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Eduard von Keyserling

Fräulein Rosa Herz

Eine Kleinstadtliebe

Eduard von Keyserling

Fräulein Rosa Herz

Eine Kleinstadtliebe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-90-8

null-papier.de/456

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Inhaltsverzeichnis

Au­tor

Vor­wort

Ers­tes Buch – Lie­bes­ver­su­che

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Buch – Leid

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Buch – Ti­glau

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Buch – Das Kind

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

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Autor

Eduard Graf von Key­ser­ling (1855–1918) war ein deut­scher Schrift­stel­ler und Dra­ma­ti­ker des Im­pres­sio­nis­mus.

Er ent­stamm­te ei­ner klein­ad­li­gen Fa­mi­lie. Sei­ne Schwes­tern Hen­ri­et­te (1839–1908) und Eli­se (1842–1915) wur­den eben­so als Schrift­stel­le­rin­nen be­kannt.

Key­ser­ling wur­de als zehn­tes von zwölf Kin­dern ge­bo­ren. Nach dem Gym­na­si­um be­gann er ein Ju­ra­stu­di­um, das er »we­gen ei­ner In­kor­rekt­heit« un­ter­bre­chen muss­te, eher er sich ent­schloss, im ent­fern­ten Wien Phi­lo­so­phie und Kunst­ge­schich­te zu stu­die­ren.

Key­ser­ling war selbst in sei­nem Stand ein Ein­zel­gän­ger und ge­sell­schaft­lich iso­liert. Durch eine Sy­phi­lis­in­fek­ti­on er­krankt er­blin­de­te er mit 45 Jah­ren. Da­nach dik­tier­te er sei­ne Wer­ke den in sei­nem Haus­halt le­ben­den Schwes­tern. In sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren ver­ließ er kaum noch das Haus in Mün­chen Schwa­bing, wo er vom Jah­re 1900 bis zu sei­nem Tod wohn­te.

Im­mer mal wie­der ver­ges­sen und neu ent­deckt gilt Key­ser­ling auf­grund sei­ner ab 1903 ver­öf­fent­lich­ten Er­zäh­lun­gen, No­vel­len und Ro­ma­ne als ei­ner der we­ni­gen be­deu­ten­den im­pres­sio­nis­ti­schen Er­zäh­ler. Vie­len gilt er als »der bes­se­re Fon­ta­ne«.

Die Rie­ge sei­ner An­hän­ger­schaft ist lang und reicht von Her­mann Hes­se über Tho­mas Mann bis Ar­thur Schnitz­ler und Mar­cel Reich-Ra­nicki.

Aus­wahl der Wer­ke:
- 1887 Fräu­lein Rosa Herz – Eine Klein­stadt­lie­be
- 1892 Die drit­te Stie­ge
- 1902 Die schwar­ze Fla­sche
- 1903 Bea­te und Ma­rei­le – Eine Schloß­ge­schich­te
- 1904 Schwü­le Tage (No­vel­len­samm­lung)
- 1905 Har­mo­nie
- 1908 Land­par­tie – Ju­ni­stim­mung
- 1909 Bun­te Her­zen (No­vel­len­samm­lung)
- 1911 Wel­len
- 1914 Abend­li­che Häu­ser
- 1916 Am Süd­hang
- 1917 Fürs­tin­nen


So di che poco cana­pe s’al­lac­cia
Un’ ani­ma gen­til, quan­d’ ella é sola
E non é chi per lei di fesa fac­cia.

Pe­trar­ca

Vorwort

Ich weiß sehr wohl, dass Rosa Herz nur ein un­be­deu­ten­des ar­mes Mäd­chen ist, das ein Schick­sal er­lei­det, wie es un­zäh­li­ge un­be­deu­ten­de arme Mäd­chen er­lei­den. An ihr und ih­rem Schick­sal ist so­mit nichts, was des Auf­he­bens wert wäre. Den­noch – könn­te ich be­wir­ken, dass der Le­ser die­se un­be­deu­ten­de Mäd­chen­see­le und die­ses ge­wöhn­li­che Schick­sal nach­fühlt und nach­lebt, so wür­de ich glau­ben, demje­ni­gen mit mei­ner Er­zäh­lung will­kom­men zu sein, der, nicht zu­frie­den, nur ein Le­ben und ei­ne See­le zu be­sit­zen, gern frem­des Le­ben in sich auf­nimmt. Da ist es denn gleich, ob es ein Kö­nig oder ein ar­mes Mäd­chen ist; nur ein Men­schen­le­ben – wirk­li­ches Le­ben – muss es sein – »ein le­ben­der Hund ist bes­ser als ein to­ter Löwe«, sagt der Pre­di­ger Sa­lo­mo­nis. – – –

Der Ver­fas­ser

Erstes Buch – Liebesversuche

Erstes Kapitel

Den Ort, an dem Fräu­lein Rosa Herz das Licht der Welt zu­erst er­blickt hat­te, ver­moch­te kei­ner an­zu­ge­ben. Wo ihre Wie­ge ge­stan­den – ob sie über­haupt je eine Wie­ge be­ses­sen –, wer konn­te es wis­sen! Über je­nen Teil von Fräu­lein Ro­sas Le­ben hat­te sich un­durch­dring­li­ches Dun­kel ge­brei­tet.

