Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2017

© 2017 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Frank Maria Reifenberg

Lektorat: Svenja Hoffmann

© Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung einer Illustration von Fréderic Bertrand

Vignetten: Fréderic Bertrand

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-2396-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1715-6

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Tim

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Eine stürmische Nacht

Ein Job wird gesucht und gefunden

Eine Dame unter Verdacht

Ein Besuch zu später Stunde

Ein verhängnisvolles Versprechen

Eine eiskalte Entdeckung

Ein mieser Kerl, der nicht aufgibt

Ein unzustellbarer Brief

Eine genauso miese Hexe, die auch nicht aufgibt

Eine nächtliche Überraschung

Ein Ferkel, das es in sich hat

Einem wird’s ganz warm ums Herz

Ein Problem kommt selten allein

Ein Umzug mit Hindernissen

Ein wenig zu wenig bei einem

Zu viele Leute sehen Dinge, die sie nicht sehen sollten

Ein Plan geht doch nicht ganz auf

Ein Ausflug ins Jenseits

Einer geht, einer bleibt

Der Autor

Weitere Titel

Leseprobe zu "House of Ghosts - Das verflixte Vermächtnis"

»UAAAAAAAH«, SCHRIE MEIN KLEINER BRUDER BOBBYBOY. In diesem Schrei klangen pure Angst, Panik im Quadrat, Grauen mal drei mit. Wie kleine Brüder eben schreien, wenn sie ganz kurz davor sind, sich in die Hose zu pinkeln.

»Iiiiiiiiiiiiiih«, schrie ich, leider auch sehr schrill und sehr laut. Ich schämte mich dafür, denn in meinem Alter sollte man bei solchen Gelegenheiten cool bleiben. Man sollte den kleinen Bruder beschützen und ihm damit klarmachen, wozu eine große Schwester gut ist.

Darum ging es aber gerade nicht.

Es ging um Leben oder Tod.

Papa gnarzte. Ich konnte nicht unterscheiden, welche Art von Gnarzen es war. Er hat für verschiedene Lebenssituationen und Probleme sehr unterschiedliche Gnarz-Formen entwickelt. Dieses war ein sehr lautes »Gnrzgmrk!!!«, was vielleicht auch daran lag, dass er die Ursache für die Schreierei seiner Kinder bisher verschlafen hatte.

Sein Tiefschlaf fand erst ein plötzliches Ende, als Bobby und ich fast gleichzeitig unsere Schreie ausstießen und uns so fest an ihn klammerten, dass er am nächsten Morgen mit blauen Flecken aufwachen würde.

Wenn wir in dieser Nacht überhaupt noch einmal ein Auge zumachten.

Wenn es für uns überhaupt einen nächsten Morgen geben würde.

Seit ich dem italienischen Mädchen, das immerhin 500 Jahre als Gespenst herumgegeistert war, in meiner neuen Funktion als Pförtnerin für verlorene Seelen ins Jenseits verholfen hatte, stellte ich mir hin und wieder eine Frage: Wie würde es mir eines Tages ergehen? Wäre meine Seele imstande, einfach husch und schwups zu verschwinden, oder würde ich als Poltergeist oder schwebende Jungfrau mit blassem Gesicht noch irgendetwas auf dieser Welt erledigen müssen? Würde es eine Schuld geben, die ich noch zu begleichen hätte?

Richtig schlimme Verbrechen standen bisher nicht auf meiner Liste. Jedenfalls keine, für die man mit einem Dasein als Poltergeist bestraft werden würde. Meine Vergehen bestanden aus regelmäßigem Abschreiben bei Mathetests und gelegentlichen Notlügen. Es ging meistens darum, die Erlaubnis zu bekommen, länger bei meiner besten Freundin Cindy bleiben zu dürfen. Mehr belastete mein Sündenkonto nicht.

Glücklicherweise war Mama schon wach in diesem Augenblick, der vielleicht unser letzter sein sollte. Sie bekommt sonst alles mit ein paar Ideen und einer zupackenden Hand in den Griff, das behauptet sie jedenfalls immer. Jetzt hatte sie nur noch eine einzige Idee.

