Impressum

 

 

Frank Hille

 

Lebenswege – Eine ostpreußische Familiengeschichte

 

Band 2

 

1976 - 2005

 

 

Copyright: © 2015 Frank Hille

 

Published by: epubli GmbH, Berlin

www. epubli.de

ISBN 978-3-7375-4291-3

 

 

Katastrophe, Kassel, 1975

Schulprobleme, Sachsen, 1976

Das Seegrundstück, Woltersdorf, 1976

Einweihungsfeier, Woltersdorf, 1976

Sorgenkinder, Berlin, 1978

Hannas Probleme, Berlin, 1980

50. Geburtstag, Berlin, 1980

Ferienarbeit, Berlin, 1980

Das erste Mal, Berlin, 1980

Erste Trennung, Berlin, 1980

Probelauf, Sachsen, 1981

Wehrdienst, Thüringen, 1981

Die Wanderung, Elbsandsteingebirge, 1981

Die Entscheidung, Berlin, 1982

Ein Vorschlag, Sachsen, 1982

Vertane Zeit, Thüringen, 1983

Zelturlaub, ČSSR, 1983

Verliebtheit, Berlin, 1983

Julia Frenzel, Kassel, 1983

Erfolge, Sachsen, 1983

Die Auswahl, Kassel, 1985

Alltagssorgen, Berlin,1986

Die neuen PKW, Berlin, 1987

Familienleben, Berlin, 1987

Partnerwahl, Kassel, 1987

Karriereplanung, Berlin 1986

Götterdämmerung, Berlin, 1988

Schuleinführung, Berlin, 1988

Nachwuchs, Berlin, Frühjahr 1989

Zweifel, Sachsen, 1989

Zusammenbruch, Berlin, 1989

Einwände, Berlin, Sommer 1989

Rauswurf, Berlin, 1990

Neuer Start, Sachsen, 1991

Arbeitssuche, Berlin, 1991

Neue Orientierung, Berlin, 1991

Unternehmenskauf, Berlin, 1991

Kontaktaufnahme, Kassel, 1991

Entlassungen, Berlin, 1991

Der Weg in den Osten, Kassel, 1991

Ohne Alternative, Berlin, 1992

Eine Versuchung, Halle, 1992

Erste Fortschritte, Berlin, 1993

Prognosen, Sachsen, 1993

Investitionen, Berlin, 1994

Rente, Berlin, 1995

Keine Ziele, Berlin, 1996

Eine Entscheidung, Berlin 1996

Rückblick, Woltersdorf, 1996

Erweiterungen, Berlin, 1996

Neubeginn, 1978, Schleswig Holstein

Das Treffen, Woltersdorf, 1996

Erste Anzeichen, Berlin, 1997

Schicksalsschlag, Berlin, 2000

Eingewöhnung, Sachsen, 2001

Zielsetzung, Berlin, 2002

Beratschlagung, Berlin, 2003

Bemühungen, Sachsen, 2003

Nachdenken, Berlin, 2004

Abrechnung, Sachsen, 2004

Fehlstart, Berlin, 2004

Abschiednehmen, Berlin, 2005

 

Katastrophe, Kassel, 1975

 

Die Tage verliefen in einem steten und ermüdenden Gleichklang. Morgens richtete sie für die Familie das Frühstück her, ihr Mann ging in die Praxis, das Mädchen zur Schule und Franz Frenzel fuhr ins Behindertenheim, wo er seinen Zivildienst ableistete. Um ihn machte sich Berta Frenzel Sorgen. Der junge Mann hatte sein Abitur gerade so mit großer Mühe geschafft und somit den Unmut seines Vaters auf sich gezogen, außerdem war er unentschlossen, was er studieren wollte. Allgemein war er auch sehr interessenlos, die meiste Zeit hing er nur vor dem Fernseher herum. Während der vergangenen Jahre war ihr aufgefallen, dass er im Gegensatz zu seinen Schulkameraden noch nie eine Freundin gehabt hatte und sich nur in der Clique der Jungs bewegte, sie gab allerdings nichts darauf. Auch als seine Gesten und die Ausdrucksweise immer weibischer wurden schob sie das auf seine zarte Konstitution. Irgendwann würde ihm schon eine über den Weg laufen die ihn interessieren könnte.

 

Den Tag der Katastrophe sollte sie nie wieder vergessen: es war der 23. Mai 1975 nachmittags, ein Freitag. Die Kinder waren schon wieder zu Hause, ihr Mann noch in der Praxis. Sie sah die Polizeibeamten, die bei ihnen geklingelt hatten, verwundet an, schließlich bat sie die beiden Männer ins Haus.

„Frau Frenzel, uns liegt eine Strafanzeige gegen ihren Sohn Franz Frenzel vor, wir möchten Ihnen und ihm dann später einige Fragen stellen“ begann einer der Männer.

„Ihr Sohn leistet seinen Zivildienst im Behindertenheim der Diakonie, dort soll er sich in der vergangenen Zeit mehrfach an geistig behinderten jungen Männern vergangen haben. Wir haben zwei Aussagen die belegen, dass ihr Sohn sich von einem hat befriedigen lassen und mit dem anderen Analverkehr ausgeübt hat. Können Sie uns etwas zu den Neigungen ihres Sohnes sagen?“

„Wie meinen Sie das, seine Neigungen“ fragte sie unsicher.

„Ganz konkret seine sexuelle Orientierung“ erwiderte einer der Männer.