Herr Klappe­kahl, der Apo­the­ker, war ge­wiss ein Mann von sel­te­nem Scharf­blick. Ein hal­b­es Jahr hat­te er in der Re­si­denz ver­lebt, und die Früch­te je­nes Auf­ent­hal­tes, ohne Zwei­fel, wa­ren: Welt­klug­heit, Bil­dung, skep­ti­sche Klar­heit in der Be­ur­tei­lung der ver­wi­ckelts­ten Ver­hält­nis­se; Ei­gen­schaf­ten, die ein je­der ihm zu­er­kann­te. Vi­el­leicht auch ein An­flug von Fri­vo­li­tät, aber – »mein Gott!« mein­te er, »wer kann sich in der ver­derb­ten Welt­stadt da­vor be­wah­ren!« Herr Klappe­kahl nun pfleg­te zu sa­gen, wenn das Ge­spräch auf Rosa Herz kam: »Ihren Ge­burts­ort? Gott, wer soll den ken­nen! Sol­che arme Wür­mer kom­men eben­so ge­räusch­los und plötz­lich zur Welt wie die Pil­ze nach dem Som­mer­re­gen. Ge­le­gent­lich ein­mal, wäh­rend ei­nes Zwi­schen­ak­tes, hin­ter ei­ner al­ten Ku­lis­se, was weiß ich! – Das Pub­li­kum klatscht und ruft. Dann tritt der Re­gis­seur vor und dankt, denn die Fee oder der En­gel kann nicht er­schei­nen, ein klei­nes Un­wohl­sein… Und in ei­ner Ecke hört man’s pie­pen. In ei­ner ver­staub­ten Pap­prüs­tung – auf ei­nem wa­cke­li­gen Thea­terthron liegt et­was in Ga­ze­fet­zen ge­wi­ckelt und wim­mert. Das ist dann das Kind, Fräu­lein Sound­so, Fräu­lein Rosa. Es wird mit all dem Plun­der zu­sam­men­ge­packt, und wei­ter geht es. Glau­ben Sie, Ma­da­me Herz oder Mon­sieur Spring­ins­feld er­in­ner­ten sich schließ­lich selbst dar­an, wo die Ge­schich­te mit dem Kin­de pas­sier­te? Gott be­wah­re! Das geht al­les so ge­schwind; heu­te hier, mor­gen dort. Ich ken­ne das!«

Was kann­te Herr Klappe­kahl nicht! Und hier hat­te er, wie sonst im­mer, recht. Ro­sas Mut­ter war Bal­let­tän­ze­rin, ihr Va­ter Bal­let­tän­zer ge­we­sen. Wäh­rend des rast­lo­sen Um­her­zie­hens von ei­ner Stadt zur an­de­ren war Rosa ge­bo­ren wor­den; doch kos­te­te ihre Ge­burt der ar­men Ma­da­me Herz das Le­ben. Herr Herz – trau­rig, ein­sam, des Tan­zens müde, sehn­te sich da­nach, sein un­s­te­tes Le­ben mit ei­nem ru­hi­ge­ren zu ver­tau­schen. Auf die­sem Stand­punk­te an­ge­langt, ge­dach­te er wie­der sei­ner Hei­mat­stadt.

Als Kna­be hat­te er sie ver­las­sen, zum Leid­we­sen sei­nes Va­ters, des bra­ven Schus­ter­meis­ters Herz, um, statt für die Füße an­de­rer Leu­te zu sor­gen, sich mit den sei­ni­gen un­s­terb­li­chen Ruhm zu er­wer­ben. Jetzt sehn­te sich sein al­tern­des Herz nach der fried­li­chen Hei­mat zu­rück. Sein Va­ter war längst tot, aber eine Schwes­ter leb­te ihm noch; eine mus­ter­haf­te Schwes­ter. Als Herr Herz von dem Ver­lus­te sei­ner Gat­tin be­trof­fen ward, lang­te ein schwarz­ge­rän­der­tes Schrei­ben von Frl. Ina Herz an, voll schwes­ter­li­chen Be­dau­erns und from­mer Er­mah­nun­gen. Am Schluss mein­te die gute See­le: Da die klei­ne Rosa der müt­ter­li­chen Pfle­ge be­raubt sei, möge man ihr das Kind brin­gen; sie wol­le für das­sel­be sor­gen und ihm eine zwei­te Mut­ter sein. – Gerührt von so­viel Lie­be, be­schloss Herr Herz, nicht nur das Kind, son­dern auch sich selbst der Sorg­falt sei­ner gu­ten Schwes­ter an­zu­ver­trau­en. So be­gab er sich denn mit sei­ner Toch­ter in sei­ne Hei­mat­stadt zu­rück.

