Über Tom Knox

 

Tom Knox (eigentlich Sean Thomas) wurde 1963 in England geboren. Als Journalist für die Times, den Guardian sowie die Daily Mail hat er die ganze Welt bereist. 2007 wurde er von der Sunday Times zum Reisejournalisten des Jahres gewählt. In seinen Artikeln schreibt er außerdem über Politik, Kultur und Kunst. Er ist Autor mehrerer Thriller. Bei Hoffmann und Campe erschienen bisher Genesis Secret (2009), Cagot (2011) und Bibel der Toten (2012). Wenn er nicht auf Reisen ist, lebt Tom Knox in London. Mehr Informationen unter www.tomknoxbooks.com

Dieses Buch ist meinem Bruder Ross gewidmet: für seinen unerschütterlichen Humor, seinen Stoizismus und seine Gelassenheit und dafür, dass er auf dem schwimmenden Markt von Belén in Iquitos so großzügig seinen kleinen Becher Masato-Bier mit mir geteilt hat, das aus gekautem Maniok und menschlicher Spucke hergestellt wird.

Vorbemerkung des Autors

Die Handlung in Der Babylon-Kult ist frei erfunden. Dennoch nehme ich darin auf zahlreiche historische, archäologische und kulturelle Quellen Bezug. Insbesondere gilt dies für:

Die alte Tempelritterkommende Temple Bruer im englischen Lincolnshire stand lange in dem Ruf, es spuke dort. Im 19. Jahrhundert entdeckte Reverend Oliver, ein lokaler Altertumsforscher, mehrere eingemauerte mittelalterliche Skelette, die er als Überreste Gefolterter deutete, die lebendig begraben worden waren.

Die kleine Kirche von Nosse Senhora de Guadalupe in der Algarve im Süden Portugals war die Privatkapelle Heinrichs des Seefahrers, eines der ersten großen europäischen Entdecker. Die Bedeutung des Reliefs an ihrer Decke wurde nie geklärt.

Die Moche-Kultur, die zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert n.Chr. in den Wüsten im Norden Perus ihre Blüte erlebte, ist möglicherweise die eigenartigste aller präkolumbischen Zivilisationen. Eines der ungewöhnlichsten Elemente der Moche-Religion war ein komplexes Ritual, das als Opferzeremonie bekannt ist.

»Es scheint, dass im Orient vor kurzem ein neuer Ritterorden entstanden ist. Sie fürchten den Tod nicht; im Gegenteil, sie sehnen sich nach dem Tod.«

Der heilige Bernhard von Clairvaux über die Tempelritter, A.D. 1135

1

Trujillo, Peru

Es war ein höchst seltsamer Ort für ein Museum: unter einer Texaco-Tankstelle, in einer Brache aus Betonlagerhäusern und schmuddligen Cantinas, wo die trostlosen Vorstädte Trujillos auf die kalte und neblige Wüste Nordperus trafen. Doch dieser verborgene ungewöhnliche Standort verstärkte den Reiz des Museo Cassinelli noch: als ob es wirklich ein geheimes Museum wäre.

Jessica kam gern hierher, wenn sie von Zaña nach Trujillo herunterfuhr. Und diesmal hatte sie auch daran gedacht, eine Kamera mitzunehmen, um wichtige Beweise zu dokumentieren.

Sie öffnete die Tür auf der Rückseite der Tankstelle und lächelte den alten Kurator an, der sich, höflich wie eh und je, von seinem Platz erhob und verneigte. »Ah, Señorita Silverton! Wieder einmal bei uns? Die, äh … unanständige Keramik hat es Ihnen wohl angetan?« Ihr Achselzucken war ein wenig verlegen, sein Lächeln milde spöttisch. »Die Schlüssel sind leider im anderen Schreibtisch … Un minuto?«

»Selbstverständlich.«

Pablo verschwand in ein Zimmer im hinteren Teil. Während er weg war, schaute Jessica, zum fünften Mal an diesem Tag, auf ihr Handy. Sie wartete auf einen wichtigen Anruf von Steve Venturis, dem besten forensischen Anthropologen, den sie kannte.

Als sie vor einer Woche ihre Forschungen an den Pyramiden von Zaña unterbrochen hatte und nach Trujillo gefahren war, hatte sie eine Schachtel mit eintausendfünfhundert Jahre alten Moche-Knochen mitgenommen. Und dieses Paket hatte sie Steve Venturi, ihrem ehemaligen Tutor an der UCLA, nach Kalifornien geschickt.

Jetzt rechnete sie täglich mit Venturis Antwort. Lag sie richtig mit ihrer Einschätzung zu den Halswirbeln? War ihre gewagte Hypothese zutreffend? Das gespannte Warten auf sein Urteil wurde immer schwerer zu ertragen. Jess kam sich vor wie eine Schülerin, die auf ihre Prüfungsergebnisse wartete.

Sie blickte von ihrem stummen Handy auf. Pablo war mit zwei Schlüsseln, einem großen und einem kleinen, zurückgekommen. Er hielt sie ihr zwinkernd hin. »La sala privada?«

Jessicas Spanisch ließ noch einiges zu wünschen übrig, weshalb sie sich mit dem netten Kurator normalerweise auf Englisch verständigte. Aber diese Wendung verstand sie nur zu gut. Das Privatzimmer.

»Sí!«

Sie nahm beide Schlüssel an sich und sah, dass Pablo das leichte Zittern ihrer Hand bemerkte. »Mir fehlt nichts. Ich brauche nur ein Coke.«

Pablo runzelte die Stirn. »La diabetes?«

»Nein, nein, alles okay. Mir fehlt nichts.«

Das Stirnrunzeln verflüchtigte sich zu einem Lächeln. »Dann bis später.«

Jess stieg die Treppe zum Kellermuseum hinab. Im Dunkeln nach dem Schlüssel fummelnd, schloss sie die Tür auf.

Als sie das Licht einschaltete, überflutete es den Raum mit seinem ermutigenden Schein und enthüllte einen ebenso ausgefallenen wie einzigartigen Schatz aus alten peruanischen Keramiken, Textilien und anderen Artefakten – Relikte der rätselhaften Kulturen des präkolumbischen Peru: Moche, Chan Chan, Wari, Chimú.

Auch auf einen getrockneten Affenfötus, der in einem Glasgefäß vor sich hin griente, fiel das Licht.

Sie versuchte, ihn nicht anzusehen. Vor diesem komischen Ding graute ihr noch immer. Vielleicht war es nicht einmal ein Affe, sondern ein getrocknetes Faultier oder eine menschliche Mutation, die José Cassinelli als grausige Kuriosität aufbewahrt hatte, um ihr trauriges kleines Gesicht der Welt für immer zu präsentieren.

Sie ging zügig an dem Glasgefäß vorbei und blieb vor den gläsernen Vitrinen mit den Keramiken und sonstigen Artefakten stehen. Hier waren die Steinstößel der Chavín und hier, in verblichenem Violett und Purpur, die prächtigen Bestattungsgewänder der Nazca; auf der linken Seite war eine kurze, prägnante Zeile in Quingnam-Schrift, der verschollenen Sprache der Chimú. Jess holte ihre neue Kamera heraus und drehte an der winzigen Einstellscheibe, um die schlechten Lichtverhältnisse zu kompensieren.

