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Eine übereilte Heirat. Historischer Roman

Catherine St. John

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de
Copyright: © 2015 Catherine St. John

ISBN 978-3-7375-5048-2

I

Vor dem Fenster dehnte sich eine weite, sanft gewellte Landschaft, die sich an diesem trüben Novembertag nicht gerade von ihrer besten Seite zeigte: Schwarz reckten die kahlen Bäume und Sträucher ihre Äste in die Luft, der Boden war feucht und matschig von geschmolzenem Raureif und dem Nieselregen der letzten Tage, und selbst die Buchenhecken, die ihr Laub ja noch nicht abgeworfen hatten, wirkten tot und verdorrt. Die vorherrschende Farbe war, soweit man blickte, grau: Grau waren die Hügel, die sich in der Ferne verloren, grau war der Himmel, der irgendwo im leichten Nebel nahtlos in den Boden überging, grau wirkten – obwohl sie es nicht waren – die Häuser und Hütten, die vereinzelt sichtbar waren. Kein lebendes Wesen war zu erblicken, das der Aussicht vielleicht etwas Farbe hätte verleihen können – man konnte glauben, die Welt sei ein Kupferstich, den man vergessen hatte zu kolorieren.

Sie schauderte und kehrte dem Fenster nachdrücklich den Rücken, nicht ohne unmutig zu seufzen. Dieses Wetter konnte einem wirklich die Stimmung verderben! Aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass man dem Wetter gar nicht so viel Schuld daran beimessen musste: Das Gefühl, einen entsetzlichen Fehler begangen zu haben, genügte vollkommen, um so niedergeschlagen zu sein, wie sie sich momentan fühlte.

Wahrscheinlich hatte sie sich ihr ganzes Leben verpfuscht – durch eine spontane Entscheidung! Und nun saß sie hier in diesem baufälligen und zugigen Schloss in der Einöde von Kent und fragt sich ernsthaft, ob sie von Sinnen gewesen war – oder ob ein boshaftes Schicksal ihr diese Suppe eingebrockt hatte.

Ärgerlich scharrte sie in der spärlichen Glut des Kamins herum, doch das Feuer wollte einfach nicht so brennen, dass es die überall spürbare feuchte Kälte hätte vertreiben können. Schließlich gab sie es auf und setzte sich auf eines der bequemen, aber arg abgeschabten Sofas, die vor dem Kamin standen. Deprimiert fuhr sie mit der Hand über den verblichenen Stoff – gewiss waren diese Sofas seit den Rosenkriegen nicht mehr frisch bezogen worden! Wenn man sich hier im Morgenzimmer umsah, sollte man wahrhaftig nicht glauben, dass sie in eine der reichsten Familien des Königreiches eingeheiratet hatte. Wie das eigentlich alles zugegangen war, hatte sie bis jetzt noch nicht ganz verarbeitet, da alles so schnell und überraschend passiert war.

Angefangen hatte alles vor etwa sechseinhalb Wochen in London - erst vor sechseinhalb Wochen?

Sie hatte mit ihren Eltern einen Ball besucht, auf dem irgendein Unglücksrabe ihrem Vater, dem Earl of Weyhill, den jungen Lord Simon de Torcy vorgestellt hatte. Der Earl fand den jungen Mann recht sympathisch und machte ihn seinerseits mit Lady Weyhill und seiner Tochter, Lady Victoria Castleton, bekannt. Victoria hatte den hochgewachsenen Lord Simon fasziniert betrachtet, so fasziniert, dass sie vergaß, auf seine höfliche Frage nach ihrem Wohlergeben zu antworten und erst durch einen leichten Stoß ihrer Mutter wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Noch nie hatte sie so sehr das Gefühl gehabt, ihrem Idealmann gegenüberzustehen, obwohl sie doch immerhin schon zwanzig war und seit zwei Jahren offiziell in Gesellschaft ging.

