keine Fragen gestellt. Sarah knirschte aus lauter Frust mit den Zähnen. Warum hatte der Held sie nicht gewarnt? Typisch Mann. Mit dem Versuch, sie zu schützen, hatte er ihr Schicksal besiegelt.

Sobald sie zu Hause war, unternahm Betty Carriere einen raschen Rundgang durch ihr Haus: Sie schaltete alle Lichter ein und blickte in jedes Zimmer; dabei nahm sie sich nicht einmal die Zeit, an das klingelnde Telefon zu gehen. Dann kontrollierte sie Türen und Fenster. Alles sicher verschlossen. Alles in Ordnung. Das Haus war leer, was gut war, sie aber nicht erwartet hatte. Wo war Alfred? War der Anruf eben von ihm gekommen? Sie kontrollierte den Anrufbeantworter, aber wer auch immer vorhin angerufen hatte, er oder sie hatte aufgelegt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Wo war Alfred? Er sollte zu dieser späten Stunde zu Hause sein. Ein kurzes Gefühl von Sorge um ihren Ehemann flackerte in ihr auf, aber in Wahrheit verspürte sie Erleichterung darüber, dass er nicht zu Hause war. Sie hatte andere Sorgen.

Geld zum Beispiel.

Sie ging über den makellos sauberen Küchenboden und öffnete eine der Glastüren ihres brandneuen Schranks. Ordentlich zwischen ihren Kochbüchern eingereiht stand ihr Haushaltsbuch, das sie jetzt herausnahm. Sie goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich mit einem Bleistift an den Küchentisch. Sie versuchte auszurechnen, wie viel Bargeld sie diesmal für Anna abzweigen könnte.

Der Mai hatte noch zwölf Tage, und es war gerade noch genug Geld auf dem Konto, um die Ausgaben für die laufenden Kosten abzudecken. Dann war da die Dinnerparty am zweiten Juni. Sie wusste, dass Alfred ihr dafür ein bisschen Extrageld geben würde, aber das würde sie auch für das Abendessen ausgeben müssen. Wenn sie daran sparte, würde er es sofort merken. Aber vielleicht wenn sie bis dahin besonders sparsam wirtschaftete …

Sie stand auf und inspizierte Schränke und Speisekammer gründlich. Sie brauchten Lebensmittel, das war offensichtlich. Alfreds Assistent, Gregory Restall, war den Tag über hier gewesen und hatte Alfred bei den Pressemitteilungen geholfen. Nebenbei hatte er Bettys Kühlschrank leer gefuttert. Im Besenschrank fehlten Bohnerwachs – das von der teuren Sorte – woran man nicht sparen sollte – und Staubsaugerbeutel. Ebenfalls zur Neige gingen Silberputzmittel, Glühbirnen, Bleiche und ein Dutzend anderer Notwendigkeiten – dabei hatte sie sich noch nicht einmal in den Badezimmern umgesehen. Schuld daran war allein ihre Schwester. Warum kriegte Anna ihr Leben nicht auf die Reihe? Betty hatte ihr erst vor zwei Wochen zweihundert Dollar gegeben. Und jetzt wollte Anna noch mehr.

Betty trank ihr Glas leer, trug es zur Spüle, wusch es aus und stellte es zum Trocknen auf die Geschirrablage aus Edelstahl. Dann machte sie sich auf den Weg nach oben, um die Schubladen und Hosentaschen ihres Mannes zu durchsuchen. Sie hasste das, aber wenn Anna ihre Miete nicht bezahlte, würde sie wieder rausgeworfen, und Betty wollte sie keinesfalls auf ihrer eigenen Türschwelle vorfinden. Nicht auszudenken, was Anna in Gegenwart von Alfred vielleicht sagen würde.

Zina war erleichtert, als Alfred Carriere endlich eintraf. Er trug eine schwere Schachtel und verkündete mit kräftiger Stimme: »Neue Bücher.«

»Das wurde aber auch Zeit!«, sagte Morgan, während sie aus der Küche trat. »Zina schläft schon fast. Heute Abend ist sie tatsächlich schon länger hier als Byron.«

»Sehr witzig«, sagte Byron. Er hatte sein Telefonat beendet und seine Sachen zusammengepackt. Machte aber trotzdem keine Anstalten aufzubrechen.

