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Inhaltsverzeichnis
Titel - Untertitel (/Genre)
Impressum
1. Januar
8. Januar
9. Januar
10. Januar
11. Januar
16. Januar
21. Januar
25. Januar
26. Januar
29. Januar
31. Januar
1. Februar
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25. Februar
29. Februar
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2. Juni
7. Juni
8. Juni
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21. Juni
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6 . Juli
7 . Juli
9. Juli
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20 . Juli
21. Juli
22 . Juli
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27. Juli
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8. Oktober
11. Oktober
13. Oktober
15. Oktober
20. Oktober
22 Oktober
23 Oktober
27. Oktober
30. Oktober
2. November
3. November
4. November
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9. November
12. November
15. November
21. November
22. November
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30. November
5. Dezember
6. Dezember
7. Dezember
10. Dezember
13. Dezember
15. Dezember
17. Dezember
21. Dezember
28. Dezember
29. Dezember
31. Dezember
1. Januar
Ich habe Blei gegossen heute Morgen – ein eng umschlungenes, sich küssendes Paar – und mir im Tarot als Jahreskarte Die Liebenden gezogen. Jede Faser meines Herzens frohlockt und sagt ja. Ich werde ihn also endlich treffen, dieses Jahr. Den Mann, auf den ich schon so lange gewartet habe, denn ich bin endlich offen dafür, die Liebe zu empfangen.
Wie wird er wohl sein, dieser Mann, den mir das Schicksal aus der Tüte zaubern wird? Hat er endlich schwarze Locken, grüne Augen, olivfarbene Haut, einen Schmusemund und ein Herz aus Gold? Künstlerische Begabung wäre auch nicht schlecht. Oder wenigstens jemand, der weiß, wie man Geld verdient und etwas Vernünftiges damit macht, einer, der nicht nur ausgeben kann, sondern es auch versteht, etwas Bleibendes aufzubauen.
Ich wünsche mir einen Mann, von dem ich lernen kann, der Humor hat, mich zum Lachen bringt und mir vor allem seine Gefühle zeigt.
Ja – ich glaube, das ist mir jetzt am wichtigsten. Ich wünsche mir einen Mann, der mich von Herzen liebt und mir all seine Gefühle zeigt. Nicht nur die schönen meine ich damit, sondern auch die Ängste, Schuldgefühle, Aggressionen und was es sonst noch gibt.
Vielleicht war ich früher zu sehr auf die Oberfläche eines Mannes fixiert, habe mich von Status oder optischer Schönheit zu sehr blenden lassen. Oder war ich gar in das Gefühl, verliebt zu sein, verliebt? Wie dem auch sei ...
Diesmal will ich wirklich alles, denn ich bin bereit zu empfangen, und zwar alles, was die Gottheit der Liebe mir schicken wird. Ich bin bereit, dieses seelische Traumland zu verlassen, in dem ich die Königin bin, um wieder hier auf der realen Erde zu leben. Innere Welten, in denen man ebenso gut existieren kann wie in der äußeren Welt, waren viele Jahre mein Zuhause, weil mir die irdische Wirklichkeit zu einsam war.
Ich bin Wassermann, doch in meinem persönlichen Horoskop ist das Zeichen Fisch – somit das Reich Neptuns – extrem stark besetzt. Venus, Mars, Jupiter und Mondknoten tummeln sich darin, und entsprechend ist es für mich sehr leicht, der realen Welt zu entfliehen und in den Traumwelten meine Lieblingsrolle zu spielen. Dort bin ich Morgaine le Fay, die Priesterin aus Die Nebel von Avalon von Marion Zimmer Bradley, und diene der großen Göttin.
Meine kleine Wohnung, hier in Dreitorenbach, gleicht ohnehin einem Tempel, und ich habe in jedem Zimmer einen Altar.
Das Bild der Göttin lebt in meinem Herzen, und das, seit ich denken kann.
Vielleicht liebe ich deshalb meinen Namen so sehr. Maria. Mariechen wurde ich als kleines Mädchen gerufen; die Maiandacht war mein Lieblingsgottesdienst. Den Marienkäfer wollte ich als Wappentier haben, und wenn wir in der Schule etwas über Länder lernten, in denen es Göttinnen gab, war ich hellwach.
Dass Dreitorenbach ein Marien-Wallfahrtsort ist, versteht sich von selbst, denn sie, die Maria, und ich, wir beide sind untrennbar. Ich vertraue ihr voll, denn der Mann, der für mich bestimmt ist, kommt von ihren Gnaden. Erkennen muss ich ihn allerdings selbst, denn »Erkenne dich selbst« heißt das Spiel. Ich glaube daran, dass in jeder Liebe der Partner gleichsam ein Spiegel ist, und all das, was wir an ihm lieben oder hassen, ein ungelebter Teil von uns selbst ist.
Ich bin schon so gespannt, was dieses Jahr mir bringen wird – und wo und wann ich ihm begegne.
8. Januar
Es ist wunderschön zu sehen, wie die Schneeflocken, dick wie kleine Wattebäusche, vom Himmel schweben und die Welt in einen weißen Mantel hüllen. Der Januar im Schnee ist so, wie er sein soll, die Natur ist gedämpft, sie braucht jetzt Ruhe.
Auch ich habe diese Nacht gut und tief geschlafen, obwohl das bei Vollmond für mich eher eine Seltenheit ist. Vollmond im Krebs ist kuschelig, und wahrscheinlich hat es mich aus diesem Grund gestern schon um 8.00 Uhr abends ins Bett gezogen – und ich konnte vor Müdigkeit noch nicht einmal lesen.
Lesen ist meine Leidenschaft. Bücher riechen gut, fassen sich so schön an und jedes hat ein anderes Gewicht. Es gibt große und kleine, schwere und leichte, dicke und dünne Bücher. Jedes Buch ist eine Tür in eine andere Welt, in der man Abenteuer, Romanzen, und den unglaublichsten Menschen, Gefühlen und Gedanken begegnen kann. Ein idealer Weg für einsame Gedankenmacherinnen wie mich.
Im Moment sind es die Rauborganismen, die mich faszinieren.
Rauborganismen sind die mächtigen dämonischen Kräfte, die unter den einzelnen Völkern leben und diese über alle Epochen immer wieder zu grausamen Ausbrüchen wie Kriegen und anderen Formen der Gewalt verführen.