Von den blonden, à la Brutus frisierten Locken bis zu den Spitzen seiner spiegelblanken Hessenstiefel sah Lord Simon genauso aus, wie sie sich stets den Mann ihrer Träume vorgestellt hatte; sein eleganter schwarzer Abendanzug saß ihm so angegossen, dass man daran sofort den erstklassigen Schneider erkannte, doch sein Erscheinungsbild blieb dabei eher schlicht – er schien der Tradition Mr. Brummells zu folgen und nicht den Extravaganzen jüngerer Dandies zu huldigen.

Sie stotterte etwas Nichtssagendes und spürte zu ihrem Ärger, dass sie wie eine kleine Debütantin errötete. Er musterte sie aufmerksam, beugte sich galant über ihre Hand und lächelte sie sodann leicht an, was seinem kühlen Gesicht überraschend viel Wärme verlieh. Sie akzeptierte seine Hand für den nächsten Tanz und ließ sich, immer noch verwirrt von den heftigen Gefühlen in ihrem Inneren, aufs Parkett führen. Während des Walzers zermarterte sie sich vergeblich den Kopf nach einem passenden und unverfänglichen Gesprächsthema, doch ihr wollte nichts einfallen – ausgerechnet ihr, die ihr Vater stets gelobt hatte, weil sie es bei solchen Gelegenheiten so gewandt verstand, auch den schüchternsten Gast aufzutauen und zum Plaudern zu bewegen! Er schien jedoch auch nicht gerade vor Einfällen zu sprühen, und so drehten sie sich in verlegenem Schweigen rund um den Saal. Als die letzten Takte verklungen waren, führte Lord Simon sie artig zu ihrer Mutter zurück, küsste ihr erneut die Hand und versicherte ihr mit seltsam brüchiger Stimme, es sei ihm ein großes Vergnügen gewesen…

Victoria hätte vor Ärger zerspringen mögen: Nun hatte sie einen Mann getroffen, der all das verkörperte, was sie sich erträumte – und sie blieb stumm und schüchtern wie ein kleines Mädchen! Gewiss hielt er sie jetzt für schrecklich langweilig und kam nie wieder auf sie zu!

*

Die Kaminuhr schlug elf und riss Victoria aus ihren Erinnerungen. Sie erhob sich langsam, trat zum Fenster und blickte hinaus, doch nichts hatte sich dort verändert. Ach, könnte sich doch die graue Spätherbstszenerie draußen durch irgendeinen Zauber in die Brook Street und dieses schäbige Zimmer in ihre eigenen gemütlichen Räume im Hause ihrer Eltern verwandeln! Wie gerne wäre sie wieder zu Hause gewesen, anstatt hier, wo nichts so war, wie sie es sich vorgestellt hatte!

Vielleicht konnte man sagen, dass die englische Außenpolitik schuld daran war, dass sie so überstürzt einen Mann geheiratet hatte, den sie überhaupt nicht kannte: Hätte Papa nicht plötzlich zu dieser albernen Konferenz gemusst, dann wäre sie heute noch mit Simon verlobt und könnte sich alles noch einmal in Ruhe überlegen; wäre Papa nicht nach Stockholm beordert worden, hätte sie ebenfalls noch genügend Zeit, ihre Entscheidung zu überdenken; hätte – aber sie war ehrlich genug, ihren Anteil an den Geschehnissen auf sich zu nehmen: Hätte sie selbst nicht so unüberlegt Simons Antrag angenommen, dann hätte sie ihre Eltern erst nach Aachen und dann nach Schweden begleitet, was gewiss sehr viel aufregender gewesen wäre als das monotone Leben auf Schloss Lynham.

Ach, was nutzte es, zu überlegen, was alles hätte sein können! Nun war sie jedenfalls hier und langweilte sich schier zu Tode – an der Seite eines Mannes, der ihr auswich, wo er nur konnte. Wäre sie nur nicht so unüberlegt diese Verbindung eingegangen!

