Handbuch
Ius Publicum Europaeum

Band II
Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht

 

Herausgegeben von

Armin von Bogdandy

Pedro Cruz Villalón

Peter M. Huber

 

Unter Mitwirkung von

Diana Zacharias

 

Mit Beiträgen von

Stanislaw Biernat • Patrick Birkinshaw • Armin von Bogdandy

Maurizio Fioravanti • Mariano García-Pechuán • Christoph Grabenwarter

Wim E. van de Griendt • Catherine Haguenau-Moizard • Luc Heuschling

Peter M. Huber • Julia Iliopoulos-Strangas • András Jakab • Helen Keller

Martina Künnecke • Irena Lipowicz • Antonio López Castillo

Kjell Å. Modéer • Remco Nehmelman • Joakim Nergelius • Carlo Panara

Walter Pauly • Christos Pilafas • Rainer J. Schweizer

Alexander Somek • Karl-Peter Sommermann • Pál Sonnevend

Adam Tomkins • Ramses A. Wessel • Diana Zacharias

 

 

kein Alternativtext verfügbar

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

 

ISBN 978-3-8114-8902-8

 

E-Mail: kundenservice@cfmueller.de

Telefon: +49 89 2183 7923
Telefax: +49 89 2183 7620

 

www.cfmueller.de

 

© 2007 C.F. Müller GmbH, Waldhofer Straße 100, 69123 Heidelberg

Hinweis des Verlages zum Urheberrecht und Digitalen Rechtemanagement (DRM)
Der Verlag räumt Ihnen mit dem Kauf des ebooks das Recht ein, die Inhalte im Rahmen des geltenden Urheberrechts zu nutzen. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Der Verlag schützt seine ebooks vor Missbrauch des Urheberrechts durch ein digitales Rechtemanagement. Bei Kauf im Webshop des Verlages werden die ebooks mit einem nicht sichtbaren digitalen Wasserzeichen individuell pro Nutzer signiert.
Bei Kauf in anderen ebook-Webshops erfolgt die Signatur durch die Shopbetreiber. Angaben zu diesem DRM finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Anbieter.

Vorwort

Der zweite Band des Handbuchs Ius Publicum Europaeum vertieft im ersten Teil denjenigen Aspekt der nationalen Verfassungen, der die Ausbildung des europäischen Rechtsraums, Prämisse und Horizont dieses Werks, erlaubt: die je spezifische Öffnung gegenüber Unionsrecht und EMRK. Der zweite Teil präsentiert die Wissenschaft vom Verfassungsrecht. Ein vertieftes Verständnis einer Verfassungsordnung ist ohne Kenntnis ihrer Wissenschaft kaum denkbar, denn diese beschreibt nicht nur, sondern birgt oft den Schlüssel zu ihrer Identität und zum Selbstverständnis des Rechtsstabs.

Wie der erste Band verfolgt auch dieser Band seine Ziele mit einer Kombination von rechtsvergleichenden und mehr rechtsordnungsspezifischen Elementen. Die rechtsvergleichenden Eckpunkte bilden der einheitliche Fragebogen, der allen Beiträgen zugrunde liegt (abgedruckt im Anhang zu § 26 und § 39), die Aufforderung an die Autoren, die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die behandelten Themen herauszustellen, die vergleichenden Beiträge zum Ende eines jeden Teils sowie der abschließende vergleichende Beitrag zu der verfassungsrechtlichen Terminologie.