»Tut mir Leid, Zina«, sagte Alfred. Er stellte die Schachtel auf die Theke. »Ich wurde aufgehalten. Kein guter Tag heute.«

Obwohl er inzwischen schon über fünfzig war, arbeitete Alfred noch aufreibend viel, um sein Geschäft am Laufen zu halten. Seitdem sein Bruder Quinn vor einiger Zeit weggezogen war, machte Alfred fast alles selbst. Es schien ihm aber zu gefallen, wie Zina zugeben musste. Auch wenn sein Sechziger-Jahre-Pferdeschwanz und sein Schnurrbart längst grau waren, hielt er sich besser als die meisten Männer, die nur halb so alt waren wie er.

»Gibst du mir bitte mal ein Messer?«, fragte er.

Zina gab ihm ein scharfes Allzweckmesser, und er schlitzte die Schachtel auf. »Der zweite Band der Reihe«, sagte er stolz. Er hielt ein Exemplar hoch, damit sie es sehen konnten. »A Chill at Midnight.«

Zina war sich nicht sicher, ob ihr das Cover gefiel. Es war fast noch melodramatischer als das erste. Eine schlanke Blondine in einem filmreifen Morgenrock kauerte in einer verschneiten Landschaft, am Ufer eines zugefrorenen Flusses. Eine behandschuhte Hand, die nach ihrer Kehle griff, ragte von außerhalb ins Bild. An den weißen Buchstaben des Titels hingen lange Eiszapfen.

»Brr«, machte Morgan.

Byron rollte nur mit den Augen. Er verabschiedete sich mit einem Wink und verließ das Café.

Zina war sehr wohl bewusst, dass Byron nichts von Alfred Carriere hielt. Er gab sich auch keine große Mühe, das zu verbergen. Für Alfreds Geschäft empfand er kaum Respekt; er nannte es »gewinnsüchtig«. Seiner Meinung nach leistete Alfred den niedersten Instinkten Vorschub. Er publizierte nichts anderes als Kochbücher, Biografien irgendwelcher Berühmtheiten und populäre Krimis. In seinem ganzen Katalog nirgends eine Spur von echter Literatur. Byron hatte einige seiner Gedichte an Carriere Press geschickt, diese waren jedoch immer abgelehnt worden. Doch das hatte nichts mit seiner Abneigung gegen diesen Mann zu tun, wie Byron Zina oft versicherte. Es wäre nichts Persönliches, sondern eine Frage des Prinzips.

Zina wusste, dass Carriere Press früher einmal ein angesehenes Unternehmen gewesen war, ein kleiner literarischer Verlag mit großem künstlerischem Engagement. In den Siebzigern hatten Alfred und Quinn Carriere den Ruf als Kanadas innovativste Verleger genossen, die für viel versprechende junge Talente bereitwillig Risiken eingingen. Doch in den Achtzigerjahren geriet der Verlag in finanzielle Schwierigkeiten. Quinn, der eine junge Familie zu ernähren hatte, nahm einen sichereren Job bei einem größeren Verlag in Toronto an. Alfred sah sich gezwungen, sein Programm zu ändern, um bei Kasse zu bleiben. In der Backlist von Carriere Press wimmelte es von Erstlingsromanen und frühen Gedichtbänden vieler der besten Autoren des Landes. Aber Alfred schaffte es nicht, diese Autoren zu halten. Sobald sie sich einen Namen gemacht hatten, engagierten sie sich einen Agenten, der für Alfred unbezahlbare Vorschüsse verlangte. So begann Alfred, weniger Literatur und mehr Unterhaltung zu verkaufen. Doch in Kanada brachten selbst solche Titel kaum die Kosten für Produktion und Werbung herein. Alfreds neuestes Projekt war genau genommen gar kein Publizieren mehr, sondern Werbung und Vertrieb. Die Walter-White-Krimis waren allesamt Taschenbücher für den Massenmarkt. Sie waren vor Jahren in den USA erschienen, wurden schon lange nicht mehr neu aufgelegt, und Alfred hatte die Rechte daran für ein Butterbrot erworben.