Sie presste ihre Stirn an die kühle Fensterscheibe und spürte den leisen Luftzug, der durch die Ritzen drang. Natürlich! Lynham mochte ja, wie sie Simons kargen Bemerkungen entnommen hatte, aus der Zeit der ersten Tudors stammen, aber was half einem das, wenn nicht einmal die Fenster dicht waren? Sie hielt sich ja auch nur deshalb in dem kleinen Morgenzimmer auf, in das niemand aus der Familie sonst je kam, weil es infolge seiner geringen Größe wenigstens einigermaßen heizbar war. Die Herzoginwitwe hatte ihr zwar versichert, sie werde sich bald an die Kälte und den ewigen Zug gewöhnen, ihr sei es anfangs genauso gegangen, aber Victoria, die in einem modernen, bequem heizbaren Stadthaus in London aufgewachsen war und auch bei Auslandsaufenthalten mit ihren Eltern nie auch nur den geringsten Komfort vermisst hatte, konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Ihre Schwiegermutter saß täglich fröhlich im Salon, den auch das größte Feuer nicht erwärmen konnte, und speiste jeden Abend, ohne mit der Wimper zu zucken, in dem riesigen, halbdunklen und eisig kalten Speisesaal; Simon, der hier aufgewachsen war, schien ebenfalls gegen Temperaturschwankungen unempfindlich zu sein, doch Victoria schien es, als sei sie seit ihrer Ankunft aus dem Frösteln nicht mehr herausgekommen. Schon jetzt schauderte sie bei dem bloßen Gedanken an das Dinner und wickelte sich enger in den warmen Schal, den sie über ihrem grauen Wollkleid trug. Grau war absolut nicht ihre Farbe, es machte sie blass und kränklich aussehend, doch sie trug es als Tribut an die Halbtrauer, die in diesem Haus immer noch herrschte. Außerdem, dachte sie bitter, war es ohnehin gleichgültig, welche Farben sie trug – für wen sollte sie sich vorteilhaft herausputzen? Simon würde es auch nicht bemerken, wenn sie sich vom Dachboden einen der altmodischen Reifröcke holte und ihn, mit grellroter Seide drapiert, trüge. Er würde überhaupt nichts bemerken, denn er glänzte ja, soweit er nur konnte, durch Abwesenheit. Warum nur hatte er sie geheiratet?

Sie kuschelte sich wieder in ihre Sofaecke und stopfte sich einige der Kissen, die verdächtig danach aussehen, als hätten sie den Hunden zum Spielzeug gedient, in den Rücken. Ihre Gedanken wanderten wieder zurück.

 

Zu ihrer großen Überraschung schien Lord Simon durch ihr schüchtern-verwirrtes Benehmen auf dem Ball nicht im Geringsten abgestoßen zu sein, sondern lief ihr in der Folge beinahe täglich über den Weg. Sein Benehmen erschien ihr irgendwie merkwürdig, doch das tat ihrer von Tag zu Tag wachsenden Verliebtheit leider keinen Abbruch. Mit einem Gemisch aus Ärger und Faszination registrierte sie seine sonderbaren Aufmerksamkeiten: Er sprach wenig mit ihr, bat sie gelegentlich zum Tanz, hielt ihr höflich die Türen auf, wenn er sie bei ihren Besorgungen traf (was so häufig passierte, dass Victoria der Verdacht beschlich, er lauere ihr auf) und neigte weiterhin dazu, sie prüfend zu mustern, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht. Allerdings war das weniger oft der Fall, als er wohl annahm, denn Victoria entwickelte sehr rasch eine beachtliche Fähigkeit darin, ihn aus dem Augenwinkel so zu beobachten, dass einem zufälligen Betrachter nichts davon auffiel und auch Simon selbst sich völlig sicher fühlte. Seine forschenden Blicke bestärkten sie in der Hoffnung, dass auch sie ihm nicht ganz gleichgültig war, doch blieb sein Benehmen weiterhin rätselhaft, und Victoria hätte nicht sagen können, was er wohl empfand.

