Handbuch
Ius Publicum Europaeum

Band III
Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen

 

Herausgegeben von

Armin von Bogdandy

Sabino Cassese

Peter M. Huber

 

Unter Mitwirkung von

Diana Zacharias

 

Mit Beiträgen von

Jean-Vernard Auby • Giovanni Biaggini • Armin von Bogdandy

Ignacio Borrajo Iniesta • Giacinto della Cananea • Sabio Cassese

Michel Fromont • Eduardo García de Enterría • Luc Heuschling

Mats Kumlien • Herbert Küpper • Marin Loughlin

Bernardo Giorgio Mattarella • Jean-Louis Mestre • Kjell Å. Modéer

Benjamin Schindler • Ewald Wiederin • Andrzej Wróbel

 

 

kein Alternativtext verfügbar

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN 978-3-8114-8903-5

 

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Vorwort

Nachdem sich die ersten beiden Bände des Handbuchs Ius Publicum Europaeum den Grundlagen und Grundzügen des Verfassungsrechts widmen, erschließen die folgenden drei Bände Grundlagen und Grundzüge des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum. Mehr noch als in den ersten beiden Bänden werden dabei rechtsvergleichende und rechtsordnungsspezifische Elemente kombiniert.

Der hiermit vorgelegte dritte Band behandelt die Grundlagen des Verwaltungsrechts ausgehend von den Begriffen Staat und Verwaltung. Sie bilden zwei Grundbegriffe des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum, wie sich schon aus EU-Vertrag und AEU-Vertrag ergibt. Das Anliegen ist dabei nicht, einen staatsrechtlichen Zugang zum ius publicum europaeum oder gar den Begriff Staat als disziplinbegründende Kategorie des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum zu propagieren. Vielmehr wird gezeigt, welche geschichtlichen Ereignisse, theoretischen Konstrukte und dogmatischen Bestände mit diesen ebenso wichtigen wie schwierigen Begriffen in den verschiedenen Rechtsordnungen verbunden sind. Nicht zuletzt die Redaktion dieses Bandes hat ergeben, dass die Worte Staat und Verwaltung zwar leicht zu übersetzen sind, dass es aber überaus schwierig ist, die mit ihnen verbundenen juristischen Konzeptionen anschlussfähig zu übertragen. Die Logik dieses Bandes entfalten die einleitenden Randnummern zu § 42, der am Ende zudem den die Beiträge leitenden Fragebogen abdruckt.

Das Projekt ist weiterhin der Fritz Thyssen Stiftung zutiefst verpflichtet. Sie hat die aufwändige und kostenträchtige Zusammenarbeit in der Form der Finanzierung einer Tagung und von Übersetzungen nachdrücklich gefördert. Ohne ihre ebenso unbürokratische wie substanzielle Hilfe hätte dieser Band nicht in dieser Form verwirklicht werden können. Unser Dank geht weiter an den C.F. Müller Verlag für die Fortsetzung der Reihe. Dankend zu erwähnen sind des Weiteren Nicole Betz, Dr. Matthias Hartwig, Matthias Kottmann, Dr. Karin Oellers-Frahm, Franziska Sucker und Christian Wohlfahrt für die Anfertigung von Übersetzungen, Mark Ciesielczyck, Ute Emrich, Margit Dagli, Cornelia Glinz, Dr. Felix Hanschmann und Marc Jacob für Literaturrecherche, redaktionelle Bearbeitung bzw. abschließendes Korrekturlesen sowie Hannes Fischer, Dominik Fronert, Lea Katharina Roth-Isigkeit und Frauke Sauerwein, die das Projekt als fleißige studentische Hilfskräfte unterstützt haben.

Ganz besonders haben die Herausgeber Dr. Diana Zacharias zu danken, in deren Händen die Gesamtredaktion lag. Die Bearbeitung der Beiträge dieses Bandes hat gezeigt, wie weit die untersuchten Verwaltungsrechtstraditionen auseinander liegen, gerade auch in der Mikrostruktur der juristischen Darstellung. Es ist vor allem ihrer tiefgreifenden begrifflichen Bearbeitung zu verdanken, dass die Texte nunmehr gut an rechtswissenschaftliche Diskurse aus dem deutschen Sprachraum anknüpfen. Hier liegt nicht nur eine große redaktionelle, sondern zudem und vor allem eine herausragende wissenschaftliche Leistung für das entstehende ius publicum europaeum.

Heidelberg, Rom und München, im Oktober 2010

Armin von Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

 Verfasser

 Einführung

 § 41Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa

Erster TeilLandesspezifische Ausprägungen

 § 42Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland

 § 43Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich

 § 44Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien

 § 45Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Italien

 § 46Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Österreich

 § 47Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Polen

 § 48Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Schweden

 § 49Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Schweiz

 § 50Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Spanien

 § 51Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Ungarn

Zweiter TeilRechtsvergleichender Zugriff

 § 52Verwaltungsrechtliche Paradigmen im europäischen Rechtsraum

 § 53Grundverständnisse von Staat und Verwaltung

 § 54Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht

 § 55Typen staatlichen Verwaltungsrechts in Europa

 § 56Die Transformation der Verwaltung und des Verwaltungsrechts

 Personenregister

 Sachregister

Verfasser

 

Jean-Bernard Auby, Dr. iur., Professor für öffentliches Recht, Direktor des Lehrstuhls für „Transformation des öffentlichen Rechts und Governance“, Institut d’Etudes Politiques de Paris (Sciences Po);

 

Giovanni Biaggini, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht, Rechtswissenschaftliches Institut, Universität Zürich;

 

Armin von Bogdandy, Dr. iur., M.A., Professor, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg;

 

Ignacio Borrajo Iniesta, Dr. iur., LL.M., Catedrático de Derecho, Letrado del Tribunal Constitucional, Madrid;

 

Giacinto della Cananea, Dr. iur., Professor für Verwaltungsrecht und Europarecht, Facoltà di scienze politiche, Università di Napoli „Federico II“;

 

Sabino Cassese, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor für die „Geschichte und Theorie des Staates“ an der Scuola Normale Superiore in Pisa und Richter am italienischen Verfassungsgerichtshof;

 

Michel Fromont, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor emeritus, Université Paris I Panthéon-Sorbonne;

