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Manuel Sandrino

Am Quell der Weisheit

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Für alle mutigen Löwen, diese Könige ihres eigenen Lebens.
Für alle, die ihre eigene Erleuchtung ernst nehmen und etwas dafür tun.

Vorwort

Wir alle sind Löwen; Könige unseres eigenen Lebens.

 

Die Zeit der Selbstfindung und der Umwandlung in sein wahres und reifes Selbst ist mit der Reinigung des Quells der Weisheit vergleichbar. Es ist ein Prozess des sich Entdeckens. Es ist die Zeit zum Brüllen und sich seine Mähne wachsen zu lassen. Doch erst muss die Löwentat vollbracht werden.

All die Steine auf dem Lebensweg müssen weggeräumt und zu Juwelen der Einsicht geschliffen werden. All die Regeln, die der junge Löwe von Eltern, Lehrern und Vorbildern gelernt hat, muss er jetzt nach eigenem Gutdünken anwenden und sich gleichzeitig von ihren Begrenzungen befreien. Mit jeder weiteren Tat kommen Charakterzüge zu tage, die das Leben als solches ausmachen. Immer wieder muss der Löwe den Schmutz seiner Gedanken und seiner Gefühle beseitigen, damit sein Sonnenherz erstrahlen kann.

Tausend Verlockungen und Ablenkung werden zum Sirenengesang. Überall lauert Gefahr, Verblendung und Dinge, die ihn daran hindern, sein Potenzial auszuschöpfen. Erliegt der junge Löwe ihren Betörungen scheitert er, strandet auf einer einsamen Insel oder wird von Ungeheuern gefressen. Tropfen um Tropfen muss auch das letzte Gift der Bevormundung und der einschränkenden Zwänge getrunken werden, um all die Lektionen des Lebens in seinen Quell der Weisheit umzuwandeln.

Danach kann der junge Löwe all die Regeln der Vergangenheit im Grunde vergessen, weil er sie sich angeeignet hat. Durch seine ureigenen Erfahrungen erkennt er jetzt die Differenz zwischen Schein und Sein. Er wird fähig Lüge von Wahrheit und Falschheit von Liebe zu unterscheiden. Er hört jetzt auf den Pulsschlag des Lebens und folgt ihm. Er wird selbst zum Quell der Weisheit, der zum Lebenselixier und zum Glück für alle in seinem Umfeld wird.

SCHWARZ

„Ja, Sie befinden sich in dem Ihnen zustehenden Bewusstseinszustand – aber wie lange wollen Sie noch darin bleiben? Für immer?“ – Harold Klemp

Verflucht oder Gesegnet?

Ich fluche in allen Sprachen, die mir bekannt sind – und das sind zahlreiche. Einige davon wurden noch nie zuvor in der Gegenwart ausgesprochen, denn sie müssen erst noch erfunden werden; andere gehören längst vergessenen Zivilisationen an; oder es sind Worte aus dem verbotenen Geflüster der uralten Götter. Ich verfluche mein Schicksal. Ich verfluche meine Neugier und vor allem verfluche ich meine Machtlosigkeit.

Hier stehe ich nun in einer Wüste, die so leer und tot ist, wie ich mich fühle. Im Westen versinkt die Sonne über bläulich schimmernden Bergen. Bald wird das aufkommende Grau vom Schwarz der Nacht vertrieben. Bald werden auch die letzten hier kaum vorhandenen Farben geschluckt. Viele Farben bringt diese endlose Leere eh nicht hervor. Da ist ein vergammeltes Grün von einem vertrockneten Kaktus; das verblassende Blau der Berge; ein letztes oranges Aufflackern der Sonne; ein Streifen Violett vor der Dunkelheit; ein paar Tropfen meines roten Blutes, als ich mich vorhin an einem der scharfen Steine geschnitten hatte; und natürlich der gelbe Sand, der alles um mich herum zudeckt. Mich dürstet nach Wasser, nach Kühlung und vor allem nach Leben. Wie der Kaktus verdorre auch ich, nicht von der Wüstensonne, die den ganzen Tag auf mich niederbrannte, sondern vor der alles aufsaugenden Leere dieser Welt. Irgendwo hier liegt meine Zukunft begraben, gefangen im Loch, das ich selbst als sein Gefängnis geschaufelt habe. Ob mein Nachfolger sich meiner Schätze bereits bemächtigt hat?