„Nun, er hat keine Freundin, aber das geht anderen in seinem Alter genauso“ sagte sie.

„Hatten Sie nicht das Gefühl, dass er sich mehr zu Männern hingezogen fühlt“ war die nächste Frage.

„Wieso, er ist immer mit seinen Kumpels zusammen, das dürfte doch mit zwanzig Jahren ganz normal sein.“

„Können Sie bitte ihren Sohn holen?“

Sie stieg die Treppe zu den Kinderzimmern hoch, klopfte an die Tür ihres Sohnes und trat ein. Der Junge lag auf dem Bett und blätterte in einer Zeitung.

 

„Die Polizei ist da, wenn du mir etwas zu erzählen hast dann tu es jetzt“ sagte sie ausdruckslos.

„Wie meinst du das“ fragte er zurück und sie konnte keine Spur von Verwirrung in seinem Gesicht erkennen.

„Gut, wenn nichts ist können wir runtergehen“ fuhr sie fort.

Franz Frenzel setzte sich mit auf das Sofa, schlug die Beine übereinander, und sah die Polizisten ruhig an.

„Herr Frenzel, Sie werden beschuldigt, sich zwei Behinderten im Heim in eindeutig sexueller Absicht genähert zu haben, was können Sie dazu sagen?“

„Nichts“ sagte der junge Mann „es ist nicht wahr, ich habe niemand belästigt. Wahrscheinlich ist es der Phantasie der beiden entsprungen, haben Sie eine Ahnung, wie sich Behinderte verhalten?“

„Nein“ erwiderte der eine Polizist „davon wissen wir nichts, aber die beiden haben dem Heimleiter gesagt dass Sie mit ihnen Spiele gemacht hätten, bei denen Sie sich ausgezogen und sie angefasst hätten.“

„Warum sollte ich mich vor diesen Leuten ausziehen, können Sie mir das erklären, und was konkret wird mir vorgeworfen“ sagte Franz Frenzel jetzt gereizter.

„Nun, es gibt die Aussage, dass Sie diese Dinge getan haben sollen, wir haben den Auftrag das zu klären und müssen Sie bitten uns zu folgen, den entsprechenden richterlichen Beschluss haben wir mit.“

„Wissen Sie wer mein Mann ist“ warf Berta in der Hoffnung ein, dass alles nur ein schlechter Traum wäre.

„Das wissen wir, Frau Frenzel“ erwiderte einer „aber das entbindet uns nicht von der Pflicht den Anschuldigungen nachzugehen. Ihr Sohn wird verhört und untersucht werden, und wenn sich die Aussagen der Behinderten nicht bewahrheiten, bringen wir ihn schon heute wieder nach Hause zurück. Wir wollen kein großes Aufheben machen, Sie können ihn selbst zum Revier bringen, denn auch wir haben kein Interesse, dass irgendwelche Gerüchte entstehen.“

Berta Frenzel nickte schwach, zusammen mit ihrem Sohn fuhr sie zum Revier. Während der Fahrt fing er an zu heulen und dann tonlos zu erzählen.

„Ja, ich bin schwul Mutter, hast du das nie gemerkt? Weißt du, warum ich den Wehrdienst verweigert habe? Nicht weil ich keine Waffe in die Hand nehmen wollte sondern weil ich es nur unter Männern nicht ausgehalten hätte, verstehst du das? Ich habe es schon vor ein paar Jahren gemerkt dass mich Mädchen nicht interessieren, Männer schon, aber mit wem sollte ich denn reden? Mit Vater, der nie da ist, oder mit dir, wenn du schon davon genervt bist, dass dir der Tag so lang wird? Ich habe versucht das zu unterdrücken, aber die beiden habe ich angefasst weil ich dachte dass die sowie so im Kopf wirr sind und sie davon nichts mitbekommen. Ich werde alles abstreiten, aber jetzt weißt du wenigstens Bescheid.“

 

Berta Frenzel fühlte etwas zusammen brechen. Zwanzig Jahre hatte sie ihr Kind großgezogen und war nicht in der Lage gewesen zu erkennen, dass ihr Sohn anders war. Sie musste sich auch eingestehen, dass weder sie noch ihr Mann sonderlich viel Zeit für ihre Kinder aufgewendet hatten. Solange sie gute Noten aus der Schule mitbrachten und sonst keinen Ärger machten waren sie eher an sich selbst orientiert, Frieder an seiner Karriere, sie an ihren Seitensprüngen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass Franz sein Abitur nur mit Mühe und Not zustande gebracht hatte, weil er in dieser Zeit wahrscheinlich erkannt hatte, wie es um ihn stand. Noch gab es keinen Grund zur größeren Beunruhigung, und da Frieder seine wöchentliche Vorlesung hielt auch keine Möglichkeit, ihn über den Zwischenfall zu informieren.

Als er nach einundzwanzig Uhr nach Hause kam erzählte sie ihm sofort von der Sache, er griff zum Telefon und sprach mit seinem Anwalt, dann rief er im Revier an und wurde während des Gespräches plötzlich blass.

 

Die schmale Gestalt baumelte am Fensterkreuz der Zelle. Irgendwie hatte es Franz Frenzel geschafft, aus dem Handtuch und den Bettlaken einen Strick zu drehen, sein Genick war nicht gebrochen, er musste langsam und qualvoll erstickt sein. Franz hatte beim Verhör widersprüchliche Aussagen geliefert, so dass man ihn am nächsten Tag nochmals befragen wollte. Die Beamten hatten aber verabsäumt, ihn wie es vorgeschrieben war, regelmäßig zu beobachten, und erst bei einem Kontrollgang war der Vorfall bekannt geworden. Der Leiter des Untersuchungsgefängnisses kam dadurch in erhebliche Schwierigkeiten, denn ganz klar hatten seine Leute ihre Pflichten grob verletzt.