 

Eduardo García de Enterría, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Catedrático jubilado de Derecho administrativo, Universidad Complutense de Madrid;

 

Luc Heuschling, Dr. iur., Professeur agrégé de droit public, Faculté des sciences juridiques, politiques et sociales, Université de Lille II;

 

Peter Michael Huber, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München; Innenminister des Landes Thüringen;

 

Herbert Küpper, Dr. iur., Privatdozent, Honorarprofessor der Andrássy Gyula Deutschsprachigen Universität Budapest; Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München;

 

Mats Kumlien, Dr. iur., Professor für Rechtsgeschichte, Juridiska fakulteten, Uppsala Universitet;

 

Martin Loughlin, LL.M., Professor of Public Law, Dean des Law Department, London School of Economics & Political Science;

 

Bernardo Giorgio Mattarella, Dr. iur., LL.M., Professor für Verwaltungsrecht, Facoltà di giurisprudenza, Università di Siena, Scuola superiore della pubblica amministrazione;

 

Jean-Louis Mestre, Dr. iur., Professor, Institut Louis Favoreu, Faculté de droit et de science politique, Université Paul Cézanne Aix-Marseille III, Aix-en-Provence;

 

Kjell Åke Modéer, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor emeritus für Rechtsgeschichte, ehemaliger Inhaber der von den Torsten und Ragnar Söderberg Stiftungen gestifteten Professur zum Gedächtnis Samuel Pufendorfs, Juridiska fakulteten, Lund Universitet;

 

Benjamin Schindler, Dr. iur., MJur, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen;

 

Ewald Wiederin, Dr. iur., Professor, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien;

 

Andrzej Wróbel, Dr. iur., Professor, Instytut Nauk Prawnych, Polskiej Akademii Nauk in Warschau; Richter am Obersten Gerichtshof Polens.

Einführung

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa

Sabino Cassese

§ 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa

I.Gemeinsame Grundlagen1 – 7

II.Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa8 – 18

III.Zur Herkunft der beiden Modelle19 – 21

IV.Gemeinsame Entwicklungen: Eine Sache der Interpretation22 – 25

V.Die Nachzügler26 – 32

VI.Vereinheitlichungstrends33 – 38

VII.Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts39 – 51

VIII.Kontinuität und Wandel52 – 68

 Bibliographie 

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › I. Gemeinsame Grundlagen

I. Gemeinsame Grundlagen

 

Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Cornelia Glinz und Dr. Diana Zacharias.

1

Die Entstehung des Verwaltungsrechts, das einen Bereich reguliert, in dem weder die Politik vollständig herrscht noch vollständige bürgerschaftliche Gleichordnung besteht, ist eine vergleichsweise junge Erscheinung. Auch wenn sich die Verwaltungssysteme und das Verwaltungsrecht bereits seit der Renaissance herausgebildet haben, so wird die Schwelle zu den modernen administrativen Phänomenen erst im 19. Jahrhundert überschritten. Maßgeblich dafür ist zum einen die Trennung der gerichtlichen Funktionen von der vollziehenden Gewalt. Zum anderen entwickeln sich sowohl die Verwaltungssysteme als auch das Verwaltungsrecht erst in dem spezifischen Kontext des Nationalstaates, und zwar in „staatenlosen Ländern“ wie England[1] ebenso wie in „etatistischen Ländern“ wie Frankreich oder aber in Ländern mit einer geringen Ausprägung von Staatlichkeit, etwa Italien[2] und Polen.[3] Wesentliche Kraft hinter der Entwicklung von Verwaltungssystemen und Verwaltungsrecht ist stets die Regierung, die eine nationale politische Einheit herstellen wollte, die wir „Staat“ nennen. Somit bilden sich öffentliche Verwaltungen als Teil einer nationalen Gemeinschaft und zugleich in struktureller Abhängigkeit von deren Regierungen aus. Im Lichte des Grundsatzes der Gesetzesbindung wurden diese Verwaltungen zunehmend einer rechtlichen Regelung unterworfen. Dieses Verwaltungsrecht war im Wesentlichen staatliches Recht. Für lange Zeit galten öffentliche Verwaltungen ausschließlich als staatliche Phänomene, da es eine Verwaltung mit einem exekutiven Gewaltmonopol nur innerhalb eines Staates geben und sich nur hier die Dialektik von Autorität und Freiheit, die das Verwaltungsrecht kennzeichnet, entfalten konnte.

2

Diese exklusive Verbindung zwischen Staat und Verwaltung fand international eine überaus erfolgreiche Deutung durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Dwight Waldo in seinem 1948 publizierten Buch „The Administrative State“.[4] Wo es einen Staat gibt, gibt es eine Verwaltung, und umgekehrt. Da aber die Verwaltungssysteme und das jeweilige Verwaltungsrecht nach den Bedürfnissen der Staaten ausgestaltet wurden und diese Staaten sich entlang divergierender Linien entwickelten, unterscheiden sich auch deren Verwaltungen. Die öffentlichen Verwaltungen wurden so zum Ausdruck des jeweiligen nationalen, bisweilen nationalistischen Entwicklungspfads. Jede Verwaltung wird, da Teil der Geschichte einer partikularen Gesellschaft, bisweilen als einzigartig angesehen. Vergleiche erscheinen danach nutzlos, denn sie würden zur Gegenüberstellung disparater Institutionen und Rechtssysteme führen, die nicht zu einer „Familie“ gehören und denen es deshalb an Gemeinsamkeiten und Verbindungen mangelt. Aus dieser Perspektive betrachtet steht das Verwaltungsrecht in einem schroffen Gegensatz zum Privatrecht, das zumeist als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes begriffen wird. Auch wenn die nationalen Ausprägungen des Privatrechts gewisse Besonderheiten und Variationen aufweisen, so gibt es doch bedeutsame Gemeinsamkeiten und universelle Institute (wie Familie, Eigentum und Vertrag), in deren Licht Unterschiede erkannt und eingeordnet werden können.[5] Gegen dieses Verständnis ist allerdings anzuführen, dass trotz des Fehlens einer dem Privatrecht vergleichbaren gemeinsamen administrativen Tradition die Verwaltungssysteme und die verschiedenen nationalen Verwaltungsrechte in Europa ein gemeinsames Substrat aufweisen. Dieses Substrat kann durch eine Betrachtung der Geschichte der Institutionen, des Rechts, das sie regelt, und der Rechtskulturen, in die sie eingebettet sind, aufgedeckt werden.