Ich weine, doch nicht einmal Tränen vermag mein ausgetrockneter Körper zu manifestieren. In mir gibt es kein Wasser mehr. Das Feuer hat alles verzehrt. Mit einem gewaltigen Blitz wurde alles aus mir rausgebrannt. Zurück blieb nur eine leere Hülle. Mein Lebenswille und meine Säfte verbrannten ebenfalls. Gewohnheitsmäßig umklammere ich die Lederschnur um meinen Hals. Aber auch das Symbol meiner Macht ist weg. Nichts ist mir geblieben, bis auf die Lederschnur.

Diese endlose Leere um mich herum erinnert mich an mein eigenes Versagen. Hier wächst seit Tausenden von Jahren nichts mehr. Ob auch ich für Jahrtausende von meinem Erbe getrennt sein werde? Verzweifelt fahre ich mir durchs staubige Haar. Was ich war, existiert nicht mehr; was ich heute bin, ist nur noch ein Schatten meines wahren Selbst; und was aus mir werden soll, verschlingt gerade diese Schwärze ohne Zukunft. Damals – heute – morgen, für mich sind das nur Sandkörner der Lebensuhr, die erneut Kopf steht.

Ich laufe weiter auf dem toten Boden. Ich flüchte dem letzten Licht der Sonne entgegen. Das neue Ziel ist mir fremd und so egal, wie der Ort, den ich gerade noch das Hier und Jetzt nannte.

Ich war so kurz davor, ein Gott zu werden.

Ich stand schon auf der Schwelle zum Olymp.

Dann erschien Er. Er raubte mir alles. Er, der die Götter vernichten und die Pforten zum Olymp für immer schließen soll. Ich hielt ihn auf! Der Preis war gewaltig. Es kostet mich alles, was ich zu geben hatte.

Und der Lohn dafür? Nichts! Leere! Dieses Schwarz, das immer dichter wird.

Abermals verfluche ich ihn, dann mich, weil ich ihn nicht stoppen konnte. War ich früher frei auf dem Pfad der Götter zu wandeln, ist das aufkeimend Göttliche in mir heute nur noch eine blasse Erinnerung. Die Welten zwischen Schein und Sein driften auseinander. Was würde ich alles tun, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten und der Weisheit zu erlauben wieder von mir Besitz zu ergreifen?

Ich weiß, dass ich nur noch ein ganz normaler Teenager bin, der irgendwann zurück in seinem physischen Körper erwachen wird. Diese Welt, in die ich mich träumte, gehört zu einer anderen Dimension. Es ist dies eine Welt, die mir klar zeigt, was aus mir geworden ist: ein Nichts im Nichts. Natürlich kann ich noch träumen – das kann jeder – doch das bewusste Reisen in die anderen Dimensionen ist nur noch ein kümmerlicher Rest von dem, was es einst zustande brachte. Ich wandelte am Rand der Zeit, surfte auf den kosmischen Wellen durch die verschiedenen Himmel und besuchte Götter und Titanen. Heute wird das Schwarz bald das letzte Licht löschen, mich schlucken, verdauen und ausgelaugt wieder auskotzen.

Ich sollte handeln. Ich sollte etwas verändern. Wie? Mein hilfloses Lachen klingt hohl und wahnsinnig in der leeren Weite dieser Todeswüste.

„Hilfe!“, brülle ich in die immer dichter werdende sternenlose Schwärze. „Ich gebe noch nicht auf! Hört ihr mich!“ Drohend erhebe ich meine beiden Fäuste gegen das Schwarz. „Zeus, prüft mich! Gib mir eine zweite Chance! Zeige mir, wie ich meine Gaben wiedererlangen kann!“

Verzweifelt sacke ich auf meine Knie: „Bitte!“, fleh ich. „Ich tue alles, was nötig ist!“

 

Stand ich gerade noch in der ewigen Leere, befinde ich mich jetzt am Ufer eines Ozeans. Dunkle Wellen schwappen ans Ufer, lecken die Felsen und schäumende Gischt spuckt mir ihr Salz ins Gesicht. Bis zu den Knöcheln stehe ich in faulig stinkenden Algen. Auch in dieser Welt ist es dunkel. Auch hier versank die Sonne längst hinter dem Horizont. Der einzige Unterschied ist ein einzelner Stern, der über mir flackert. Ein Funke Hoffnung! Sein Licht reicht nicht aus, diese Welt zu erleuchten, doch mein Geist zerrt von seiner Gegenwart.