Frank Thiess beschreibt in Das Reich der Dämonen jedes Volk als einen Großkörper, der von einer gemeinsamen Seele belebt wird, die genau wie eine Einzelseele ihre Tiefen und Abgründe hat. Spannend bis zum Äußersten, erzählt dieser Roman von einer Geschichte, die über tausend Jahre währt. Der Autor kommt folgerichtig zu dem Ergebnis, dass die Menschheitsgeschichte eine riesige Folterkammer ist. Angst, Gier und der Wille zur Macht verwandeln die Menschen seit Äonen in blutrünstige Hyänen, die vor absolut nichts zurückschrecken. Ich glaube, es gibt auf der ganzen Erde kein einziges Fleckchen, das nicht irgendwann einmal mit Mensch- oder Tierblut getränkt wurde. Brrrrh – mich schüttelt es. Aber wo Thiess Recht hat, hat er Recht.
Vielleicht ist ja die Tierwelt geglückt und der Mensch das einzig misslungene und entartete Wesen innerhalb der Schöpfung, und das, wo wir Menschen doch so stolz darauf sind, dass uns der Geist von den Tieren unterscheidet.
Bei diesem Gedanken muss ich lachen, weil mir die gerade vergangene Silvesternacht einfällt. Nach dem Tod meines geliebten Katzentiers Knutschi im Oktober letzten Jahres sind zwei wilde Katzen bei mir eingezogen. Knutschi war mein erstes Katzenweibchen, mit dem ich zwanzig Jahre glücklich gelebt habe. Sie war so wunderschön anzusehen, mit ihrem getigerten Fell und den riesengroßen hellgrünen Augen. Eine echte Ägypterin, und ich habe sie über alles geliebt. Doch jetzt buhlen zwei andere um meine Gunst. Ein schwarzer Kater, den ich Mo-Lee getauft habe, weil er wie Bruce Lee aus dem Stand hochspringen kann, um mich in den Oberarm zu zwicken, und das vielfarbene Katzenweibchen Maui, lieblich und wunderschön wie die Südseeinsel gleichen Namens. Selbstverständlich sagte ich alle Silvestereinladungen ab, denn diese beiden armen Tiere hätten sich ja ohne mich zu Tode ängstigen können. Bei all dem Krach, Geblitze und Gescheppere, das in dieser Nacht immer zur Vertreibung der bösen Geister veranstaltet wird. Um es mal kurz zu machen: Maui hatte mich um 23.00 Uhr, Mo-Lee um 23.30 Uhr verlassen. Die zwei Miezen wurden erst am nächsten Tag um 8.00 Uhr morgens beziehungsweise gegen Nachmittag wieder gesehen. Glücklich, dick und voll gefressen. Von so viel Verstand können wir Menschen nur lernen.
Denn was macht denn der Mensch mit seiner angeblichen Vernunft? Er schafft Systeme, die über Millionen von Menschen unermessliches Leid bringen, und erfindet Dinge für einen Fortschritt, der in Wirklichkeit oft ein Rückschritt ist. Weg vom Schöpfer, weg von der Natur. Eigenartigerweise werden Menschen, die aus ihrer Macht egoistischen Nutzen ziehen, fast niemals glücklich, weil sie immerzu Angst haben müssen, ihre Stellung zu verlieren, um dann von den gequälten Völkern zerfleischt zu werden. Unsere ganze Welt ist durchsetzt von Angst. Angst vor Vergeltung, Angst vor Neid, Angst vor Rache, Angst vor Strafe, Angst vor dem Unsichtbaren, Angst vor Verlust, Angst vor Gewalt, Angst vor der Liebe, Angst vor dem Tod.
Von meinem Bett aus kann ich durch die hohen Fensterscheiben die kleinen Meisen beobachten, die sich die leckeren Sonnenblumenkerne schmecken lassen, die im Vogelrestaurant auf meiner kleinen Terrasse für sie bereitstehen. Die Vögel machen einen fröhlichen Eindruck, und die Kälte scheint sie nicht zu stören, denn sie sind immer sofort da, wenn der Schneefall eine kleine Pause macht. Auch ein türkisches Taubenpaar schaut gerne vorbei, und große schwarze Amseln mit ihren leuchtend gelben Schnäbeln.
Tierliebe ist manchmal so eine Sache in unserem Land. Über mir wohnt ein dominanter älterer Mann, jetzt pensioniert, einsam und sehr erbost darüber, kein Wirkungsfeld mehr zu haben. Doch was das Schlimmste ist, er hat den extrem deutschen Putzfimmel. Was tun, wenn diese schrecklichen Tauben auch im Sommer kommen und auf seine neue Markise scheißen? Ja, dann geht die Welt unter, guter Mann.
Ich schau mir lieber die schöne Liebesgeschichte zwischen den beiden Täubchen an, die ich Romeo und Julia getauft habe.
9. Januar
Ich liebe die Liebe und ihre verführerischen Geschichten. Kurz vor Weihnachten zum Beispiel habe ich mich unsterblich in Finnland und seine Menschen verliebt. Um genau zu sein, in den finnischen Tango, um noch etwas genauer zu werden, in Mauri Antero Numminen. Er ist ein Philosoph, Musiker und Schabernacker, der immer dann zu gackern beginnt, wenn die anderen Amen sagen. Dieser Mann – M.A.N. – inspiriert mich.
Am 11.11.2003, so gegen 11 Uhr, sprang dieser Mann wie ein Kobold aus dem finnischen Wald in mein Leben. Ich erinnere mich genau, es war ein Dienstag, und die Zahl Elf war schon immer meine Glückszahl. Jedes Mal wenn mir in Dreitorenbach die Decke auf den Kopf fällt, fahre ich mit dem Stadtexpress nach München, bummele dort ein wenig herum, schlendere ziellos durch die Straßen, gehe ins Kino, in ein Café oder mache sonst etwas Schönes, um meine Seele zu füttern und das Nervenkostüm zu entspannen.
An diesem Tag entdeckte ich eine wunderbare jüdische Buchhandlung in der Nähe vom Wiener Platz. Eine seltsame Magie ging von diesem Laden aus, und ich konnte und wollte seinem Sog nicht widerstehen. Interessante, mir zum Teil unbekannte Autoren konnte man dort finden, und eine Vielzahl von herrlichen Kunst- und Fotobänden. Eigenartig war die Erregung, die ich zu spüren begann, denn ich wusste, hier liegt ein Schatz für mich verborgen, ich musste ihn nur noch aufspüren.
In einer kleinen Vitrine, versteckt in einer Ecke, entdeckte ich plötzlich Musik. Wie kleine Zinnsoldaten standen die bunten CDs stramm und gerade aufgereiht hinter dem blitzblanken Glasfenster und lockten mit Titeln wie Russendisco, Palomas und Finnischer Tango.
Finnischer Tango?