3

Wie von einem prominenten Historiker in einer Abhandlung über den Staat der Renaissance aufgezeigt, „befinden wir uns“ im 16. Jahrhundert „nicht in Gegenwart eines staatlichen Nationalismus, sondern einer […] Art ‚kosmopolitischer‘ Öffnung […]. Wenn im Leben des Staates im 16. Jahrhunderts Gefühle eine Rolle spielen, dann sind es religiöse und weniger nationale oder patriotische“.[6] Der Staat stützt seine Fundamente „auf das Gefühl der Treue gegenüber dem König“.[7] Erst in späteren Zeiten sollte ein nationaler Patriotismus in den Vordergrund treten, der eine engere Verbindung zwischen Nation und Staat etablierte sowie die Unterschiede zwischen den partikularen territorialen Erfahrungen hervorhob.

4

Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gingen Rechtswissenschaftler und Praktiker von „mores Europae“, von einer „praxis totius Europae“, einer „communis interpretatio“ und einer „communis opinio totius orbis“ aus. Die universalistische Jurisprudenz bewirkte Verbindungen zwischen den verschiedenen Rechtssystemen: Juristen konnten die Begrenzungen der souveränen Staaten überwinden, und Gerichte konnten Gesetze, Urteile und die opinio doctores fremder Länder berücksichtigen (lex alius loci).[8] Man sah, dass „[d]ie ganze Rechtsgeschichte und Rechtsentwicklung der europäischen Völker seit tausend Jahren eine Geschichte von gegenseitigen Rezeptionen ist, wobei wir unter ‚Rezeption‘ […] einen wechselseitigen, oft mit starken Widerständen verbundenen Vorgang der Inkorporation, der Anpassung und Fortbildung verstehen [….]“.[9]

5

Die meisten Staaten entwickelten sich im Kontext größerer Reiche.[10] Reiche (wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Osmanische Reich, das spanische Reich, das Habsburgerreich und später das britische, französische und niederländische Reich) waren aus zahlreichen Staaten zusammengesetzte Organisationen, die einen geringen Grad an Hierarchisierung, starke wechselseitige Verknüpfungen und leicht zu überwindende Binnengrenzen aufwiesen. Das Heilige Römische Reich wurde definiert als „respublica composita ex pluribus rebuspublicis specialibus“[11], welche die „Regia potestas“ und die „Imperialis auctoritas“[12] zusammenhielt. Das Habsburgerreich war eine „monarchische Union von Ständestaaten“[13]. Der imperiale Rahmen bildete die gemeinsame Basis für den Austausch und die Transplantation von Institutionen, Normen, Organisationstechniken und Verwaltungsstilen, was sogar manchmal, wie das Beispiel Österreichs zeigt, den Prozess der Staatsbildung aufhielt.[14]

6

Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer administrativen „koiné“, einer Gemeinsprache oder gemeinsamen Kultur der Verwaltung, war das kanonische Recht. In einer Zeit, in der das moderne Konzept der Trennung von Staat und Kirche unbekannt war, wurden viele Grundprinzipien und Institute des kanonischen Rechts in das Verwaltungsrecht übernommen: Verwaltung (administratio), Gemeinwohl (utilitas publica), öffentlicher Bedarf (necessitas publica) oder öffentlicher Verband (universitas) sind allesamt Begriffe, die aus dem kanonischen Recht in das Verwaltungsrecht eingedrungen sind.[15] Dieser gemeinsame Ursprung führte zu Ähnlichkeiten zwischen den nationalen Verwaltungen. Weiter haben politische Theorie und Verwaltungsrechtswissenschaft einen bedeutenden Beitrag zu der gemeinsamen Grundlage der nationalen Verwaltungen und Verwaltungsrechtsordnungen geleistet. Das ab dem 16. Jahrhundert weit rezipierte Werk von Jean Bodin[16] etwa bot eine theoretische Begründung für die Herausbildung starker Monarchien, in denen sich die Staatssouveränität gegenüber dem Privatrecht durchsetzte und öffentliche Einrichtungen eine dominante Rolle zu spielen begannen.

7

Die Verwaltungsrechtswissenschaft bildete sich gleichwohl erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus. Dieser Erfolg ist den Bemühungen von Juristen zu verdanken, die im römischen Recht, und damit einem gemeineuropäischen Rechtskorpus, ausgebildet worden waren: So hatte etwa Firmin Laferrière, der Vater von Edouard Laferrière, substanziell rechtshistorisch gearbeitet.[17] Paul Laband forschte und lehrte zunächst im Bereich des römischen Rechts und der Rechtsgeschichte,[18] Otto Mayer studierte römisches Recht[19] und sodann französisches Zivil- und Handelsrecht, Rudolf von Gneist war ein Schüler von Friedrich Carl von Savigny; Oreste Ranelletti war Student bei Vittorio Scialoja. Obwohl das römische Recht keinen spezifisch verwaltungsrechtlichen Teil aufweist, lieferte es doch die „rechtliche Grammatik“[20] für die Errichtung des geistigen Gebäudes des Verwaltungsrechts. Darüber hinaus befreite der universalistische Ansatz des römischen Rechts die Verwaltungsrechtswissenschaftler von einer ausschließlich nationalen Perspektive. Otto Mayer erklärt in seiner Einleitung zu der französischen Ausgabe seines opus magnum: „Das Verwaltungsrecht hat in den verschiedenen Nationen, welche die alte europäische Zivilisation repräsentieren, bestimmte allgemeine Prinzipien zur Grundlage, die überall die gleichen sind“.[21] Diese universalistische Sichtweise geriet allerdings mit der Verfestigung der diversen Nationalismen im 20. Jahrhundert aus dem Blick.[22]

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › II. Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa

II. Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa

8

Trotz der gemeinsamen Grundlagen haben sich die Verwaltungssysteme und Verwaltungsgesetze entlang nationaler Pfade unterschiedlich entwickelt. Eine vergleichende Analyse der Geschichte der Verwaltung und des Verwaltungsrechts in Europa muss sich mit einem wesentlichen konzeptionellen Problem befassen, welches durch die gegenläufigen Entwicklungen von Staatlichkeit in England und Frankreich aufgeworfen wurde und erstmals im 18. Jahrhundert in Erscheinung trat. Dieses Problem wird von dem Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker Charles Tilly in folgender Weise zusammengefasst: Obgleich die Tendenz nach 1500 in ganz Europa in Richtung zunehmender Staatlichkeit ging, bewegten sich die verschiedenen Regierungen mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Als Konsequenz nahmen internationale Disparitäten in Bezug auf die Staatlichkeit während des 16. und 17. Jahrhunderts zu. Im Hinblick auf Autonomie, Ausdifferenzierung, Zentralisierung und interne Koordinierung hatte Frankreich nahezu in der gesamten Zeitspanne nach 1500 eine führende Rolle in Europa inne, wohingegen sich in England Staatlichkeit in einer geringeren Geschwindigkeit und auf einem niedrigeren Niveau entwickelte. In England (welches viele Hoheitsfunktionen durch Friedensrichter, private Korporationen, Handelsflotten und ähnliche Verbände ausführen ließ, die nur indirekt in die zentrale Struktur eingebunden waren) zeigte sich bis in das 19. Jahrhundert hinein ein eher geringes Ausmaß an Staatlichkeit.[23]

9

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren England und Frankreich die beiden mächtigsten und „zivilisiertesten“ Länder der Welt mit einer langen Geschichte als unitarische Nationen. England war durch die Glorious Revolution und die industrielle Revolution gegangen. Frankreich hatte die wichtigste politische Revolution durchlebt, die sich bis dahin ereignet hatte. Beide verwalteten große Kolonialreiche. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten, erschienen sie in der zeitgenössischen Wahrnehmung als Kontrastmodelle. So meinte Charles-Louis Secondat Baron de Montesquieu aus französischer Perspektive: „England ist bis heute das freieste Land der Welt“[24]. Voltaire, mit bürgerlichem Namen François Marie Arouet, stellte fest: „Die französischen Bürgerkriege dauerten länger, waren grausamer und brachten größeres Unheil hervor als diejenigen Englands; gleichwohl hatte keiner dieser Bürgerkriege eine weise und kluge Freiheit zum Ziel.“[25] Ähnlich äußerte sich Edmund Burke, der in seinen „Reflections on the Revolution in France“[26] (1790) die englische Glorious Revolution von 1688 pries als „a parent of settlement, and not a nursery of future revolutions“, wie dies bei der, so Burke, verachtenswerten Französischen Revolution der Fall gewesen sei.[27] In seinen 1828 bis 1829 gehaltenen Vorlesungen an der Sorbonne zur Geschichte der Zivilisation in Europa rühmte François Guizot England, wo die Glorious Revolution die „essence de la liberté“, eingeführt habe.[28]

10

Während des frühen 19. Jahrhunderts wurden die beiden Modelle zu „ensembles hermetiques“[29] mit folgenden Charakteristika: Frankreich vermittelte den Eindruck eines starken Staates mit zentralisierter Verwaltung, welche von einem besonderen Rechtsgebiet, dem so genannten Verwaltungsrecht, geregelt wurde. Es galt als ein Staat, in dem die Bürger zwar innerhalb der Zivilgesellschaft grundlegende, in der Verfassung gewährleistete Rechte (wie die Versammlungsfreiheit) genossen, gegenüber dem Verwaltungsapparat jedoch lediglich passive administrés waren. England hingegen wurde als ein „staatsfreies“ Land angesehen, das durch lokale Institutionen regiert wurde und über ein einheitliches Rechtssystem verfügte, in welchem sich die Menschen nicht nur auf der Ebene der Verfassung, sondern auch auf derjenigen der Verwaltung erheblicher Freiheit erfreuten.[30]

11

Die wichtigsten Eigenschaften, die den beiden Modellen zugeschrieben wurden, waren die folgenden: Erstens wurde in Frankreich die Verwaltung als ein Transmissionsriemen verstanden: „[D]ie Verwaltung besteht darin, […] die Übermittlung von Gesetzen an den Verwaltungsadressaten und von Beschwerden der Verwaltungsadressaten an die Regierung zu gewährleisten“[31]. Diese Rolle erforderte sowohl eine Zentralisierung als auch eine Einheitlichkeit, wie sie insbesondere das napoleonische Regime ausprägte. Das Hauptinstrument war der préfet, ein provinzieller Amtsträger mit interministeriellen Funktionen, der alle zentralen Ministerien im département repräsentierte.

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Zweitens bilden in Frankreich „das Verwaltungsrecht und das Zivilrecht zwei getrennte Welten, die kaum jemals in Frieden zusammenleben, die aber weder genug Freund noch genug Feind sind, um sich gut zu kennen“[32]. Das Verwaltungsrecht war getrennt vom Zivilrecht, weil „der Fürst nicht an die Zivilgesetze gebunden ist“[33]. Die Verwaltung war dem Zivilrecht nicht unterworfen („soustraction de l’administration à l’empire du droit privé“[34]). Daher verlief das die Verwaltung bestimmende Recht parallel zum Zivilrecht: Die zivilrechtlichen Regelungen des Privateigentums wurden im Verwaltungsrecht durch die Regulierung der domaine public gespiegelt; neben den Bestimmungen über die Haftung im öffentlichen Sektor gab es eine spezielle Vorschrift über die Haftung der Staatsbeamten. Vergleichbares galt in Bezug auf Verträge. Das Verwaltungsrecht war nicht nur ein anderes, sondern auch ein besonderes Rechtsgebiet, und zwar dadurch, dass es der Verwaltung einen privilegierten „Status“ zuerkannte (privilège du préalable und privilège de l’éxécution d’office). Bekräftigt wurde die Eigenständigkeit dieses Rechtsgebiets durch die Existenz eines speziellen Gerichts, des Conseil d’État.