In der Nähe schaukelt ein Boot zwischen den Felsen, vertäut an einer angespülten Wurzel eines toten Baums. Erst durch die schleimigen Algen, dann bis zur Hüfte versinkend, wate ich durch Seegras und tote Muscheln, um das Boot zu erreichen. Sein nasses Holz riecht modrig. Ob es mich überhaupt noch tragen wird? Da ich nichts zu verlieren habe, hieve ich mich an Bord. Das tiefschwarze Wasser sieht aus wie Öl. Im Bug liegen stinkende Netze und Körbe zum Krabbenfischen. Nackt setze ich mich auf die einzelne Bank im Heck, schiebe die Ruder durch die Riemen und beginne zu paddeln. Nur der Stern über mir ist noch zu erkennen, der Rest der Welt wird zu einer einzigen schaukelnden Masse. Himmel und Ozean drohen eins zu werden. Nur ich, als winziger Punkt, trotze ihrer vollkommenen Verschmelzung.

Raum existiert nicht mehr, und die Zeit wurde in dieser Welt noch nicht erfunden. Wenn auch mutlos, dann nicht ohne etwas neu erwachten Abenteuergeist rudere ich immer weiter auf diesen Ozean hinaus. Bis auf das gelegentliche Platschen von Wellen, die vom Bug durchpflügt werden, ist es sonst still. Wenn ich auch selbst noch nie auf dem Styx gefahren bin, dann doch auf einem der anderen Flüsse der Unterwelt. Dies hier muss einer der Flüsse in Hades‘ Reich sein. Ob Zeus mich als Strafe für mein Versagen dahin – hierher – verbannte?

Warum kann ich meine große Klappe auch nie halten? Wer verspricht dem Vater und Herrscher aller Götter schon, dass er zu allem bereit sei?

Ein wunderschöner Gesang durchbricht die gespenstische Stille dieser Finsternis. In meinem ganzen Leben hörte ich noch nie derart schöne Stimmen. Eh vollkommen ziellos herumirrend, steuere ich jetzt auf die Sänger zu. Je näher ich komme, desto sicherer bin ich mir, dass hier Männer singen. Die Sprache ist mir unbekannt. Aber wen kümmern Worte, wenn Melodien und Rhythmen derart himmlisch klingen? Es gibt doch Hoffnung! Selbst wenn meine Augen in dieser Schwärze vollkommen blind geworden sind, so öffnen sich doch meine Ohren. Mein Geist erinnert sich der Schönheit, der Reinheit und des Göttlichen, das ich so freizügig geopfert hatte. Für den Moment glaube ich, es noch immer irgendwo, als bloße Ahnung nur, zu fühlen. Strenge ich mich nur genügend an, könnte ich es vielleicht – nur vielleicht – wieder in mein Bewusstsein ziehen.

Plötzlich gerät mein kleines Boot ins Schwanken.

Alles Ausbalancieren mit den Rudern hilft nichts, mein Gefährt kippt seitlich so arg, dass es droht zu kippen. Mir ist im neuen Wellengang bald zum Kotzen übel. Etwas reißt mir erst das eine Ruder, dann das andere aus meinen Händen, und das mit solcher Kraft, dass meine Hände bluten. Das Salzwasser brennt wie Drachenrotze – würde es das geben – in den Wunden.

Über mir flackert der einzelne Stern und unter mir boxen Wesen hämmernd und aggressiv an den Rumpf. Immer heftiger werden diese Schläge, bis das Holz an einer ersten Stelle berstet und kaltes Meerwasser eindringt. Werde ich von Haien angegriffen? Aber boxen Haie in Schiffsboden? Bin ich im Gewässer der Sirenen gelandet?

Ein zweites, bald ein drittes und viertes Loch klaffen unter mir. Immer rascher füllt sich das kleine Boot mit dem Ozean um mich herum. Natürlich kann ich schwimmen, doch das will ich jetzt nicht. Nicht mit Ungeheuern oder menschenfressenden Sirenen unter mir. Das Boot sinkt und ich mit ihm, wenn ich nicht endlich den Sprung ins kalte Wasser wage. Vielleicht gelingt es mir, die Sirenen zu erschlagen? Kaum kopfüber im schwarzen öligen Wasser versunken, packen eiskalte Hände nach mir.

„Schickt euch Zeus?“, frage ich Wasser ausspuckend, als die erste der Meeresnymphen vor mir auftaucht.