Beim Fotografieren dachte sie an ihren ersten Besuch im Museum. Das war vor sechs Monaten gewesen, zu Beginn ihres Sabbaticals, das sie dazu nutzen wollte, sich für eine vergleichende Studie der religiösen Kulturen des alten Amerika mit der Anthropologie der präkolumbischen Steinzeit in Nordperu zu beschäftigen. Sie war damals total naiv an die Sache herangegangen und in keiner Weise auf den Schock vorbereitet gewesen, der sie erwartete: die extreme Absonderlichkeit des prä- inkaischen Peru, insbesondere der Moche. Und ihrer berüchtigten »unanständigen Keramik«.

Es wurde Zeit, in die sala privada zu gehen.

Sie nahm den kleineren Schlüssel und öffnete damit die quietschende Seitentür. Dahinter lag ein weiterer dunkler, kleinerer Raum.

In das winzige Museo Cassinelli verirrten sich nur wenige Besucher, noch weniger kamen in die sala privada. Auch diesmal umgab ein Anflug von Peinlichkeit die wichtigsten Ausstellungsstücke: die Moche-Sexkeramiken, die ceramicas eroticas. Sie waren eindeutig zu drastisch und anstößig, um sie Kindern zu zeigen, und konservative peruanische Katholiken betrachteten sie als obszönes Teufelswerk und hätten sie liebend gern zerstört gesehen. Deshalb wurden sie in der hintersten Ecke des geheimen Museums in diesem dunklen Raum aufbewahrt.

Jess ging in die Hocke und machte sich mit zusammengekniffenen Augen darauf gefasst, von neuem schockiert zu werden.

Die erste Reihe der Keramiken war asexuell und lediglich verstörend: Links stand ein kunstvoll gearbeiteter Topf in Gestalt eines Mannes ohne Nase und Lippen, in erlesenem Schwarz und Gold gebrannt. In der Mitte war eine filigrane keramische Darstellung einer Menschenopferung, mit verstümmelten Körpern am Fuß eines Berges. Und hier war ein an einen Baum gefesselter Mann, dem ein Geier die Augen aushackte. Sie fotografierte das letzte Exponat.

So verstörend diese Darstellungen sein mochten, waren sie doch typisch für die verrückte Moche-Keramik. Richtig interessant wurde es erst auf den nächsten Regalborden: bei den ceramicas eroticas.

Jess ging sie der Reihe nach durch und machte Dutzende von Fotos. Was hatte die Moche dazu veranlasst, solche erotischen Keramiken zu schaffen? Sex mit Tieren. Sex mit Toten. Kopulierende Skelette. Vielleicht war alles nur metaphorisch gemeint, vielleicht sogar ein Scherz; wahrscheinlicher war es jedoch eine Traumzeit, eine Mythologie. Es war eindeutig abstoßend, aber auch faszinierend.

Jessica machte ein paar letzte Fotos, und diesmal benutzte sie dafür den Blitz, der vom staubigen Glas der Vitrinen reflektiert wurde. Ihr gingen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Wie immer hatte das Museo Cassinelli seinen Zweck erfüllt; das war ein sehr befriedigendes Gefühl. Es war die richtige Entscheidung gewesen, im vergangenen Jahr hierherzukommen, in den Norden Perus, an einen der letzten weißen Flecken der Menschheitsgeschichte, vielleicht die letzte große Terra incognita der Archäologie und Anthropologie, voll unbekannter Kulturen und unberührter Ausgrabungsstätten.

Jessica löschte das Licht und ging nach oben. Dort versuchte Pablo gerade, eine Textnachricht auf seinem Handy zu schreiben. Er gab es auf und lächelte sie an. »Sind Sie fertig?«

»Sí! Gracias, Pablo.«

»Dann müssen Sie jetzt unbedingt etwas glucosa zu sich nehmen. Sie sind meine Freundin, und ich muss auf Sie aufpassen. Außer Ihnen kommt nie ein Wissenschaftler hierher!«

»Das stimmt doch gar nicht.«

»Na ja, aber fast! Letzte Woche waren ein paar Besucher da, aber was für ein schreckliches Volk! Banausen auf der Suche nach einem … Kick. Sie waren richtig unangenehm. Haben nur dumme Fragen gestellt. Alle stellen immer nur dieselben dummen Fragen. Außer Ihnen, Señorita, außer Ihnen!«

Jess gab ihm lächelnd die Schlüssel zurück und trat in die verschmutzte graue Luft von Trujillo hinaus.

Die Stadt empfing sie mit all ihrem Lärm und Dreck. Hinter Wellblechzäunen heulten Wachhunde; ein Mann schob einen gläsernen Karren voller Wachteleier an einem heruntergekommenen Reifengeschäft vorbei; an einer Straßenecke saß ein blinder Bettler mit einer Gitarre im Schoß – sie hatte keine Saiten. Und über allem hing dieser endlose graue deprimierende Himmel.

Eigentlich sollte hier am Äquator alles eitel Sonnenschein sein, dachte Jessica. Es sollte tropisch und sonnig und voller Palmen sein, aber dem stand das eigenartige Klima Nordperus entgegen: Es war geprägt von Wolken und kaltem Meeresdunst.

Ihr Handy läutete; sofort griff sie in ihre Handtasche. Das war bestimmt Steve Venturi, aber auf dem Display stand, dass Daniel Kossoy sie anrief, ihr Chef auf der Grabung in Zaña und Leiter des Toronto University Moche Project, TUMP. Seit letztem Monat auch ihr Liebhaber.

»Hallo, Jess. Wie geht’s in Trujillo?«

»Gut, Dan. Alles bestens!«

»Wo bist du?«

»Ich komme gerade aus dem Museo Cassinelli …«

»Ah, die Sexpötte!«

»Die Sexpötte. Ja.« Sie hielt inne und überlegte, warum Danny anrief. Er wusste, dass sie in der großen, bösen Stadt allein zurechtkam. Ihr Schweigen brachte seine wahre Absicht an den Tag.

»Jess, hat sich Venturi schon bei dir gemeldet? Wir sitzen hier alle auf Kohlen. Hast du richtiggelegen? Mit den Wirbelknochen? Ein richtiger Krimi – die Spannung wird langsam unerträglich!«

»Ich habe noch nichts von ihm gehört. Er hat gesagt, wir sollen ihm mindestens eine Woche Zeit lassen, und das ist ja erst acht Tage her.«

»Klar. Sicher. Okay.« Ein kurzes Seufzen. »Okay. Aber sag uns sofort Bescheid, ja? Und …«

»Ja, was?«

»Na ja …« Die Pause deutete auf unausgesprochene Gefühle hin. Stand er im Begriff, etwas Intimes zu sagen, etwas persönlich Aufschlussreiches? Etwas wie Du fehlst mir? Sie hoffte, nicht; für eine solche Erklärung war es in ihrer Miniromanze viel zu früh.

Deshalb sagte Jessica schroff: »Okay, Dan, ich muss jetzt Schluss machen. Bis dann in Zaña. Ciao!«

Sie steckte ihr Handy ein und ging zur nächsten Ecke, um einem Taxi zu winken. Der Verkehr war extrem dicht: qualmende, mit Holzkohle beladene Lkws, die brummend an einer Ampel standen; Mopeds, die sich zwischen ramponierten Chevrolet-Taxis und brechend vollen Bussen hindurchschlängelten. In diesem hektischen Chaos fiel Jessica ein Lkw auf der anderen Straßenseite auf.

Er fuhr viel zu schnell.