Walter Pauly stand mit an der Wiege dieses Projekts und hat dem durch die Bearbeitung des § 27 Ausdruck verliehen. Das Projekt ist der Fritz Thyssen-Stiftung zutiefst verpflichtet. Sie hat die aufwändige und kostenträchtige Zusammenarbeit in der Form der Finanzierung einer Tagung und von Übersetzungen nachdrücklich gefördert. Ohne ihre ebenso unbürokratische wie substantielle Hilfe hätte dieser Band nicht in dieser Form verwirklicht werden können. Unser Dank geht weiter an den C.F. Müller Verlag für die Aufnahme in das Verlagsprogramm sowie an Frau Professor Dr. Mahulena Hofmann, die das Projekt in der Frühphase koordinierte, und Frau Dr. Diana Zacharias, in deren Händen die Gesamtredaktion lag, und alle, die die Beiträge übersetzt und redaktionell bearbeitet haben, in Heidelberg unter der Federführung von Dr. Diana Zacharias an Dr. Jürgen Bast, Nicole Betz, Isabel Feichtner, Matthias Goldmann, Leonie Guder, Benjamin Hartmann, Stefan Häußler, Dr. Felix Hanschmann, Timo-Christian Heger, Birgit Jacob, Daniel Klein, Dr. Karin Oellers-Frahm, Markus Rau, Michael Roetting, Serigne Falilou Saw, Verena Schaller-Soltau, Angelika Schmidt, Flaminia Tacconi und Joseph Windsor, in München unter der Federführung von Dr. Ferdinand Wollenschläger an Andreas Engel, Carla Henker, Fabian Kahlert, Florian Leßniak, Nikolaus Plagemann und Sophia Schwemmer.

Heidelberg, Madrid und München, im August 2007

Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

 Verfasser

Erster TeilOffene Staatlichkeit

 § 14Offene Staatlichkeit: Deutschland

 § 15Offene Staatlichkeit: Frankreich

 § 16Offene Staatlichkeit: Griechenland

 § 17Offene Staatlichkeit: Großbritannien

 § 18Offene Staatlichkeit: Italien

 § 19Offene Staatlichkeit: Niederlande

 § 20Offene Staatlichkeit: Österreich

 § 21Offene Staatlichkeit: Polen

 § 22Offene Staatlichkeit: Schweden

 § 23Offene Staatlichkeit: Schweiz

 § 25Offene Staatlichkeit: Ungarn

 § 26Offene Staatlichkeit: Vergleich

Zweiter TeilWissenschaft vom Verfassungsrecht

 § 27Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Deutschland

 § 28Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Frankreich

 § 29Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Griechenland

 § 30Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Großbritannien

 § 31Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Italien

 § 32Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Niederlande

 § 33Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Österreich

 § 34Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Polen

 § 35Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Schweden

 § 36Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Schweiz

 § 37Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Spanien

 § 38Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Ungarn

 § 39Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Vergleich

 § 40Verfassungsrechtliche Terminologie und Begrifflichkeit im europäischen Rechtsraum

 Personenregister

 Sachregister

Verfasser

 

Stanisław Biernat, Dr. habil. iur., Professor, Katedra Prawa Europejskiego (Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europarecht), Uniwersytet Jagielloński; Richter des Obersten Verwaltungsgerichts

 

Patrick J. Birkinshaw, Professor of Public Law, Barrister at Law (Inner Temple), LL.B. Hons., Law School, University of Hull

 

Armin von Bogdandy, Dr. iur., M.A., Professor, Juristische Fakultät, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg

 

Maurizio Fioravanti, Dr. iur., Professor, Facoltà di Giurisprudenza, Dipartimento di Teoria e Storia del Diritto, Università degli Studi di Firenze

 

Mariano García-Pechuán, Dr. iur., Professor (Titular), Facultad de Derecho, Departamento de Derecho Constitucional, Universidad de Valencia

 

Christoph Grabenwarter, Dr. iur., Dr. rer. soc. oec., Professor für Öffentliches Recht, Wirtschaftsuniversität Wien; Richter am Verfassungsgerichtshof in Wien

 

Wim E. van de Griendt, drs., Centre for European Studies, Universiteit Twente

 

Catherine Haguenau-Moizard, Dr. iur., Faculté Droit Economie Gestion, Université d’Orléans

 

Luc Heuschling, Dr. iur. (Paris I), Professeur agrégé de droit public, Faculté des sciences juridiques, politiques et sociales, Université de Lille II

 

Peter M. Huber, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München

 

Julia Iliopoulos-Strangas, Dr. iur., Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Nationalen und Kapodistria-Universität Athen

 

András Jakab, Dr. iur., LL.M., Lecturer in Law, Liverpool Law School, University of Liverpool

 

