Buchcover

Iðunn Steinsdóttir

Durch die Dornenhecke

Saga

Die Hauptpersonen der Geschichte:

Im Westtal wohnen:

Alfrun: Ein Mädchen, das nicht wie eine Heldin aussieht.
Alt-Siw: Alfruns Großmutter, die älteste Frau im Tal.
Godelinde: Hübsch, mit goldblondem Haar, sieht aus, wie eine Heldin aussehen soll.
Obbi: Ein Junge, der der beste seines Jahrgangs im Wirbelballspielen ist.
Kori: Ein Freund und Spielkamerad.
Herbald: Der Anführer der Leute im Westtal.
Wohlbeleibt: Ein älterer Herr, reich und rundlich.

Im Osttal wohnen:

Uta: Die Cousine von Alfrun und genauso alt wie sie.
Germar: Utas Vater, der Sohn von Alt-Siw.
Milda: Utas Mutter.
Meinrad: Ein Freund von Germar und so alt wie Germar. Witwer und Vater von fünf Kindern.
Nanna: Meinrads älteste Tochter.
Ungeheuer: Der Unterdrücker, der das Tal teilt.
Weißalles: Ungeheuers Diener und Helfer.
Machtalles: Ungeheuers Diener und Helfer.
Ratbold: Deckname eines Mannes, der Briefe ins Westtal schreibt.

I

Wie Sie wünschten, dass die Dornenhecke verschwände und alle wieder vereint wären ...

Was vor vielen Jahren geschah

Das Tal war tief und die Berge ringsum hoch und wild zerklüftet. Am höchsten stiegen sie im Osten auf, dort wo die Teufelswand steil zum Himmel ragte. Sie war nicht zu besteigen.

Auf der Westseite schlängelte sich ein Pfad aus dem Tal, hinaus in die weite Welt. Diesem Pfad folgten diejenigen, die weit hinaus wollten, und denselben Weg in entgegengesetzter Richtung nahmen die Reisenden, die ins Tal zu Besuch kamen.

An einem frühlingshellen Tag kam vor vielen vielen Jahren ein eigenartiger Gast auf dem Weg daher aus dem Westen. Ungeheuer war sein Name, scharf und kalt sein Blick. Er sagte kaum ein Wort, denn er konnte die Sprache der Menschen, die dort zu Hause waren, nicht sprechen. Ihm folgten vier ungeschlachte Diener, die grob und böse aussahen.

In einer einzigen Nacht erbauten sie Ungeheuer ein Kastell, gerade an der schönsten Stelle ostwärts im Tal, auf dem Platz der Lichter und der Freude. Dort waren von altersher die Menschen an Sommerabenden zusammengekommen und hatten beim Wachtfeuer gesungen.

Zorn erglühte in der Brust dessen, der zuerst am nächsten Morgen aufwachte. Und heiß wie Feuer glühte er weiter, in einem nach dem anderen. Mit erhobenen Fäusten erschienen die Menschen beim Kastell und forderten, daß es wieder abgetragen würde, Stein um Stein.

Ungeheuer stand oben an der Brüstung und blickte kalt auf die Menschen hinunter. Er gab ihnen keine Antwort.

“Du hast dieses Kastell gegen unseren Willen errichten lassen. Morgen früh, wenn wir aufwachen, muß es wieder verschwunden sein”, rief die Menge.

Da lachte Ungeheuer kalt, daß es in der Luft klirrte und allen schaurig den Rücken hinunterlief. Aber er sagte kein Wort.

Und wieder reckten die Menschen die Fäuste in die Höhe, riefen laut und eindringlich, bekamen aber keine Antwort. Da verstummten sie und machten sich auf den Heimweg.

“Ungeheuer hat Angst. Wir sind ja in der Mehrzahl, und er ist ganz allein mit seinen häßlichen Dienern. Er traut sich nicht einmal zu antworten”, sagte einer zum andern.