 

Das war auch der Punkt, an dem der Anwalt von Frieder Frenzel ansetzte. Er schlug der Anwaltschaft einen Deal vor der in Kern so aussah, dass die Anschuldigungen gegen Franz Frenzel fallen gelassen wurde und die Familie Frenzel im Gegenzug auf eine Untersuchung der Zustände in der Anstalt verzichtete, jegliche Informationen zu diesem Fall sollten streng vertraulich bleiben. Möglich wurde dies nur dadurch, dass Professor Frieder Frenzel hervorragende Kontakte zu wichtigen Männern in der Stadt hatte, so dass er die Sache über seinen Anwalt geräuschlos abwickeln lassen konnte. In der Anstalt war das Vorgefallene nur dem Personal bekannt geworden und die Beamten wurden zum Schweigen verpflichtet. Im Behindertenheim wusste nur der Leiter von den Vorgängen und auch er hatte wenig Interesse ,sich und seine Einrichtung in der Klatschpresse der Stadt wieder zu finden. Auch ihn würde man wegen der Verletzung von Aufsichtspflichten in die Zange nehmen und die Aussagen der jungen Männer wären wegen ihrer Behinderung ja ohnehin mit Vorsicht zu genießen.

 

Franz Frenzels Todesanzeige würde auf eine kurze und heimtückische Krankheit verweisen. Seine Leiche wurde nachts unbemerkt in die Leichenschauhalle gebracht, wo ihn seine Eltern noch identifizieren mussten. Natürlich wussten Frieder und Berta Frenzel dass es Gerüchte geben würde, aber nach einiger Zeit wäre die Angelegenheit ausgestanden. Dass sie den Tod ihres Sohnes fast wie geschäftsmäßig abwickelten war dem Schock über das Geschehene geschuldet. Beide realisierten erst nach Tagen, dass sie ihn von jetzt an nur noch auf dem Friedhof besuchen konnten.

 

Schulprobleme, Sachsen, 1976

 

Das Mädchen hatte sich daran gewöhnt dass die anderen sie manchmal verwundert anschauten, wenn sie die einfachsten Aufgaben wieder einmal nicht begriff, es machte ihr nichts mehr aus. Sie hatte verinnerlicht, dass die Lehrer bei ihr ein Auge zukniffen und ihr wenigsten eine vier zubilligten, selbst mit ihren zehn Jahren verstand sie schon, dass die Qualen die das Lernen ihr bereiteten, irgendwann vorbei sein würden. Längst hatte sie es aufgegeben darauf zu hoffen, dass sie durch ständiges Üben besser werden könnte, das Ergebnis war jedes Mal enttäuschend. Wenigstens ihre Klassenleiterin stellte sich schützend vor sie wenn die anderen sie wieder einmal hänselten und als blöde Gans bezeichneten oder sich sonst abfällig äußerten. Freunde fand sie keine, nur mit Karla, die ähnlich lernschwach wie sie war, schwatzte sie in den Pausen manchmal. Zu Hause setzte sie sich dann wie pflichtschuldig an ihren Schreibtisch um die Aufgaben zu erledigen, oft war ihr schon die Aufgabenstellung unverständlich und mehr um zu zeigen, dass sie sich wenigstens damit beschäftigt hatte, schrieb sie etwas auf, was sie nach ein paar Minuten selbst nicht mehr hätte erklären können. Ihr Bruder Dieter war zwar von seinem Vater beauftragt worden ihr zu helfen aber nahm diese Aufgabe mehr als halbherzig wahr, denn Hanna konnte seinen Erklärungsversuchen nicht folgen, und wenn sie sein spöttisches Lächeln sah, verflog auch jeder Ansatz einer Anstrengung bei ihr ihn zu verstehen.

 

Hanna Becker versuchte instinktiv ihre schlechten Leistungen in der Schule durch Hilfe im Haushalt wettzumachen. Lob bekam sie nur von ihrer Mutter, Peter Becker nahm ihre Anstrengungen zwar zur Kenntnis, aber mehr auch nicht. Für ihn war das Verhalten seiner Tochter Ausdruck eines vollständigen Versagens. Er selbst hatte sich mit Disziplin hochgearbeitet und diese Eigenschaft trieb ihn immer noch ständig an. Peter Becker wusste selbst nicht, dass er auf eine bestimmte Art neurotisch war. Hätte ihn ein Psychologe über sein Leben befragt wäre schnell klar geworden, dass die verstörenden Erlebnisse in seiner Kindheit und Jugendzeit ihn in eine Richtung gelenkt hatten, die Ruhelosigkeit und Anerkennungsstreben mit sich brachten.