Helen Keller, Dr. iur., LL.M. (College of Europe), ordentliche Professorin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Rechtswissenschaftliches Institut, Universität Zürich

 

Martina Künnecke, Dr. iur., Ass. iur., Lecturer, Law School, University of Hull

 

Irena Lipowicz, Dr. iur., Professor, Instytut Nauk Prawno-Administracyjnych, Wydział Prawa i Administracji, Uniwersytet Warszawski; Sonderbeauftragte Botschafterin des polnischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten für die Deutsch-Polnischen Beziehungen

 

Antonio López Castillo, Dr. iur., Professor (Titular), Facultad de Derecho, Departamento de Público y Filosofía Jurídica (Área de Derecho Constitucional), Universidad Autónoma de Madrid

 

Kjell Å. Modéer, Dr. iur., Dr. iur. h.c. (Greifswald), Dr. theol. h.c. (Lund), Professor, Inhaber der von Torsten und Ragnar Söderberg’s Stiftungen gestifteten Professur zum Gedächtnis Samuel Pufendorfs, Juridiska fakulteten, Lunds Universitet

 

Remco Nehmelman, Dr. iur., Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Afdeling Staats- en Bestuursrecht, Vrije Universiteit Amsterdam

 

Joakim Nergelius, Dr. iur., Professor, Institutionen för beteende-, social- och rättsvetenskap, Örebro Universitet

 

Carlo Panara, Dr. iur., Lecturer, Law School, University of Hull

 

Walter Pauly, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena

 

Christos Pilafas, Dr. iur., LL.M. eur., Rechtsanwalt in Athen

 

Rainer J. Schweizer, Ordinarius für öffentliches Recht einschliesslich Europarecht und Völkerrecht, Forschungsgemeinschaft für Rechtswissenschaft, Universität St. Gallen

 

Alexander Somek, Dr. iur., Professor of Law, College of Law, University of Iowa

 

Karl-Peter Sommermann, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtsvergleichung, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

 

Pál Sonnevend, Dr. iur., Universitätsdozent, Nemzetközi Jogi Tanszék, Eötvös Lóránd Tudományegyetem/Eötvös-Lóránd-Universität Budapest

 

Adam Tomkins, LL.M., John Millar Professor of Public Law, School of Law, University of Glasgow

 

Ramses A. Wessel, Dr. iur., Professor, Centre for European Studies, Universiteit Twente

 

Diana Zacharias, Dr. iur., wiss. Referentin, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg

Erster Teil Offene Staatlichkeit

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland

Karl-Peter Sommermann

§ 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland

I.Die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit1 – 13

 1.Die Idee der europäischen Einigung2 – 4

 2.Die Beratungen im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat5 – 10

 3.Grundsätzliche verfassungsrechtsdogmatische Einordnung der Integrationsklausel des Art. 24 Abs. 1 GG11 – 13

II.Offene Staatlichkeit und europäische Integration14 – 49

 1.Die offene Staatlichkeit in der Bewährung14 – 32

  a)Europapolitische Weichenstellungen15 – 17

  b)Das Verhältnis zwischen deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht18 – 27

   aa)Grundrechte19 – 22

   bb)Demokratieprinzip23 – 25

   cc)Bundesstaatsprinzip26, 27

  c)Fortentwicklung des Europaverfassungsrechts28 – 32

 2.Die Integrationsklauseln im Einzelnen33 – 49

  a)Art. 23 GG34 – 45

   aa)Erweiterung der Integrationsperspektive35, 36

   bb)Inhaltliche Steuerung des Integrationsprozesses und Struktursicherung37 – 42

   cc)Prozedurale Steuerung, insbesondere Föderalisierung der deutschen Integrationsgewalt43 – 45

  b)Art. 24 GG46 – 48

  c)Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG49

III.Offene Staatlichkeit und Europäische Menschenrechtskonvention50 – 60

 1.Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes51 – 55

 2.Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes56 – 60

  a)Ansätze einer Stärkung der Stellung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung57

  b)Der Grundsatz menschenrechtskonformer Auslegung58 – 60

IV.Entwicklungsperspektiven61 – 63

 Bibliographie 

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › I. Die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit

I. Die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit

 

Vgl. Hinweise im Beitrag von Horst Dreier, § 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland, im ersten Band.