In Byrons Augen war Alfred der personifizierte Ausverkauf. Zina hatte jedoch Verständnis für Alfred. Sie bewunderte, wie er sich an die geänderten Zeiten angepasst und seine Firma am Laufen gehalten hatte. Sie wusste, was es bedeutete, selbstständig zu sein. Ständig mussten schwierige Entscheidungen gefällt werden, und manchmal musste man von seinen Prinzipien auch ein Stück weit abrücken.

Alfred übergab Zina die Rechnung. »Ich seh dich dann morgen«, sagte er auf dem Weg zur Tür.

Morgan folgte ihm nach draußen. »Ich dich auch!«, rief sie. »Gute Nacht, Zina!«

»Möchtest du nicht, dass ich dich begleite –«, setzte Zina an, aber da fiel die Tür schon zu. Sie waren weg.

Zina nahm die letzten beiden Exemplare von Bloody Midnight aus dem Regal und begann, A Chill at Midnight aufzustellen. Obwohl sich die Bilder auf den Covers unterschieden, war das Design der Umschläge ähnlich genug, um die Bücher als Teil ein und derselben Reihe kenntlich zu machen. Ein kluger Marketingschachzug, dachte Zina. In der linken oberen Ecke zierte beide Bücher das gleiche Logo: eine kleine goldene Uhr, deren Zeiger beide genau auf der Zwölf standen, und die Wörter »A Midnight Mystery«.

Zina trödelte beim Auslegen der Bücher. Sie fürchtete sich davor, allein durch die zu dieser späten Stunde verwaiste Westminster Avenue nach Hause zu gehen. Warum hatte Morgan nicht auf sie gewartet?

Die Zweige des Holzapfelbaums kratzten jetzt heftiger an Sarahs Badezimmerfenster. Es klang fast, als ob es aufgeschoben würde. Sarah ließ ihr Buch sinken und lauschte.

Hin und wieder war ein schwaches, aber eindeutig quietschendes Geräusch zu hören, als ob jemand so langsam wie möglich versuchte, das Fenster im ersten Stock zu öffnen. Unmöglich. Sarah hielt den Atem an und lauschte angestrengten. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Wenn sie Max noch hätte, könnte sie sich sagen, es ist nur der Kater, und es vergessen. Aber jetzt gab es keinen Kater. Keinen kleinen Max, den man für das Knarzen und Quietschen in diesem verschachtelten, zugigen alten Haus verantwortlich machen konnte. Vielleicht spukte es hier ja wirklich.

Oder vielleicht war tatsächlich jemand dort oben. Jemand mit einem silbernen Brieföffner. Und es war fast Mitternacht.

Von oben war ein leiser Schlag aus dem Bad zu hören. Sarah sprang aus dem Sessel. Das war doch verrückt. Sie ging auf und ab und rieb sich die Schultern. Vielleicht sollte sie sich ein Feuer machen. Jawohl. Sie legte ein dickes Scheit in den Kamin und schob Anmachholz darunter. Das Haus war nicht wirklich ausgekühlt, dachte sie, während sie ein Streichholz anriss. Sie sehnte sich eher nach seelischer Wärme. Um diese kleinen Geräusche zu übertönen, sollte sie vielleicht auch irgendwelche Musik anmachen. Eigentlich waren es doch nur ganz leise Geräusche, sagte sie zu sich selbst. Aber die Größe des Hauses und Sarahs Einsamkeit verstärkten deren Klang völlig unverhältnismäßig.

Als sie zur Stereoanlage hinüberging, warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah, dass die frisch gewaschenen Bettlaken auf der Wäscheleine jetzt heftig flatterten. Der Wind frischte auf. Na siehst du, sagte sie zu sich selbst. Es war nur der Wind, der die Läden zugeschlagen hat. Sie suchte ein Konzert von Mozart aus und legte die CD ein. Süße Violinklänge erfüllten den Raum. Sie drehte die Lautstärke höher. Wenn das Haus schon Geräusche machte, wollte sie die zumindest nicht hören.