„Wir sind hier, um dich zu töten!“

 

In einer ganz anderen Welt, in der die Zeit anders verläuft, schrecke ich aus dem Albtraum auf. Ich zittere am ganzen Leib. Eklig klebt das durchschwitzte Laken auf meinem nackten Körper. Oder ist es das ölige und stinkende Wasser aus dem Ozean? Nur langsam lässt mich die Panik aus ihrem Würgegriff. Die Erinnerung an die Griffe der kalten Hände verblasst. Nur langsam beruhigt sich mein Herzschlag.

„Verdammte Albträume!“, knurre ich.

Ich strample mich aus dem Bettzeug und stehe auf. Seit ich aus Miami Beach zurück bin, plagen mich Nacht ein, Nacht aus, ähnliche Albträume. In immer neuen Bildern manifestiert sich mein Versagen.

Wenigstens scheint in meiner gewohnten Welt die Sonne! Ihr Licht brennt auf den Fensterrahmen. Ob ich mit einer Lupe nachhelfen sollte? Ein Psychiater benutzte Worte, wie Lupen, um meine Schuldgefühle zu verkohlen. Gezielt versuchte er mir einzureden, dass meine Träume nur abenteuerliche Hirngespinsten wären, die meiner Fantasie entspringen. Er sprach von Fluchtträumen, die ich mir ausdenke, um der Wirklichkeit zu entfliehen. Dann behauptete er wiederum, dass alles gehöre zur Aufarbeitung der diversen Schockerlebnisse, die ich in Miami Beach erlitten hatte: der Schuss auf meinen besten Freund, das ganze Blut, sein Koma und meine folgende Hilflosigkeit.[1] Als dann auch noch mein Lover Apollon ins Koma fiel, wäre das einfach zu viel für mich gewesen. So riet mir der Psychiater, ich solle mir Zeit geben – viel Zeit! Verlust und Trauer bräuchten Zeit um zu heilen. Zeit! Zeit! Zeit! Was weiß dieser Typ schon darüber, was in Miami Beach wirklich passierte? Psychiater, Gedankenjongleure, Pfaffen, alle sind sie Quacksalber mit Diplomen, die sie befähigen, andere zu plagen. Der einzige Vorteil der Besuche beim Psychiater sind die drei Monate, die er mich zur Erholung krankgeschrieben hat. Natürlich muss ich trotzdem den Schulstoff büffeln, doch das kann ich jetzt von zu Hause und via meinem Computer machen. Als Klassenbester kann ich es mir erlauben.

Meine diversen Reisen auf dem Pfad der Götter sind keine Hirngespinste. Der Psychiater verstand das nie. Für mich sind es Erinnerungen an frühere, zukünftige oder parallel stattfindende Leben. Basta! Meine Erlebnisse sind meine Realität. Eine Realität, die mein Denken, mein Fühlen und all mein Handeln im Hier und Jetzt beeinflussen. Was kann also realer sein?

Apollon riet mir, die Besuche beim Besserwisser einzustellen, denn mein Lover kennt die Wahrheit. Er weiß, dass ich nicht verrückt geworden bin. Gut, vielleicht hätte der Seelenklempner mir wirklich helfen können, hätte ich ihm die Wahrheit erzählt? Das, oder er hätte mich in die Klapse einliefern lassen und den Schlüssel ins Meer geworfen? Zu riskant! Nein, was ich und Apollon in Miami Beach erlebten, muss geheim bleiben.[2]

„Somewhere over the rainbow...“, summe ich einen uralten Song von Judy Garland, der im Radio läuft mit. Tief inhaliere ich die Morgenluft, rümpfe aber sofort meine Nase. Etwas stinkt gewaltig. Angewidert schnüffle ich an mir selbst. Mein eingetrockneter Angstschweiß beleidigt meinen Geruchssinn.

Unter der Dusche lasse ich das kühle Wasser meine Naturlocken eine Maske formen, die mein Gesicht verdeckt. Irgendwann muss ich diesen Vorhang lüften, um der neue Realität wieder ins Auge zu blicken. Endlich drehe ich den Wasserhahn zu und schüttle mich wie ein Welpe trocken. Auf ein Badetuch verzichte ich. Ich bin ein Freund des Nacktseins. Zudem sind meine Eltern und meine beiden jüngeren Geschwister bei Oma und Opa. Ich bin unbeobachtet.