Doch beim Aufwachen am nächsten Morgen war der östliche Teil des Tales vom westlichen durch eine dichte Dornenhecke abgetrennt, und niemand konnte mehr herüber kommen als höchstens Vögel im Flug. Die Menschen im Osttal waren eingeschlossen. Auf der einen Seite ragten die unbezwingbaren Felswände bis in die Wolken hinein, auf der anderen stand die Dornenhecke.

Von da an sprachen die Einwohner vom Osttal und vom Westtal.


Die älteste Frau im Westtal hieß Alt-Siw. Ihr Sohn Germar, einer der mutigsten jungen Männer, wurde im Osttal eingeschlossen. Er konnte sich schlecht mit der Unfreiheit dort abfinden. Kurz nachdem die Dornenhecke entstanden war, machte er einen Versuch, in den Westen zu kommen. Leise schlich er eines Nachts mit seiner Sense zur Dornenhecke und wollte sich damit einen Weg hindurch hauen. Dreimal hatte er schon zugeschlagen, als Weißalles und Machtalles, die bösen Diener Ungeheuers, ihn faßten. Sie zogen ihn aus der Dornenhecke heraus und warfen ihn Ungeheuer vor die Füße. Dort lag er, während sein Blut aus vielen Wunden floß, gerissen von den scharfen Dornen. Ungeheuer blickte Germar streng an. Er sagte kein Wort, doch die Diener verstanden seine Zeichen.

Sie führten Germar hinaus und banden ihn an einen Pfahl. Dort mußte er sieben Tage und sieben Nächte lang stehen, all denen zur Warnung, die sich einfallen lassen wollten, über die Dornenhecke zu fliehen. Tagsüber brannte ihn die heiße Sonne, aber in den Nächten zitterte er vor Kälte. Niemand wagte, sich ihm zu nähern, weil Ungeheuers Diener bei ihm Wache hielten. Zu ihrem Zeitvertreib lockten sie Regenwürmer aus der Erde hervor und hackten sie in Stücke, wenn sie wieder wegkriechen wollten, oder sie hexten Schmetterlinge herbei, um ihnen die Flügel auszureißen.

“So geht es allen, die versuchen, uns zu entkommen”, sagten sie und schüttelten sich vor Lachen.

Germar starrte erschüttert auf ihr Treiben, und jedesmal, wenn ein Schmetterling verstümmelt zur Erde fiel oder ein Regenwurm zerhackt wurde, dachte er: Das kann auch mir oder meinen Kameraden blühen.


An dem Abend, an dem er freigelassen wurde, schrieb er einen Bericht über das, was er erlebt hatte, auf ein Blatt Papier. Das Blatt wickelte er um einen Stein und warf ihn über die Dornenhecke. Beinahe wäre der Stein auf Wohlbeleibts Kopf gelandet. Wohlbeleibt machte gerade dort, an der Hecke, seinen Abendspaziergang.

Wohlbeleibt war einer der reichsten Männer im Westtal, aber nicht sehr fröhlich. Er wurde böse und drohte mit der geballten Faust zur Dornenhecke hin, als ob sie versucht hätten, ihn umzubringen. Dann hob er den Stein auf und wickelte den Brief ab. Als er sah, was darin stand, lief er so schnell, daß er fast keine Luft mehr bekam, zu Alt-Siw nach Hause.

Der Kummer, der den Menschen im Westtal das Herz schwer machte, wurde stärker und schmerzlicher, als sie den Brief gelesen hatten.

“Wir werden sie nie mehr wiedersehen”, stöhnten Väter und Mütter, Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, Onkel und Tanten, Basen und Vettern, alle, die Verwandte östlich der Dornenhecke hatten.

“Was sollen wir nur machen? Irgend etwas müssen wir doch tun”, seufzten sie.

Und sie versuchten dies und jenes. Alles, was ihnen einfallen wollte, versuchten sie, aber immer nur ein einziges Mal, denn Ungeheuer ließ sich nicht überlisten.