An­fangs zwar war Fräu­lein Ina über die­se Wen­dung der Din­ge ein we­nig be­stürzt; aber ihre mu­ti­ge See­le fand sich selbst in die neue Le­bens­la­ge hin­ein. Die gan­ze Fa­mi­lie Herz ver­sam­mel­te sich trau­lich um einen Herd und leb­te in Ein­tracht von dem klei­nen Ver­mö­gen des Fräu­lein Ina, denn Herr Herz hat­te aus sei­ner lan­gen Künst­ler­lauf­bahn nur stei­fe Bei­ne und grei­se Haa­re ge­ret­tet. »Er­tanz­tes Geld«, mein­te er – und er hat­te sei­ner­zeit viel er­tanzt – »sei, weiß es Gott, das un­be­stän­digs­te der Welt!«

Fräu­lein Ina pfleg­te ihre Schutz­be­foh­le­nen mit je­ner zar­ten Auf­op­fe­rung, die be­son­ders al­ten Frau­en­her­zen ei­gen zu sein scheint, de­nen das Le­ben es lan­ge Zeit ver­sagt hat, ihre Lie­be­be­dürf­tig­keit zum Aus­druck zu brin­gen. Die mü­den Füße des Bal­let­tän­zers durf­ten jetzt in be­que­men Pan­tof­feln aus­ru­hen, und die stil­le, ge­ord­ne­te Häus­lich­keit ge­währ­te dem ge­plag­ten Ko­mö­di­an­ten-Her­zen ein tie­fes Be­ha­gen. Herr Herz wur­de mit sei­ner al­ten Schwes­ter selbst zur al­ten Jung­fer. Er be­such­te flei­ßig die Kir­che, ward Mit­glied des Ar­men­ver­ei­nes; sam­mel­te eif­rig die klei­nen Er­eig­nis­se der Stadt, um sie eif­rig wie­der aus­zu­tra­gen. Sah man die Ge­schwis­ter Herz bei­ein­an­der, so fand man mehr männ­li­che Ent­schlos­sen­heit in Fräu­lein Ina als in ih­rem Bru­der.

Auf die klei­ne Rosa ward die äu­ßers­te Sorg­falt ver­wandt. Fräu­lein Ina ließ das Kind nicht aus den Au­gen; es muss­te zu ih­ren Fü­ßen auf dem Tep­pich spie­len, sie sang es des Abends mit tiefer, hei­se­rer Stim­me in den Schlaf; sie nahm es stets in die Kir­che mit. Rosa schlief zwar wäh­rend des gan­zen Got­tes­diens­tes; Fräu­lein Ina je­doch mein­te, der blo­ße Auf­ent­halt in dem hei­li­gen Raum müss­te gut­tun; viel­leicht hoff­te sie auch da­durch ge­wis­se welt­li­che Ein­flüs­se zu ban­nen, die bei der Ge­burt des Kin­des ge­wal­tet ha­ben moch­ten.

Nach­dem Herr Herz sich eine Zeit­lang aus­ge­ruht hat­te, fühl­te er wie­der den Drang nach Be­schäf­ti­gung in sich er­wa­chen, auch quäl­te ihn das Be­wusst­sein, nur auf die Mild­tä­tig­keit sei­ner Schwes­ter an­ge­wie­sen zu sein. Die Stel­le ei­nes Turn­leh­rers am städ­ti­schen Gym­na­si­um war frei. Er be­warb sich um die­sel­be und er­hielt sie. Da­ne­ben er­bot er sich, jähr­lich, von Weih­nacht bis zu den Fas­ten, den her­an­wach­sen­den Her­ren und Da­men des Städt­chens Tanz­un­ter­richt zu er­tei­len.

Das ein­träch­ti­ge Bei­sam­men­le­ben moch­te ei­ni­ge Jah­re ge­dau­ert ha­ben, als Fräu­lein Ina ei­nes Mor­gens ih­rem Bru­der mel­den ließ, er möge beim Früh­stück nicht auf sie zäh­len, da sie, ei­nes leich­ten Un­wohl­seins we­gen, län­ger im Bett blei­ben wol­le. Aber auch um die Mit­tags­stun­de, als er aus dem Gym­na­si­um heim­kehr­te, fand er sei­ne Schwes­ter nicht im Wohn­zim­mer. Er eil­te in ihre Schlaf­kam­mer. Da lag sie bleich und re­gungs­los auf ih­rem Bett. Die klei­ne Rosa saß auf dem Estrich da­ne­ben und spiel­te mit der her­ab­hän­gen­den Hand ih­rer Tan­te. Fräu­lein Ina war tot.