Jess schüttelte den Kopf. Die Fahrkünste der Peruaner waren weiß Gott gewöhnungsbedürftig. Es war völlig normal, dass Lkws und Busse in Todesverachtung die Straßen entlangdonnerten, als wären sie die einzigen Fahrzeuge auf der Welt. Aber das hier war etwas anderes.

Fassungslos sah sie zu, wie der Lkw beschleunigte, immer schneller wurde, über einen Randstein holperte – unglaublich gefährlich. Irgendwo kreischte eine Frau. Er raste direkt auf – ja, worauf zu? Was hatte er vor? Worauf steuerte er zu? Er würde in die armseligen Häuser hineinrauschen, in das Reifengeschäft, in den trüben Glaskasten des Wachteleierverkäufers …

Die Texaco-Tankstelle.

Der Lkw raste direkt auf die Tankstelle zu. Jessica schaute und stand wie angewurzelt da. Der Fahrer sprang aus dem Führerhaus; im letzten Moment packte jemand sie am Arm und riss sie hinter einer niedrigen Mauer zu Boden.

Das Krachen von splitterndem Glas und explodierendem Benzin war ungeheuer. Feuerbälle aus öligem Rauch schossen in die Höhe. Jess hörte grässliche Schreie, dann beängstigende Stille.

»Pablo«, sagte Jessica zu sich selbst, als sie zitternd auf dem rissigen Gehsteig lag. »Pablo …?«

2

Rosslyn Chapel, Midlothian,
Schottland

Alles, was man in den Reiseführern lesen konnte, fand man hier, in Rosslyn Chapel, der bedeutenden und berühmten Kapelle der Sinclairs aus dem 15. Jahrhundert, fünfzehn Kilometer südlich von Edinburgh: die bizarren Steinwürfel in der Lady Chapel, die unheimlichen Darstellungen exotischer Vegetation, den Totentanz in den Spitzbögen, den auf dem Kopf stehenden, mit Seilen gefesselten Luzifer, die altnordischen Schlangen, die sich um den Apprentice Pillar wanden. Alles prunkte mit faszinierender Detailliertheit, unergründlichem Symbolismus und okkulter Hieroglyphik und erzeugte so einen betörenden Strudel verschwörerischer Lockungen in verwittertem altem Gestein. Direkt neben einem Souvenir-Shop, in dem man Templer-Shortcakes mit Gralsmotiven in speziellen Sinclair-Tartan-Dosen kaufen konnte.

Adam Blackwood seufzte. Es war sein letzter Auftrag als vollzeitbeschäftigter Mitarbeiter des Guardian, und es war eine Reportage über den Großkommerz in Zusammenhang mit den aberwitzigen Spekulationen um Rosslyn Chapel.

»Ist irgendwas?«

Es war sein Freund und langjähriger Kollege, der Fotograf Jason.

Adam seufzte.

»Ja, allerdings. Ich habe gerade meinen Job verloren.«

»Pfff. Wir alle verlieren unsere Jobs.« Jason blickte auf seine Kamera hinab und drehte am Objektiv. »Und tot bist du ja noch nicht, oder? Du bist gerade mal vierunddreißig. Komm, gehen wir in die Kapelle zurück. Der Laden hier wimmelt von Irren.«

»Die ganze Stadt wimmelt von Irren. Vor allem die Kapelle.« Adam deutete durch die Glastür des Shops auf die mittelalterliche Kirche. »Alle laufen mit einer Ausgabe von Sakrileg herum und suchen den Gral unter dem Taufbecken.«

»Darum sollten wir uns mal ranhalten! Vielleicht finden wir ihn als Erste.«

Adam trödelte. Jason seufzte. »Schieß schon los, Blackwood. Spuck’s aus. Ich weiß doch, dass du mir was anvertrauen willst.«

»Es ist nur … na ja, ich dachte, dass ich wenigstens diesmal, für meinen letzten Auftrag, noch mal was Vernünftiges bekomme; eine richtig gute Reportage, sozusagen als Abschiedsgeschenk.«

»Weil sie dich so toll finden? Adam – sie haben dich gefeuert. Was hast du denn erwartet? Du hast dem blöden Features-Redakteur bei der Guardian-Weihnachtsfeier eine reingehauen.«

»Er hat dieses Mädchen belästigt. Sie hat geweint.«

»Klar.« Jason schüttelte den Kopf. »Der Typ ist ein richtiger Wichser, keine Frage. Und du bist ein richtig toller aufrechter Aussie, und ich bin froh, dass du es diesem blöden Sack gezeigt hast, aber wundert es dich da wirklich, dass sie dich gefeuert haben? Ist ja nicht das erste Mal, dass dir eine Sicherung durchgebrannt ist.«

»Na ja, aber …«

»Hör endlich auf zu jammern! Du hast neben dem üblichen Mist auch ein paar ganz passable Reportagen gemacht. Und sie feuern überall auf der Welt Journalisten. Da bist du nicht der Einzige.«

Damit hatte Jason nicht ganz unrecht. »Wahrscheinlich nicht.«

»Und immerhin hast du eine Abfindung gekriegt. Jetzt kannst du nach Afghanistan fahren und dich dort wegbomben lassen. Also, komm schon. Wir haben noch einiges zu tun.«

Sie gingen aus dem Laden auf den Vorplatz hinaus und blickten zu dem gedrungenen steinernen Schmuckkästchen der Rosslyn Chapel hinüber. Aus dem kalten Himmel Midlothians tröpfelte garstiger Nieselregen. Sie machten einer Touristin mittleren Alters Platz, die den alten Bau betreten wollte. Sie hielt eine zerlesene Ausgabe von Sakrileg in der Hand.

»Er ist unter dem Taufbecken!«, sagte Adam laut. Jason lachte leise.

Die zwei Männer folgten der Frau in die Kapelle. An deren Ende ragte fremdartig der Apprentice Pillar in die Höhe. Ein junges Paar mit kurzen blonden Haaren – Deutsche? – sah die Säule an, als erwarteten sie, dass sich in ihrer kunstvoll verzierten steinernen Oberfläche wie eine Art Hologramm der Gral materialisierte.

Jason machte sich an die Arbeit, begann mit einem kopfschüttelnden Blick auf den Belichtungsmesser zu fotografieren. Adam interviewte einen belgischen Touristen Mitte vierzig, der am Grab des Earl of Caithness stand, und fragte ihn, was ihn hierhergeführt habe. Der Belgier erwähnte den Gral, Sakrileg und die Tempelritter, in dieser Reihenfolge.

Adam bekam eine erste Idee, wie er die Reportage aufziehen könnte. Ein leichter, aber ironischer Ton, voll dezentem Spott über all diese lukrative Naivität, diese auf Leichtgläubigkeit fußende Heimindustrie, die im Umfeld von Rosslyn Chapel entstanden war. Ein Feature, das sich damit befasste, wie die ganze Stadt Roslin in Midlothian von dem paradoxen Bedürfnis der Menschen eines weltlichen Zeitalters lebte, an weltumspannende religiöse Verschwörungen zu glauben. Und zwar völlig egal, wie absurd und peinlich sie sein mochten.

Er könnte mit dem GK-Chesterton-Zitat beginnen: »Wenn die Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie keineswegs an nichts mehr – sie glauben an alles.«

Adam drehte sich um, als ein sonorer Bariton durch das Kirchenschiff hallte: einer der aufgeblaseneren Führer – er hielt ein Plastikschwert – deutete an die Decke und rezitierte etwas über die Geschichte der Kapelle. Adam hörte sich den sorgfältig einstudierten Sermon des Führers an.