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Das Verwaltungsrecht war zudem Gegenstand intensiver Auseinandersetzung, beginnend mit den „efforts d’inventaire“[35] des frühen 19. Jahrhunderts, einem Werk von Juristen (überwiegend Mitglieder des Conseil d’État), die als Rechtsgelehrte auftraten. Nur wenige Jahrzehnte später entwickelte sich aus diesem Werk heraus eine differenzierte Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Diese Wissenschaft sollte selbst zu einem Teil des öffentlichen Rechts werden; die Disziplin des öffentlichen Rechts sollte sich mithin nicht auf das Studium des positiven Rechts beschränken, sondern auch dessen Entwicklungen anregen.

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Für England stellte sich das Bild vollkommen anders dar. Erstens ist zu konstatieren, dass das Land, obgleich vom Zentrum aus regiert, nicht von dort aus verwaltet wurde.[36] Im Zentrum befanden sich, was die Verwaltung anbelangt, nur „bewegliche“ Aufsichtsbehörden und Kommissionen.[37] In der Peripherie gab es hingegen eine Fülle von örtlichen Einrichtungen, betrieben von Laien (der gentry), die ermächtigt waren, Konflikte zu regeln und zu entscheiden. Nach Auffassung des Historikers Edward Higgs „kann die [...] Geschichte des englischen Staates nicht in dem Sinne verstanden werden, dass Macht und Autorität ausgehend von einem zentralen Punkt expandiert sind. Vielmehr fand eine von außen nach innen verlaufende Kontraktion statt. Der Staat hörte erst zu einem späten Zeitpunkt auf, ein Konglomerat von Vorgängen unter der Beteiligung von Eliten zu sein, die aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft stammten und Aufgaben ohne Bezahlung als Laien wahrnahmen“.[38] Stattdessen wurde er zu einer ausschließlichen Domäne einer zentralisierten und bezahlten Gruppe von Staatsbeamten und Parteipolitikern.

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Zweitens existierte kein spezielles Verwaltungsrecht. Die ganze Nation unterstand der rule of law. Das gemeine Recht (das common law of the land) fand sowohl auf die englischen Bürger als auch auf die Träger öffentlicher Gewalt Anwendung. Das Recht war in diesem Sinne einheitlich. Es gab keinen besonderen Rechtszweig, der für Verwaltungsbehörden maßgeblich war. Ebenso wenig waren spezielle Gerichte eingerichtet, die über Streitigkeiten zwischen Bürgern und Behörden entschieden. In der Folge fehlten auch auf das „administrative law“ spezialisierte Juristen oder Wissenschaftler. Der Staat war ein unknown subject.[39]

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Es ist an dieser Stelle allerdings wichtig festzuhalten, dass die beiden Erscheinungsformen von Staatlichkeit in England und Frankreich erst im 19. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Modellen verdichtet wurden, in den prägenden Jahren des liberalen Staates, während derer sich die wichtigste politische Frage um das Verhältnis zwischen der Verwaltung und dem Bürger drehte. In dieser Gestalt fanden sie dann Nachahmer. Das französische Modell zog eine größere Anzahl von Staaten in seinen Bann, darunter Deutschland,[40] Italien,[41] Österreich[42] und Polen.[43] Wie es bei rechtlichen Importen häufig geschieht, mutierten die Rechtsinstitute, die von einem Land in ein anderes verpflanzt wurden, in ihrer neuen Umgebung. So unterschieden sich beispielsweise der Consiglio di Stato und die prefetti in Italien stark von ihren jeweiligen französischen Vorbildern. Der Consiglio di Stato war nie eine „pépinière de grands commis“, eine Kaderschmiede, und die prefetti nahmen keine vollständige Kontrolle über die verschiedenen Bereiche der Verwaltung in der Peripherie wahr. Daher blieben beide Institutionen schwächer ausgestaltet als ihre französischen Äquivalente.

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Aber auch das englische Modell übte bedeutenden Einfluss aus, zum Beispiel in Ungarn.[44] Im Übrigen blickte fast jeder liberale Reformer in Europa mit Interesse auf das englische self government und die rule of law. Von besonderer Bedeutung ist die belgische Verfassung von 1830, welche Prinzipien der ungeschriebenen britischen Verfassung kodifizierte, insbesondere diejenigen der Gewaltenteilung und der ministeriellen Verantwortlichkeit. Das englische Modell wurde auf dem Kontinent allerdings auch durch liberale Autoren kritisch gesehen. So teilte Tocqueville nicht die Begeisterung seiner Zeitgenossen für das englische gouvernement mixte und rühmte stattdessen das amerikanische Modell, in welchem „die administrierende Gewalt […] weder […] etwas Zentrales noch etwas Hierarchisches an sich hat“, „der Staat regiert und nicht verwaltet“ und „die administrierende Gewalt in eine Vielzahl von Händen gelegt ist“[45].

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlieh die deutsche Rechtskultur dem französischen Modell eine neue Dimension. Die wissenschaftliche Verbindung zwischen den beiden Kulturen wurde insbesondere von Otto Mayer hergestellt, der zwanzig Jahre in Straßburg verbracht hatte und ein Experte des französischen Privatrechts war. Zusammen mit Paul Laband und Carl Friedrich von Gerber überführte Mayer die privatrechtliche Methode in das Verwaltungsrecht und gab ihm eine neue, stärker theoretische Grundlage.

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › III. Zur Herkunft der beiden Modelle

III. Zur Herkunft der beiden Modelle

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Die Entstehung der entgegengesetzen Modelle wirft zwei grundsätzliche Fragen auf. Die erste lautet: Woher kamen die beiden Modelle? Die zweite ist: Waren die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen korrekt? Festzustellen ist zunächst, dass die Modelle im Heimatland selbst nicht als solche formuliert wurden, was die Bedeutung der Rechtsvergleichung unterstreicht. Das französische Modell entstand maßgeblich in der Interpretation des Oxforder Professors Albert Venn Dicey, während das englische aus der Darstellung des aus Bordeaux stammenden Denkers Charles-Louis Secondat Baron de Montesquieu und des deutschen Professors und Politikers Rudolf von Gneist hervorging.