Das Wort elektrisierte mich. Finnischer Tango, was soll denn das sein?
»Hören Sie doch einfach mal rein!«, meinte die nette Verkäuferin, ein bildhübsches Rehkitz von einer Frau, mit Augen so schwarz wie glänzende Tollkirschen. Ich ließ mich nicht lange bitten.
Wer bei dieser CD nicht sofort anfängt zu weinen, muss aus Beton gemacht sein. Und wer bei Finnischem Tango anfängt zu lachen oder die Musik ironisch findet, ist ein Idiot. Die melancholische Erotik dieser Lieder nahm mich gefangen. Dann kam plötzlich der Song »Ich mit meiner Braut im Parlamentspark« von Mauri A. Numminen, und schon war es um mich geschehen. So was kann man sich doch nicht trauen, dachte ich mir, mit so einer Kieksstimme zu singen und dann auch noch einen derart wilden Text. Mauri und sein rotzfrecher Mut überzeugten mich sofort. Ich kaufte ihn – und jetzt gehört er mir.
Wieder zu Hause verschlang ich zuerst einmal jede Zeile in dem kleinen CD-Booklet und erfuhr, welcher Gigant dieser Kiekser in Wirklichkeit ist. Natürlich erstand ich auch sofort eines seiner Bücher. Nur wegen ihm begegnete ich Wittgenstein und dessen genialen Satz: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Und jetzt überlege ich mir gerade ernsthaft, ob ich nicht die Penispeitsche, die in Mauris Roman Tango ist meine Leidenschaft eine so entscheidende Rolle spielt, als erotischen Geschenkartikel auf den Markt bringen soll, gleichsam unter dem Motto: Nietzsche einmal richtig verstanden und gelebt.
Nur Knäckebrot und Fischkonserven schmecken mir zurzeit, und sobald ich wieder Geld habe, kaufe ich mir Mauris Buch Der Kneipenmann, weil ich jetzt alles über 132 finnische Kneipen und verdünntes Bier wissen will.
Im Moment ist meine Welt kompletto Däga-Däga, und das ist gut so. Däga-Däga, Numminens CD, ist Dadaismus, Surrealismus und finnischer Underground in Reinkultur. Ja, da macht doch das Leben gleich wieder Spaß. Künstlerische Bewegungen, die sich mit so viel Intelligenz, Humor und Talent gegen den etablierten Kulturbetrieb richten, wie es bei dem göttlichen Numminen und seiner Band auf dieser silbernen kleinen Scheibe zu spüren ist, würzen das Leben mit Freude. Nächsten Monat, wenn ich Geburtstag habe, schenkt mir mein Freund, die Honigbiene, für meine Bildung hoffentlich M.A.N.’s mutige Vertonung von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, die da heißt Tractatus Suite.
Die Honigbiene ist schon seit fünf Jahren ein Freund. Wenn wir zusammen ausgehen, was wir oft tun, bin ich die Biene Maja und er macht den Willi. Das heißt: Wir beide hecken immer wieder Pläne aus, wie das normalerweise nur Kinder tun. Wir spielen einfach lustige, emsige Bienen, die gerne Honig naschen und vieles mehr. Nachts, wenn ich manchmal von ihm träume, hat er immer ein schwarz-gelb gestreiftes T-Shirt an, das ihm wirklich toll steht.
Ich habe ihn Honigbiene getauft, weil das Süße der Inhalt seines Lebens ist. Er könnte locker bei Thomas Gottschalk auftreten, weil er alle Schokoladen, Bonbons, Pralinen, Kekse, Zucker-, Eiscreme- und Honigsorten Deutschlands kennt. Honig schleckt er am liebsten gleich aus dem Glas.
Er ist liebenswert, groß, lustig und seine Aura hat einen honigfarbenen Glanz. Den meisten erotischen Frauen läuft gleich das Wasser im Mund zusammen, wenn sie ihn sehen, weil sie mit ihren feinen Nasen den königlichen Liebhaber zehn Kilometer gegen den Wind wittern. Niemand will mir glauben, dass unsere enge Beziehung nur platonischer Natur ist, doch mir ist das sanfte Feuer einer ewigen Freundschaft mehr wert als eine glühende Leidenschaft, die nur zu einer Trennung führen kann. Vor allem, weil bei ihm zu Hause seine Ehefrau, die Bienenkönigin, das Zepter schwingt und ihr königliches Reich leidenschaftlich regiert und verteidigt, kommt er für mich als. Liebhaber nicht in Frage.
Aber als mein Freund ist er allererste Sahne, und ich bin mehr als glücklich darüber, ihn damals beim Met-Trinken am Viktualienmarkt kennen gelernt zu haben.
Natürlich habe ich ihm auch gleich eine Däga-Däga-Finnenwelt-CD geschenkt, und er ist von dem rosa Cover begeistert, auf dem ein bärtiger Männerkopf mit Hut zu sehen ist, der sich mit gespreizten Fingern die Nase zuhält. Die Honigbiene hat ein gutes Gefühl für avantgardistische Optik, denn er ist ein meisterhafter Fotograf und Flohmarktgänger, ein leidenschaftlicher Sammler und Lebenskünstler.
Wir inszenieren oft gemeinsam Flohmärkte auf dem Lande, denn für uns ist das die bevorzugte Art, Theater zu spielen. Richtiges, echtes Straßentheater, mit Musik, Geschichten, koketten Augenaufschlägen, Flirts und dem Verschenken von Glück an Menschen, die sich über die tollen Schnäppchen freuen, die wir ihnen bieten. Das Geld, das wir zusätzlich bei diesem Spaß verdienen, verfuttern wir gleich in schönen Gasthäusern.
Es ist einfach schön, mit der Biene durchs Leben zu fliegen.
Ich muss nur aufpassen, dass ich dabei nicht zu dick werde.
Obwohl – seitdem mir Mauri A. Numminen begegnet ist, weiß ich auch, dass ich nicht durig, sondern mollig bin, denn ich habe von ihm gelernt, dass es Völker und Menschen gibt, die entweder auf Dur- oder Molltönen schwingen – und eine Blueserin wie ich ist natürlich voll Moll. Dieses Wissen erlöst mich von vielen Ängsten und Zwängen. Ehrlich gesagt, fühle ich mich jetzt im Winter in dieser gemütlichen Molligkeit sauwohl.
In dieser Woche passt die Göttin Lakshmi auf mich auf. Diese wunderbare indische Göttin des Glücks, dieses kostbare Juwel, sie spiegelt den Glanz des Reichtums wider. Hoffentlich, kann ich nur sagen, denn die heilige Automatenkuh der Sparkasse will einfach keine Milch mehr geben.