Die­ser Ver­lust muss­te den ar­men Herrn Herz auf das Emp­find­lichs­te tref­fen. Nicht nur die Lie­be zu der treu­en Schwes­ter wein­te in sei­nem Her­zen; ne­ben die­ser tap­fern und kräf­ti­gen Ge­nos­sin hat­te er sich ent­wöhnt, für sich und sein Kind zu sor­gen. Wie eine wohl­tä­ti­ge Vor­se­hung hat­te Fräu­lein Ina um ihn ge­wal­tet und ihm jede Auf­re­gung ei­nes Ent­schlus­ses er­spart. Jetzt, die­ser Stüt­ze be­raubt, fühl­te er sich hilf­los und ver­waist.

Auf die Trau­er­bot­schaft eil­ten vie­le Nach­barn her­bei und staun­ten den al­ten Mann an, der wie ein Kind wein­te, lie­be­voll den Arm der To­ten strei­chel­te und im­mer wie­der­hol­te: »Schwes­ter, was fan­ge ich nun an? – Und die Rosa? – Schwes­ter, dass du das ta­test!«

Herr Klappe­kahl be­merk­te zu die­sem Auf­tritt: »So ei­ner von der Büh­ne hat doch mehr Sen­ti­ment und Aplomb als je­der an­de­re Chris­ten­mensch.«

Ag­nes Stock­mai­er, die alte Die­ne­rin, hüll­te ihre Her­rin in das schwarz­sei­de­ne Abend­mahl­kleid, setz­te ihr die schwar­ze Spit­zen­hau­be auf und leg­te ihr ein Kru­zi­fix in die blei­chen Hän­de. So trug man Fräu­lein Ina zum Fried­hof hin­aus. Der Pfar­rer Ra­ser hielt am Gra­be eine er­bau­li­che Rede, in der er die Ver­diens­te der Da­hin­ge­schie­de­nen nicht ge­nug zu prei­sen wuss­te und ihr rei­chen Him­mels­lohn ver­hieß. Die zahl­reich er­schie­ne­nen Freun­de drück­ten die Ta­schen­tü­cher an die Au­gen und spra­chen halb­laut mit­ein­an­der: »Also ganz plötz­lich?« – »Ja, ein sanf­ter Tod!« – »Gott sei ge­lobt!« – Dann blin­zel­te der eine oder der an­de­re zur hel­len März­son­ne auf und mein­te ge­fühl­voll: »Sie hat ein wah­res Got­tes­wet­ter für ihre letz­te Rei­se.« – Herr Herz stand bleich, eine große Krepp­schlei­fe am Hut, vor der Gruft und blick­te, jetzt ge­fasst, vor sich nie­der. Ag­nes Stock­mai­er trug die klei­ne Rosa auf dem Arm, die, fest in ein schwar­zes Um­schlag­tuch gehüllt, stau­nend all die erns­ten Men­schen an­blick­te und die zar­ten Li­ni­en ih­res Ge­sicht­chens ver­zog, als woll­te sie wei­nen.

Im Haus­halt der Herz’ über­nahm nun Ag­nes Stock­mai­er die Rol­le ih­rer ver­ewig­ten Her­rin. Sie be­sorg­te die Wirt­schaft, er­zog Rosa, ja hat­te auch ge­wis­sen Ein­fluss auf die Ver­wal­tung des klei­nen Ver­mö­gens, wel­ches Fräu­lein Ina ih­rem Bru­der hin­ter­las­sen hat­te. Herr Herz füg­te sich wil­lig in die neue Herr­schaft, froh, sich wie­der sei­ner ge­wohn­ten Sorg­lo­sig­keit hin­ge­ben zu dür­fen. Er ging jetzt mehr aus; saß des Abends im Klub und spiel­te Whist. Sonst blieb al­les beim al­ten. Fräu­lein Schank, die Freun­din des Fräu­lein Ina und Vor­ste­he­rin der städ­ti­schen Töchter­schu­le, kam zu­wei­len, um nach Rosa zu se­hen, und er­teil­te ihr auch den ers­ten Un­ter­richt, als die Zeit dazu her­an­kam.

Zweites Kapitel

Als Rosa Herz ihr sieb­zehn­tes Jahr er­reicht hat­te und Pri­ma­ne­rin der Schank­schen Schu­le war, gab ein je­der im Städt­chen es zu, dass Rosa ein sehr hüb­sches, lus­ti­ges und gu­tes Kind sei. Nur ei­nes ward ihr mit Recht vor­ge­wor­fen: Sie glaub­te be­rech­tigt zu sein, ohne ir­gend­ei­nen trif­ti­gen Grund jede be­lie­bi­ge Un­ter­richts­stun­de ver­säu­men zu dür­fen, nur weil die Son­ne ge­ra­de be­son­ders hell schi­en oder weil, sie sie mein­te, Fräu­lein Schanks Ge­sicht ihr heu­te be­son­ders zu­wi­der war. Wenn ihre Mit­schü­le­rin­nen sich auf die Bän­ke setz­ten und ge­spannt auf die Türe blick­ten, durch wel­che die Leh­re­rin ein­tre­ten soll­te, stülp­te Rosa den brau­nen Som­mer­hut gleich­mü­tig auf den blon­den Kopf und ver­ließ mit ver­bind­li­chem Lä­cheln, als täte sie das Selbst­ver­ständ­lichs­te von der Welt, das Zim­mer. Da­ge­gen ver­moch­ten we­der Straf­ar­bei­ten noch Er­mah­nun­gen, noch die strengs­ten Ver­wei­se et­was aus­zu­rich­ten.