1

Die Hinwendung Deutschlands zu einer Staats- und Verfassungsordnung, die durch das Friedensziel und eine beispiellose Bereitschaft zur Integration in die internationale Staatengemeinschaft geprägt sein sollte, erfolgte nach einer historischen Zäsur, wie sie tiefer nicht sein konnte. Bereits im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, der vom 10. bis 23. August 1948 tagte, wurden die Grundlagen für die anschließend vom Parlamentarischen Rat getroffene Grundentscheidung für eine „offene Staatlichkeit“ geschaffen. Der Parlamentarische Rat, der sich aus insgesamt 77 Repräsentanten der Länder der drei westlichen Besatzungszonen zusammensetzte, konnte freilich nur eine Verfassung für einen Teil Deutschlands, ein „Grundgesetz“ für die spätere Bundesrepublik Deutschland, beraten und am 8. Mai 1949 verabschieden.[1] Parallel zur Ausarbeitung des Bonner Grundgesetzes fand in der Sowjetischen Besatzungszone ein verfassunggebender Prozess statt,[2] der in die Verabschiedung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik mündete.[3] Darin manifestierte sich über 40 Jahre die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten, bis das Grundgesetz am 3. Oktober 1990 auch in den ostdeutschen Ländern in Kraft trat,[4] deren (Wieder-)Einführung nach dem Sturz des sozialistischen Regimes in der DDR noch von der Volkskammer beschlossen wurde.[5]

1. Die Idee der europäischen Einigung

2

In der historischen Rückschau erscheint es erstaunlich, wie stark die Idee der europäischen Einigung die Arbeiten zum Grundgesetz bestimmte. So wie die Verankerung der Menschenwürde und der Grundrechte an der Spitze des Verfassungstextes eine Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus war, so sollte die Integrationsbereitschaft des zu reorganisierenden deutschen Staates[6] den Kontrapunkt zu dem für den Zweiten Weltkrieg verantwortlichen nationalen Hegemonialstreben bilden und eine Rückkehr in die Gemeinschaft friedliebender Staaten ermöglichen.

3

Die Idee der Einigung der europäischen Staaten bzw. der Integration der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt wurde freilich nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sieht man von ferneren Vorläufern in der politischen Ideengeschichte[7] ab, so waren es vor allem Pläne und Konzepte aus der Zwischenkriegszeit und aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die die Vorstellungen der Mitglieder des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rates beeinflussten. Unter den Initiativen, die zahlreiche maßgebliche Politiker in ihren Bann zogen, ragt die Gründung der Paneuropa-Union durch Richard Coudenhove-Kalergi im Jahr 1922 hervor. Mit ihr wird seitdem das Ziel einer – nach mehreren Integrationsstufen zu erreichenden – Schaffung von „Vereinigten Staaten von Europa“ verfolgt.[8] Unter den deutschen Autoren, die sich früh mit Fragen der Staatenintegration befassten, ist etwa Arnold Bergsträsser zu nennen, der im Jahre 1930 sein Buch „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen“ veröffentlichte. Hierin sah er ähnlich wie später Jean Monnet[9] und Luigi Einaudi[10] das wirtschaftliche Element als treibende Kraft für eine Integration Europas.[11] Während des Zweiten Weltkriegs wurden insbesondere von Exilregierungen sowie Kreisen des Widerstandes gegen den italienischen Faschismus und gegen das nationalsozialistische Regime Pläne für eine auf Staatenintegration aufbauende Nachkriegsordnung Europas entwickelt.[12] So entwarf die polnische Exilregierung unter General Sikorski Pläne für eine polnisch-tschechoslowakische Föderation, die auch anderen mittel- und osteuropäischen Staaten zum Beitritt offen stehen sollte.[13] Im Westen waren es insbesondere der Belgier Paul-Henri Spaak und ab 1943 auch der französische General de Gaulle, die aus dem Exil Pläne für eine regionale Föderation im Westen unterstützten. Auf französischer Seite trat Jean Monnet früh dafür ein, dass eine europäische Föderation vordringlich die Schwerindustrie als Schlüsselindustrie der Kriegswirtschaft unter die Leitung einer internationalen Behörde stellen müsse.[14] Im deutschen Widerstand bekannte sich auf Seite der Konservativen vor allem der 1945 in Plötzensee hingerichtete Karl Friedrich Goerdeler zu einem „Zusammenschluss der europäischen Völker“, „in dem weder Deutschland noch eine andere Macht Vorherrschaft beansprucht“.[15] Im Jahre 1943 verabschiedete die „Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten in Stockholm“, der unter anderem Gunnar Myrdal, Willy Brandt und Bruno Kreisky angehörten, ein Friedensprogramm mit der Forderung nach einem „Neuen Völkerbund“ und einer „Regionalen Föderation“ in Europa, wobei sie eine Zusammenarbeit „zwischen der Sowjetunion und den angelsächsischen Demokratien“ für notwendig hielten.[16]