»In alle vier Ecken und festhalten!«, schrie sie. Damit meinte sie das Zelt, in dem wir gerade im Garten hinter unserem eigenen Haus campierten. »Sonst fliegt es weg.«

Es gab ein großes Durcheinander. Bobbyboy krabbelte keineswegs in eine der vier Ecken des Zeltes, sondern unter seinen Schlafsack, den er sich mit beiden Händen über den Kopf zog. Er glaubt fest an das Motto: Was ich nicht sehe, kann mir auch nichts anhaben.

Darin irrte er sich in diesem Fall gewaltig.

Ein Gewittersturm wie dieser hielt sich nicht an Bobbyboys Regeln.

Wieder krachte es, der Blitz zuckte keine Sekunde später hinunter. Die Zeltwände erstrahlten schlagartig in kaltblauem Licht. Leider hatten sich auch die Windböen verabredet, alle gemeinsam in dieser Sekunde durch unseren Garten zu wirbeln.

Es machte ritsch und Mama stand im strömenden Regen. Ihre Seite der Zeltwand flatterte auf und ab. Es machte ratsch und Papa stand ebenfalls im Freien. Wie aus Eimern goss der Regen. Papas Seite der Wand peitschte auf den Boden.

Ich hielt an meiner Ecke noch durch, gab mir alle Mühe, wurde aber von einer hinweggerissenen Stange am Kopf getroffen. Ich erinnerte mich daran, wie ich einmal im Turnunterricht gegen den Holm des Barrens geknallt war. Der Schmerz fühlte sich genauso an, aber ich schwor mir: Du wirfst dich jetzt nicht bewusstlos auf den Boden, und das half.

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, hatte unser Sportlehrer Mister Hoover immer gesagt, und alle außer meiner Freundin Cindy hatten ihn dafür gehasst. Cindy war die Stadtmeisterin in unserer Altersstufe im Kunstturnen. Und das in New York. Sie turnte Übungen am Barren, bei denen mir allein vom Hinsehen schwindelig wurde.

Jetzt war ich Mister Hoover ausnahmsweise dankbar.

Wille.

Weg.

Ich will nicht ohnmächtig werden, bläute ich mir ein. Vielleicht schrie ich es sogar gegen den tosenden Hurrikan an, denn um einen solchen handelte es sich mindestens. Ich will nicht vom Blitz erschlagen werden, nicht im Regen ertrinken, auf keine wie auch immer geartete Weise will ich heute Nacht ums Leben kommen. »Das ist mein Wille, Mister Hoover!!!«, rief ich.

»Mit wem sprichst du, Melli?«, rief Mama. »Siehst du Gespenster?«

Ich zuckte zusammen.

Mama hatte das nur so dahingesagt, aber seit wir vor ein paar Wochen von New York nach Kohlfincken gezogen waren, achtete ich sehr darauf, wenn jemand in meiner Gegenwart plötzlich von Geistern, Heimsuchungen, Untoten oder ähnlichen Wesen sprach. Ich war jetzt stolze Besitzerin einer Villa, in der Gespenster ein- und ausgingen. Allerdings wusste meine Familie das nicht.

»Wir müssen ins Haus«, schrie Papa.

»Das ist verboten«, schrie Mama.

Unter dem Durcheinander von Zeltplanen und Schlafsäcken brabbelte Bobbyboy etwas. Es klang wie: »Heute kippt sie um. Ganz bestimmt.« Mein Brüderchen hatte von Anfang an befürchtet, dass die Villa umkippte.

Ich konnte ihm natürlich nicht sagen, dass eine Villa, die bereits einen ektoplasmatischen Sturm überlebt hatte, über so ein Wetterphänomen nur müde lächelte. Den ektoplasmatischen Sturm hatte ein ziemlich mieser Typ aus dem Dunklen Jenseits ausgelöst, der nur über ein Auge verfügte und manchmal seine Beine verlor.