Nach­läs­sig, als gäbe es kei­ne Leh­re­rin, die ihr be­geg­nen könn­te, stieg sie die Stu­fen der Trep­pe hin­ab und ging ih­res We­ges. Sie setz­te die Füße dicht vor­ein­an­der und trat stär­ker mit der Spit­ze auf, was der gan­zen Ge­stalt im ver­blich­nen grau­en Som­mer­män­tel­chen ein leich­tes Hin- und Her­schwan­ken, eine freie, sorg­lo­se Be­we­gung gab, wie man sie oft bei Kna­ben aus dem Vol­ke fin­det, de­ren Glie­der nie durch einen Zwang be­engt wer­den. Die blon­den Haa­re flat­ter­ten un­ter dem ver­bo­ge­nen Hute her­vor; sie wa­ren zu leicht, um lan­ge Ord­nung hal­ten zu kön­nen. Un­ter der ge­ra­den, run­den Nase stand ein sehr be­weg­li­cher Mund mit ein we­nig brei­ten, sinn­li­chen Lip­pen; die Mund­win­kel je­doch wa­ren ganz spitz und hin­auf­ge­bo­gen, was dem Ge­sich­te et­was Klu­ges, Nach­denk­li­ches ver­lieh. Die Au­gen aber wa­ren es, die die­sem Mäd­chen jene fri­sche Klar­heit ga­ben, die den Ge­samtein­druck ih­rer Per­sön­lich­keit bil­de­te; run­de, hell­blaue Au­gen un­ter röt­li­chen Au­gen­brau­en; ein Blau, das für Licht und Freu­de so emp­fäng­lich und ei­nes in­ten­si­ven, fast schar­fen Glan­zes fä­hig ist.

Lang­sam schritt Rosa an den Gar­ten­zäu­nen der en­gen Gas­se ent­lang. Ei­ner Kinds­magd, die auf ei­nem Gar­ten­we­ge mit ei­nem Kin­de spiel­te, wink­te sie einen Gruß zu, sang einen Lie­der­vers mit tiefer Stim­me vor sich hin und pflück­te zer­streut die son­nen­war­men Blät­ter von den He­cken, um sie wie­der zu ver­streu­en.

Die »Schul­gas­se« mün­de­te in den »Stadt­gar­ten« – den Stolz der Bür­ger­schaft: ein an­mu­ti­ges Stück Ra­sen­land, nied­ri­ge, künst­lich auf­ge­führ­te Hü­gel; eine grün an­ge­stri­che­ne Hän­ge­brücke; klei­ne Lau­ben al­ler­ort, run­de Plät­ze, mit jun­gen Kas­ta­ni­en und Lin­den be­setzt. Auf der West­sei­te ward der Gar­ten von ei­nem Flus­se be­grenzt, der, in enge, hohe Ufer ein­ge­zwängt, hier eine wun­der­li­che Strom­schnel­le bil­de­te. Auf der Nord­sei­te er­hob sich der brei­te rote Back­stein­bau des Gym­na­si­ums mit sei­nem un­be­hol­fe­nen acht­e­cki­gen Turm und sei­nem ge­räu­mi­gen Hof, auf dem sich die Schü­ler in frei­en Au­gen­bli­cken tum­meln durf­ten.

Rosa bog in einen Kies­weg des Stadt­gar­tens ein, späh­te von ei­ner An­hö­he in den lee­ren Schul­hof hin­ab und be­gab sich dann in eine Flie­der­lau­be, um dort auf der Bank aus­zu­ru­hen. Den Hut schob sie von der hei­ßen Stirn in den Na­cken, streck­te die schlan­ken, sieb­zehn­jäh­ri­gen Bei­ne ge­ra­de von sich und hol­te aus der Ta­sche ih­res Man­tels ein Buch her­vor, das einen grau­en Ein­band und auf dem Rücken einen gel­ben Zet­tel mit ei­ner Num­mer hat­te. Zu­wei­len, wenn sie an einen Ab­satz ge­lang­te oder die Sei­te um­wand­te, er­hob sie den Kopf und blick­te in den Gar­ten hin­aus. Die­ser lag fried­lich, in Son­nenglanz ge­ba­det, vor ihr. Das Grün des Ra­sens ward von ei­nem Staub­schlei­er be­deckt, der ihm einen gelb­li­chen An­flug gab. Die Baum­grup­pen auf den Hü­geln mal­ten große dun­kel­grü­ne Fle­cken auf das sat­te Him­mels­blau. Ein Häu­schen mit ei­ner Holz­ve­ran­da lag am Ein­gan­ge des Gar­tens, rote Buch­sta­ben auf ei­nem wei­ßen Schil­de ver­kün­de­ten, dass hier Ver­kauf von Wein und Bier statt­fin­de. Ein Kell­ner lehn­te mü­ßig an ei­ner Holz­säu­le der Ve­ran­da, den Rücken der Son­ne zu­ge­kehrt, die den ab­ge­tra­ge­nen Frack wie Me­tall er­glän­zen ließ.