»Wer sind die Tempelritter nun eigentlich genau? Die Entstehung des Ordens ist schnell erklärt.« Der Führer deutete mit seinem Plastikschwert auf ein kleines Steinrelief, offensichtlich zwei Männer auf einem Pferd. »Irgendwann um das Jahr 1119 trafen sich die zwei französischen Ritter Hugues de Payens und Godfrey de Saint-Omer, Teilnehmer am Ersten Kreuzzug, um über einem Krug Wein über die Sicherheit der zahlreichen christlichen Pilger zu sprechen, die seit der brutalen Rückeroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer Papst Urbans des Zweiten nach Jerusalem strömten.« Das Schwert des Führers wackelte, als er fortfuhr. »Die französischen Ritter schlugen die Gründung eines neuen Mönchsordens vor, eines Zusammenschlusses keusch lebender, aber kraftstrotzender Kriegermönche, die die Pilger unter Einsatz ihres Lebens gegen die Übergriffe von Räubern und Wegelagerern und feindseligen Muslimen verteidigen sollten. Diese kühne Idee fand rasch zahlreiche Anhänger: Balduin der Zweite, der neue König von Jerusalem, gab dem Ersuchen der Ritter statt und stellte ihnen die vor kurzem eroberte al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg zur Verfügung, um dort ihr Hauptquartier einzurichten. Daher lautet der vollständige Name des Ordens auch: ›Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem‹, beziehungsweise auf Latein Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis. Seitdem wird immer wieder die Frage gestellt: Gab es auch einen esoterischen Grund für die symbolträchtige Wahl dieses Hauptquartiers?« Mit dem Gespür eines routinierten Schauspielers machte der Mann eine kurze Pause. »Mit Sicherheit wird sich das natürlich nie sagen lassen. Aber ohne jeden Zweifel umweht den Tempelberg eine Aura des Mystischen, zumal dort nach gängiger Auffassung auch der erste salomonische Tempel gestanden hat. Von dem es wiederum heißt«, der Führer lächelte seine aufmerksame Zuhörerschaft an, »dass er der Kirche, in der Sie sich gerade befinden, als Vorbild diente!«

Er ließ diesen Gedanken im Raum stehen wie die verklingenden Schwingungen eines Glockenschlags, bevor er den Rest der Geschichte zum Besten gab: Aufstieg und Vormachtstellung der Templer; die zwanzigtausend ritterlichen Mitglieder in der Blütezeit des Ordens; die enorme europaweite Macht und der Reichtum des »ersten Multis der Welt«. Und dann natürlich, nach zwei gloriosen Jahrhunderten, der dramatische Niedergang, als der französische König, der auf das Geld der Templer spekulierte und ihnen ihre Ländereien und ihren Status neidete, den Orden in einer Welle willkürlicher Festnahmen und brutaler Foltern zerschlug, die in einer schicksalhaften Nacht ihren Anfang nahm.

Der Führer setzte ein breites Lächeln auf. »Was war das Datum dieser mittelalterlichen Götterdämmerung, dieser Reichskristallnacht königlicher Rache? Freitag, der Dreizehnte, 1307. Ja, Freitag, der Dreizehnte

Adam verkniff sich ein Lachen. Der Führer war ein wandelnder Bauchladen mit billigen Klischees. Aber trotzdem unterhaltsam. Wäre er zum Spaß hier gewesen, hätte er ihm gern weiter zugehört. Aber er hatte gerade etwas Interessantes entdeckt.

»Jason …« Er stieß seinen Freund an, der versuchte, ein brauchbares Foto vom Apprentice Pillar zu machen.

»Was ist?«

»Ist das nicht Archibald McLintock?«

»Wer?«

»Der alte Typ, der in der Kirchenbank neben dem Master Pillar sitzt. Das ist Archibald McLintock.«

»Und wer ist Archibald McLintock?«

»Möglicherweise der berühmteste lebende Templer-Experte überhaupt. Hat auch ein hervorragendes Buch über Rosslyn geschrieben. Steht dem Ganzen allerdings ziemlich skeptisch gegenüber. Hast du noch nie von ihm gehört?«

»Was willst du eigentlich? Du bist hier der Mann für die Recherchen, du bist der Schreiberling. Ich muss mich nur um meine Objektive kümmern.«

»Allerdings, du fauler Sack. Und deshalb schlage ich jetzt vor, wir fragen ihn, ob er uns ein Interview gibt. Vielleicht fallen ein paar knackige Zitate und sogar ein Foto für uns ab.«

Adam steuerte auf den alten Mann zu und reichte ihm die Hand. »Adam Blackwood. Vom Guardian. Wir hatten schon mal das Vergnügen.«

Archibald McLintock hatte graublondes Haar und strahlte eine selbstsichere wissende Ruhe aus. Ohne aufzustehen, schüttelte er Adam leicht abwesend die Hand.

Darauf trat ein eigenartiges Schweigen ein. Adam überlegte, wie er beginnen sollte; doch dann sagte der alte Schotte: »Tut mir leid, aber ich kann mich nicht mehr an unsere Begegnung erinnern. Entschuldigen Sie bitte.« Über seine Züge legte sich ein abwesendes Lächeln. »Ah. Warten Sie. Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie haben mich über die Kreuzzüge interviewt. Die Heilige Lanze?«

»Ja, genau. Ist allerdings schon ein paar Jahre her. Ein eher locker-flockiger Artikel.«

»Gut, gut. Und jetzt schreiben Sie über die Chapel of Rosslyn?«

»Na ja.« Adam zuckte verlegen mit den Achseln. »Wir machen eine weitere eher ironisch gehaltene Reportage über den ganzen … Sie wissen schon … Dan-Brown- und Freimaurerkram. In der Krypta versteckte Templer. Wie Rosslyn infolge dieser ganzen Legenden so berühmt wurde.«

»Und jetzt wollen Sie wieder einen griffigen Spruch von mir?«

»Wenn Sie nichts dagegen hätten?« Adam errötete. Ihm war schmerzlich bewusst, wie er mit diesem absurden esoterischen Quatsch einem seriösen Wissenschaftler die Zeit stahl. »Es ist halt so, dass Sie diesen ganzen Unsinn so schön als solchen entlarvt haben. Wie haben Sie es noch gleich ausgedrückt? ›Die Kapelle von Rosslyn hat ebenso wenig Ähnlichkeit mit dem Salomonischen Tempel wie der Kuhstall meines Nachbarn mit Kublai Khans prunkvoller Sommerresidenz Xanadu.‹«

Ein weiteres langes Schweigen. Die Touristen wuselten flüsternd durch das Gotteshaus. Adam wartete auf eine Antwort McLintocks. Aber der lächelte nur. Dann sagte er, sehr ruhig: »Das habe ich geschrieben?«

»Ja.«

»Hm! Ziemlich überspitzt. Aber warum eigentlich nicht? Doch, Sie dürfen mich wieder mit etwas zitieren.« Abrupt stand Archibald McLintock auf, und Adam fiel wieder ein, dass sein Gegenüber zwar nicht mehr der Jüngste war, aber auffallend groß. Um einige Zentimeter größer als Adam, der mit ein Meter achtundachtzig auch nicht gerade klein war.