Mit ihrer Mutter plauderte er Unverbindliches über die Londoner Gesellschaft, mit ihrem Vater unterhielt er sich ernsthaft und – wie der Earl beifällig bemerkte, recht kenntnisreich - über die Probleme Europas drei Jahre nach der Verbannung des Korsen, die zweifelhaften Chancen der Heiligen Allianz und die Politik Lord Castlereaghs. Er eroberte sich rasch einen Platz als angenehmer, aber nicht allzu intimer Bekannter der Weyhills; deshalb war Victoria vollkommen überrascht, als ihr Vater ihr eines Tages mitteilte, er habe einen Antrag für sie erhalten – und zwar von Simon de Torcy.

„Ist das dein Ernst, Papa?“, fragte sie fassungslos.

„Mich hat es auch ein wenig erstaunt“, gab Lord Weyhill zu. „ich wusste gar nicht, dass ihr schon so vertraut miteinander seid?“

„Das sind wir auch gar nicht“, meinte Victoria nachdenklich. „Mir hat er jedenfalls noch nicht die geringste Andeutung gemacht!“

„Nun“, sagte ihr Vater, „ich habe mich vor einigen Tagen vergewissert. Lord Simon ist der Bruder des gegenwärtigen Duke of Ashford, sein Vater starb erst vor einigen Monaten. Die Familie ist immens reich und bewohnt ein recht bekanntes, aber soweit ich erfahren habe, etwas vernachlässigtes Schloss in Kent. Sie leben recht zurückgezogen. Gegen die Partie wäre nichts einzuwenden, aber es fragt sich natürlich, ob du damit einverstanden bist? Wenn nicht, nehmen wir dich selbstverständlich gerne mit.“

„Mitnehmen? Wohin denn?“

„Ach, hat deine Mutter dir noch nichts gesagt? Ich bin an die Botschaft in Stockholm berufen worden, aber vor nächstem Januar müssen wir wohl nicht dort eintreffen.“

Victoria kicherte, sofort abgelenkt. „Stockholm? Dort haben sie jetzt einen neuen König, nicht wahr? Ist das nicht dieser Franzose, der „mort aux rois“ auf dem Arm tätowiert hat?“

Lord Weyhill lachte: „Genau! Was du dir immer für Absonderlichkeiten merkst! Du hast ganz Recht, Carl Johan ist ja ein ehemaliger Offizier Bonapartes, der sich dann aber gegen den Korsen gewendet hat. Er soll etwas eigenwillig sein; wir werden sehen, wie sich das auf die Beziehungen zu England auswirkt. Auf jeden Fall scheint die Arbeit dort einiges Fingerspitzengefühl zu verlangen – das ist genau die Aufgabe, die mir Freude machen wird. Willst du nicht doch lieber mit uns kommen, anstatt diesen Lord Simon zu heiraten?“

„Ich weiß nicht recht“, grübelte seine Tochter.

„Also, ich würde dir abraten, ihn zu nehmen. In Stockholm lernst du bestimmt eine Menge netter junger Herren kennen und es wird sicher eine amüsante Zeit für dich und deine Mutter. Du wirst dich doch nicht stattdessen auf dem Lande vergraben wollen?“

Dieser Rat ihres Vaters weckte sofort Victorias Widerspruchsgeist. Außerdem gefiel ihr der Gedanke an die vielen jungen Männer, von denen ihr Vater so hoffnungsfroh gesprochen hatte, überhaupt nicht – der rätselhafte Lord Simon beherrschte ihr Denken derartig, dass sie sich ein tendre für einen anderen überhaupt nicht vorstellen konnte.