Alt-Siws Schwiegersohn besaß die schärfste Axt im Tal. Er versuchte, eine Lücke durch die Dornenhecke vom Westen her zu schlagen. Das ging ganz langsam, denn die Stämme und Zweige der Hecke waren zäh. Eine ganze Nacht lang hatte er schon gearbeitet, war aber nur halb durch die dichte Dornenwand gekommen.

Heute abend komme ich wieder und vollende mein Werk, dachte er, als er sich am frühen Morgen auf den Heimweg machte.

Doch am Abend war die Öffnung wieder verschwunden, und da, wo sie gewesen, wuchs die Dornenhecke noch dichter als zuvor. Enttäuscht stand er lange dort und starrte sie an, dann steckte er seine Axt ein und machte sich betrübt auf den Heimweg. Und hinter ihm dröhnte Ungeheuers höhnisches Lachen.

An einem windstillen Abend versammelten sich groß und klein zu einem Fackelzug an der Dornenhecke. Sie wollten sie einfach abbrennen. Doch auch Feuer konnte ihr nichts anhaben. Die Flammen schrumpften zusammen, wurden kalt und erloschen, sobald sie die Hecke berührten.

Wagemutig machten sich Bergsteiger auf den Weg, die Felsen hinauf, entlang an der Dornenhecke. Sie wollten dort, wo sie zu Ende war, hinüber in den Osten klettern. Doch alle Mühsal war vergebens. Die Dornenhecke wuchs ganz dicht, bis in die steilsten Felswände zu beiden Seiten des Tales hinein. Und diese Felsen konnte man nicht bezwingen.

Dann hatte die lebenserfahrene Siw eine Idee.

“Wir bauen eine bogenförmige Eisenleiter und legen sie einfach über die Dornenhecke!”

Der Schmied im Westtal war besonders geschickt im Umgang mit Eisen und Holz. In den nächsten Tagen stand er mit geröteten Augen in seiner Schmiede an der Glut und baute eine gewaltige Leiter. Zwanzig starke Männer schleppten sie dann an ihren Bestimmungsort. Alle Einwohner des Westtales kamen und riefen “Hurra”, als die Leiter über die Dornenhecke geschoben wurde.

Und alle wollten gleichzeitig auf die Leiter klettern, die jungen Helden waren ganz vorn. Doch bevor sie noch die oberste Sprosse erreichten, begann die Dornenhecke zu wachsen. Sie reichte bald bis über die höchsten Sprossen, und die messerscharfen Dornen stachen zu, daß das Blut floß. Schreiend vor Schmerz flohen die Menschen wieder hinunter, während aus ihren Fußsohlen das Blut tropfte und die Köpfchen der blauen Glockenblumen rot färbte. Schweigend und ratlos mußte die Menschenmenge zusehen, wie die Dornenhecke in Windeseile größer wurde und die Leiter bald ganz verhüllte.

Da ergriff Alt-Siw das Wort:

“Jetzt ist wohl klar, daß diese Dornenhecke verzaubert ist. Werkzeuge können ihr nichts anhaben, und Feuer kann sie nicht niederbrennen. Es ist nicht möglich, über sie hinüber, noch an ihr vorbeizukommen. Nur eines haben wir noch nicht versucht: den Weg unter ihr durch.”

Und wieder schürte der Schmied seine Glut, und jetzt fertigte er Hacken und Schaufeln an. Und eines Nachts machten sie sich an die Arbeit, eine ganze Arbeitstruppe. Sie wollten einen Gang unter der Dornenhecke graben und so einen Weg in den Osten bahnen.

Sie gruben und schaufelten. Ganz vorn arbeitete der Schmied, doch die anderen folgten ihm auf den Fersen.

Als sie schon viele Stunden geschuftet hatten und tief unter die Hecke gekommen waren, brach das Unglück herein: Die Wurzeln der Dornen begannen nach unten zu wachsen. Sie schlangen sich um den Schmied, hielten ihn fest und verletzten ihn.

Es schnitt allen ins Herz, seine Schmerzenslaute zu hören, während sie mühsam versuchten, ihn zu befreien. Als es endlich gelang, flohen alle so schnell wie möglich.