Ich bin wieder einmal pleite und beobachte seit einiger Zeit mit gerunzelter Stirn, wie die Geier majestätisch über meiner Hütte kreisen. Im Dezember war alles noch voller Glanz. Ein Maharadscha vom Chiemsee, der mir auf der Vernissage eines befreundeten Künstlers zugefallen war, hatte mich huldvoll in seine Sänfte und seinen Palast geladen, mir Diamanten und Perlen versprochen, mich mit leckeren Trüffelsüppchen gespeist – und wollte mir gar ein eigenes Palästchen bauen, GmbH genannt, in dem ich, Maria Mariak, die Geschäftsführerin sein sollte.
Toll, dachte ich, und das alles gegen Sold und Lohn. Geringer Lohn zwar, aber immerhin. Endlich wieder auf eigenen Füßen tanzen, mit beiden Beinen auf der Erde stehen.
Dann kamen die rauen Nächte. Finstere Geister und Simsalabim ließen die leuchtenden Zukunftspläne ins Nirwana verschwinden, aus dem sie gekommen waren.
Siegfried, mein geliebter Freund und Anwalt, raufte sich nur noch verzweifelt die Haare, als ich ihm meine neuesten Pläne offenbarte. Dummerweise glaube ich so sehr an das Gute im Menschen, dass ich schon einige Male im Leben Verträge unterschrieben habe, die alles andere als zu meinem Vorteil waren. Obwohl ich wunderschöne grüne Augen habe, mit ganz langen Wimpern, bin ich manchmal mehr als blauäugig. Aus diesem Grund unterschreibe ich nichts mehr, ohne dass Siegfried es zuvor abgesegnet hat, und das ist mein Glück.
Jetzt kenne ich mich aus mit GmbHs und Geschäftsführereien gegen geringen Lohn und weiß auch, dass es gar nicht gut ist, wenn das Ganze praktisch nur eine Briefkastenfirma sein soll und die Maharadschas sich um die Buchführung selbst kümmern wollen.
Schon gar nicht, wenn in ihrem großen Reich gerade der Krieg ausgebrochen ist, was heißen soll, dass die eigene Firma gerade Pleite geht und so ein Unschuldslamm wie ich wie gerufen kommt. Mit einer frischen GmbH kann man anscheinend für kurze Zeit so viel einkaufen, wie man will. Einzig der Geschäftsführer muss dafür geradestehen, während das Cleverle mit der erbeuteten Ware in Ungarn verschwindet und sich dort in dem schönen Haus, das er schon lange für einen Apfel und ein Ei erstanden hat, ein schönes Leben macht und etwas Neues aufzieht.
Man möge mir verzeihen. Ich war eben sechs Jahre schwer krank und arbeitsunfähig. Ein Aneurysma im Gehirn ist in den meisten Fällen tödlich oder führt zu einer lebenslangen Schwerstbehinderung, und es setzt die betroffenen Menschen oft für lange Zeit auf die Bewusstseinsstufe einer Pflanze. Eine Krankenversicherung hatte ich – mit jugendlichem Leichtsinn und bärenstarker bayerischer Gesundheit ausgestattet – vorher nicht für nötig gehalten. In dem Moment, in dem der große Gong für einen geschlagen wird, knallt man mit der realistischsten Realität zusammen, die man sich vorstellen kann. Alles, was zuvor ein fester Bestandteil des Lebens zu sein schien, löst sich in ein Nichts auf.
Damals, als es den großen Knall in meinem Kopf gab, als dieses Aneurysma im Gehirn, direkt im Sprachzentrum, platzte, und es zu der lebensgefährlichen Gehirnblutung kam, entschwanden in einer Zehntelsekunde mein Leben, meine Sprache, meine Bewegung, mein Beruf, viele Freunde und auch das wenige Geld auf meinem Konto in den Nebeln des Unsichtbaren.
Plötzlich erwacht man auf einer Intensivstation, wird wiedergeboren, und dann fängt ein neues Leben an. Man muss alles neu erlernen und im Laufstall des Sozialamts erst einmal das Krabbeln versuchen.
Eine der Künste, die man begreifen muss, ist Leben mit unendlicher Wenigkeit. Das ist sehr spannend, denn man überschreitet die Grenze in das Land von »wichtig und unwichtig«; in diesem Land herrscht ein neues Gesetz, das lautet: Weniger ist mehr!
In so einer Lebenssituation lernt man sich zum ersten Mal wirklich kennen, denn es gibt nichts mehr, hinter dem man sich verstecken kann, es gibt nur noch den eigenen Wert. Man hat nichts mehr, denn die Sozialhilfe deckt gerade das Existenzminimum, und man schwebt plötzlich in einem luftleeren Raum.
Nach der Gehirnoperation musste ich das Sprechen wieder mühsam erlernen, und auch mein Kurzzeitgedächtnis war jahrelang verschwunden; es hat einfach nicht funktioniert.
Wenn man als Baby nicht zu dick ist, kommt man ja auch leichter auf die Beine, flüstert einem dann der schwarze Humor ins Öhrchen. Irgendwann einmal macht das Krabbeln aber keinen Spaß mehr. An den therapeutischen Gitterstäbchen lernt man, sich hochzuziehen, und irgendwann kann man wieder gut und sicher stehen. Dieses Gefühl ist königlich.
Aber dann wird der Laufstall natürlich zu eng. Man will jetzt Laufen lernen und greift nach jeder Hand, auch wenn diese in Wirklichkeit nur eine Socke ist. GmbHs sind sehr oft Socken. Sogar, wenn diese zunächst duften und aus hellblauer Seide sind wie bei diesem Maharadscha.
Doch zum Glück habe ich diesen Sonntag ja die Lotuskönigin Lakshmi gezogen. Darüber bin ich mehr als glücklich, denn allein ihr Anblick verspricht mir neue Ideen, Möglichkeiten und Hilfen.
Dieses wundervolle Göttinnenorakel lege ich mir jeden Sonntag. Gayan Sylvie Winter hat es geschaffen, und ich danke ihr und dem liebevollen Freund, der es mir schenkte, von Herzen, denn es ist ein wichtiger Teil meiner Heilung geworden. Den Dialog mit den Sternenschwestern, ich weiß ihn sehr zu schätzen.
10. Januar
Regen im Januar, und erst recht am Wochenende, ist deprimierend. Der blütenreine weiße Schnee verwandelt sich in einen ekelhaft grauglibbrigen Matsch, der alles ruiniert.
»Gummistiefel, kommt zu mir!«, würde ich am liebsten laut aus dem Küchenfenster rufen.