4

Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten die Bestrebungen eines föderalen Zusammenschlusses der europäischen Staaten eine große Dynamik.[17] Im Juni 1948 legte der französische Christdemokrat François de Menthon im Auftrag der Europäischen Parlamentarier-Union den Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa vor; im November 1948 verabschiedete die Union europäischer Föderalisten in Rom den „Vorentwurf einer europäischen Verfassung“.[18]

2. Die Beratungen im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat

5

Im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat in Bonn waren es verschiedene Beweggründe, aus denen die Integrationsbereitschaft Deutschlands in der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht und durch operationale Bestimmungen im Haupttext ergänzt werden sollte. Die Befürworter einte die Einsicht, dass ein dauerhafter Frieden in Europa nur durch eine Integration der europäischen Staaten zu erreichen wäre. Neben den überzeugten Europäern, zu denen etwa Konrad Adenauer, Carlo Schmid und Wilhelm Heile gehörten,[19] gab es auch Mitglieder, die für die Öffnung nach Europa votierten, da sie darin den einzigen Weg sahen, auf dem Deutschland wieder Wohlstand erlangen und als „voll souveräne[r] Staat in die europäische Völkergemeinschaft“[20] zurückkehren könnte.[21] Es gab in diesem Sinne durchaus auch eine politisch und wirtschaftlich interessengeleitete „Flucht nach Europa“.[22] Im Übrigen traten im Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat die auch die weitere Entwicklung prägenden unterschiedlichen Vorstellungen über die europäische Nachkriegsordnung zutage. Während nach einer Auffassung sich Europa als dritte Kraft zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten etablieren sollte, betonte eine andere Strömung die atlantische Verbindung zu den USA. Die stärkere Westbindung verstärkte freilich den Gegensatz zur Sowjetunion, so dass die Gegner dieser Politik geltend machten, dass dadurch zugleich die dauerhafte Spaltung Deutschlands immer wahrscheinlicher werde. Konkrete Konzepte für eine Einigung Europas traten im Übrigen bei den Beratungen zum Grundgesetz nicht zutage. In jedem Falle reichten die Vorstellungen über die auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Juni 1948 geforderten Grundsätze, nach denen Deutschland jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht mit den anderen Staaten Westeuropas verbunden sein sollte,[23] hinaus. Die Debatten im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat widerlegen daher auch in dieser Hinsicht die These, dass die im Grundgesetz getroffene Entscheidung für eine offene Staatlichkeit letztlich von den westlichen Alliierten erzwungen worden sei.

6

Die Deutlichkeit, mit der im Ergebnis das Grundgesetz die Grundentscheidung für die offene Staatlichkeit zum Ausdruck brachte, war auch gemessen am Maßstab der Verfassungsentwicklung in den anderen europäischen Staaten ein Novum. Dies gilt weniger für Art. 25 GG, der die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu einem mit Übergesetzesrang ausgestatteten Bestandteil des Bundesrechts erklärt. Diese Bestimmung bringt zwar gegenüber der entsprechenden Bestimmung der Weimarer Verfassung[24] eine Aufwertung des Völkerrechts, bewegt sich jedoch noch in traditionellen Bahnen. Einen neuen Ansatz enthält indes Art. 24 GG, der erstmals die Möglichkeit einräumt, „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen“.