»Hier haben Sie Ihr Zitat, junger Mann. Ich habe mich getäuscht.«

»Wie bitte?« Adam war gerade nur halb bei der Sache: Er vergewisserte sich, dass sein Aufnahmegerät eingeschaltet war. »Sie haben sich getäuscht. Inwiefern?«

Der Historiker lächelte. »Wissen Sie noch, was Umberto Eco über die Templer gesagt hat?«

Adam dachte kurz nach. »Ach ja, stimmt! ›Wenn jemand anfängt, über die Templer zu sprechen, weiß man, dass er verrückt wird.‹ Meinen Sie das?«

»Nein, Mr Blackwood. Das andere Zitat. ›Die Templer hängen mit allem zusammen.‹«

Eine Pause. »Wollen Sie damit sagen … heißt das …?«

»Ich habe mich getäuscht. Und zwar in jeder Hinsicht. Es besteht tatsächlich ein Zusammenhang. Die Pentagramme. Die Säulen. Die Initiationsriten der Templer. Es ist alles hier, Mr Blackwood, es stimmt alles. Es ist noch viel seltsamer, als Sie sich vorstellen können. Rosslyn Chapel ist tatsächlich der Schlüssel zu allem.« McLintock lachte so laut, dass ein paar Touristen verunsichert zu ihnen schauten. »Kaum zu fassen. Und welche Ironie! Aber der Schlüssel zu allem war die ganze Zeit hier, direkt vor unserer Nase!«

Adam fiel aus allen Wolken. War McLintock betrunken? »Aber Sie haben sich doch die ganze Zeit nur lustig gemacht über diesen ganzen esoterischen Kram – Sie haben das alles als kompletten Unsinn bezeichnet. Dafür sind Sie berühmt!«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung begann McLintock das mittelalterliche Kirchenschiff hinunterzugehen. »Schauen Sie sich einfach hier um, dann werden Sie sehen, was ich nicht gesehen habe. Wiedersehen.«

Damit öffnete der Historiker die Tür und trat in den Nieselregen hinaus. Der Journalist stierte eine geschlagene Minute auf die Tür, während sich die Touristen durch das Langhaus und die Seitenschiffe schoben. Und dann blickte er nach oben, zur alten Decke der Collegiate Chapel of St Matthew in Roslin, von wo ihm die von mittelalterlichen Steinmetzen geschaffenen Gesichter von hundert Grünen Männern entgegenstarrten, mit einem unaufhörlichen sarkastischen Grinsen auf ihren steinernen Lippen.

3

Rosslyn Chapel, Midlothian

»Okay, fertig. Alles im Kasten.« Jason richtete sich auf und reckte sich. »Der kopfstehende Dingsbums-Engel, Maria Magdalena neben dem Feuerlöscher. Und eine hübsche Schwedin, die sich über das Grab des Earl of Orkney beugt. Kurzer Rock. Schottenmuster. Ist was?«

»Nein …«

Jason klatschte sich mit der Hand theatralisch gegen die Stirn. »So was Dummes! Jetzt habe ich gar kein Foto von diesem alten Typen … wie hieß er noch gleich?«

»Archibald McLintock. Professor McLintock.«

»Und?« Jason drückte den Schutzdeckel auf sein Objektiv. »Hast du ein gutes Zitat von ihm bekommen?«

Adam sagte nichts. Er verstand überhaupt nichts mehr.

Das Schweigen zwischen den beiden Männern stand in krassem Gegensatz zum Gewusel der Touristen, die in die Kapelle kamen: Ein weiterer Führer begleitete eine Gruppe Japaner in das Langhaus und zeigte ihnen das Templerschwert auf dem Grab William Sinclairs, »angeblich identisch mit den Templerschwertern, die die Tempelrittergräber der berühmten Templerzitadelle von Tomar zieren!«.

»Hallo!« Jason wedelte mit der Hand vor Adams Augen, als testete er dessen Sehvermögen. »Was ist plötzlich los mit dir?«

»Wie gesagt, nur etwas, was er … eine Bemerkung, die er gemacht hat.«

»Okayyy. Sag’s mir in einsilbigen Wörtern.«

Adam blickte gebannt auf die altnordischen Schlangen am Fuß des Apprentice Pillar und auf den berühmten Spruch auf dem Architrav über der Säule. Forte est vinum fortior est rex fortiores sunt mulieres super omnia vincit veritas. »Stark ist der Wein, stärker ist der König, noch stärker sind die Frauen, aber die Wahrheit besiegt alles.«

Die Wahrheit besiegt alles.

Es stimmte alles?

»Wie soll ich sagen …« Adam seufzte. »Er hat zugegeben, beziehungsweise gestanden, dass er sich von Grund auf getäuscht hat. Dass alles gestimmt hat. Die Templerzusammenhänge. Rosslyn ist tatsächlich der Schlüssel, der Schlüssel zu allem. Der Schlüssel zur Geschichte. Hat er jedenfalls gesagt.«

Jason verstaute den Belichtungsmesser in einer der vielen Taschen seiner Jacke und sah Adam trocken an. »Ist ihm vielleicht doch eine Sicherung durchgebrannt? Komplett gaga? Zu viel schimmeligen Porridge gegessen.«

»Möchte man eigentlich meinen. Aber er hat einen völlig normalen und vernünftigen Eindruck gemacht. Ich … ich weiß auch nicht.«

»Ich glaube, es wird langsam Zeit für ein Bier. Was für eine Pisse trinken sie hier oben noch gleich? Heavy. Ein Glas Heavy.«

»Für mich nur ein kleines.«

Jason grinste. »Hätte mich auch gewundert.«

Erleichtert traten beide aus der stickigen, menschenwimmelnden Enge von Rosslyn Chapel in das wirklich triste schottische Wetter hinaus. Eine letzte Sekunde lang drehte sich Adam zu der Kirche um, die wie eine steinerne Zeitmaschine auf dem grünen Rasen gelandet zu sein schien. Die Wasserspeier und die Zinnen starrten ihn verstörend hämisch an. Ein Glockenklang, das Beben eines Echos, der Nachhall einer schmerzlichen Erinnerung.

Alicia. Natürlich. Alicia Hagen. Seine Freundin. Begraben in einem Vorort Sydneys, mit Kookaburras in den Bäumen und der sengenden Sonne, die auf die pseudogotische Kirche herabbrannte.

Plötzlich überkam ihn tiefe Besorgnis. Würde er jetzt, nachdem er seine Stelle verloren hatte, wieder ins Brüten geraten? Er musste arbeiten, um sich von der Vergangenheit abzulenken; er war aus Australien ausgewandert, um Abstand zwischen sich und die Tragödie zu bringen, was ihm – bis zu einem gewissen Grad – auch gelungen war. Aber er musste sich beschäftigen. Sonst würde er ständig an das Mädchen denken, das er aufrichtig geliebt hatte, das so sinnlos, so beiläufig gestorben war. Und dann würde die Traurigkeit wieder auf ihn einwirken wie die g-Kräfte in einem abstürzenden Flugzeug.

Adam ging rasch zum Parkplatz. Das Pub war gleich an der Ecke, einladend in der Kälte des Nieselregens.

»Vielleicht genehmige ich mir doch ein großes Glas. Und gleich noch ein paar Schnäpse dazu.«

»So gefällst du mir schon wesentlich besser«, sagte Jason. »Wir könnten …«

»Pass auf!«

Adam packte Jason am Arm und zog ihn zurück. Erschrocken wirbelte Jason herum.