„Ach, so langweilig wird es bestimmt nicht werden“, meinte sie deshalb optimistisch. „Lord Simon hat doch sicher eine nette Familie, und gewiss gibt es einen regen Verkehr mit den Nachbarn. Außerdem“, sie lächelte spitzbübisch, „wer hätte schon gehört, dass man sich als junge Ehefrau langweilt? Gewiss gibt es dort eine Menge Neues für mich zu erfahren und zu lernen. Ich kann mir das eigentlich recht amüsant denken – genauso amüsant wie einen Aufenthalt in Stockholm.“

Lord Weyhill warf seiner Tochter einen zweifelnden Blick zu. „Ich kenne dich gar nicht wieder! Meine Tochter, die auf dem internationalen Parkett zu Hause war, will sich von ihrer Schwiegermutter in die Pflichten einer Gutsherrin einführen lassen! Meine Liebe, dafür gibt es nur eine Erklärung: Du bist verliebt!“

Er kicherte spöttisch, als er sah, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und fuhr maliziös fort: „Gut, er ist ja ein hübscher Bengel, das lässt sich nicht leugnen. Aber du kennst ihn noch nicht gerade sehr lange. Er könnte sich als Langweiler entpuppen – hast du davor keine Angst?“

„Papa, bitte! Schließlich habe ich nicht vor, ihn morgen zu heiraten! Während der Verlobungszeit kann ich ihn ja noch besser kennenlernen. Ich mag ihn – nun ja, bitte, wenn du willst: Ich bin in ihn verliebt, und er scheint mich doch auch zu mögen, sonst hätte er mir wohl kaum einen Antrag gemacht! Das sind doch recht gute Voraussetzungen. Ich weiß genau, dass sehr viele Ehen unter weniger günstigen Auspizien geschlossen werden und doch recht glücklich ausfallen. Außerdem kann ich die Verlobung immer noch lösen, falls sich Lord Simon in irgendeiner Hinsicht als unerträglich entpuppen sollte.“

Diese leichtfertige Bemerkung trug ihr einen erschrockenen Blick ihres Vaters ein: „Victoria, ich bitte dich, mach mir nur keinen Skandal!“

„Keine Angst, Papa, du kennst mich doch. Auch das würde ich sehr diskret abwickeln, das verspreche ich dir.“

„Nun, dann ist es ja gut. Vielleicht solltest du nun deine Mutter aufsuchen und ihr von der Angelegenheit Mitteilung machen. Sie kann dir auch sicher besser raten als ich.“

„Das werde ich tun, Papa.“ Sie küsste ihn auf die Wange und verließ die Bibliothek. Lord Weyhill griff nach seiner Zeitung, las aber nicht darin, sondern starrte ins Leere. Der Gedanke, seine muntere Tochter so bald zu verlieren, behagte ihm gar nicht – aber das war schließlich der Lauf der Welt.

Victoria suchte ihre Mutter auf und trug ihr die Sachlage vor. Lady Weyhill war auf der einen Seite natürlich erfreut, von einem mehr als angemessenen Antrag für ihre Tochter zu hören, auf der anderen Seite aber lauschte sie der von Victoria vorgebrachten Beschreibung von Lord Simons eigentümlichem Benehmen mit Kopfschütteln und gab schließlich zu bedenken, das Ganze sehe ihr sehr danach aus, als suche der Lord eine mariage de convenance; sein sprödes Verhalten lasse eigentlich keinen anderen Schluss zu. Victoria solle sich reiflich überlegen, ob sie eine solche Verbindung wünsche, schließlich sei sie wohlgeboren, wohlhabend und hübsch genug, um etwas Besseres finden zu können. Sollte sie aber Lord Simons Antrag in Erwägung ziehen, so habe sie zu bedenken, dass sie ihr Verhalten dem ihres zukünftigen Mannes anzupassen habe.