Nachdem sich Sarah wieder in ihrem Sessel niedergelassen hatte, war sie rasch wieder ganz in den Roman vertieft. Sie hörte nichts außer Mozart. Nicht einmal das Knistern der Flammen im Kamin kam gegen die Musik an.

Im Restaurant Sals am Broadway trafen sich Officer Daniel Bradley und seine Partnerin Marnie auf eine letzte Tasse Kaffee, um ihre Berichte abzugleichen, bevor die Schicht zu Ende war.

Sie plauderten über die neue Software, die Marnie ihrem Stiefsohn zum Geburtstag kaufen wollte, und über die ungewöhnliche Begabung des Jungen im Umgang mit Computern. Dann wechselte Daniel das Thema und kam auf sein neues Auto zu sprechen, ein Jetta 2001, den er sich zwar nicht leisten konnte, dem er zugleich aber auch nicht hatte widerstehen können. Er hatte den Wagen während der Nachtschicht auf dem Parkplatz des Sals geparkt und einem Kellner zehn Dollar gegeben, damit dieser den Wagen im Auge behielt. Und alles nur wegen des Vergnügens, durch die leeren Straßen zu jagen, wenn sein Dienst in den frühen Morgenstunden zu Ende war.

»Kann ich ihn mir mal für eine Spritztour leihen?«, fragte Marnie.

»Irgendwann«, versprach Daniel. »Aber jetzt nicht.«

Marnie lachte. »Gut, lass es mich wissen, wenn du mit der Kennenlernphase durch bist.« Sie nahm Daniels leere Tasse. »Noch einen für auf den Weg?« Er nickte, und sie ging zum Nachschenken an die Theke.

Daniel sah noch mal seine Notizen durch. Es war eine ereignislose Nacht gewesen. Wie immer waren sie Streife gegangen, die Hauptstraßen hinauf und die hinteren Gassen hinunter, manchmal zusammen, manchmal getrennt, um ein größeres Gebiet abzudecken. Wenn sie allein gingen, hielten sie über Funk Kontakt, nur für den Notfall. Allerdings war es in den zwei Monaten, seit denen Daniel jetzt in Wolseley Dienst tat, noch zu keinerlei Notfällen gekommen.

Der heutige Abend war typisch: ein Drogerieverkäufer, der Aerosol-Reiniger an Abhängige verscherbelt hatte, eine versuchte Brandstiftung, eine Reihe von Fahrraddiebstählen und ein verloren gegangenes Kind, das rasch in der hiesigen Einkaufspassage gefunden worden war. Dann war da noch ein Vorfall, der Daniel gravierend erschien, den man aber auf der Wache wie gewöhnlich zu einer einfachen Tätlichkeit heruntergespielt hatte. Daniel und Marnie hatten auf dem Parkplatz der Big Sky Tavern einen Betrunkenen vorgefunden, der am Boden lag, und von einem anderen Betrunkenen mit eisenbeschlagenen Cowboystiefeln gegen den Kopf getreten wurde. Eine Menge von zwanzig Schaulustigen stand um die beiden herum, als würden sie einem Ballspiel zusehen.

Als er nun seine Notizen zu dem Vorfall erneut las, sah er immer noch, wie das Blut aus dem Mund des Opfers gespritzt war und eine dunkle Pfütze auf dem Parkplatz gebildet hatte. Erneut drehte sich ihm der Magen um. Gewalt machte Daniel physisch krank, und er gab sich redlich Mühe, das zu verbergen. Er wollte nie wieder eine solche Erniedrigung erleben wie bei seinem ersten Fall, als er noch ein blutiger Anfänger gewesen war. Er hatte sich damals lächerlich gemacht, weil er beim Anblick von Blut in Ohnmacht gefallen war. Er kippte einfach nach vorne und schlug sich die Stirn an einem Kanalgitter auf, nachdem er und sein Kollege eine Leiche in einem Müllcontainer entdeckt hatten. Die Jungs hatten danach begonnen, ihn Waffelkopf zu nennen, wegen der verschorften Wunde auf seiner Stirn. Daniel hatte Jahre gebraucht, um das zu verwinden. Aber jetzt fiel er nicht mehr in Ohnmacht. Von Gewalt wurde ihm immer noch schlecht, aber er verlor nicht mehr das Bewusstsein. Er wurde wütend.