 

 

Das Seegrundstück, Woltersdorf, 1976

 

Peter Becker dirigierte den LKW die schmale Straße entlang. Links und rechts säumten Hecken den Weg und der Fahrer hatte Mühe diese nicht zu beschädigen, aber als der See sichtbar wurde war der schwierigste Teil geschafft, die Einfahrt zum Grundstück war noch nicht fertig gestellt und damit konnte der Laster ohne Mühe dort einbiegen. Am Ufer waren die Konturen eines Hauses zu erkennen, das sich beim Näherkommen als großzügiger eingeschossiger Bungalow zeigte, von dessen Terrasse aus man direkt einen Steg betreten konnte. Die großzügige Verglasung ließ viel Licht in das Haus hinein und da der Bau zum Teil noch unverputzt war sah man auch, dass alles solide ausgeführt worden war. Zwei Männer standen vor einem Betonmischer und wiesen den Fahrer ein, als er heran war kippte er die Ladung Kies ab und sofort schaufelten die Arbeiter diesen in den Mischer und gaben Zement und Wasser dazu. Peter Becker ging zum LKW und drückte dem Fahrer zwanzig Mark in die Hand, mit einem „Danke“ stieg dieser ein und fuhr davon.

„Wie viel schafft ihr heute“ fragte er einen der Männer.

„Ganz werden wir nicht fertig, den Rest erledigen wir morgen“ antwortete dieser.

„Gut“ entgegnete Peter „wir sehen uns morgen gegen vierzehn Uhr hier, dann ist Abnahme und ihr bekommt das Geld, in Ordnung?“

 

Die beiden nickten und Peter Becker ging zu seinem Lada, den er im vorderen Teil des Grundstücks geparkt hatte. Die Männer waren ihm von Seidel, einem Kollegen, empfohlen worden, sie würden schnell und ordentlich arbeiten und auch ihre Stundensätze wären nicht überzogen. Vor einem Jahr hatte Peter Becker angefangen sich mit dem Projekt Wochenende, wie er es nannte, zu beschäftigen. Im Ministerium hatte er sich erwartungsgemäß schnell eingearbeitet und stellte bald fest, dass viele der dort Beschäftigten ein Wochenendgrundstück in der Nähe der Stadt besaßen und erhebliche Zeit während der Arbeit aufwendeten, diverse Dinge zu organisieren. Am Schwierigsten war es gewesen ein geeignetes Grundstück zu finden, und er sah sich einige Objekte an die ihm allesamt nicht zusagten. Erst am Kalksee würde er fündig, und während der Preisverhandlung mit dem Verkäufer war er nahe dran, diesem eine Anzeige anzudrohen, da dieser einen durchaus üblichen Preis in den Vertrag aufnehmen wollte, aber nebenbei noch 20.000 Mark forderte, die in bar zu zahlen seien. Als Becker schon kehrt machen wollte wurde ihm bewusst, dass er Grundeigentum erwerben konnte. Nach der üblichen Auffassung war das im Land immer mit Schwierigkeiten verbunden, aber in diesem Falle würde der Boden ihm gehören, und diesmal würde er für sein Geld einen echten Gegenwert erhalten, zumal das Grundstück direkt am See lag und damit für einen eventuellen Weiterverkauf immer attraktiv bleiben sollte.

 

Obwohl er Tag für Tag Bilanzpositionen hin und her schob um die Betriebe am Laufen zu halten hatte sich für ihn manifestiert, dass etliche Luftbuchungen eine künstliche Balance aufrechterhielten, die noch eine Weile funktionieren würde. Je mehr er aber Einblick in die Gesamtsituation gewinnen konnte desto deutlicher wurde ihm klar, dass das System ohne einschneidende Veränderungen irgendwann an seine Grenzen geraten würde. Ob das in fünf oder zehn Jahren sein würde konnte er nicht vorhersagen, aber durch seine Arbeit sah er, dass besonders die Exporte in den Westen zu Preisen erfolgten, die die Aufwendungen nicht im Geringsten deckten. Darüber hinaus wurde der Ersatzbedarf im eigenen Land immer mehr vernachlässigt und eine Produktivitätssteigerung damit ausgeschlossen. Er war sich sicher, dass er eines Tages einen ordentlichen Kontostand haben würde, aber sich nichts Entsprechendes dafür kaufen könnte, deshalb stimmte er dem Grundstückskauf zähneknirschend zu.

 

Alle weiteren Beschaffungsmaßnahmen von Ziegeln, Zement, Holz, Installationsmaterial und vielen anderen Dingen überließ er seiner Frau, die in einem Großhandelsbetrieb sozusagen an der Quelle saß. Da nicht alles zur gleichen Zeit verfügbar war organisierte er eine Garage, in der die Sachen zwischengelagert werden konnten bis sie benötigt wurden. Die Maurer waren für ihre Branche ehrliche Leute, bei ihnen kostete die Arbeitsstunde fünfzehn Mark und ihr Arbeitstempo nach Feierabend war beachtlich, manchmal fragte er sich, ob sie werktags auch so schnell waren.

 

Bei der Abnahme hatte er nichts zu beanstanden. Die Männer bekamen das Geld, wuchteten den Mischer auf einen Hänger, koppelten diesen an einen Trabant Kombi an und fuhren los. Peter Becker setzte sich auf einen alten Stuhl, den die Arbeiter als Pausenmöbel genutzt hatten und betrachtete das Haus. Es unterschied sich schon durch seine Größe von den kleinen Lauben die in der Sparte standen und war im Gegensatz zu den Holzhäusern massiv ausgeführt, für den Architekten, der es entworfen hatte, war der Reiz weniger gewesen zusätzliches Geld zu verdienen, als ein Objekt zu projektieren, das sich von den Einheitsbauten abhob. Das war zweifellos gelungen, denn die elegante Linienführung gab dem Bau Charakter und die große Terrasse, die mit Holz beplankt war, und genug Platz für Sitzmöbel aufwies, ließ das Haus trotz seiner Größe nicht wuchtig erscheinen. Im Inneren bot es Platz für zwei Schlafzimmer, einen großen Wohnraum, die Küche und ein Bad. Nächste Woche würden die Elektriker alle Kabel verlegen und dann wäre es an ihm und Gerda, die Wände zu tapezieren. Die Inneneinrichtung musste zunächst schlicht ausfallen, nach und nach sollte das Haus komplettiert werden aber bei der Knappheit des Angebots rechnete er damit, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen würde, zumindest konnten sie in absehbarer Zeit aber schon dort wohnen. Für die Außenanlagen plante er den Großteil der Fläche mit Rasen zu begrünen und nur in einer entfernten Ecke einen kleinen Gemüsegarten anzulegen.