Manchmal wäre ich wirklich froh, wenn ich die Zauberkunst auf der materiellen Ebene schon besser beherrschen würde. Wie soll man bloß einkaufen gehen bei so einem Sauwetter?
Alles ist grau.
Grau ist ein hervorragendes Putz- und Bügelwetter. An einem Samstag sowieso. Ich kann dabei so schön träumen.
Früher habe ich meine Träume verkauft, war Traumverkäuferin.
Jeder Mensch, der künstlerisch arbeitet, spielt, malt, singt oder Geschichten schreibt, veräußert seine Träume oder macht diese zumindest sichtbar. Heute frage ich mich oft: Was bin ich? Wie bei diesem berühmten Ratespiel. Jedes Mal, wenn ich die Frage richtig beantworte, schmeißen mir die Götter fünf Euro in mein kleines rosa Schweinchen.
Oft klingelt dann plötzlich das Telefon und der Traumagent von der Künstleragentur bietet mir eine kleine Rolle an, zu der ich eigentlich nein sagen müsste, aber nicht kann, weil mir das meine derzeitige Situation nicht erlaubt. Auch aus therapeutischen Gründen muss ich alles nehmen, was mir angeboten wird, denn ich befinde mich im Aufbau. Ein Nein erfordert Mut, doch ein Ja manchmal noch viel mehr.
11. Januar
Neulich muss mich der Teufel geritten haben. Wenn man wie ich auf dem Lande wohnt, findet man in seinem Briefkasten immer wieder neue Kataloge. Kataloge für Schmuck, Kataloge für Kleidung, Kataloge für Kosmetik und Kataloge für Bücher.
Ein Mensch, der auf Schusters Rappen seine Welt erobert, ist damit schnell verführt. All diese bunten Bilder, die verlockenden Preise, dreimonatige Zahlpausen, prompte Lieferung durch schmucke Jünglinge, wer kann da widerstehen?
Ich nicht!
Das Buch der Bücher wollte ich schon seit Jahren lesen.
9,99 Euro, Prachtausgabe mit Edelprägung und echtem Goldrand.
Sogar ein Bad nahm ich, aus Ehrfurcht, und salbte mich mit Hennaölen, bevor ich mit dem Heiligen Buch in mein von Weihrauchduft erfülltes Schlafzimmer ging und andächtig auf mein Bett sank.
Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr war ich katholisch wie beinahe jeder Mensch, der im Bayerischen Wald geboren wird, und bis dahin habe ich alles geglaubt, was mir die Priester und Klosterschwestern erzählten. Alles – bis zu dem verhängnisvollen Tag, an dem ich im Religionsunterricht erfuhr, dass das, was in der Bibel steht, nur bildlich gemeint ist.
In dieser Stunde erhob sich mein Glaube wie ein Adler in die Lüfte und machte sich die nächsten Jahrzehnte mit seinen scharfen Augen auf die Suche nach der wirklichen Wahrheit – und landete dabei in vielen exotischen Ländern.
Mit einundzwanzig entfloh ich dem Schoß der katholischen Kirche, denn in anderen Religionen und Glaubensrichtungen, wie etwa dem tibetischen Buddhismus, dem Indianerglauben, Sufismus und vielem mehr, fand meine Seele eine bessere Nahrung.
Doch das Alte Testament wollte ich lesen, um zu sehen, was für ein geistiger Schatz für mich darin verborgen liegen mochte.
Doch bald ging es mir so wie Jesus auf dem Ölberg.
»Oh mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Jetzt bin ich beim dritten Buch Mose und voll auf dem Horrortrip.
Wer ist nur dieser schreckliche Gott Israels, auch der Eifersüchtige genannt?
Er ist blutrünstig, gierig nach Macht, Gold und Reichtum und verleitet sein Volk zu Betrug und Lügnereien. Oft benimmt er sich wie ein mächtiger Zauberer, siegelt seine Bündnisse nur mit frischem Blut, verspricht Honigflussländer – und fordert, fordert, fordert.
Er ist der Dämon der Materie, ein Martyrium für die Menschen, die sich unter seinem Schutz befinden und an ihn glauben. Liebe ist für ihn ein Fremdwort, denn absoluter Gehorsam ist das, was er erwartet.
Es ist kein lieber alter Mann mit langem, weißem Bart, den ich bei Moses finde, sondern ein monströses Ungeheuer mit stinkendem Atem und vor Gift triefenden Zähnen.
Ehrlich gesagt, ich bin geschockt.
Ein Ebenbild dieses Gottes will ich auf keinen Fall sein.
Auch die ganzen Konflikte im Nahen Osten zeigen sich mir plötzlich in einem ganz neuen Licht. In Wirklichkeit gehen diese gewalttätigen Streitereien bis zu Abraham, Isaak, Jakob und Moses zurück und sind von diesem Gott angezettelt.
Oder vielmehr von diesem mächtigen Dämon, der den Leuten vorgaukelt, Gott zu sein.
Die Heilige Bibel, vielmehr das Alte Testament, muss man gelesen haben, und zwar ganz von vorne, das rentiert sich. Sämtliche Horror- und Science-Fiction-Filme sind Ammenmärchen dagegen.
Hat unsere Welt gegen dieses regierende Monster von einem dämonischen Gott überhaupt eine Chance?
Woher sollen wir nur all das Blut nehmen, das es zu seiner Nahrung braucht, damit er sich groß und stark fühlen kann.
Das Bild, das unsere Welt von sich zeichnet, beweist täglich, wie mächtig und stark er ist. Nur die Liebe kann ihn bannen.
16. Januar
BMW hat ein neues goldenes Kalb in seinem Tempel aufgestellt, und das Volk kommt, um es anzubeten. Für seine Schöpfer ist dieses Automobil eine wertvolle Perle in schimmerndem Schwarz, das 6er Coupe 645 Ci. Sieht edel aus wie Fury, der arabische Hengst. Seit siebzig Jahren immer wieder neu gezüchtet und verfeinert, erblüht es jetzt in faszinierender Schönheit, weckt Lust und Gier und den Hunger des Besitzenwollens. Dazu Essen von Dallmayr, Mode von Escada.
Barbara Schöneberger, Hohepriesterin der Göttin Venus, führt durchs Programm und flüstert den Gästen die geheimen Formeln ins Ohr, auch SKH Prinz Leopold von Bayern ist da und gibt seinen Segen. Ich bin beeindruckt.
Es kommt nicht oft vor, dass ich nach München reise, um dort auf ein Fest zu gehen. Aber manchmal lasse ich mich verlocken.