»Huuh – o Mann!«

Ein Auto schoss nur wenige Zentimeter entfernt an ihnen vorbei. Es fuhr weit über hundert Stundenkilometer, ein aberwitziges Tempo in einer geschlossenen Ortschaft, und es geriet immer stärker ins Schleudern, aber was sein Fahrer vorhatte, war erschreckend klar.

»Ist der Kerl …«

Sie rannten hinter dem Auto her, das direkt auf eine von einer hohen Ziegelmauer eingefasste Kurve zuraste.

»Scheiße …«

»Hat sie dieser Typ nicht mehr alle …«

»Nein!«

Der Aufprall war gewaltig. Das Auto krachte mit dem durchdringenden Geräusch von berstendem Metall und zerspringendem Glas in voller Fahrt gegen die Mauer. Selbst aus der Ferne konnte Adam erahnen, dass der Fahrer tot sein musste. Ein Frontalzusammenstoß mit einer Mauer, und das bei dieser Geschwindigkeit. Reiner Selbstmord.

Sie liefen langsamer, je näher sie dem Auto kamen. Über die Unfallstelle breitete sich gespenstisches Schweigen. Die Hände entsetzt an den Mund gerissen, standen schockierte Augenzeugen wie gelähmt am Straßenrand. Adam rief mit seinem Handy den Notarzt; gleichzeitig beugte er sich vor, um besser sehen zu können: Auf der Fahrerseite war die Windschutzscheibe total zersprungen, das Glas wie eine riesige scheußliche Austrittswunde nach außen gebogen: Der Fahrer war buchstäblich durch sie hindurchgeschossen.

Über den Asphalt lagen blutige Glasbrocken verstreut. Der Randstein war von Metallteilen übersät. Der Fahrer war eindeutig tot, sein blutüberströmter Körper hing halb innerhalb, halb außerhalb des Autos.

Jason hatte bereits seine Kamera herausgeholt.

Adam brauchte keine Kamera, um seine Erinnerungen festzuhalten; er würde nie vergessen, was er gesehen hatte. Der Fahrer hatte gelächelt, als er an ihnen vorbeiraste: Er war lächelnd gegen die Wand gefahren.

Und der tote Fahrer war Archibald McLintock.

4

Panamericana, Peru

Jedes Mal, wenn Jess die Augen schloss, erlebte sie es von neuem: den in die Tankstelle rasenden Lkw, den schmutzig schwarzen obszönen Feuerball, das schrecklich durchdringende Splittern von Glas und dann die Stille und die Schreie. Sie öffnete die Augen. Genug: Sie musste bei der Sache bleiben, denn sie saß am Steuer eines Autos und fuhr auf der Panamericana von Trujillo nach Norden.

Die Panamericana. Auf diesem Streckenabschnitt war dieser Name mehr als großspurig, denn in Wirklichkeit war die Straße hier nur eine schmutzige, schmale, von Abfällen übersäte Asphaltpiste, die durch die Öde der Sechura-Wüste führte: lang und eintönig, nur hin und wieder, wenn ein Fluss von den Anden herabkam, von einem unerwarteten Streifen Grün aufgelockert oder von trostlos schäbigen Siedlungen, an deren Tankstellen Fernfahrer eine Pause einlegten, um ihre riesigen mit chinesischem Spielzeug und stinkendem Fischmehl beladenen Lkws aufzutanken, mit denen sie zu den Fabriken von Trujillo und Chimbote und Lima unterwegs waren.

Ein solcher Lkw, großspurig die ganze Straße für sich in Anspruch nehmend, kam ihr gerade entgegen. Ihr Pick-up wurde von seinem nach Fischmehl stinkenden Luftzug durchgeschüttelt, als er an ihr vorbeirauschte.

Wie konnte jemand mit einem Lastwagen in eine Tankstelle rasen? Wieder einmal ließ die Erinnerung sie zusammenzucken: Sie konnte die Bilder ganz deutlich vor sich sehen, wie körnige auf eine Wand projizierte Internetvideos. Sie wollte nicht hinsehen, aber sie musste hinsehen.

Jessica schaltete einen Gang höher und ließ den schrecklichen Moment – und ihre fragwürdige Reaktion – noch einmal Revue passieren. Hätte sie etwas anderes tun sollen? Aber was? Was genau? Nachdem der Feuerball in sich zusammengesunken war, hatte sie sich von dem Mann losgerissen, der sie weggerissen und ihr so das Leben gerettet hatte, und war, Pablos Namen rufend, über die Straße gerannt.

Doch der Rauch war so dicht und so heiß und so sengend gewesen. Außerstande, näher an die Unglücksstelle heranzukommen, war sie würgend und wankend in der brutalen Schwärze stehen geblieben. Dann war unter lautem Sirenenjaulen die Polizei angerückt. Aus Angst vor weiteren Explosionen hatten sie die Schaulustigen, hektisch mit ihren Schlagstöcken fuchtelnd, von der Unglücksstelle fortgetrieben, die Straße hinunter, fort von den brennenden Gerippen der Tankstelle und des Lkws. Deshalb gab es nichts, was sie für Pablo hätte tun können, und deshalb hatte sie auch nichts getan. Aber die Schuldgefühle blieben.

Dann hatte sie ihn gesehen: einen Moche-Topf, der von der gewaltigen Explosion hundert Meter durch die Luft geschleudert worden war und, wie durch ein Wunder unversehrt, neben einem verbrannten Plastikkanister am Straßenrand liegen geblieben war.

Die Keramik war sehr ungewöhnlich: eine Schnabelkanne in Gestalt zweier kopulierender Kröten. Das war vielleicht alles, was von der ganzen Cassinelli-Sammlung übrig geblieben war, und doch brachte sie es nicht über sich, die Keramik aufzuheben.

Danach hatte sie ihre Pflicht getan, hatte nachts in ihrem Hotelzimmer immer wieder geweint und am Tag bei der Polizei ihre Aussage zu Protokoll gegeben. Dan hatte mehrere Male angerufen, und sie war froh gewesen, eine tröstende, mitfühlende Stimme zu hören. Inzwischen war eine Woche vergangen, und jetzt fuhr sie an ihre Arbeitsstelle zurück. Entschlossen, aber mitgenommen.

Ihre Hände zitterten am Lenkrad ihres gemieteten Hilux. Sie brauchte eine Pause, und sie brauchte eindeutig etwas Erfrischendes zu trinken, ein Coke, etwas Wasser, vielleicht sogar eine Inca Kola, auch wenn die schmeckte wie Kaugummisabbel. Im Moment war ihr alles recht. Sie ging vom Gas und fuhr an einer Reihe ärmlicher Hütten aus Schilf und Plastik vorbei, gebaut von Menschen, die am Ende der Welt lebten.

Am Straßenrand waren Lehmziegel zum Trocknen aufgereiht. Umgeben war die Siedlung von einem Friedhof von solcher Armseligkeit, dass als Grabsteine Radkappen dienten, auf die mit roter Farbe die Namen der Verstorbenen gepinselt waren. Sie wusste, was sie in einer Wüstensiedlung wie dieser zu erwarten hatte: Restaurants, in denen die Hühnersuppe doppelt so viel kostete, wenn das Huhn gerupft war; grässliche ranzige Tamales, die auf Plastiktellern serviert wurden.