7

Allerdings hatte bereits die französische Verfassung von 1946 in ihrer Präambel einen ersten Schritt hin zur Öffnung und zur Bereitschaft zum Verzicht auf Souveränitätsrechte auf der Basis der Gegenseitigkeit getan. In der Präambel[25] heißt es: „Sous réserve de réciprocité, la France consent aux limitations de souveraineté nécessaires à l’organisation et à la défense de la Paix“. Eine ähnliche Regelung wurde bald darauf in die italienische Verfassung von 1947 aufgenommen.[26] Beide Verfassunggeber hatten dabei auch die Gründung der Vereinten Nationen und die Schaffung möglicher weiterer Systeme kollektiver Sicherheit im Blick.

8

Die Gewährleistung eines dauerhaften Friedens, gleichsam in Weiterentwicklung des Leitmotivs des Westfälischen Friedens,[27] war Ziel aller Integrationsbestrebungen. Dies galt in besonderem Maße auch für die Beratungen zum Grundgesetz, wo bereits der Entwurf des Unterausschusses I des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee einen Integrationsartikel (Art. D) vorsah, der dem späteren Art. 24 des Grundgesetzes sehr nahe kam.[28]

Art. D des ursprünglichen Entwurfs
(August 1948):

Art. 24 des Grundgesetzes
(endgültige Fassung vom 23. Mai 1949):

(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.

(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.

(2) Insbesondere kann er im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens sein Gebiet in ein System kollektiver Sicherheit einordnen und hierbei, unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit, in diejenigen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, durch die eine friedliche und dauerhafte Ordnung der europäischen Verhältnisse erreicht und sichergestellt werden kann.

(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

(3) Ein solches Gesetz bedarf in Bundesrat und Bundestag einer Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl.

(3) Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten.

9

Während Abs. 2 des Art. D (später Art. 24) mit der Möglichkeit einer reziproken Beschränkung von Hoheitsrechten die Vorbilder der französischen und der italienischen Verfassung aufgreift, geht Abs. 1 mit der Option einer Übertragung von Hoheitsrechten erheblich darüber hinaus und wird so zum nachdrücklichsten Bekenntnis zur „offenen Staatlichkeit“, wie die Integrationsbereitschaft später apostrophiert wurde. Mit der weitgehenden Öffnungsklausel sollte „nach den Dingen, die im Namen des deutschen Volkes geschehen sind“, eine „Vorleistung“ erbracht[29] werden, die, wie ein Redner formulierte, zugleich eine „sehr schöne Antwort“ sei „auf das, was die französische Republik in der Präambel ihrer neuen Verfassung sagt“.[30]

10

Wenngleich die Vorstellungen über die Gestalt des in der Präambel des Grundgesetzes angesprochenen „vereinten Europas“ eher diffus blieben,[31] wurden die bei Integrationsentscheidungen einzuhaltenden Verfahrensregeln eingehend diskutiert. Gegen Integrationsentscheidungen durch einfaches Gesetz wurde geltend gemacht, dass es dabei um eine besonders wichtige Frage gehe, so dass ein verfassungsänderndes Gesetz,[32] im Hinblick auf die betroffenen Länderinteressen jedenfalls aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat[33] zu fordern sei. Dieser Forderung wurde entgegengehalten, dass damit der Integrationsklausel die „Pointe“ genommen würde, da eine Integration durch Verfassungsänderung immer möglich sei.[34] Die Entscheidung über die Integrationsbereitschaft solle eindeutig im Grundgesetz selbst getroffen werden.[35] Aus denselben Erwägungen wurden letztlich auch die im ursprünglichen Entwurfstext vorgesehene Anforderung einer Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl in Bundestag und Bundesrat sowie das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrats verworfen.