Auf dem brei­ten Kies­weg ging eine alte Dame lang­sam auf und ab, bei je­dem Schrit­te mit dem Kop­fe ni­ckend. Zer­streut schau­te Rosa über all das hin­weg, und wenn sie sich wie­der auf ihr Buch nie­der­beug­te, ho­ben sich ihre Brau­en mit leich­tem, miss­mu­ti­gem Zu­cken. Sie er­war­te­te je­man­den, des­sen Aus­blei­ben ihr ver­ächt­lich er­schi­en.

Na­tür­lich! War Ro­sas Platz in der Töchter­schu­le leer, so muss­te auch in der Se­kun­da des Gym­na­si­ums eine Lücke sein. Hat­te Rosa es für gut be­fun­den, lie­ber im Stadt­gar­ten als auf der Schul­bank ihre Zeit zu ver­brin­gen, so wäre es von Her­weg Koll­hardt fei­ge und lä­cher­lich ge­we­sen, bei den Bü­chern zu blei­ben. Er ließ sich die­ses Ver­ge­hen nicht zu­schul­den kom­men; ihm fehl­te je­doch bei der Aus­füh­rung sei­ner Flucht jene küh­ne Ruhe, die man an Rosa be­wun­dern muss­te, und so war sein Er­schei­nen zu­wei­len ver­spä­tet. Aber er kam. Hör­te Rosa sei­nen schwe­ren Tritt, dann ver­tief­te sie sich noch eif­ri­ger in ih­ren Ro­man und sah erst auf, wenn er vor ihr stand und sei­ne Ent­schul­di­gung vor­brach­te.

Baron Koll­hardt von Kol­ler­we­gen lieb­te Rosa, und sie ließ es ge­sche­hen. Ein Se­kun­da­ner ist stets ver­liebt, und das hüb­sche Wort »Lie­be« wird im ver­trau­ten Se­kun­da­ner­kreis viel ge­nannt. Aber auch die Schank­sche Schu­le, wie jede Schu­le, be­schäf­tig­te sich viel mit je­ner schö­nen Lei­den­schaft. In der Pri­ma galt es für eine Schan­de, nicht zu lie­ben. Eine jede hat­te ihre »Lie­be« und sprach in ru­hi­gem Ge­schäftston da­von wie von et­was Selbst­ver­ständ­li­chem: »Ges­tern sah ich dei­ne Lie­be, er ging bei uns vor­über.« – »So! Wer ist doch dei­ne Lie­be? Ah so, ich weiß schon!« Und dann ka­men die Ge­schich­ten von be­deu­tungs­vol­len Bli­cken, von Lä­cheln, Be­mer­kun­gen. An Ge­gen­lie­be zwei­fel­te eine Schank­sche Schü­le­rin nie; nur hat­te den meis­ten die Ge­le­gen­heit ge­fehlt, sich ih­rer Lie­be zu nä­hern. Ma­ri­an­ne Schulz hat­te lan­ge nicht ge­wusst, für wen sie sich ent­schei­den soll­te, bis sie end­lich, auf das Drän­gen ih­rer Freun­din­nen, er­klär­te, sie lie­be den Se­kre­tär Fei­er­gro­schen. So­bald nun der Se­kre­tär an der Schu­le vor­über­ging, hieß es: »Ma­ri­an­ne, Ma­ri­an­ne! Dei­ne Lie­be geht vor­über!« – dann stell­te sich das arme Kind – über und über rot – an das Fens­ter und riss die run­den Au­gen weit auf, wäh­rend Herr von Fei­er­gro­schen ru­hig vor­über­ging, ohne zu ah­nen, dass es eine Ma­ri­an­ne Schulz auf der Welt gäbe. Aber im­mer­hin! Ma­ri­an­ne war froh, dass sie eine Lie­be ge­fun­den hat­te. Rosa war zu un­mit­tel­bar und zu leb­haft, als dass sie sich mit die­sen Lie­bes­ge­schich­ten ins Blaue hin­ein zu­frie­den­ge­ge­ben hät­te. Der Se­kun­da­ner Koll­hardt war ihre »Lie­be«. Gut! Sie schrieb ihm einen Brief und be­stell­te ihn in den Stadt­gar­ten. Seit­dem wie­der­hol­ten sich die­se Zu­sam­men­künf­te; Rosa war von ih­ren Mit­schü­le­rin­nen ih­rer Kühn­heit we­gen be­wun­dert und als Au­to­ri­tät in Lie­bes­sa­chen an­ge­se­hen.