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Beide Modelle wurden mithin im Ausland formuliert, wobei die jeweiligen Urheber durchaus politische und nicht nur wissenschaftliche Absichten verfolgten. Dicey konzipierte das französische Modell, um das angeblich autoritäre und absolutistische französische droit administratif der zivilisierteren und liberaleren englischen rule of law gegenüber zu stellen. Dicey ist dabei stark von Tocquevilles Kritik an der bonapartistischen Struktur des droit administratif beeinflusst, welches jedoch, als Dicey über das in England bis dahin noch unbekannte Rechtsgebiet schrieb, bereits durch das liberalere droit administratif der Dritten Republik abgelöst worden war. Montesquieu, der die Leistungsfähigkeit der Gewaltenteilung in England zur Kontrolle öffentlicher Gewalt bewunderte, und von Gneist, der die Rolle nichtprofessioneller örtlicher Verwaltungsvorsteher und Friedensrichter in England schätzte, kondensierten die englische Praxis zum englischen Modell. Montesquieu wiederum baute seine Theorie der Gewaltenteilung (1734–1748) auf John Lockes Interpretation der englischen Verfassung (1690) auf (in Kapitel 6 des Buches XI des „Esprit des lois“ wird Locke acht Mal zitiert).[46] Montesquieus Gewaltenteilung wurde zu einem weithin anerkannten Grundsatz des Verfassungsrechts und schließlich in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben.

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Es ist indes nicht nur wichtig zu verstehen, woher die Modelle kamen. Es ist ebenfalls wichtig zu wissen, wohin sie führten. Diceys Darstellung fand Anerkennung bei einem der beiden führenden französischen Verwaltungsrechtswissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Maurice Hauriou. Dieser war der Ansicht, das französische droit administratif zeichne sich im Wesentlichen durch das von ihm so genannte régime administratif aus. Darauf aufbauend zog er eine strikte Trennlinie zwischen Verwaltungen, die durch das gemeine Recht (wie das englische) bestimmt werden, und solchen, die den besonderen Regeln des Verwaltungsrechts folgen (wie in Frankreich). Was von Gneists Wertschätzung der „Selbst-Verwaltung“ betrifft: Dieses Konzept wurde zu einem gewaltigen Innovationsmotor. Sämtliche Reformer blickten darauf mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen Verwaltung und Gesellschaft zu verbessern.

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › IV. Gemeinsame Entwicklungen: Eine Sache der Interpretation

IV. Gemeinsame Entwicklungen: Eine Sache der Interpretation

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Der vorangegangene Überblick zeigt, dass Interpretation eine Rolle spielt. Aber war die Interpretation der rechtlichen Situation in dem jeweiligen Nachbarland zutreffend? Um die Dinge im richtigen Zusammenhang zu sehen, ist zunächst die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Modelle überwiegend in der postnapoleonischen Ära entwickelt wurden, als – wie erwähnt – Frankreich und England die beiden führenden Weltmächte waren, die oft miteinander Krieg führten, und ihre Denker deshalb aufmerksam auf die jeweils anderen schauten (man denke nur an Burke auf der englischen und Tocqueville auf der französischen Seite) und oft die Differenzen betonten. Die nationalistischen Bewegungen[47] spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Dieser Kontext beeinflusste die Sicht auf das fremde Rechtssystem in Frankreich und England im Allgemeinen und die Konzeptionalisierung des jeweiligen Verwaltungsrechtssystems im Besonderen.

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Zweitens waren beide Länder über Steuern finanzierte „Militärstaaten“: Sie hatten große Armeen zu führen, zu unterhalten und zu bezahlen und beanspruchten daher eine große Geldsumme von ihren Steuerzahlern. Interessanterweise ist festzustellen, dass Verteidigung und Finanzwesen gewöhnlich nicht zu den Bestandteilen des üblichen Bildes gehören, welches Verwaltungshistoriker zeichnen. Könnte sich das vorherrschende Verständnis ändern, wenn diese Aspekte miteinbezogen würden?

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Drittens hatten beide Regierungen große Kolonialreiche zu verwalten. Das schuf in beiden Ländern einen Verwaltungsapparat mit spezifischer Verwaltungskultur, welche die Professoren aus Oxford und Paris, die zumeist allein die Verwaltung des Mutterlandes betrachteten, weitgehend ausblendeten. Viertens kann man in beiden Ländern während des 19. Jahrhunderts eine zunehmende „rechtsstaatliche Domestizierung der Verwaltung“[48] beobachten. Die parlamentarischen Kräfte entfalteten sich, die gesetzgeberische Tätigkeit nahm zu und die Verwaltung wurde in wachsendem Maße durch die Gesetze gebunden. Das Legalitätsprinzip führte zu einer Unterordnung des Verwaltungsapparats unter das Parlament. Mit der Zunahme der Gesetzgebung im Bereich der Verwaltung gingen eine quantitative wie qualitative Ausweitung der Verwaltungsaufgaben und eine Vergrößerung der Bürokratien einher. Fünftens ist anzumerken, dass dann, wenn es sich bei dem französischen Verwaltungsrecht seinerzeit um ein spezielles und privilegiertes Rechtsgebiet handelte, dies auch auf das englische Recht zutrifft, wo „die britische Krone eine Menge von Sünden zudeckt“[49], ausgehend von dem Prinzip „the King can do no wrong“.

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Nach allem ist das vorherrschende historische Narrativ insofern nicht korrekt, als es der Zentralisierung die Selbstverwaltung und dem Verwaltungsrecht die rule of law gegenüberstellt. Das Narrativ ist das Ergebnis einer gemeinsamen Vorstellung von Unterschieden oder Gegensätzen, die durch die parallel verlaufenden Geschichten Frankreichs und Englands im 19. Jahrhundert und die Entwicklung nationalistischer Bewegungen im 20. Jahrhundert produziert wurde.

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › V. Die Nachzügler

V. Die Nachzügler

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Der Bericht über die wichtigsten Verwaltungssysteme Europas wäre ohne Berücksichtigung Deutschlands und Italiens nicht vollständig. Diese beiden Länder teilen die charakteristische Besonderheit, dass sie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildet wurden. Sie gehören damit zur zweiten Generation westlicher Verwaltungssysteme, die auf die erste Generation der zur Zeit der Renaissance entstanden Verwaltungssysteme (in England, Frankreich und Spanien) folgte. Die Länder der zweiten Generation unterscheiden sich insofern, als Preußen, treibende Kraft der deutschen Vereinigung, sowohl über eine ausgeprägte Bürokratie als auch über eine eigene etablierte Verwaltungskultur verfügte, wohingegen Piemont, treibende Kraft der italienischen Vereinigung, eine schwache Verwaltungsstruktur hatte und dem französisch-napoleonischen Modell folgte.