 

Dieser Ort sollte ihm ausschließlich dazu dienen wieder Kraft zu tanken, wenn Gerda wollte könnte sie sich im Gemüsegarten betätigen und so vielleicht auch etwas Erntefrisches auf den Tisch bringen.


Einweihungsfeier, Woltersdorf, 1976

 

„Weißt du Peter“ sagte der Mann mit schon schleppender Stimme und nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche, „dein Häuschen gefällt mir und hier lässt es sich gut feiern. Das muss dich ja einige Lauferei gekostet haben hier alles ran zu bringen, aber du bist ja als Organisationstalent bekannt. Wo hast du überhaupt den Whisky her?“

„Aus Ungarn. Voriges Jahr war ich drei Tage zu einer Beratung dort und habe ordentlich eingekauft, die Zollerklärungen für den Geldumtausch habe ich dem Schlafwagenschaffner abgekauft. Der hatte die in Massen und auf dem Heimweg habe ich die Sachen in seinem Abteil deponiert, der wusste, dass er nicht kontrolliert wird. Hat mich noch mal ein paar Märker gekostet aber das war mir egal, solche Sachen gibt es bei uns ja nicht und um im Intershop einzukaufen fehlt mir das Westgeld.“

 

Sein Abteilungsleiter nickte, die D-Mark war längst zu einem begehrten Zahlungsmittel geworden, allerdings war der Wechselkurs enorm hoch und nicht allzu viele konnten es sich leisten für eine D-Mark zehn Ostmark hinzulegen. Dies blieb einer Gruppe vorbehalten, die sich von der breiten Masse abhob: Handwerker, Gewerbetreibende, Ärzte. Es war keineswegs so, dass das Unternehmertum vollständig verschwunden war. In ihrem Nischendasein bedienten Blumenläden, Fleischereien, Autowerkstätten und andere eine große Nachfrage, die letztlich nicht ausreichend befriedigt werden konnte, weil auch diesen kleinen Betrieben fortlaufend Güter fehlten. Dennoch zählten diese Leute zu denen, die zwar über größere Mengen Bargeld verfügten, aber auch wenig Zugang zu den knappen Konsumgütern hatten, allerdings öffneten diverse Produkte oder Dienstleistungen manche Tür.

 

„Ja“ sagte er jetzt „es ist schon manchmal schizophren, dass wir hochwertige Konsumgüter für wenig Geld in den Westen verramschen und die Leute hier rennen sich die Haken ab, um eine Schrankwand oder einen Fernseher zu bekommen, von den Autos will ich gar nicht erst reden. Als Honecker angetreten war dachte ich, dass wir eine Liberalisierung bekommen, und neben dem staatlichen Sektor mehr Freiraum für das Gewerbe entsteht, leider Fehlanzeige. Ewig können wir nicht so weitermachen, der Westen hängt uns immer mehr ab.“

 

Peter Becker war über diese Offenheit nicht verwundert. Es lag auch keineswegs daran dass der Mann angetrunken war, selbst im Ministerium mehrten sich kritische Stimmen, dass der Staat über seine Verhältnisse lebte. Die Mitarbeiter sahen bei ihrer täglichen Arbeit, dass in bestimmte Bereiche der Wirtschaft oder des Staates enorme Mittel investiert wurden die das kleine Land eigentlich für andere Zwecke benötigte. Er wurde des Öfteren mit Bedarfsanforderungen von Betrieben konfrontiert, die Objekte für die Landesverteidigung errichten sollten, nach seiner Meinung eine riesige Geldverschwendung, denn im Falle einer militärischen Auseinandersetzung würde kein Stein auf dem anderen bleiben und selbst ein atomwaffensicherer Bunker ohne Sinn sein. Da er aber eine Prioritätenliste abarbeiten musste wurden diese Forderungen mit allen möglichen Klimmzügen erfüllt, zu Lasten anderer dringender Vorhaben. Um der Lage der Anforderungen einigermaßen Herr zu werden gab es Vorrangbedarfe, an erster Stelle die Landesverteidigung, und dann die NSW-Importablösung. Über diesen sperrigen Begriff, Nicht Sozialistisches Wirtschaftsgebiet, wurden auch im Ministerium Witze gemacht.