Wir durften unsere eigene Villa jetzt nicht mehr betreten, weil sie von der Bürgermeisterin amtlich versiegelt worden war. Überall an den Fenstern und Türen klebten Papierstreifen mit einem sehr offiziellen Stempel und der Androhung eines hohen Bußgeldes, wenn jemand dieses Siegel zerriss und die Villa betrat. Mit Regeln und Gesetzen nimmt Mama es genau. Auch wenn sie nass bis auf die Haut ist und Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.

»Wir werfen ein Fenster ein und sagen, es war der Sturm. Hier werden wir am Ende noch vom Blitz gegrillt«, schrie ich.

Im selben Augenblick hatte sich ein Blitz genau das überlegt. Er war jedoch so nett, es zuerst mit der großen Kastanie im Garten der Villa zu versuchen. Es krachte einmal, das war der Donnerschlag. Eine zweite Explosion schepperte kaum fünf Meter neben uns. Das war der Blitz. Er hatte den Baum gespalten.

Für ein paar Herzschläge schien Totenstille zu herrschen.

Das uralte Holz des Baumes knirschte, eine Hälfte kippte in die Richtung der linken Grundstücksseite. Die andere Hälfte nahm ihren Weg genau auf uns zu.

Ich reagierte als Erste, sprang zu dem Knäuel, in dem Bobbyboy steckte. Ich riss ihn zur Seite. Die Äste des Baumes peitschten auf mich ein. Ich kniff die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, standen wir alle vier vor den kläglichen Resten eines Einfamilienzeltes und einer Kastanie. Wir schauten uns an.

»Puh«, sagte Mama.

Wir anderen schwiegen.

Mama und Papa waren mit ein paar Kratzern davongekommen. Mama hielt einen Stein in der Hand. Sie hatte ihre Meinung geändert. »Das wäre doch gelacht!«, rief sie und warf die Türscheibe zum Gartenzimmer mit dem Brocken ein.

Wir waren an unserem ersten Tag in Kohlfincken bereits einmal auf diesem Weg ins Haus gelangt, nur war dabei keine Scheibe zu Bruch gegangen.

»Hereinspaziert«, sagte Papa und gnarzte. Ich war mir sicher, dass es ein Noch-mal-gut-gegangen-Gnarzen war.

ALS ICH IN DEM UNTEREN STOCKBETT in der Dienstbotenwohnung der Villa lag, lauschte ich dem Sturm draußen. Nur diese wenigen kleinen Kammern waren in dem alten Haus einwandfrei bewohnbar. Schlafen konnte ich nicht, denn mir fiel eine weitere Schuld ein, die sicher schlimmer war als Abschreiben und Flunkern. Etwas, das vielleicht dazu führte, dass meine Seele eines Tages ebenso wie viele andere Gespenster auf der Erde bleiben musste.

Mit zerzaustem, nassem Haar würde ich herumlaufen. Den Menschen, die sich natürlich fast zu Tode erschreckten, würde ich die geöffnete Hand hinhalten, in der eine Goldmünze lag. Unter mir würde sich immer eine Lache aus Regenwasser bilden. Die Leute würden am nächsten Tag schwören, dass der feuchte Fleck von diesem Mädchen mit der Goldmünze stammte. Alle anderen, die mich nicht gesehen hatten, würden die Leute, die das behaupteten, für verrückt erklären. Das passierte nämlich oft. Leute, die Gespenster sahen, wurden von Leuten, die nicht über diese Fähigkeit verfügten, verspottet.

Die Goldmünze. Um sie ging es. Die sehr wertvolle Goldmünze. Sie war so wertvoll, dass wir eigentlich nicht in einem Zelt im Garten hausen mussten. Aber nicht wertvoll genug, um die Villa zu retten, das war mir klar. Trotzdem hätte ich sie meinen Eltern geben müssen und behaupten sollen, dass ich sie im Haus gefunden hätte.