Kaltes Hohngelächter dröhnte hinter ihnen her. Es verfolgte sie bis zu ihrer Haustür.


In den ersten Jahren kamen noch Nachrichten von den Menschen im Osttal, in Form von Zetteln, die um Steine gewickelt und herübergeworfen wurden.

Das waren traurige Nachrichten. Ungeheuer zwang alle zu harter Arbeit. Alles, was in diesem fruchtbaren Tal wuchs, nahm er für sich selbst, doch die Menschen lebten in Hunger und Not. Farbe und Putz blätterte von ihren Häusern. Ein Geruch von Zerfall und Fäulnis zog in Hauswände und Fußböden ein. Ihre Kleider wurden schäbig und häßlich. Mit der Zeit verhüllten nur noch Fetzen ihre Körper. Hungrig und schlecht bekleidet rackerten sie sich ab. Sie erhielten keinen Lohn für ihre Arbeit, nur abends gab es eine knappe Essensration, gerade genug, um sie am Leben zu erhalten. Stets waren Ungeheuers Diener gegenwärtig, und obwohl sie nur zu viert waren, schien es, als wären sie zu Hunderten, denn sie standen plötzlich da, unerwartet, auch an den entlegensten Stellen und hielten jeden einzelnen der Gemeinschaft unter Kontrolle.

Dann geschah es, daß Weißalles sah, wie Germar mit einem Stein spätabends zur Dornenhecke schlich. Er fing ihn ab und brachte ihn zu Ungeheuer.

Ungeheuers Hohngelächter dröhnte aus dem offenen Fenster des Kastells hinaus in die Nacht, weit über das Osttal hin. Es drang in die Träume der Menschen, die erschöpft von der Plackerei des Tages schliefen, und färbte sie dunkel und häßlich.

Am nächsten Tag wurden alle zusammengerufen, und Machtalles, der glaubte die Sprache der Menschen im Tal am besten zu beherrschen, hielt eine Ansprache:

“Ihr scheint Spaß am Schreiben zu haben, das beweist dieser Brief”, sagte er und fuchtelte mit Germars Zettel in der Luft herum. “Sicher ist es schön und gut, etwas aufzuschreiben, aber es kommt darauf an, was man schreibt. Dieser Brief ist voll von Lügen über Ungeheuer, der doch euer Wohltäter und Freund ist. Das gefällt ihm nicht. Von jetzt an dürft ihr Briefe schreiben, sie um einen Stein wickeln und über die Dornenhecke werfen, doch zuerst will ich sie Ungeheuer vorlesen. Ungeheuer möchte, daß eure Angehörigen im Westen auch erfahren, wie gut es euch geht unter seinem Schutz, hier im Osttal.”

Schweigend gingen die Menschen auseinander und an ihre Arbeit. Aber nach diesem Ereignis wurden keine Briefe mehr geschrieben, und die Zettel, die in den Schubladen und Schränken lagen, vergilbten und zerfielen mit der Zeit.


So verging Jahr um Jahr, und die Menschen im Westtal mußten sich daran gewöhnen, nichts mehr von ihren Angehörigen drüben zu hören und zu sehen. Der Schmerz, der alle überwältigt hatte, als die Dornenhecke entstand, wurde mit der Zeit schwächer. Eine neue Generation wuchs heran, eine Generation, die nicht mehr wußte wie es gewesen war, bevor man das Tal geteilt hatte. Die Verwandten hinter der Dornenhecke waren für sie unwirklich, wie Schattengestalten. Sie bedauerten sie zwar ein wenig, aber sie sehnten sich nicht danach, sie wiederzusehen.

Doch die alten Frauen, die früher einmal Mütter und jetzt Großmütter waren, und auch die Urgroßmütter erinnerten sich noch an alles. In ihnen wühlte der Schmerz heiß und bitter weiter, so wie am ersten Unglückstag, als das Dornengestrüpp das Tal geteilt hatte.