 

Es war ihm klar, dass das Land wie ein Kieselstein zwischen den beiden großen politischen Blöcken lag und immer der Gefahr ausgesetzt war, in den ab und an aufflammenden Konflikten im Handumdrehen zerrieben zu werden. Zweifellos gab es Fortschritte, den Leuten ging es im Vergleich zu den anderen Ländern im Osten gut und mit dem bescheidenen Wohlstand ließ es sich nicht schlecht leben, es sei denn, man war mit dem politischen System nicht zufrieden. Immer mehr Leute sprachen auf den Behörden vor um einen Ausreiseantrag zu stellen und das Land verlassen zu können. Es war wahrscheinlich weniger die Unzufriedenheit über ihre materielle Lebenssituation, eher der Drang, nicht ständig von einem Staat gegängelt zu werden, der seinen Bürgern viele Entscheidungen abnahm und für sie entscheiden wollte, was gut für sie wäre, der sie, kurz gesagt, nicht als mündig und für sich selbst verantwortlich ansah. Natürlich trug der Blick in den Westen dazu bei Vergleiche zu ziehen, und dass der eigene Staat in manchen Belangen nicht sonderlich gut dastand wusste er wohl, höher schätzte er allerdings eine gewisse soziale Sicherheit. Hier in Berlin stellte sich die Versorgungslage als deutlich besser dar als in den anderen Teilen des Landes, und die Dienstreisenden von dort nutzten die Gelegenheit, gleichzeitig eine Einkaufstour zu absolvieren. Diese ungesunde Bevorzugung der Stadt hielt er für schädlich, obwohl er selbst davon profitierte.

 

„Ich denke, wir hängen viel zu sehr am Tropf der Sowjetunion“ erwiderte er „deren Anforderungen an unsere Produkte sind zwar auch nicht gering, aber wir sehen doch selbst welche Mühe wir haben unsere Erzeugnisse auf den westlichen Märkten zu verkaufen, weil sie nicht unbedingt dem Weltstand entsprechen. Natürlich weiß ich, dass wir keine Rohstoffe haben und zum Export gezwungen sind, aber eigentlich baden wir es aus, dass unsere Produktivität so gering ist. Wenn ich vor Ort durch die Betriebe gehe ist mir manchmal unklar, wie die Leute überhaupt noch Qualität produzieren können, so heruntergekommen sind die Anlagen.“

„Ach lass mal gut sein für heute“ sagte sein Abteilungsleiter „wir werden das heute nicht mehr lösen. Machen wir uns einen schönen Abend und ärgern uns ab Montag wieder mit unseren Bilanzen herum.“

 

Peter Becker feuerte den Grill an, holte zwei Biere aus dem Kühlschrank und brachte die Whiskyflasche mit, die Männer setzten sich auf die Terrasse, genossen den Blick auf den See und tranken. Ihre Frauen schwatzten in der Küche und wenn das Holzkohlefeuer kräftig genug wäre würde er die Bratwürste auflegen. In dieser Abendstimmung war er eigentlich trotz der Gedanken die sie vorhin gewälzt hatten zufrieden. Wenn er seine Situation betrachtete gab es wenig Grund für ihn für Pessimismus, seine berufliche Entwicklung war ohne Brüche erfolgt, mit seiner Frau verband ihn eine jahrelange Partnerschaft die ihm viel bedeutete, ohne dass er es so zum Ausdruck brachte, die Kinder machten wenig Sorgen, der Lebensstandard ihrer Familie wuchs langsam aber kontinuierlich, was wollte er mehr. In drei Jahren würde der Abteilungsleiter in Rente gehen, auf seine Nachfolge machte er sich durchaus Hoffnungen.

 

Die Frauen hantierten in der Küche und nach dem Abendbrot tranken sie noch etwas zusammen, dann fuhr der Abteilungsleiter mit seiner Frau nach Hause, er selbst würde mit Gerda das erste Mal in ihrem Haus übernachten. Er fühlte sich schläfrig, das gute Essen und der Alkohol zeigten ihre Wirkung. Peter Becker war innerhalb von 5 Minuten eingeschlafen.

 

Sorgenkinder, Berlin, 1978

 

Die Geschwister nervten sich gegenseitig. Dieter Becker büffelte jede freie Minute, denn das Zeugnis der achten Klasse würde darüber entscheiden, ob er auf die Erweiterte Oberschule gehen konnte und er wollte mindestens einen Notendurchschnitt von 1,5 erreichen. In Physik musste er noch einiges tun und Biologie stand ebenfalls noch auf der Verbesserungsliste, mit allen anderen Noten lag er in seinem persönlichen Plan. Hanna war mit Mühe und Not in die fünfte Klasse gekommen, eigentlich verdankte sie es ihrem Vater der mehrfach mit ihrer Klassenleiterin gesprochen hatte und ihr erklärt hatte, dass bei dem Mädchen der Knoten doch schon noch platzen würde. Sie zählte zu den leistungsschwächsten Schülern in der Klasse und ihr Vater hatte ihr ein strenges Übungsprogramm vorgegeben, doch das Kind war nicht in der Lage mehr als zehn Minuten konzentriert an einer Aufgabe zu sitzen. Dementsprechend sprunghaft ging sie vor und die Ergebnisse waren schlicht und ergreifend katastrophal, denn es gab kaum eine Aufgabe, die sie komplett fertig stellte. Vielmehr hatte sie es sich angewöhnt bei anderen abzuschreiben, aber in den Leistungskontrollen und Arbeiten kontrollierten die Lehrer gründlicher, und über eine vier kam sie nicht hinaus.

 

Peter Becker war mit seinen Kindern unzufrieden. Bei seinem Sohn störte ihn diese Schlappheit wie er es für sich nannte, seine Tochter hielt er ganz klar für einen hoffnungslosen Fall und bei ihr sollte es nur darauf ankommen, dass sie die Schule bis zur zehnten Klasse schaffte, möglicherweise würde sie nur bis zur achten kommen. Dieter würde der Sprung auf die Erweiterte Oberschule gelingen, die Chancen für das Mädchen sah Peter nur in einer mechanischen Arbeit, etwa der einer Bandarbeiterin. Wie so oft fragte er sich, warum seine Gene bei den beiden nicht durchschlugen, sie waren so ganz anders als er, unentschlossen, verweichlicht und nicht zielstrebig. So sah er es jedenfalls.