Ich trug sie bei mir, seit dem Augenblick, in dem ich Aurora – oder besser gesagt ihrer unruhigen Seele – ins Jenseits verholfen hatte. Die arme Aurora, Tochter eines italienischen Herzogs aus dem 15. Jahrhundert, hatte angeblich ihren Bräutigam in der Hochzeitsnacht vergiftet, was sich als eine falsche Verdächtigung herausstellen sollte. Ihre Seele hatte sich jedoch 500 Jahre lang im Diesseits verirrt, ein schreckliches Schicksal. Bis ich ihr geholfen und sie mir das Goldstück als Lohn dafür überreicht hatte.

Das nämlich war die Aufgabe meiner Urgroßschwiegercousine vierten Grades, Emilie Bauerfeind, gewesen: die Pforte ins Jenseits zu bewachen. Nun war es zu meiner Aufgabe geworden. Denn ich allein war die Erbin des ganzen ziemlich maroden Hauses, von dem Bobbyboy befürchtete, dass es sicher bald umkippte.

Tat es aber nicht, schon seit mehr als 200 Jahren stand die Villa wackelig, aber sicher an ihrem Platz.

Das musste sie auch.

Ohne die Villa hätte es nämlich auch die Pforte nicht gegeben. Die Pforte ins Jenseits für alle unschuldigen Seelen, die beim ersten Versuch den Übergang nicht geschafft hatten und deshalb als Gespenster oder Spukerscheinungen vielfacher Art zurückgeblieben waren.

Darüber hatte ich schon viel gelernt, teilweise aus dem Handbuch der Spukerscheinungen von 1849 in der vollständig überarbeiteten Auflage von 1923 mit 37 Bildtafeln und einer völlig neuen Klassifizierung der Geistwesen. Das Werk mit dem langen Titel hatte ich in der Bibliothek des Hauses gefunden. Außerdem wusste der Nachbarjunge Hotte eine ganze Menge über dieses Thema. Er war nicht nur Freiherr, sondern auch Geisteraufspürer.

Und von den Herren Schöngeist und Geistreich, die in Notfällen den Hüterinnen der Pforte ins Jenseits zur Seite standen, hatte ich ebenfalls noch einiges über die Arbeit an dieser Pforte gelernt. Sie standen mir mit Rat und Tat zur Seite, wenn sie nicht gerade wichtigere Aufgaben an den übrigen Pforten zu erledigen hatten oder Angriffe des Einäugigen abwehren mussten.

Erasmus und Lodovico, wie die Herren mit Vornamen hießen, gefiel es nicht sehr gut, dass nun ein elfjähriges Mädchen die Pförtnerin sein sollte, aber Emilie Bauerfeind hatte mich auserwählt. Wenn ich ehrlich sein soll, konnte das auch daran gelegen haben, dass ich die einzige weibliche Nachfahrin war. Nach Emilies Überzeugung hatten nur Frauen die Kraft, diese anstrengende, verantwortungsvolle und nicht ganz ungefährliche Aufgabe zu übernehmen.

Bei jedem Übertritt auf die andere Seite musste die Spukgestalt für die Passage bezahlen. In den vergangenen Jahrhunderten war das oft ein Goldstück gewesen. Man konnte sich den Übergang nicht erkaufen, die Bezahlung diente vielmehr dazu, dass die Pförtnerinnen ein unabhängiges Leben mit einem ordentlichen Auskommen führen konnten.

Die Aufgabe war anspruchsvoll und zehrte an den Kräften, was ich schon beim ersten Mal am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Tagelang hatten mich Kopfschmerzen geplagt, sodass ich vor Schwindel kaum die Treppe hinuntergehen konnte.

Mir war klar: Ich musste so bald wie möglich das Goldstück ganz und gar zufällig finden. In irgendeiner Schatulle, in der ich die Münze vorher natürlich verstecken würde.

Oder sollte ich doch lieber warten? Vielleicht bis Hotte und sein Onkel von ihrer Reise nach England zurückgekehrt waren?