Marnie brachte zwei nachgefüllte Tassen von dem starken Sals-Kaffee an den Tisch und schaufelte die üblichen drei Löffel Zucker in ihre Tasse. Daniel klappte sein Notizbuch zu. »Ruhige Nacht«, bemerkte er.

»Ja«, sagte Marnie. »Nicht viel los heute.«

Das Mozartkonzert kulminierte in einem brillanten Crescendo, einem großen Finale, und dann war es still im Haus. Sarah schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie war trotz der Spannung über ihrem Buch eingenickt. Sie sah auf und bemerkte, dass das Feuer nur noch aus glimmender Asche bestand.

In einer Minute, sobald sie dieses Kapitel beendet hätte, würde sie sich bettfertig machen, in ihren Flanellpyjama und unter die Steppdecke ihres Bettes schlüpfen, um weiterzulesen. Sie wusste, dass sie diesen Thriller heute Nacht noch auslesen würde, egal wie müde sie war. Sie war gefesselt von diesem Buch. Sie musste wissen, wer der Bösewicht war.

Der Held hatte schon längst erkannt, dass er in dem Vergnügungspark einer falschen Fährte gefolgt war. Der Gefahr, in der seine Freundin schwebte, war er sich jedoch nach wie vor nicht bewusst. Inzwischen hatte sie einige Schmuckstücke als Geschenke zugesandt bekommen und sie für schwache Versuche des Helden gehalten, sie dafür zu entschädigen, dass er sie in letzter Zeit so vernachlässigte. Sie war nicht sehr beeindruckt gewesen, doch als der Diamantring eintraf, verzieh sie ihm alles. Natürlich hielt sie das für einen romantischen Versuch, um ihre Hand anzuhalten. In diesem Moment deckte sie den Tisch für ein Candlelight-Dinner und übte die kleine Rede, mit der sie seinen Antrag annehmen würde. Sie wusste nicht, dass der Bösewicht – wer konnte das nur sein? – dem Helden eine gefälschte Nachricht hatte zukommen lassen, in der ihre Verabredung abgesagt wurde. In genau diesem Moment befand er sich vor ihrem Haus, bewaffnet mit seinem Brieföffner, und beobachtete sie durchs Fenster dabei, wie sie die frischen Blumen in einer Vase arrangierte. Hier endete das Kapitel. Noch dreißig Seiten.

Also, jetzt musste der Autor aber zur finalen Verfolgungsjagd kommen. Sarah gähnte. Sie sollte besser nach oben gehen, bevor sie wieder in ihrem Sessel wegdämmerte. Sie würde den Rest der Geschichte im Bett genießen. Sie stocherte im Feuer, um sicher zu sein, dass es ausging, und schaltete das Licht aus. Um die Vorhänge zuzuziehen, trat sie ans Fenster. Die weißen Laken auf der Leine tanzten wie feiernde Gespenster im Nachtwind. Während Sarah noch hinsah, hob sich eines mit einer plötzlichen Böe hoch in die Luft und gab die Sicht auf das frei, was sich dahinter befand.

Sie stieß einen Schrei aus.

Sarah konnte deutlich die Sprossen einer hohen Holzleiter sehen, die am Stamm des Apfelbaums lehnte.

3

Sarah schlug die Hände vor den Mund, doch es war zu spät. Das Echo ihres Schreis schien durchs ganze Haus zu hallen. Dann hörte sie die Schritte auf dem oberen Flur. O Gott! Ihr Alptraum wurde Wirklichkeit. Jemand war im Haus. Sie musste hier raus, schnell. Die Hintertür!

Sie stürmte durch die Küche und löste die Kette an der Sturmtür. Schritte polterten die Vordertreppe herunter. Sie packte den Türknauf, drehte ihn heftig und zog. Die Tür öffnete sich nicht.