Aber sie hatte keine Wahl. Sie war in Nordperu. So war es in dieser höllischen Weltengegend immer und überall: Kein Wunder, dass die Kulturen, die hier entstanden waren, so verrückt anmuteten. Die Natur war richtig hinterhältig, nicht einmal dem Meer konnte man hier trauen: Wartete es eben noch mit einem unerschöpflichen Reichtum an Sardellen, Zackenbarschen und Haien auf, so kam es im nächsten Moment mit El Niño oder La Niña an, löschte mit Dürre oder Überschwemmungen ganze Kulturen aus und ließ verwesende Pinguinkadaver auf den Stränden zurück.

Sie dachte an ihren toten Vater, wollte aber gar nicht wissen, warum er ihr gerade jetzt in den Sinn kam.

»Señorita?« Ein schmutziger, barfüßiger Junge blickte hoffnungsvoll zur ihrem blonden Gringa-Haar auf, als sie aus dem Hilux stieg. »Una cosita? Señorita?«

»Ah. Buenos …« Jessica überlegte, ob sie dem Jungen ein paar Münzen geben sollte. Eigentlich sollte man das nicht tun. Doch seine Armut kratzte an ihrem Gewissen. Sie steckte ihm ein paar Soles zu, und der junge Kerl grinste ein schiefzähniges Grinsen, vollführte einen traurigen barfüßigen Tanz und plapperte auf Quechua, der alten Sprache der Inka: Anchantan ananchayki! Usplay manay yuraq …

Jess hatte keine Ahnung, was er meinte. Vielen Dank? Gib mir mehr, Yankee-Hundefrau?

Es konnte alles Mögliche bedeuten. Sie verstand schon kaum das peruanische Spanisch, geschweige denn die Steinzeitsprache des Landes. Sie bedachte den Jungen mit einem halbherzigen Lächeln und steuerte auf die nächste Cantina zu, die mit den unvermeidlichen Pollos warb.

Drinnen war es gewohnt abstoßend: ein paar Plastiktische, der Geruch von altem Speiseöl. Drei Männer mit Cowboyhüten teilten sich eine große Literflasche Maisbier. Sie beäugten sie kurz unter ihren Hüten hervor, bevor sie sich wieder ihrem Getränk zuwandten. Der erste Mann schenkte etwas davon in ein schmutziges Glas, nahm einen Schluck und goss etwas Bier auf den Boden aus gestampfter Erde, ein Trankopfer für Pachamama, die Mutter Erde, die mit ihrem Staub Städte fraß.

»Agua, sin gas, por favor?«, sagte Jess zu der Frau, die sich ihr träge näherte. Ihre Hand war von einer alten Verbrennung vernarbt. Die Frau nickte, schlurfte hinter die Theke und kam mit einer Flasche Mineralwasser zurück. Und einem angeschlagenen Glas. Eine Tafel an der Wand pries das Nationalgericht Ceviche an: roher Fisch. Jess schüttelte es. Roher Fisch? Hier draußen in der Wüste? Ranzig, verdorben, verfault: sechs Tage Durchfall …

Ihr Handy läutete. Daniel wieder. Klick. »So weit alles okay, Jess?«

»Dan, mir fehlt nichts! Du brauchst mich nicht ständig anzurufen – was nicht heißt, dass ich mich nicht über deine Anrufe freue, aber du musst es nicht tun.«

»Wo bist du gerade?«

Jessica spähte aus dem kleinen Fenster auf die Fischmehllaster hinaus, die in Richtung Lima vorbeidonnerten. »Auf der Panamericana, etwa sechzig Kilometer südlich von Chiclayo. In einer Stunde müsste ich in Zaña sein.«

»Okay. Gut. Sehr gut. Und, äh … wissen sie inzwischen schon mehr über den Lkw? Über den Fahrer?«

»Nein, eigentlich nicht.« Jess nahm einen Schluck von dem kalten Wasser und frischte die Erinnerung auf, die sie lieber nicht heraufbeschworen hätte. »Inzwischen glaubt die Polizei, dass es vielleicht nur jemand war, der sich rächen wollte. Anscheinend war dem Mann vor einer Woche bei Texaco gekündigt worden, aber er musste seinen letzten Monat noch abarbeiten. Genaueres weiß allerdings niemand. Aber Pablo hat dafür büßen müssen.«

Ein kurzes bedrücktes Schweigen. »Mein Gott, der arme Pablo. Ich kann es immer noch nicht fassen. Das Museum wurde total zerstört: die ganze Moche-Keramik, die beste Sammlung nach der in Lima!«

»Tja.«

Einer der drei Männer mit den Cowboyhüten ging hinter Jess vorbei und öffnete die Tür zum lauten Highway hinaus. Er drehte sich um, nur einen Moment, und sah Jess unter der Krempe seines Huts hervor an. Der Blick war lang und eigenartig und unterschwellig feindselig. Ihr kam das Bild des seltsamen Moche-Topfs mit den kopulierenden Kröten in den Sinn. Aber sie schüttelte diesen Unsinn ab und hörte wieder Dan zu.

»Jess, ich habe ein paar richtig gute Neuigkeiten. Vielleicht muntert dich das ein wenig auf. Uns liegen die ersten Ergebnisse vor. Von deinem Freund, dem Knochentypen.«

Ihre Aufgewecktheit kehrte zurück, sogar ein Anflug von Begeisterung. »Was? Steve Venturi? Die Halswirbel? Er hat dich angerufen?«

»Ja. Er hat anscheinend mehrmals versucht, dich zu erreichen, aber vermutlich warst du bei der Polizei. Deshalb hat er heute Morgen hier angerufen, und ich bin drangegangen und … ja, die Knochenanalyse bestätigt alles, Jess. Du hattest recht. Schnittspuren an den Halswirbeln, mit unmittelbarer Todesfolge. Ausgeführt mit der Tumi.«

»Die Schnitte wurden gezielt angebracht?«

»Ja. Eindeutig.«

»Wow … Wahnsinn!« Jess war bestürzt und begeistert zugleich. Ihre Theorie nahm Gestalt an, aber der Gedanke, der ihr zugrunde lag, war äußerst verstörend. Sie schob ihr Glas Wasser von sich. »Dann haben wir jetzt also Gewissheit?«

»Ja, haben wir, dank dir …« Dans Stimme war kaum noch zu verstehen, eine Folge der Launen des Claro Móvil-Netzes in der Weite der Sechura.

»Warte, Dan … bleib noch dran! Ich gehe schnell nach draußen.«

Jessica stand auf und ließ ein paar Soles auf dem Tisch liegen. Sie brauchte jetzt die frische, schmutzige Luft der Panamericana. Die zwei zurückgebliebenen Männer mit den Cowboyhüten glotzten ihr mit starren, reglosen Blicken hinterher. Als wären sie Wachsfiguren.

Im Freien atmete sie tief durch und beobachtete den Verkehr: die SUVs der Reichen, die Lkws der Arbeiter, die Dreiradfahrzeuge der Armen.