Eigentlich hieß Hotte mit vollem Namen Horst Friedrich Karl Hippolytus von Mengenfeld Freiherr zu Blankenburg. Weil man aber beim Aufsagen eines solchen Namens zwischendurch einschlief oder vergaß, was man sagen wollte, nannten ihn alle Hotte. Außerdem waren die von Mengenfeld zu Blankenburgs vollständig verarmt, da passte Hotte besser. Ärmer als Hotte und sein Onkel Karl war eigentlich in ganz Kohlfincken nur eine Familie.

Wir. Die Bowers.

Wie gesagt, die Goldstück-Sache ließ mir keine Ruhe. Doch die Entscheidung, endlich etwas zu unternehmen, wurde mir schon am nächsten Tag abgenommen.

»DIE IDEE MIT DEM ZELT war gar nicht so schlecht und romantisch war sie auch«, meinte Mama am nächsten Morgen. Sie strahlte in die Runde der drei missmutigen Gesichter am Frühstückstisch. »Und mehr als einen derartigen Sturm werden wir wohl nicht haben in diesem Jahr.«

In dieser Hinsicht war ich mir nicht so ganz sicher, denn ich hatte mich schon in der Nacht gefragt, ob wir dieses Unwetter vielleicht dem Einäugigen zu verdanken hatten. Es hatte zwar wie ganz normales obermieses Wetter gewirkt. Wie ein tüchtiges Sommergewitter und nicht wie ein ektoplasmatischer Sturm, aber meine Erfahrungen mit dem Kerl aus dem Dunklen Jenseits hielten sich noch in Grenzen. Zu was er alles in der Lage sein konnte, wusste ich nicht, außer dass Erasmus Schöngeist und Lodovico Geistreich mich gewarnt hatten: »Er ist zu allem fähig«, hatten die gesagt. Ich musste möglichst bald mit den beiden sprechen, um mehr über den Einäugigen herauszufinden.

»Fahren wir jetzt nach Hause?«, quengelte Bobbyboy. Er gab es einfach nicht auf. Seine Hoffnung, dass wir wieder nach New York zurückkehren würden, war noch nicht gestorben.

Papa bestach ihn mit einem Pfannkuchen, auf den er eine sehr dicke Schicht Schokoladencreme schmierte. Darauf zauberte er mit zwei Erdbeeren und einer Banane ein lachendes Gesicht. Weintrauben markierten die Nasenlöcher und zwei Apfelscheiben die Ohren. Er verstellte die Stimme, sodass er wie eine quietschende Trompete klang, und sang: »Come, Mister tally man, tally me banana. Daylight come and me wanna go home

Mama lächelte ihn verliebt an. Dieses Lied hatte Papa gesungen, als meine Eltern sich in einer Bar in New York kennengelernt hatten. In ihren Augen sah ich jedoch, dass sie sich wirklich Sorgen machte.

»Wir könnten uns einen alten Wohnwagen besorgen. Oder vorübergehend eine kleine Wohnung mieten. Dann suchen Papa und ich uns Arbeit und dann …« Ihr Wortschwall versiegte. Vielleicht war ihr aufgefallen, wie schwierig das alles zu verwirklichen war.

Papa konnte sechs Instrumente spielen, und das hatte er dreimal in der Woche in einem New Yorker Nachtclub getan. Leider gab es keine Nachtclubs in Kohlfincken. Es gab nicht einmal eine Kneipe oder ein Café, in dem er spielen konnte.

Mama hatte in der Überwachungszentrale der New Yorker U-Bahn gearbeitet und den ganzen Tag auf eine riesige Schalttafel mit Unmengen von Linien aus unterschiedlich farbigen Lämpchen gestarrt. Mit ihren Kollegen sorgte sie dafür, dass keine U-Bahnen zusammenstießen und es möglichst wenige Verspätungen gab. Kohlfincken hatte vier Bushaltestellen, die von drei Linien angefahren wurden, aber nur während der Schulzeiten. In den Ferien und abends war es nur eine Linie. Nachts fuhr gar kein Bus.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Mama: »Papa kann Musikunterricht geben und ich …«, wieder kam sie ins Stocken, »… ich suche mir eine Stelle … irgendwo … also, vielleicht in einem der Läden oder so. Wir kriegen das schon hin.«

Das wäre doch gelacht, dachte ich.