So war ich mit meiner Freundin Veruschka auf einer Filmpremiere im Gloria-Palast. Der Wunschbaum, ein Straßenfeger, Dreiteiler für die ARD. Endlich, endlich! Eine geglückte Verfilmung. Ein Vergnügen.
In der Hauptrolle glänzt Alexandra Maria Lara. Die Darsteller, die Regie, die Kamera, die Ausstattung, die Kostüme, die Maske und das Licht sind berauschend. Ja, vor allem das Licht ist wundervoll.
Endlich mal ein nicht-deutsches Licht. Ein Licht, für das man sich nicht zu schämen braucht. Ein Licht, mit dem man sich auch im Ausland sehen lassen kann. Warum? Weil es sensibel ist. Endlich mal ein feinfühliges Licht in einem deutschen Fernsehfilm. Danke. Wenn man einmal beobachtet, wie liebevoll in Amerika, Frankreich oder Italien die Stars in Filmen oder Fernsehstudios ausgeleuchtet werden, und dann einen Blick auf die deutsche Beleuchtungskunst wirft, wird einem klar, dass Letztere sich eher für eine Geisterbahn eignet, in der man das Gruseln lernen soll.
Geschlafen habe ich bei Veruschka, denn mein letzter Zug war schon lange abgefahren. Lange lagen wir noch wach, schwärmten seufzend von Valmont. Valmont – der wunderschöne Mann aus Rio de Janeiro, der lange Zeit ihr Romeo war. Ach, komm zurück, Valmont! Wir vermissen dich so. Deine weichen, zärtlichen Augen, deine schönen Lippen, dein Lachen, deinen Körper, die Hände, die Füße, deine glänzenden, schwarzen Locken, deinen Geist und deine Seele.
Ich hatte ihn und Veruschka bei Dreharbeiten zu einem bayerisch-brasilianischen Film kennen gelernt. Seitdem sind wir Freunde.
Schade, dass er plötzlich nach Hause wollte, um dort eine Band zu gründen, und erst zurückkommen will, wenn er berühmt geworden ist und auf Tournee gehen kann. Moqueca de Peixe, deinen Fischeintopf, möchten wir wieder – von dir zubereitet – genießen, und das Dessert mit den vielen Eigelben, noch mehr Zucker und deinem Geheimnis, deine Skulpturen möchten wir bewundern, deiner Gitarre und deinen Gesängen lauschen.
Ja, Valmont, wir lieben dich, und kommst du nicht zu uns, dann kommen wir eben eines Tages zu dir und stehen plötzlich vor deiner Tür. Der Weg zum Ruhm ist eine gefährliche Straße, lieber Valmont. Deine persönliche Freiheit musst du im Tempel des Ruhms zum Brandopfer tragen und zusehen, wie dein normales Menschsein im Rauch verdampft. Mit deinem eigenen Blut wird der Opferaltar gesegnet, werden die Stierhörner gesalbt. Sühneopfer für einen Star, der auf seine Seele nicht verzichten will, werden gefordert. Gnadenlose Richter erheben ihr Haupt und ihre Stimmen oft aus dem engsten Kreis. Die Hyänen der Medien zerfleischen sich gegenseitig und häuten dich bei lebendigem Leib. Wahrhaftig eine schöne Gesellschaft.
Selbst RTL schickt kleine Gladiatoren als Schlachtvieh in den australischen Dschungel, um die Sehnsucht von Zuschauern zu stillen, die gern zuschauen, wie hungrige Schlangen in Terrarien hilflose Mäuschen bei lebendigem Leib verschlingen. Ja, ihr Lieben! Dummheit und Blutdurst setzen sich durch, denn Dschungelcamp wird heute genannt, was früher das Kolosseum war.
21. Januar
Heute ist Neumond im Wassermann. Ich bin sehr gespannt, was er mir bringt. Er steht für einen Neustart. Neustart wohin? Wassermanntage sind drollig.
Astrologie ist mein Hobby, so wie andere Menschen basteln, sich sportlich betätigen, Seesterne sammeln oder sonst etwas treiben, was ihnen Freude macht. Das Firmament mit seinen geheimnisvollen Zeichen habe ich schon als Kind geliebt. Auch war ich stolz darauf, ein Wassermann zu sein, denn ich habe damals natürlich geglaubt, dass mir das ganze Meer gehört und überhaupt alles, was aus und im Wasser ist. Nixen, Seejungfrauen, Perlen, Korallen, Muscheln, Delfine, Wale und vor allem die Seepferdchen.
Damals hatte ich ja noch keine Ahnung, dass der Wassermann ein Luftzeichen ist, das viel mit Wissenschaft, Ufos, Raumfahrt, Zukunft und allem, was mit Äther und Wellen zu tun hat, korrespondiert. Eine der Haupteigenschaften des Wassermanns ist seine Neugierde, und genau diese Eigenschaft trieb mich im Alter von achtzehn Jahren zu meiner ersten Astrologin, der in den folgenden Jahren noch viele folgten. Irgendwann begann ich dann Bücher zu lesen, studierte den Saturn, den Pluto, die Lillith, den Neptun, die Häuser und was es sonst noch so gibt, und bin jetzt so weit, dass ich die Konstellationen und ihre Wirkungen an mir und anderen lebenden Objekten beobachten kann. Wie gesagt, es ist mein Hobby, und es wird mir niemals langweilig dabei.
Das Wetter ist heute sehr durchwachsen. Ein bisschen Regen, ein bisschen Sonnenschein, und leise rieselt der Schnee.
Euer Ehren, der Herr Kardinal aus dem Bayerischen Wald, erfreut mich mit einem Call aus dem ICE nach Nürnberg und verspricht mir gut gelaunt, sechs Nürnberger Bratwürstel mit einer Extraportion frisch geriebenem Meerrettich für mich mitzuessen. Am Abend selbstverständlich, denn am Mittag isst er ja nichts, wegen der Figur.
Sollte er vielleicht mit dem Neustart gemeint sein? Wir haben uns ja wochenlang nicht gesehen. Unsere erste Begegnung an einem schönen Sonnentag im Oktober letzten Jahres war schon sehr eigenartig gewesen. Fröhlich war ich die Maximilianstraße hinuntergeschlendert, und wenn ich mein Bild in den spiegelnden Schaufenstern der großen Geschäfte sah, war ich mit meinem sexy Outfit und meinem Aussehen sehr zufrieden. Es war einer dieser Tage, an dem man sich noch einmal sommerlich kleiden kann, bevor der Herbst endgültig an die Türe klopft. Hohe, gut sitzende braune Schnürstiefeletten machten meine Beine noch etwas länger, und ein khakifarbener Hosenanzug passte hervorragend zu meinem frisch gewaschenen, rot glänzenden schulterlangen Haar. Das Top war ebenfalls in einem Khakiton, und seine seidige Textur brachte meine Brüste sehr wirkungsvoll zur Geltung.