3. Grundsätzliche verfassungsrechtsdogmatische Einordnung der Integrationsklausel des Art. 24 Abs. 1 GG

11

Die Integrationsklausel des Art. 24 Abs. 1 GG war bald, insbesondere nach den ersten Schritten der europäischen Einigung, Gegenstand verfassungsrechtsdogmatischer Erörterungen und Einordnungen. Rasch setzte sich die Einsicht durch, dass die „Übertragung“ von Hoheitsrechten nicht so verstanden werden kann, dass der zwischenstaatlichen Einrichtung jeweils ein Ausschnitt aus der nationalen Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten übertragen wird, sondern dass durch die „Übertragung“ auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags eine einheitliche Hoheitsgewalt neuer Qualität geschaffen wird, für die die Vertragsstaaten ihre innerstaatliche Kompetenzsphäre, ihren „Souveränitätspanzer“[36], öffnen.[37] In diesem Sinne wird die Befugnis der zwischenstaatlichen Einrichtung, durch Rechtsakte die staatlichen Organe und die Bürger unmittelbar zu verpflichten, der sog. „Durchgriffseffekt“, als entscheidendes Merkmal für die Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG angesehen.[38]

12

Die Öffnung der innerstaatlichen Kompetenzsphäre, die Permeabilität des Staates, hat Klaus Vogel prägend als „offene Staatlichkeit“ charakterisiert.[39] Bezogen auf die dadurch eröffnete Möglichkeit der Einordnung Deutschlands in eine supranationale Gemeinschaft, deren Recht Vorrang gegenüber dem nationalen Recht beansprucht, sprach Hans Peter Ipsen von Art. 24 Abs. 1 GG als „Integrationshebel“.[40] Das spanische Verfassungsgericht sollte später im Hinblick auf die vergleichbare Bestimmung des Art. 93 der spanischen Verfassung von 1978 von einem „Scharnier“ (bisagra) sprechen.[41] Bewusst war den meisten Autoren von Anfang an, dass mit jeder Übertragung von Hoheitsrechten eine materielle Verfassungsänderung einhergeht.[42] Art. 24 Abs. 1 GG wird in diesem Sinne nicht nur eine auch die Kompetenzsphäre der Länder einbeziehende Integrationskompetenz des Bundes entnommen, sondern auch eine Sonderregelung im Verhältnis zu Art. 79 GG, der für eine Grundgesetzänderung eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat vorsieht. Indem Art. 24 Abs. 1 GG regelt, dass nur ein einfaches Bundesgesetz erforderlich ist, trifft er hingegen keine Bestimmung darüber, ob im konkreten Fall die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist oder ob es sich um ein Einspruchsgesetz handelt. Diese Frage richtet sich, soweit es nicht um die Hoheitsübertragung als solche geht, nach Art. 59 Abs. 2 GG, also danach, ob sich der Integrationsvertrag auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, die eine Zustimmungspflicht auslösen oder nicht. Die bloße Tatsache, dass ein Integrationsvertrag Hoheitsrechte der Länder berührt, hat eine Zustimmungsbedürftigkeit nicht zur Folge.[43]

13

Daraus, dass Art. 24 Abs. 1 GG dem Bund die Möglichkeit eröffnet, Hoheitsrechte zu übertragen, folgt nicht die Verpflichtung, dies bei jeder Gelegenheit zu tun. Allerdings hat man unter Berücksichtigung des Zusammenhangs mit den Vorschriften der Art. 24 bis 26 GG den „Willen“ des Grundgesetzes zu erkennen gemeint, „den Bund und seine Organe zu einer aktiven Politik und Gesetzgebung in der Richtung auf solch eine ‚offene‘ Staatlichkeit zu verpflichten“.[44] Demgegenüber wurde zu Recht zur Zurückhaltung gemahnt.[45] Jedenfalls kann aus der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG nicht eine Staatszielbestimmung abgeleitet werden, die einen rechtlichen Maßstab für Integrationsentscheidungen liefert. Hingegen sind der Präambel des Grundgesetzes das Friedensziel sowie das Ziel eines vereinten Europas zu entnehmen. Zutreffend ist, dass die Vorschriften der Art. 24 bis 26 GG eine effektive Verfolgung dieser Ziele ermöglichen sollen.[46]