Her­weg Koll­hardt sah äu­ßerst gut­mü­tig und lie­be­voll aus, wenn er ver­le­gen vor Rosa stand, den breit­krem­pi­gen Hut vom Kop­fe nahm und sich die feuch­te Stirn trock­ne­te. Er war von be­hag­li­cher Fül­le, die man bei Jüng­lin­gen sei­nes Al­ters nur sel­ten fin­det. Über­all wei­che, run­de Li­ni­en, Arme und Bei­ne droh­ten das blaue Som­mer­tuch des An­zu­ges zu spren­gen; der Rücken hat­te eine kraft­vol­le Wöl­bung, die der gan­zen Ge­stalt et­was männ­lich Rei­fes ver­lieh. Von die­sem mäch­ti­gen Kör­per lä­chel­te ein weiß und ro­tes Ge­sicht freund­lich und kind­lich her­ab, und die klei­nen brau­nen Au­gen glänz­ten ver­schmitzt zwi­schen den ro­ten Wim­pern her­vor. Das kurz­ge­scho­re­ne rote Haar war stark mit Öl ge­tränkt und stand auf­recht um die nied­ri­ge wei­ße Stirn.

»Es war heu­te wirk­lich schwie­rig«, mein­te Her­weg lä­chelnd. »Ich habe enorm klug sein müs­sen.« Rosa zog die Au­gen­brau­en in die Höhe und sag­te: »Was war schwie­rig?«

»Was?« wie­der­hol­te Her­weg und setz­te sich lang­sam auf die Bank. Er stütz­te die Arme auf die Knie und schwenk­te sei­nen Hut wie einen Pen­del zwi­schen den Bei­nen hin und her: »Rosa, wie kön­nen Sie so fra­gen? Ich ma­che mir nichts dar­aus; aber der Di­rek­tor sprach sehr un­höf­lich über mein häu­fi­ges Schwän­zen.«

»Glau­ben Sie, die Schank be­merkt mein Aus­blei­ben nicht?« frag­te Rosa ge­reizt.

»Wie soll­te ich«, er­wi­der­te Her­weg, nahm vor­sich­tig einen von Ro­sas Zöp­fen und be­trach­te­te ihn auf­merk­sam. Rosa ward un­ge­dul­dig: »Was ha­ben Sie nur?« Dann lach­te sie: »Wis­sen Sie, Koll­hardt, dass Sie mit je­dem Tage di­cker wer­den?«

»Hm, ja!« mein­te Koll­hardt nach­denk­lich. »Miss­fällt Ih­nen das?«

»Mir? Sie wis­sen ja, dass mich das nichts an­geht. Nur für Sie wäre es an­ge­neh­mer, nicht so dick zu sein.«

»Oh, ich ma­che mir nichts dar­aus! Es kommt, den­ke ich, vom vie­len Bier. In letz­ter Zeit le­ben wir ein we­nig wild.«

»So! ja, das glau­be ich, da geht es wohl wüst her.«

»Wie man’s nimmt. Vo­ri­ge Nacht ha­ben wir bis drei Uhr ge­k­neipt.«

»Schä­men Sie sich«, mahn­te Rosa freund­lich. »Wo­von spra­chen Sie denn bei die­sem wil­den Ge­la­ge?«

»Oh, von man­cher­lei! Von Ih­nen, Rosa, war auch die Rede.«

»Das ver­bit­te ich mir. Mein Name soll bei sol­chen – un­so­li­den – Knei­pe­rei­en nicht ge­nannt wer­den.«

»Er wird mit großer Be­wun­de­rung ge­nannt«, wand­te Her­weg ein.

»Ich mag es nicht«, ei­fer­te Rosa wei­ter. »Was ha­ben Sie von mir zu spre­chen? Sa­gen Sie mir das, Koll­hardt.«

»Eine gan­ze Men­ge!«

»Nun was denn?«

Her­weg ward ver­le­gen und dreh­te zer­streut den blon­den Zopf in sei­ner Hand, Rosa aber ent­zog ihn ihm, wie man ei­nem Kin­de, das sei­ne Lek­ti­on her­sa­gen soll, ein Spiel­zeug aus der Hand nimmt. »Sa­gen Sie doch«, wie­der­hol­te sie.