Serienstar Peppi Krämer hielt an diesem Tag zum ersten Mal nach seinem schweren Motorradunfall und der langen Genesungszeit in seinem Stammcafé Roma Hof und hatte mich eingeladen. Ganz offensichtlich hatte er sich über meine Besuche in den verschiedenen Kliniken doch sehr gefreut, denn er wusste ja, wie schwer es für mich ohne Auto war, ihn in Österreich zu besuchen.
Vor allem, weil ich ja auch kein Geld hatte und mich nicht einfach in einen Zug setzen konnte.
Ich stöckelte also die Maximilianstraße hinunter in Richtung Café Roma und konnte, wie immer, an den Schaufenstern von Hermes nicht vorbeigehen, weil ich die Accessoires dieser französischen Firma einfach liebe. Plötzlich stand ein auf den ersten Blick unglaublich gut aussehender älterer Herr hinter mir und sprach mich an. Er stellte sich vor und fragte, ob ich Maria Mariak sei oder ob er sich täusche. Im selben Augenblick, als ich mich umdrehte und ihn zum ersten Mal erblickte, verpasste ich ihm insgeheim den Namen »Kardinal«, denn seine Haltung und seine Kleidung waren dermaßen edel und distinguiert, dass gleich die Dornenvögel zu flattern begannen.
Wie sich herausstellte, waren wir beide im selben Ort zur Welt gekommen. Zwei Menschen aus Scheideweg trafen sich also hier so einfach per Zufall. Eine Einladung zum Kaffee konnte ich leider nicht annehmen, weil ja der Peppi auf mich wartete. Stattdessen tauschten wir unsere Telefonnummern aus, und die Drähte liefen ein paar Wochen lang heiß.
Er muss sich anstrengen, wenn er etwas von mir will, hatte ich mir gedacht, denn sein Sternzeichen ist der Widder, und einen Widdermann, so wie einen Ex-Freund namens Orshi, wollte ich eigentlich nie wieder.
Ein paar Wochen hatte der Kardinal sich dann nicht gemeldet, jetzt war er wieder da, und er rief heute sogar aus dem Zug an. Olala, gar nicht mal so schlecht. Vor zwei Tagen sei er in Köln gewesen, auf einer Messe, wo er Möbel aus seinem Verlag verkaufen wollte, erfahre ich von ihm. Heute werden ganz geheime Geheimgeschäfte gemacht.
Fast siebzig Jahre alt ist dieser Mann, und er hat eine Energie wie ein Tornado. Würde er seine erstklassig handgenähten Cary-Grant-Anzüge im Schrank lassen und mehr auf Papagallifarben stehen, könnte man ihn locker für den Formel-1-Manager Flavio Briatore halten, obwohl dieser erst Anfang fünfzig ist. Ein gefährliches, geschmeidiges Raubtier ist dieser Mann. Bis jetzt habe ich mich nicht getraut, Stuhl und Peitsche aus der Hand zu legen, sonst geht es mir noch wie dem armen Roy aus Las Vegas.
Dieser Mann, also der Kardinal, muss hunnisches Blut in seinen Adern haben, genau wie ich, denn wir sind ja beide in Scheideweg geboren worden, und das ist mitten im tiefsten Bayerischen Wald, in dem vor langer Zeit die Hunnen siedelten.
All meine Kartenlegerinnen haben mir schon seit drei Jahren einen Mann wie ihn prophezeit: »Dieser Mann, der da kommt, ist älter als du, ist schwerreich, liebt dich über alles, wird dir den Platz in der Gesellschaft geben, der dir zusteht, und dich auf Händen tragen.«
Ach, wie schön! Anscheinend gibt es auch weiße Zigeunerinnen, die dir deine geheimen Wünsche vorspiegeln.
Außerdem ist der Kardinal ohnehin beweibt und damit für mich tabu. Aber gefallen tut er mir schon, weil er so ein charmanter Hallodri ist.
Kaum hat der Herr Kardinal das Liebesgesäusel eingestellt und das Gespräch mit vielen Bussis beendet, klingelt das Telefon erneut. Mein lieber Freund Don Quijote ist am Apparat. Wir kennen uns seit fünfundzwanzig Jahren, er ist von Beruf Architekt. Schon lange kämpft er mit dem Umbau seiner alten Mühle, in der er lebt, und nur sehr schleppend kommt er damit vorwärts. Der Kampf mit diesem widerspenstigen Gemäuer hat ihm den Namen Don Quijote eingebracht. Der Don hat immer die allertollsten Ideen. Ich muss sagen, dass er sich wirklich Sorgen um mich macht, weil er weiß, wie deprimiert ich werden kann, wenn Ebbe in der Kasse herrscht.
»Also«, setzte er an, »meine Freundin hat eine Freundin und die hat einen Freund, und dieser Freund hat wiederum einen Freund, und der muss ganz schnell eine deutsche Frau heiraten und zahlt dafür 10000 Euro cash. Wäre das nichts für dich?«
Gegen Vernunftehen ist im Grunde ja nichts einzuwenden. Und wenn man nur noch 100 Euro besitzt, sind 10000 Euro mehr als vernünftig. Vielleicht ist das ja schon der Mann, den das Schicksal für mich ausersehen hat? Es ist eine feste Bindung, die ich mir wünsche, und etwas Festeres als eine Hochzeit kann es doch kaum geben.
Leider wusste der Don sonst gar nichts über diesen willigen Heiratskandidaten. Doch er vermutet, dass dieser aus Ex-Jugoslawien oder so stammt.
In Jugoslawien, vielmehr im ehemaligen Jugoslawien, war ich ja noch nie. Vielleicht ist dieser Mann aus Kroatien. Kroatien soll wunderschön sein. Auf jeden Fall verabredeten wir uns mal für das Wochenende mit diesem Herrn. Don Quijote will seine niemals fertig werdende romantische Mühle am Fuße der Burg Rain zur Verfügung stellen und bietet sich selbst für die Rolle des Hofmarschalls an. Ich wäre nicht ich, würde ich zu so einem Abenteuer nein sagen. Was, wenn der Märchenprinz persönlich auf seinem weißen Pferd dahergeritten kommt und mich auf sein prächtiges Schloss entführt? Man hat doch schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen. Das Leben ist voller Wunder.