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Es gab im Wesentlichen vier Besonderheiten, die Preußen während des 17. und 18. Jahrhunderts auszeichneten:[50] Erstens verliefen in Preußen der Prozess der Staatsbildung und die Entstehung einer professionellen Bürokratie parallel. Zweitens setzte sich das Herzstück des preußischen Verwaltungssystems aus Militärbürokraten und dem Steuerrat zusammen. Die Militärbürokraten, die teilweise von Geburts wegen, teilweise aufgrund besonderer Verdienste ausgewählt wurden, hatten die Verantwortung für die stehende Armee inne und entwickelten sich zum Mittelpunkt der wachsenden preußischen Bürokratie. Der Steuerrat war demgegenüber für ein weites Feld von Aufgaben, einschließlich des Einzugs von Steuern, zuständig und wurde zur Ausbildungsstätte für die besten preußischen Beamten. Drittens orientierte sich die Personalauswahl am Leistungsprinzip; zugleich wurde die berufsbegleitende Ausbildung zu einem ausschlaggebenden Faktor auf dem Weg zu den höheren Rängen der Hierarchie. Viertens entwickelte sich ein neues akademisches Fach, die Kameralistik. Die ersten beiden Lehrstühle auf diesem Gebiet wurden im Jahre 1727 an preußischen Universitäten eingerichtet. Kameralistik – der Begriff leitet sich von den „Kammern“, den wichtigsten öffentlichen Dienststellen ab – kann als eine Mischung aus Wirtschafts- und Politikwissenschaften, Statistik und Verfahrenstechnik in Bezug auf die öffentliche Verwaltung beschrieben werden. Einer der interessantesten Aspekte der Geschichte der Verwaltungswissenschaften in Deutschland besteht darin, dass das Recht schrittweise an die Stelle der Kameralistik trat; dieser Vorgang war Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Seitdem dominierte ein „Juristenmonopol“ die Verwaltung.

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Ganz anders stellte sich die Situation in Italien dar. Piemont übernahm sein Verwaltungsmodell von seinem französischen Nachbarn. Die napoleonische Besatzung und der weitreichende Einfluss Piemonts, das eine zentrale Rolle im Vereinigungsprozess spielte, auf die anderen Gebiete der Apenninhalbinsel vermittelten dem französischen Modell eine wichtige Rolle in der anfänglichen Entwicklung des italienischen Verwaltungssystems und des entsprechenden Rechts. Allerdings erfolgte der Import der französischen Institute weder direkt noch umfassend:[51]

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Erstens wurde das Konzept des droit administratif als eines besonderen Rechtskorpus, der sich vom Privatrecht unterscheidet, nicht sofort in das italienische Verwaltungsrechtssystem übernommen. Zumindest in den ersten zwanzig Jahren nach der politisch-administrativen Vereinigung Italiens war das Privatrecht, insbesondere die Regelung durch Verträge, vorherrschend, während öffentlich-rechtliche Elemente fragmentarisch und von sekundärer Bedeutung blieben. Darüber hinaus verfügte die öffentliche Verwaltung nicht über eine generelle Vollstreckungsgewalt, wohingegen den ordentlichen Richtern ein weiter Entscheidungsspielraum zugebilligt wurde, soweit sie Streitigkeiten zu beurteilen hatten, in die der Staat einbezogen war. Zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung (und mit besonderer Intensität gegen Ende des Jahrhunderts hin) vollzog sich jedoch ein Wandel: Die Entscheidungen des Staates wurden nunmehr als imperativ und von höherem Gewicht angesehen als diejenigen privater Individuen. Damit war die Grundlage gelegt für die Entwicklung des Verwaltungsrechts als eines eigenständigen Rechtsgebietes.

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Zweitens gewann der Gedanke der Einheitlichkeit nach der Vereinigung große Bedeutung. Zu den ersten Maßnahmen der nationalen Regierung gehörte die Abschaffung der Regionalbehörden (luogotenenze regionali).[52] Überdies wurde das Recht von Piemont auf das gesamte Staatsgebiet erstreckt mit dem Ziel, die Gesetze zu ersetzen, die in den einzelnen Staaten vor der Vereinigung galten. Drittens war die italienische Ministerialorganisation im Unterschied zu Frankreich nur rudimentär ausgeprägt. Während der ersten zwanzig Jahre nach der Vereinigung gab es nur neun Ministerien, die nicht einmal in allgemeine Abteilungen gegliedert waren. Es fehlte an einer Stelle, die für die generelle Koordinierung zuständig war, und zumindest anfänglich gab es auch kein Verfahren für die Einstellung und Auswahl der Verwaltungselite. Der Zugang zu den Spitzenpositionen, bei dem den Funktionären aus Piemont gewissermaßen eine privilegierte Stellung eingeräumt wurde, erfolgte nach der Dauer der Dienstzeit und wurde damit zu einem nahezu mechanisch ablaufenden Vorgang.