 

 

Hannas Probleme, Berlin, 1980

 

Das Mädchen pubertierte heftig und noch mehr als sonst war ihr alles egal. Das Gebrüll ihres Vaters, wenn sie Arbeiten oder Leistungskontrollen vorlegen musste, die herablassende Art der anderen Schüler mit ihr umzugehen, die genervten Lehrer, die bei ihr keinerlei Fortschritte erzielen konnten. Sie müsste nur noch zwei Jahre durchhalten, dann würde sie nach acht Jahren von der Schule abgehen und das erschien ihr eigentlich als nicht als sonderlich schlimm. Obwohl sie keinerlei Vorstellungen hatte was sie später einmal tun würde war sie davon überzeugt, dass es eine Arbeit sein musste, bei der sie nicht viel nachdenken musste. Sie konnte sich ganz gut vorstellen, als Näherin oder Köchin zu arbeiten, Hauswirtschaft war das einzige Fach bei dem sie Geschick bewies. Auch deswegen ging sie ihrer Mutter im Haushalt gern zur Hand und Gerda Becker war klug genug, sie auf dieser Strecke zu fördern. Als Hanna das erste Mal ein Mittagessen für die Familie zubereitete, ihre Mutter hatte Spinat und Rührei geplant, gab selbst ihr Vater keinen hämischen Kommentar ab sondern aß ohne eine Bemerkung auf. Seitdem bürgerte es sich ein, dass Hanna einmal im Monat für die Mahlzeit zuständig war und wenn sie in der Küche stand und das Essen nach dem Kochbuch zubereitete fühlte sie sich wohl. In dieser Zeit entwickelte sie ein ganz bestimmtes Gefühl für das Verhältnis der Zutaten, denn die Angaben in den Kochbüchern zu den Mengen und Gewichten verwirrten sie eher. Dass sie über ausgeprägte sensorische Fähigkeiten verfügte war ihr selbstredend nicht bewusst, aber bald kochte sie besser als ihre Mutter und hatte auch den Mut, bisher noch nie auf dem Speiseplan der Familie stehende Gerichte auf den Tisch zu bringen.

„Hör zu Peter“ sagte Gerda zu ihrem Mann „das Mädchen wird nie einen Abschluss schaffen so wie du dir es vorstellst, ist das eigentlich so schlimm? Für mich nicht, schau‘ sie dir an, sie quält sich mit der Schule nur herum, aber wenn sie kochen kann blüht sie richtig auf. Dann wird sie eben irgendwo in einem Betrieb oder einer Gaststätte arbeiten, auch dort kann man sein Geld verdienen.“

„Sicher“ erwiderte der Mann mürrisch „jeden Tag Soßen anrühren, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, sehr anspruchsvoll diese Arbeiten.“

„Na und, du gehst auf Arbeit wohl nicht bei euch in der Kantine essen?“

„Doch, aber die kochen so, dass es nicht gerade ein Genuss ist.“

„Na bitte, Hanna kann das besser, jetzt schon, und wenn sie noch dazulernt wird sie richtig gut werden. Zwinge sie zu nichts mehr, was weder ihr etwas bringt und dich unzufrieden macht.“

 

Peter Becker wusste, dass seine Frau Recht hatte. Dennoch konnte er sich nur schlecht damit abfinden vor anderen Leuten zugeben zu müssen, dass seine Tochter so gar nicht nach ihm kam und nur mit einem schlechten Abschluss von der Schule abgehen würde. Aber mittlerweile hatte er verstanden, dass jegliche Art von Druckausübung auf sie keinen Erfolg haben würde. Außerdem hatte er wichtigere Dinge im Kopf.

 

50. Geburtstag, Berlin, 1980

 

Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hatte sich allerlei Prominenz eingefunden, Peter Becker war im Ministerium in der Reihe der Abteilungsleiter angekommen und seine Wichtigkeit zeigte auch die Gästeliste. Er hatte beschlossen die Feier in ihrem Grundstück auszurichten, und bald drängten sich dort gut dreißig Leute aus allen möglichen Bereichen des Ministeriums, die Männer und Frauen kannten sich seit Jahren aus der gemeinsamen Arbeit. Ihr Umgang miteinander war eine Mischung aus Vertrauen aber auch Vorsicht, zwar war es möglich sich kritisch zu bestimmten Dingen zu äußern, aber es blieb immer ein Risiko sich nicht im Sinne der Staatsführung zu artikulieren. Dabei waren gerade sie es, die den besten Überblick über die wirtschaftliche Situation im Land hatten. Es gab Vorzeigbares, aber auf der anderen Seite auch erhebliche Probleme, die die Unzufriedenheit der Leute noch weiter anstachelten. Die Betriebe wurden auf Verschleiß gefahren und die Jagd nach Konsumgütern oder Baumaterialien beschäftigte die Menschen tagein tagaus. Dass das Land immer grauer wurde und die Umwelt schonungslos der Planerfüllung geopfert wurde schien in Berlin nicht bekannt, oder man wollte es schlichtweg nicht wissen. Mehr und mehr entstand in der hektischen Hauptstadt eine Scheinwelt, die für den Rest des Landes nicht typisch war.