In ihrer Panik hatte sie die Doppelschlösser vergessen, die eigentlich für ihre Sicherheit sorgen sollten. Die Schritte kamen jetzt rascher die Treppe herunter. Sie hatte keine Zeit, mit den Schlössern zu hantieren. Also raste sie zur Hintertreppe und sprang immer zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf, dabei hielt sie in einer Hand immer noch den Krimi fest umklammert. Im ersten Stock hielt sie kurz inne und fragte sich panisch, welche Richtung sie einschlagen sollte. Ihr Schlafzimmer? Das Bad? Sie hörte ein dumpfes Geräusch aus der Küche unten und stürzte die nächste Treppe hinauf.

Sarah konnte nicht klar denken. Als sie den zweiten Stock erreicht hatte, rannte sie in eines der Gästeschlafzimmer und versuchte verzweifelt, die Notrufnummer 911 anzurufen. Sie vergeudete viel zu viel Zeit damit, auf die Gabel zu hauen und zu fluchen, bevor ihr wieder einfiel, dass das Telefon ja tot war. Die Leitungen zum Haus mussten durchtrennt worden sein. Und zwar in Wirklichkeit. Sie fühlte sich hilflos, als wäre sie eine Figur in einem der Thriller, die sie gelesen hatte. In welchem? Sie waren alle gleich. Psychopath im Haus, die Telefonleitung durchgeschnitten. Kein Entrinnen. Außer, außer … sie erinnerte sich an die Leiter und die Geräusche aus dem Bad im ersten Stock. Wenn sie aus dem Fenster klettern könnte … Sie rannte durch den Flur zur Hintertreppe. Doch dann hörte sie wieder Schritte, sie kamen die Treppe herauf. Das würde sie nie rechtzeitig schaffen.

Sie schlüpfte in die Wäschekammer und lehnte die Tür nur an, um keine Geräusche zu verursachen. Sie lauschte angestrengt. Die Schritte waren auf dem Treppenabsatz verstummt. Nur Stille. Im Halbdunkel zusammengekauert versuchte Sarah, leise zu atmen, doch ihr Herz hämmerte und ihre Lungen rangen nach Luft. Das Taschenbuch war glitschig in ihrer schwitzenden Hand. Sie umklammerte immer noch dieses blöde Buch! Ein schmaler Lichtschein fiel durch den Türspalt und strahlte das Buchcover an. Sarah starrte auf das Bild der ängstlichen Frau. Die grässliche Zeichnung schien ihren eigenen Schrecken zu verhöhnen. Warum nur hatte sie das Buch festgehalten und sich nicht irgendeine Art von Waffe gegriffen?

In den nächsten paar Minuten umfing eine unheimliche Stille das Haus. Selbst das übliche Knarzen und Klappern blieb aus. Sarah hörte nichts außer ihrem eigenen keuchenden Atem. Was war da los? Wo waren die Schritte, die sie eben noch so deutlich gehört hatte? Sie war sich sicher, dass sie sie gehört hatte. Oder nicht? Sie dachte an den Geist, von dem Peter behauptet hatte, ihn hier oben gesehen zu haben. Die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken begannen sich zu sträuben.

Dann hörte sie es wieder – jemand ging, diesmal leise schleichend, den Flur herunter. Da bewegte sich jemand eindeutig auf das Badezimmer zu. Sie meinte zu hören, wie sich die Badezimmertür öffnete. Sollte sie versuchen, jetzt hinauszuschlüpfen? Losrennen, um die Vordertür zu erreichen?

Zu spät. Wer auch immer das war, Geist oder Psychopath, befand sich jetzt wieder auf dem Flur. Keine Zeit, etwas anderes zu tun, als zu warten und zu beten, dass sie nicht entdeckt würde. Aber jemand hatte sich vorgenommen, sie zu finden. Jemand öffnete eine Tür nach der anderen, um nach ihr zu suchen. Sie erkannte das Quietschen der ungeölten Angel an der Tür zum Gästezimmer. Dann den lockeren Knauf an der Tür zum verglasten Balkon. Die Wäschekammer käme als Nächstes dran. Sarah trat von der Tür zurück, ins Hintere der Kammer. Sie ließ das Buch fallen, aber es landete weich auf einem Wäschestapel, ohne ein verräterisches Geräusch zu machen.