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Viertens wurde der französische Conseil d’État zwar in Italien nachgeahmt, aber nicht sofort nach der Einheit und – wie bereits angedeutet[53] – mit einer Reihe wichtiger Unterschiede. Der italienische Consiglio di Stato war zunächst lediglich als Beratungsorgan tätig. Erst Ende des Jahres 1889 wurde eine vierte Sektion eingerichtet und mit richterlichen Funktionen versehen. Während eines Zeitraums von dreißig Jahren wurde, wie im englischen Modell, folglich nur ordentlichen Richtern Jurisdiktionsgewalt über den Staat eingeräumt. Der italienische Consiglio di Stato hat niemals das Ansehen und die Autorität seines französischen Pendants erreicht.[54]

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Fünftens lehnte sich das italienische Verwaltungssystem zu Beginn sehr eng an das französische präfektorielle Modell an. In Italien kam dem Präfekten dieselbe Rolle wie in Frankreich zu: Er handelte als Regierungsvertreter auf der Ebene der Provinz. Der Präfekt, der formal dem Innenministerium zugeordnet war, war ein Verwaltungsbeamter mit interministeriellen Kompetenzen, da die wenigen Provinzämter, die zu dieser Zeit von anderen Ministerien eingerichtet worden waren, seiner Kontrolle unterstanden. In dem instabilen politischen System Italiens übernahm der Präfekt jedoch bald noch eine weitere Funktion: Er wurde zu einem politischen Instrument der Regierung. Diese Rolle hatte er auch in der Zeit des Faschismus inne, in welcher er dazu benutzt wurde, politische und administrative Wahlen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Im Ergebnis entlieh sich das italienische Verwaltungssystem eine große Anzahl französischer Institutionen. Gleichwohl blieben bestimme Elemente des Verwaltungssystems von dem französischen Modell unberührt oder wurden jedenfalls nicht unmittelbar von diesem beeinflusst.

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › VI. Vereinheitlichungstrends

VI. Vereinheitlichungstrends

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Die Unterschiede zwischen den nationalen Verwaltungssystemen und Verwaltungsgesetzen sehen sich neuerdings externem und internem Druck ausgesetzt, der auf eine Annhäherung, vielleicht gar auf eine Vereinheitlichung hinwirkt. Nationale Verwaltungen sind oft mit vergleichbaren Problemlagen konfrontiert und haben, trotz ihres unterschiedlichen Kontexts, im Allgemeinen ähnliche Lösungswege gewählt. Es trifft deshalb nicht zu, dass im Bereich des Verwaltungsrechts die Besonderheiten vorherrschen und jedes nationale System einzigartig ist.

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Kolonialismus und Krieg hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Verwaltungsstrukturen. Ersterer trug zur Hierarchisierung und zur Herausbildung von Autorität innerhalb der nationalen Verwaltungen bei, ungeachtet der Differenzen zwischen dem französischen Modell (wo „la Métropole gouverne et administre“[55]) und dem britischen Modell der „indirect rule“.[56] Der Krieg führte zu einer Ausweitung der Regierungsverantwortlichkeiten, denn er zwang die nationalen Regierungen dazu, neue Regelungen in Bezug auf Verwaltungsverträge zu schaffen, mehr Steuern einzuziehen, den Sektor der staatlichen Wirtschaft auszudehnen, die staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zu intensivieren und die Versorgung der Armeeangehörigen und ihrer Familien sicherzustellen.

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Wirtschaftskrisen, insbesondere die große Krise der Jahre 1929 bis 1933, drängten die Regierungen zum Handeln zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung, sahen sie sich doch einer „Letztverantwortung“ für die Wirtschaft ausgesetzt. Trotz einiger Unterschiede zwischen den Ländern (von denen einige mehr, andere weniger „etatistisch“ waren) trieben wirtschaftliche Krisen die Ausweitung der Regierungsfunktionen maßgeblich voran. Dies geschah nicht zuletzt im Wege der Nachahmung, da sich die Länder in Momenten der Krise in besonders intensiver Weise ausländischer Vorbilder bedienten.

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Innerstaatlicher Druck hin zu einer Verwaltungsvereinheitlichung setzte mit der Industrialisierung, dem Rationalismus und schließlich der Dezentralisierung ein. Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen der Taylorismus und die „wissenschaftliche Betriebsführung (scientific management)“ unter den Regierungen an Einfluss.[57] Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Zeitalter der Organisation und der „managerial revolution“.[58] Die 1960er Jahre sahen die Entwicklung des „Planning, Programming, Budgeting System (PPBS)“ und die „Rationalisation des Choix Budgetaires (RCB)“. In den 1990er Jahren verbreitete sich das „New Public Management“ in allen Verwaltungssystemen. Alle diese Reformen basierten auf der Vorstellung, dass Verwaltungen weitgehend wie Unternehmen geführt werden können, und man stellte auf vermeintlich rationalere Organisations- formen und Verfahren um.

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging ein weiterer interner Druck von der Dezentralisierungsbewegung aus. Sie war in allen europäischen Staaten mehr oder weniger stark zu spüren und führte zu einer Neuverteilung der Machtstrukturen; es kam zu zahlreichen komplexen Vereinbarungen zwischen Zentrum und Peripherie. Insbesondere das deutsche föderale Grundgesetz diente als Inspirationsquelle für die Reformen in Italien, Spanien und Frankreich.[59]

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Um die Vereinheitlichungstendenzen richtig zu verstehen, muss man auch die Wissenschaft in den Blick nehmen. Über die gesamten beiden letzten Jahrhunderte führten Rechtswissenschaftler intensive rechtsvergleichende Untersuchungen zum öffentlichen Recht im Allgemeinen und zum Verwaltungsrecht im Besonderen durch. Der Blick richtete sich dabei insbesondere auf England und Frankreich (zu denken ist an den Diskurs von Albert Venn Dicey und Alexandre Vivien, Léon Aucoc und Henry Berthélemy oder auch Maurice Hauriou und wiederum Dicey),[60] Frankreich und Deutschland (dabei ist Otto Mayer hervorzuheben),[61] Deutschland und England (Rudolf von Gneist),[62] Italien und Deutschland (Vittorio Emanuele Orlando und Paul Laband, Santi Romano und Georg Jellinek),[63] Italien und Frankreich (Romano und Hauriou),[64] Italien und England (Massimo Severo Giannini und William Wade),[65] Österreich und Frankreich (Hans Kelsen und Charles Eisenmann),[66] und nicht zu vergessen England und die Vereinigten Staaten (William Robson, Frank Johnson Goodnow und James McCauley Landis).[67] An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren ein Mitglied des französischen Conseil d’État, Max Boucard, und ein namhafter Verwaltungsrechtsprofessor, Gaston Jèze, die Herausgeber einer „Bibliothèque internationale de droit public“, in der Werke von Paul Laband, Albert Venn Dicey, Frank Johnson Goodnow, Josef Redlich und James Bryce sowie die französische Ausgabe von Otto Mayers „Deutsches Verwaltungsrecht“ publiziert wurden.