»Das wäre doch gelacht«, sagte Mama, machte aber ein Kalter-Kaffee-Gesicht. Sie hasste kalten Kaffee. Dann schlug sie die Hände ineinander und fragte: »Wer hilft mir beim Abwasch?«

Bei dieser Frage geschieht in der Familie Bower immer etwas Eigenartiges. Mindestens zwei Personen lösen sich in Luft auf, und das sind mein Bruder und mein Vater. Ich habe noch nicht herausgefunden, wie sie das anstellen, aber beide verschwinden so schnell vom Esstisch, dass man glauben könnte, jemand habe sie weggezaubert.

»Melli, du musst nicht«, sagte Mama, denn auch an diesem Tag machten die beiden Verschwindibutzki. »Ich hole die Halunken zurück und dann –«

»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich helfe gerne.«

Das war eine glatte Lüge, aber gemeinsames Spülen war immer schon eine gute Gelegenheit, schwierige Dinge anzusprechen. Wenn es brenzlig wurde, konnte man beim Abtrocknen eine Tasse fallen lassen oder sich in ganz verzwickten Fällen beim Spülen in den Finger schneiden. Vielleicht war das eine Gelegenheit, das Gespräch auf die Goldmünze zu bringen.

Mama warf mir das Geschirrtuch zu. »Du bist ein Schatz«, sagte sie.

Um einen Schatz sollte es gehen, das war richtig. Aber nicht um mich.

Mama plauderte, überlegte, in welche Läden im Ort sie gehen konnte, um sich einen Job zu suchen. Sie erzählte mir von der Schule, die wir vor ein paar Tagen besichtigt hatten und in die ich nach den Sommerferien gehen sollte. Sie schlug vor, bald einen Ausflug zu den Seen in der Gegend zu machen, und plapperte und plapperte. Wenn Mama wie ein Wasserfall redet, kann man meistens sicher sein, dass sie alle schwierigen Themen mit diesem Schwall wegspülen will. Als sie die Pfanne, in der Papa die Pfannkuchen gemacht hatte, ins Wasser tunkte, gelangte sie bei Weihnachten an.

»… können wir uns im Wald selbst einen Weihnachtsbaum schlagen, das ist doch toll, oder? In New York ginge das nicht. Wir müssen uns mal auf die Suche nach dem Weihnachtsschmuck machen. Die gute alte Emilie besaß ganz bestimmt wunderschöne altmodische Kugeln.«

Nach dem Weihnachtsschmuck suchen. Das war ein gutes Stichwort.

Mama seufzte und schrubbte den letzten eingetrockneten Rest des Teigs von der Pfanne.

»Vielleicht finden wir ja etwas Wertvolles«, nutzte ich die kurze Pause.

»Wo finden wir was?«, fragte Mama.

»Wenn wir nach dem Weihnachtsbaumschmuck suchen. Und überhaupt …«, sagte ich. »In einem so alten Haus gibt es doch bestimmt wertvolle Dinge, vielleicht Juwelen oder eine Sammlung seltener Briefmarken, die wir verkaufen können.«

Eigentlich wollte ich noch sagen: Oder Münzen, vielleicht hat jemand welche gesammelt und wusste gar nicht, wie wertvoll sie sind. Aber dazu kam ich nicht.

»Süße, mach dir keine Gedanken!« Mama warf die Spülbürste ins Wasser und trocknete sich mit größter Entschiedenheit die Hände ab. »Wir gehen jetzt in die City, bummeln ein bisschen durch die Läden und hören uns nach einem Job für mich um.«

Wenn Mama mich Süße oder sogar Kindchen nennt, obwohl sie weiß, dass ihre fast zwölfjährige Tochter das hasst, ist Vorsicht geboten. Und wenn sie Dinge sagt wie »Mach dir keine Gedanken!«, macht sie sich ganz sicher welche, und zwar keine guten. Übersetzt heißt das nämlich: Ich mache mir ziemlich große Sorgen, aber das sollt ihr Kinderchen nicht wissen.