„Was meinst du denn damit, Mama?“

„Nun, wenn Lord Simon dir gegenüber so zurückhaltend bleibt, dann doch deshalb, weil er in dir keine unangebrachten Gefühle wecken will. Deshalb solltest du auch keines dieser unangebrachten Gefühle zur Schau tragen. Verhalte dich genauso kühl wie er, damit du ihn nicht mit unpassenden Emotionen belästigst.“

„Ja, Mama“, murmelte Victoria respektvoll, aber ohne ein Wort der mütterlichen Ansicht zu glauben. Nach einer Vernunftehe sah Lord Simons Benehmen ihrer Meinung nach nun wirklich nicht aus. Eher neigte sie zu der Ansicht, er leide vielleicht unter einer gewissen Schüchternheit, aber das werde sich mit der Zeit schon geben. Fester denn je war sie deshalb entschlossen, den Antrag Lord Simons anzunehmen. Warum schließlich sollte er keinen Gefallen an ihr gefunden haben? Sie litt nicht unter mangelndem Selbstbewusstsein und hatte in den letzten zwei Jahren durchaus schon akzeptable Anträge erhalten, so dass nicht einzusehen war, warum selbst ein so begehrenswerter junger Mann wie Lord Simon sich nicht in sie verliebt haben sollte.

Sie verließ ihre Mutter mit dem festen Vorsatz, sich für den erwarteten Besuch Seiner Lordschaft so hübsch wie möglich zu machen, und zog sich mit diesem löblichen Plan sofort in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie in den nächsten zwei Stunden ihre Zofe zur Raserei trieb, da sie nahezu sämtlichen Inhalt ihrer umfangreichen Schränke anprobierte und als ungeeignet verwarf, bis sie endlich zufriedengestellt war: Das salbeigrüne Musselinkleid mit den gesteppten Ärmeln und der grausilbernen Bandverzierung am viereckigen Ausschnitt war zwar in Anbetracht der fortgeschrittenen Jahreszeit reichlich kühl, brachte aber den Kastanienton ihrer glänzenden braunen Locken ganz hervorragend zur Geltung und verlieh ihren großen grauen Augen einen leichten grünlichen Schimmer, von dem Victoria hoffte, er gebe ihr etwas Geheimnisvolles, Sphinxhaftes.

Auch mit der Frisur konnte sie zufrieden sein, der dicke Haarknoten im griechischen Stil, den sie als Haartracht bevorzugte, obwohl er allmählich ein wenig aus der Mode kam, war ihrer Zofe heute ganz besonders gut gelungen. Sie ließ sich noch ein blassgrünes Seidenband, passend zum Kleid, darumwinden und eine besonders schöne Schnur Perlen umlegen.

So gerüstet begab sie sich in den Salon, um des Besuches seiner Lordschaft zu harren und ihm möglicherweise eine etwas leidenschaftlichere Manifestation seiner Zuneigung zu entlocken, als sie es bisher fertiggebracht hatte.

Lord Simon ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Pünktlich zur festgesetzten Stunde wurde er gemeldet und vom Butler höchstpersönlich in den Salon geleitet, wo Victoria ihn erwartete. Er musterte sie wieder auf seine eigentümlich eindringliche Art, was Victoria mit kühlem, gereiztem Zurückstarren beantwortete. Da wandte er seinen Blick irritiert ab; als er den Kopf wieder hob, wirkte das Blau seiner Augen kälter denn je. Das freundliche Lächeln Victorias – der ihre momentane Gereiztheit schon wieder leid tat – hatte überhaupt keine Wirkung auf ihn. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

„Nun, Mylady, ich nehme an, Ihr Vater hat Sie über meinen – hm – Wunsch informiert?“

„Gewiss, Mylord“, bestätigte sie mit, wie sie hoffte, anmutigem Kopfneigen, ohne ihm an Kälte nachzustehen, wie er mit leichtem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm.

„Wollen Sie sich nicht setzen, Mylord?“, besann sie sich auf ihre Gastgeberpflichten. „Eine Erfrischung?“

Er lehnte die Erfrischung ab, setzte sich aber behutsam auf einen der zierlichen Stühle, während Victoria in graziöser Pose auf der Chaiselongue ihm gegenüber Platz nahm. Seinen kurzen bewundernden Blick nahm sie befriedigt zur Kenntnis – Mama hatte also doch nicht Recht! – und lächelte ihn ermutigend an. Er fand auch sofort wieder zum Thema zurück.