»So, jetzt können wir weiterreden, Dan.«

»Das ist der Beweis. Das Opferritual fand tatsächlich statt. Du hast richtiggelegen. Sie haben es tatsächlich gemacht, Jess. Die Moche. Sie haben die Gefangenen ausgezogen, in einer Reihe aufgestellt und ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Daher die seltsamen Schnittspuren an den Halswirbeln. Und den Darstellungen auf den Keramiken nach zu schließen, haben sie dann wahrscheinlich ihr Blut getrunken. Hochinteressant, findest du nicht? Auf den Keramiken ist ein Ritual abgebildet, das tatsächlich so stattgefunden hat! Entschuldige bitte, dass ich an dir gezweifelt habe, Jessica. Du bist ein großer Gewinn für die UCLA-Anthropologie. Ha! Steve Venturi hat dich, ohne Übertreibung, seine Musterschülerin genannt.«

Jessica hatte das Gefühl, zu erröten. Sie beobachtete einen Truthahngeier, der vom Himmel herabschwebte und an einem fettverschmierten Stück Plastik pickte, das halb um einen Laternenpfahl geschlungen war. Ein Hund kam angerannt, um zu sehen, was der Geier entdeckt hatte, und die beiden Tiere begannen darum zu kämpfen. Jessica durchlief ein Schauder: sicher eine Nachwirkung des Schocks infolge der Explosion.

»Bist du noch dran, Jess?«

»Entschuldige. Ja, ich bin noch dran.«

»Da wäre noch etwas. Etwas, was dich interessieren dürfte. Weitere gute Neuigkeiten.« Seine Pause war ein wenig melodramatisch.

»Jetzt mach’s nicht so spannend, Dan.«

»Ein unangetastetes Grab.«

»In Huaca D?«

»Ja.« Eine kurze Pause. »Und du bist dabei, wenn wir es uns ansehen, wenn wir morgen reingehen. Natürlich nur, wenn du möchtest!«

Jess grinste die endlose Wüste an. »Und ob ich das möchte! Ein unangetastetes Grab. Wahnsinn!«

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, steckte sie das Handy ein und ging mit frischer Energie zu ihrem Pick-up. Die Anwandlungen von Angst und Selbstzweifeln waren verflogen; sie träumte bereits von dem, was sich in dem Grab befand. Ein unangetastetes Moche-Grab! Was für ein großartiger Fund; ideal für ihre Doktorarbeit. Jetzt kamen sie der Sache vielleicht auf den Grund: der ultimativen Moche-Gottheit. Die Persönlichkeit des mysteriösen Gottes, Angelpunkt der mysteriösen Moche-Religion, war eines der großen Rätsel der nordperuanischen Archäologie.

Und vielleicht lag die Lösung in greifbarer Nähe.

Jessica startete den Motor und fuhr los. Über ihr, ihren Blicken entzogen, hatte der Truthahngeier den Sieg davongetragen; mit einem lauten Flattern seiner schmutzigen Flügel schwang er sich mitsamt seiner Beute in den Himmel empor.

5

Braid Hills, Edinburgh

Das Hotel war überheizt und stank nach dem Bier der Hochzeitsfeier vom Vorabend, die ihn bis drei Uhr nachts am Einschlafen gehindert hatte.

Adam war nicht traurig, abzureisen. Seine Aufgabe hier im dunklen, winterlichen, ziemlich deprimierenden Edinburgh war erledigt. Der Guardian hatte seine Rosslyn-Chapel-Reportage auf großzügigen zwei Seiten und mit ein paar schön schrägen Fotos von Jason veröffentlicht. Außerdem hatte die Zeitung eine kleine, sehr persönliche Ergänzung Adams zum Nachruf auf Dr. Archibald McLintock angenommen, den renommierten Autor und Experten für mittelalterliche Geschichte – »Ich bin Professor McLintock in den letzten Stunden seines Lebens noch einmal begegnet, und die Begegnung mit ihm war so amüsant und aufschlussreich wie eh und je …«

Dennoch nagte unterschwelliges Unbehagen an Adam, als er die schmutzigen Hemden in seine Reisetasche stopfte. Natürlich ging ihm der Selbstmord des alten Wissenschaftlers nahe, aber auch die letzten Worte, die Archibald McLintock in der Kapelle zu ihm gesagt hatte, ließen ihn nicht los.

Es stimmt alles, Rosslyn ist der Schlüssel.

Adam hatte ihre kurze seltsame Begegnung nach einigem Überlegen nicht in seinem Artikel über Rosslyn erwähnt. Nur zu offensichtlich war der alte Professor am Ende etwas durcheinander gewesen, und um sein Andenken nicht zu schmälern, hatte Adam darauf verzichtet, ihn mit diesen untypischen Aussagen, die in so krassem Widerspruch zu seinem Lebenswerk standen, zu zitieren. Dies umso mehr, als er sie auch noch so kurz vor seinem Tod geäußert hatte. Die unbeantworteten Fragen waren damit trotzdem nicht aus der Welt geschafft.

Stirnrunzelnd schaute Adam aus dem Erkerfenster seines im ersten Stock gelegenen Zimmers. Das Hotel war eine umgebaute viktorianische Villa mit knarrenden Fluren, verwelkten Zimmerpflanzen und einem Wintergarten, in dem alte Damen Scones aßen – und mit einem recht passablen Blick, der über die mittelalterliche Silhouette von Edinburgh Old Town bis zum Hafenviertel von Leith hinabreichte.

Das eindrucksvolle Panorama begann sich bereits zu verdunkeln. Obwohl es erst zwei Uhr nachmittags war, kündigte sich schon die Dämmerung an und legte sich wie ein Anflug von Grauen über die Stadt. Tief unten, über dem Firth of Forth, zogen weite Winterregenschwaden wie wallende Theatervorhänge westwärts – an Prestonpans und Musselburgh vorbei, an Seafield und Restalrig.

Selbst in den Namen schwang nordische Düsterkeit mit. Alicia Hagen. Norwegerin.

Adam hatte seine Tasche rasch gepackt und zog den Reißverschluss so energisch zu, als wollte er darin neben seiner schmutzigen Wäsche auch seine morbiden Gedanken wegschließen. Inzwischen beschäftigungslos, durfte er keine Zeit verschwenden. Er hatte seinen letzten Beitrag für den Guardian abgeliefert, sein Honorar würde demnächst auf sein Konto überwiesen, und er sollte jetzt am besten wirklich nach Afghanistan abhauen. Oder zumindest umgehend nach London zurückkehren und sich um neue Aufträge bemühen.

Er wandte sich dem Telefon auf dem Nachttisch zu und nahm den Hörer ab. Die Frau an der Rezeption nannte ihm gut gelaunt die Nummer eines Taxiunternehmens. Er wählte sie. »Ja, zur Waverley Station. Jetzt gleich.«

»Jetzt gleich« entpuppte sich als optimistisch: Er musste zwanzig Minuten warten. Aber das machte nichts, sein Zug ging erst um 16.30 Uhr.

Er stellte sich ans Fenster. Mürrisch, klischeehaft und imposant brütete Edinburgh Castle auf der Skyline. Die düsteren schottischen Straßen glänzten im Nieselregen.

Dann klingelte sein Mobiltelefon. Obwohl Adam die Nummer nicht kannte, nahm er ab. Eine Edinburgher Vorwahl … »Hallo.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung war jung und weiblich und reich an schottischen Vokalen. »Hallo, spreche ich mit Adam Blackwood vom … Guardian

»Ja.«

»Haben Sie den Artikel über meinen Vater geschrieben?«

»Wie bitte?«

Eine kurze, markante Pause. Dann: »Ich bin Nina McLintock. Archibald McLintock war mein Vater. Ich hoffe, ich störe nicht, aber …«

»Nein, nein, kein Problem.«