Wir zogen also los, in die City, wie Mama es ausgedrückt hatte. Sogar wenn man extrem langsam bummelte, hatte man die City von Kohlfincken in maximal sieben Minuten durchquert. Fünf Minuten könnte man noch herausschinden, wenn man am Schaufenster von Schindlgrubers Angelparadies stehen bliebe und all die Angelhaken und die neuesten Sonderangebote für Köder – lebende und getrocknete – anschaute.

Außer diesem Geschäft gab es in Kohlfincken noch vier Läden: eine kleine Poststelle mit Schreibwarenverkauf, eine Metzgerei, eine Bäckerei, einen Lebensmittelladen, dessen Sortiment mehr oder weniger komplett in den Kühlschrank unserer Wohnung in New York gepasst hätte. Und einen Friseur, der auf einem Plakat mit topmodischen Frisuren für den Herrn und die Dame warb.

Mama blieb davor stehen und seufzte. »So hat deine Oma die Haare getragen. Bevor ich geboren wurde.«

Sie hatte recht. Ich hatte es schon auf Familienfotos gesehen, die genauso vergilbt waren wie das Plakat.

Zwei Häuser weiter hellte sich Mamas Miene auf. »Hurra«, rief sie, »schau dir das an!«

DAS FERKEL LÄCHELTE MICH AN, obwohl es keinen Grund zur Freude hatte. Es war nicht nur tot, sondern trug auch noch einen Apfel im aufgesperrten Maul. Ich hatte noch nie in meinem bisherigen Leben ein Spanferkel gesehen und wusste gleich, dass ich auf keinen Fall jemals auch nur ein winziges Stückchen davon essen würde.

Der Rest der Auslage im Schaufenster der Metzgerei Rackermann & Söhne wirkte neben diesem armen, knusprig gebratenen Schweinchen kaum noch so erschreckend und blutig, wie er war: Blutwurst und Kochschinken, Schnitzel und Hackfleisch, Puten ohne Kopf und Rollbraten mit Kruste – alles das und noch viel mehr konnte man hier kaufen.

Warum Mama »Hurra« gerufen hatte, lag nicht an der Wurst und dem Fleisch in der Auslage und schon gar nicht an dem Spanferkel. Es lag an dem Zettel, der mit ein paar Streifen Klebeband am Fenster befestigt worden war. Aushilfe gesucht! DRINGEND!!! stand in blutroten Buchstaben darauf.

»Ich habe es doch gesagt«, sagte Mama. »Alles wird gut.«

»Äh, Mama …« Ich wusste nicht genau, wie ich es sagen sollte. Auf keinen Fall wollte ich eine Spielverderberin sein oder Mamas gute Laune zerstören, aber es musste raus: »Du bist doch Vegetarierin.«

»Na und?«, entgegnete Mama. »Ich muss die Tiere ja nicht essen.«

»Aber vielleicht schlachten?«, gab ich zu bedenken.

Mama grübelte kurz. »Schlachten … hm …«, murmelte sie. »Fragen geht über Verzagen«, beendete sie den kurzen Augenblick des Nachdenkens, und schon klingelte die Türglocke, als Mama den Laden betrat.

»AAAAAAH«, schrie eine ziemlich fleischige Frau hinter der Theke, die uns den Rücken zugewandt hatte. Sie riss die Arme in die Höhe und schleuderte mit links eine wabbelige Wurst durch den Laden, mit ihrer rechten Hand pfefferte sie eine Handvoll rötlicher Fleischpaste unter die Decke. Der Klumpen blieb dort oben kleben.

»Haben Sie mich erschreckt«, keuchte die Metzgersfrau, die mit ihren roten Wangen und den stämmigen Unterarmen gar nicht so schreckhaft aussah. In ihren Augen flackerte jedoch etwas, das mir eine Warnung hätte sein sollen.