Eine Freundin von mir hat zum Beispiel für 10000 Dollar einen russischen Fürsten geheiratet. Sie hat in Moskau das Fest ihres Lebens erlebt, in Krimsekt gebadet, sich mit Kaviar eingeschmiert und ihre Hochzeitsnacht mit einem – oder waren es zwei? – berühmten Astronauten verbracht.
Ja! Sein Leben muss man leben, denn tot sein kann man später. Es ist der erste Kandidat, den die Göttin mir zur Ansicht schickt. Das Spiel hat also begonnen.
25. Januar
Mitten in der Nacht fängt mein Telefon penetrant zu klingeln an. Aus einer wild erotischen Traumlandschaft, in der das Gras in silbergrünen Wogen über die unendliche Prärie streicht, werde ich zurück in die Dunkelheit meines Schlafzimmers geworfen. Blind wie ein Maulwurfweibchen tapse ich in Richtung Störenfried und schwöre bei Manitou und allen Göttern, wer immer es auch sein möge, diesen Menschen an den Marterpfahl zu nageln.
Mitternacht ist längst vorbei. Es ist Valentino. Valentino aus Uruguay. Drei Jahre sind vergangen, seit ich von meinem schwulen Freund zuletzt etwas gehört habe. Der schönste Mann aus Punta del Este mit dem riesengroßen ... Voller Stolz hatte er mir damals sein Prachtstück in einem Schwulenmagazin präsentiert, das ihn als Freibeuter abgelichtet hatte. Madre mia – geben diese Männer aus Uruguay denn niemals auf?
Ob ich mich freue, dass er wieder da sei?
Ob ich ihn vermisst habe?
Ob ich gleich morgen zu ihm in seine neue Wohnung in der Maximilianstraße kommen wolle?
Ob er für mich kochen dürfe?
Ob er sonst was für mich tun könne?
Ob ich Geld benötige?
Attenzione, Valentino. Attenzione.
Ich bin schon sehr gespannt, was du diesmal von mir brauchst? Vor Jahren wolltest du berühmt werden. Ein Popstar sein. Mindestens so faszinierend wie Robbie Williams – oder noch besser –, wie Michael Jackson, dann kurz darauf Opernsänger, danach Filmstar und anschließend eine Parfümerie eröffnen oder deine eigene Kosmetikserie erfinden, um damit Millionär zu werden.
Nie wieder habe ich jemanden kennen gelernt, der so phantasievoll und überzeugend lügen kann wie du. Du, der Diplomatensohn, der schönste Körper der Welt, ein edles Gesicht, Lippen zum Küssen, alles echt, alles wahr, vor allen Dingen dein blauschwarzes Latinohaar. Marathonläufer am anderen Ufer, Diva und Dominus. But – nobody is perfect. Ich bin gespannt, was du mir aus New York mitgebracht hast, falls du überhaupt dort warst, wie du es behauptest. Wir verabreden uns für Donnerstag, den 5. Februar, um 17.00 Uhr bei ihm.
Zurück in meinem Himmelbett schwebe ich mit dem fliegenden Teppich davon und träume jetzt arabisch. Ich reibe emsig an der Wunderlampe, bis diese leuchtet wie der Sonnenglanz und mir alle Wünsche erfüllt – auch die schmutzigen.
26. Januar
Komisch, immer wenn ich an meinen Vater denke, bekomme ich Appetit auf Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl. Mein Vater war ein grauenvoller Koch, der auf eine klare Spargelsuppe aus der Dose Fettaugen zauberte, indem er einen kräftigen Schuss Speiseöl hineinkippte, oder die nur von ihm geliebten Bohnengerichte mit schaufelweise Mehl so kräftig eindickte, dass der Löffel wirklich darin stecken blieb.
Hätte er uns diese Eigenkreationen wenigstens in einem Blechnapf unten im eiskalten Kohlenkeller serviert, garniert mit russischen Kriegsgeschichten, hätte ich damit leben können. Aber so ... Doch Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl beherrschte er königlich. Wenn man in Frankfurt an der Oder geboren ist, gibt es zwei Dinge, mit denen man sich wirklich auskennt. Mit Fischen und Kartoffeln in jeder Form.
Vor einem Jahrzehnt war ich einmal in der Geburtsstadt meines Vaters und habe dort mit der Starfotografin GABO eine Titelgeschichte über den Boxer Axel Schulz für den Stern produziert. Dabei stellte ich fest, dass es dort von Anglern und Kartoffelrestaurants nur so wimmelt. Ein Zeichen dafür, dass Fische und Kartoffeln an der Oder wirklich geliebt werden, und was man liebt, damit kennt man sich aus.
Dem Rest meiner Familie hat es vor diesem Leinölzeugs gegraust, denn im Bayerischen Wald nimmt man so etwas höchstens zum Verdünnen von Ölfarbe. Was tut man nicht alles aus Liebe, hat meine Mutter dabei immer verzweifelt gescherzt, doch in Wahrheit nur um des lieben Friedens willen. Aber mir hat dieses Gericht schon allein wegen seiner preußischen Exotik ganz wunderbar geschmeckt.
Frau Holle hat heute Nacht Überstunden gemacht, denn draußen liegt fünfundzwanzig Zentimeter dicker, feuchter Neuschnee.
Ideal zum Schneemannbauen. Dazu leuchtet der Himmel in einem strahlenden Blau, ein Wetter wie für den Kaiser.
Die Kartoffeln sind aufgestellt, der Quark mit ein wenig Magermilch, einer Prise gebranntem Curry, Kurkuma, Kreuzkümmel, Pfeffer, Griechenklee, Bierhefeflocken und dazu frisch gemahlenem, naturreinem Meersalz angerührt. Kalt gepresstes Leinöl steht bereit. Es ist besonders gut bekömmlich und von hoher ernährungsphysiologischer Bedeutung. Es enthält zirka 72 Prozent der unverzichtbaren, mehrfach ungesättigten essenziellen Fettsäure, die unser Körper nicht selbst bilden kann, und unter anderem von allen Speiseölen den höchsten Gehalt an wertvollen Omega-3-Fettsäuren. Mmmh, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. So etwas Tolles hat der strenge Papa für uns gekocht, und wir lausigen Hinterwäldler haben das nicht zu schätzen gewusst.
Wenn man das Ganze dann zu einem richtigen Kartoffelquarkbrei in seinem Teller zusammenmanscht, das Leinöl und frisch gehackte Kräuter darübergibt, entsteht daraus eine richtige Omegabombe, die dann so schmeckt wie Dotterblumen riechen.
Ich liebe die Kartoffeln.
Ich liebe Frankfurt an der Oder.
Ich liebe meinen Vater.
Gott hab ihn selig.