Die Wäsche!

Sarah trat noch einen Schritt zurück und tastete mit einem Fuß über den Boden. Da! Sie konnte die Falltür zum Wäscheschacht fühlen. Sie bückte sich und fummelte blind am Verschluss herum. Dann öffnete sie die Tür und kletterte in den Schacht. Er war eng. Den Rahmen fest umklammernd ließ sie sich so weit hinab, dass nur noch ihre Hände und die obere Hälfte ihres Kopfes über dem Fußboden zu sehen waren. Ihr Körper baumelte im leeren Raum unter ihr. Bitte übersieh mich, betete sie. Doch der Lichtspalt wurde breiter. Die Kammertür öffnete sich.

Von plötzlicher Mutlosigkeit erfüllt ließ Sarah los. Bevor sie das Bewusstsein verlor, fühlte sie den raschen, süßen Adrenalinstoß, der ihren Körper durchfuhr, wie die Schwingen eines großen Vogels, während sie drei Stockwerke tief in die völlige Finsternis fiel.

4

Zina klappte ihr Exemplar von Bloody Midnight zu und schauderte unter der Bettdecke. Jedes Mal, wenn sie zu einer dieser Schrecken erregenden Verfolgungsszenen kam, musste sie das Buch weglegen. Sie hatte vorgehabt, es für die Diskussion im Buchclub morgen Abend auszulesen, aber es war einfach zu nervenaufreibend. Zina hasste Gewalt. Sie bevorzugte unblutige Verbrechen der älteren Schriftsteller – die sauberen, unbeobachteten Morde bei Agatha Christie oder Doyles intellektuelle Puzzlespiele bei Sherlock Holmes. Die modernen Krimis waren ihr zu realistisch. Und insbesondere dieser erschien ihr zu lebensecht, zu nah an der Wirklichkeit. In Zinas Augen war der ganze Witz daran, einen Krimi zu lesen, die Möglichkeit, der Realität zu entfliehen.

Sie legte das Buch auf ihren Nachttisch und schaltete die Leselampe aus. Aber das Licht einer Straßenlaterne fiel zwischen den Vorhängen herein, deshalb stand sie auf, um diese zu schließen.

Sie spähte aus dem Fenster. Jemand fuhr mitten auf der Lipton Street Fahrrad.

Sie erkannte das Rad. Es war eines, das sie schon viele Male gesehen hatte, unverwechselbar mit seinem großen, plumpen Gepäckträger aus Metall, beladen mit alten Ledermappen und voll gestopften Plastiktüten. Der Radfahrer war Byron Hunt. Seine ausgefranste Moppfrisur hüpfte auf und ab, während er in die Pedale trat.

Zina grinste. Dieses Rad! Es musste mindestens schon zwanzig Jahre alt sein. Aber natürlich konnte Byron sich kein neues leisten. Soweit Zina wusste, hatte er nie länger als ein paar Monate in einem richtigen Job durchgehalten. Er verbrachte all seine Zeit mit der Durchsicht seiner unveröffentlichten Sammlung von Gedichten und Liedtexten. Wenn er nicht das Haus seiner Mutter gegenüber in der Ruby Street geerbt hätte, wäre er wahrscheinlich obdachlos.

Byron bog um die Ecke, und die Fahrradreifen holperten unter dem Gewicht der Taschen auf seinem Gepäckträger. Zina wusste ganz genau, was sich darin befand. Seine Berge von Notizbüchern und Unmengen von losen Blättern. Die lud er jeden Tag in Zinas Café ab, wo er stundenlang vor sich hin kritzelte, an seinem Bleistift kaute und riesige Becher kolumbianischen Kaffees trank, nach dem er offenbar süchtig war. Sie lachte. Kein Wunder, dass er mitten in der Nacht unterwegs war.