„Ja, also… Lady Victoria, wollen Sie mir die Ehre erweisen, meine Hand zur Ehe anzunehmen?“

„Ja, Mylord“, hauchte sie, die Augen sittsam gesenkt. Er stand auf, kam auf sie zu und zog sie an der Hand hoch. Willig ließ sie sich ziehen, in der Erwartung der leidenschaftlichen Umarmung, die nun doch kommen musste – da sie seinen Antrag angenommen hatte, konnte er doch nicht mehr so schüchtern sein? Sie kam ihm sogar ein wenig entgegen, doch er schien das gar nicht wahrzunehmen, sondern zog nur ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen keuschen Kuss darauf. Danach blickte er sie, wie sie fand, unbeteiligt wie ein Fisch an und versicherte ihr, sie habe ihn soeben zum glücklichen Mann auf Erden gemacht.

Sie war drauf und dran, ihm mitzuteilen, dass man davon aber betrüblich wenig merke, doch sie beherrschte sich gerade noch, versicherte mechanisch, ihm eine gehorsame Gattin sein zu wollen, hörte, dass er es übernehmen werden, die Anzeige an Gazette und Morning Post zu schicken, und sah konsterniert die Tür nach einer letzten Verbeugung hinter ihm zufallen.

Sie sank auf das Sofa zurück und versuchte, ihre verwirrten Gedanken zu ordnen, doch es gelang ihr nur unzulänglich, da sie überhaupt nicht verstand, was in ihrem zukünftigen Gatten vorgehen mochte. Sie war merkwürdigerweise immer noch davon überzeugt, dass es keine Vernunftehe nur aufgrund der passenden Verhältnisse war, die er anstrebte; sollte er aber in sie verliebt sein, dann hätte er sie doch wenigstens küssen können, nachdem die Verlobung besiegelt war? Sie versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass sie womöglich einen entsetzlichen Fehler gemacht hatte, diesen Antrag anzunehmen, nur weil sie Zuneigung zu ihm empfand. Schließich tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass es immer noch angenehmer sein würde, eine kühle Ehe mit einem Mann zu führen, den sie liebte, als von den Zärtlichkeiten eines ungeliebten Mannes belästigt zu werden. Und außerdem war sie ja noch nicht mit ihm verheiratet… bis zur Hochzeit konnte noch allerlei passieren.

In den Tagen, die auf die Verlobung folgten, bedauerte sie es, keine enge Freundin zu haben, der sie ihr Problem anvertrauen konnte. Ihre Eltern waren für derlei Bekenntnisse nicht die richtigen Adressaten, ebenso wenig ihre klatschlustigen Bekannten. Da die de Torcys nur selten in die Stadt kamen, wusste niemand etwas Genaueres über sie und so konnte sie auch nicht hoffen, dass ihr irgendwelche aufschlussreichen Tratschereien zu Ohren kämen. Sie konnte nur darauf vertrauen, dass Simon ihr bis zur Hochzeit noch besser bekannt würde, als das bis jetzt der Fall war.

Vorgesehen war, dass Victoria ihren Simon schon kurz vor Weihnachten in aller Stille (da Simons Vater erst vor neun Monaten gestorben war) heiraten sollte, so dass dem Earl und Lady Weyhill noch genügend Zeit bliebe, ihre Abreise nach Stockholm vorzubereiten. Außerdem hoffte man, dass kurz vor Weihnachten auch Lord Enford, Victorias einziger Bruder, aus Oxford kommen könnte, wo er sich derzeit mit einigermaßen gebremstem Eifer seiner Ausbildung widmete, um sodann in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

Sollte es Victoria im Hinblick auf die bevorstehende Hochzeit mit diesem verschlossenen Adonis doch ein wenig mulmig werden, so freute sie sich jedenfalls ehrlich auf das Wiedersehen mit George. Ihn hatte sie bisher nur in seinen Ferien getroffen, wenn sie nicht gerade ihre Eltern auf den Kontinent begleitet hatte, was in den letzten Jahren doch des Öfteren der Fall gewesen war.