 

„Liebe Freunde“ begann Peter Becker seine Rede „ich freue mich, dass ihr, Sie, meiner Einladung gefolgt seid, ich danke euch, Ihnen, dafür. Fünfzig Jahre alt zu werden ist im Leben eines Mannes Grund zurück zu schauen, aber auch den Blick nach vorn zu richten. Heute bin ich Abteilungsleiter, das hätte ich mir als Bauernjunge niemals träumen lassen, aber es war auch unser Staat, der mir ein Studium ermöglicht hat, dafür bin ich dankbar. Wir haben viel geschafft, es geht uns gut, aber es gibt noch viel zu tun, das wissen wir alle. Der Wind in der Weltwirtschaft wird rauer, wir verlieren Marktanteile, aber lassen wir das, heute soll gefeiert werden, bitte bedient euch.“

 

Das Buffet hatte ein Fleischer hergerichtet bei dem Gerda wöchentlich nur einen Bestellzettel abgeben musste, diskret erhielt sie das Paket nicht im Laden, sondern im Kühlhaus, Peter Becker hatte dem Fleischer vor einiger Zeit eine Cutter Maschine organisiert, seitdem stand er auf der Liste der besonderen Kunden. Ab und an brachte er noch einen Kasten Radeberger Bier vorbei, den er wiederum von einem Mitarbeiter in seinem Ministerium bekam, dieser Naturalhandel funktionierte für ihn bestens. Auch das begehrte Bier stand in ausreichender Menge zur Verfügung, für die Frauen hatte er Wein aus dem Delikat Laden besorgt. Dazu kam noch ein ausgesuchtes Sortiment an Schnäpsen, Südfrüchten, Fisch und anderen Dingen, er konnte es sich leisten. Seit Ende der siebziger Jahre waren die Delikat Läden flächendeckend im Land vorhanden, schickere Verpackungen ließen auf ein besseres Produkt schließen, und die Preise lagen deutlich über denen der üblichen Waren. Für die Raucher lagen Lucky Strike, Marlboro und andere Sorten bereit.

 

Die Leute standen in Gruppen zusammen und plauderten, Peter Becker beteiligte sich hier und dort an den Gesprächen. Diesmal verfolgte er kein bestimmtes Ziel wenn er sich mit den anderen unterhielt, er war sich ziemlich sicher, dass ihm die anderen keineswegs nützlich sein könnten, um noch weiter voranzukommen. Das war auch sein eigentliches Problem, sein rasanter Aufstieg hatte sich verlangsamt. Insgeheim träumte er davon in die Nähe des Ministers vorrücken zu können, dessen Büroleiter stand vier Jahre vor der Rente und er konnte erahnen, welche Machtfülle auf diesem Posten konzentriert war. Mit Mitte fünfzig dort anzukommen wäre für ihn höchstwahrscheinlich die Krönung seiner beruflichen Laufbahn, er würde dafür weiter hart arbeiten.

 

Ferienarbeit, Berlin, 1980

 

Die Stimmung in der Klasse war gut, Dieter Becker fühlte sich wohl und erstmalig auch ohne viele Abstriche anerkannt, keiner nahm an seinen schwachen sportlichen Leistungen Anstoß, vielleicht auch deswegen, weil mit Fred ein Rollstuhlfahrer dabei war, der körperlich noch schlechter dastand als er. So, als ob sich zwei Schwache verbündet hätten, hatten sich die beiden angefreundet, ihr Schulweg war gleich, denn Fred wohnte nicht weit weg von ihm und Dieter schlüpfte in die Rolle seines Helfers weil es schon eine mühselige Sache war, den anderen Jungen mit seinem Rollstuhl in die Straßenbahn zu bugsieren. Da er dies nicht alleine bewerkstelligen konnte musste er immer andere Leute an den Haltestellen oder in der Bahn um Mithilfe bitten und auf diesem Weg wurde er selbstbewusster. Wenn jemand so tat, als ob er die Bitte um Hilfe überhörte konnte er energisch werden. In den vergangenen Jahren war er kräftig gewachsen, ein leichter schwarzer Flaum zierte seine Wangen und seit einem Jahr musste er sich rasieren. Der Stimmbruch hatte ihm einen Bass beschert und die lockigen blonden Haare fielen bis auf den Jackenkragen, mehr ließ sein Vater nicht zu.

 

Er war gut, dass wusste er, und die Anforderungen des Abiturs waren für ihn keinesfalls sonderlich hoch. Da er relativ wenig Zeit für die Hausaufgaben aufwenden musste wurde er Mitglied des Literaturzirkels. Der eigentliche Grund für dieses Interesse hieß aber nicht etwa Goethe oder Schiller sondern Gabi. Um nicht unbedarft dazustehen war er zum Dauergast in einer Bibliothek geworden und las in jeder freien Minute querbeet. Er war nicht wählerisch, und dank seinem guten Gedächtnis blieben viele Passagen hängen, so dass er seinen Wortschatz deutlich erweiterte. Der Leiter des Zirkels, ein Lehrer von einer anderen Schule, gab oft ein Thema vor das die Mitglieder bearbeiten sollten, diesmal war es die Beschreibung einer Berglandschaft. Im vorigen Jahr war Dieter mit zwei Jungen aus seiner Klasse in der Tatra zelten und wandern gewesen, das Geld dafür hatte er sich selbst in den Ferien in einer Wäscherei verdient, etwas anderes wäre mit seinem Vater nicht möglich gewesen.