»Ich trin­ke auf Ihr Wohl.«

»Was mir das nüt­zen wird! Nun gut! Was wei­ter?«

»Nun – ich sage, dass Sie hübsch sind, sehr hübsch.«

»Wie alt­mo­disch!«

»Wie­so alt­mo­disch?«

»Gleich­viel«, dräng­te Rosa. »Was noch?«

»Ich spre­che von mei­ner Lie­be.«

»Da­von spricht man nicht bei Knei­pe­rei­en. Und dann, Ihre Lie­be, Koll­hardt; das ist ja Un­sinn.«

»Durchaus nicht!« rief Her­weg has­tig. »Ich lie­be Sie wirk­lich! Das wis­sen Sie ja. Ich wür­de mich sonst doch nicht all den Unan­nehm­lich­kei­ten mit dem Di­rek­tor aus­set­zen.«

Rosa zuck­te die Ach­seln, und den­noch leuch­te­te die­ser Be­weis ihr ein. Nun schwie­gen bei­de. Her­weg schau­te sei­ne Ge­lieb­te un­ver­wandt an und lä­chel­te be­hag­lich. Zu­wei­len be­rühr­te er be­hut­sam mit ei­nem Fin­ger Ro­sas Hand oder strich sanft über den grau­en Som­mer­man­tel. Rosa ach­te­te nicht dar­auf, son­dern zog auf­merk­sam mit ih­rem Ab­satz eine tie­fe Fur­che in den Sand. Her­weg be­gann wie­der zu spre­chen, mach­te die Be­mer­kung, der Kell­ner Hein­rich ste­he dort an der Säu­le, wie ein Affe, der Prü­gel be­kom­men hat; er mach­te Rosa auf die alte Dame auf­merk­sam, die, in ih­rem Spa­zier­gang in­ne­hal­tend, mit schril­ler, kla­gen­der Stim­me »Max, Max!« rief und mit ei­nem Tu­che wink­te: »Eine tol­le Schrul­le! Ihren Hund Max zu nen­nen! So et­was kann sich auch nur eine alte Jung­fer aus­den­ken! Tref­fe ich das Vieh ein­mal al­lein, dann soll es…« Die Un­ter­hal­tung woll­te doch nicht in Gang kom­men. Läh­mend und er­schlaf­fend leg­te sich auch über die bei­den Kin­der die schläf­ri­ge Mit­tags­ru­he; jene trä­ge, laut­lo­se Ruhe, die wie ein flim­mern­der Schlei­er sich über das Gras und den Kies, über die Hü­gel und Bäu­me, über das Schwei­zer­haus, den Kell­ner Hein­rich und die alte Dame brei­te­te, die jetzt stumm und re­gungs­los da­stand, ein­sam und ge­fasst, denn Max kam nicht; jene Ruhe, die mit ih­rer son­ni­gen Lan­ge­wei­le über dem Schul­ge­bäu­de brü­te­te und so weit das Auge reich­te, wie die Ge­gen­wart des Schul­di­rek­tors, jede leb­haf­te Be­we­gung un­ter­drück­te, als woll­te sie eine Stö­rung des Schul­un­ter­rich­tes ver­mei­den. Die gan­ze Na­tur war still, warm und stau­big wie eine Schul­stu­be; zu­wei­len nur rief eine Feld­gril­le ih­ren klei­nen tro­ckenen Ton in das Schwei­gen hin­ein, und er klang dann wie das Knar­ren ei­ner Fe­der in ei­ner trä­gen Schü­ler­hand.

Rosa und Her­weg sa­ßen noch eine Wei­le bei­ein­an­der, bis die Turm­uhr des Gym­na­si­ums einen hei­se­ren Schlag von sich gab. Da trenn­ten sie sich. Her­weg nahm Ro­sas Hand und sag­te ge­fühl­voll: »Le­ben Sie wohl, Rosa. Ich seh’ Sie doch bald?« Rosa nick­te und stäub­te noch mit ei­ni­gen kräf­ti­gen Schlä­gen Her­wegs Rock ab. Dann gin­gen sie aus­ein­an­der.

Rosa muss­te wie­der zur Schul­stra­ße zu­rück, um zu ih­rer Woh­nung zu ge­lan­gen. Nach­denk­lich schwenk­te sie ihre Schul­map­pe und blick­te zu den Häu­ser­gie­beln auf, die schläf­rig über die Kas­ta­ni­en auf sie her­ab­sa­hen. Hier und dort mach­te ein ge­öff­ne­tes Fens­ter ein schwar­zes Loch in das licht­vol­le Bild, gleich­sam ein Mund, der in den All­tag hin­ein­gähn­te. – Sie dach­te an Her­weg und war un­zu­frie­den mit ihm. Die große, plum­pe Ge­stalt; Gott, und die plat­ten Fra­gen, die er tat; und das schüch­ter­ne Strei­cheln ih­rer Hän­de und Zöp­fe! Ge­wiss, es war lä­cher­lich, und sie lä­chel­te. Dann seufz­te sie wie­der.

Ro­sas Woh­nung lag im zwei­ten Stock. Aus ei­nem Fens­ter des­sel­ben schau­te Herr Herz nach sei­ner Toch­ter aus, und als er sie er­blick­te, nick­te er ihr zu, je­nem selt­sa­men Dran­ge fol­gend, vom Fens­ter aus sich ei­nem Be­kann­ten auf der Stra­ße be­merk­bar zu ma­chen, wenn es auch nicht den ge­rings­ten Zweck hat. Rosa war zu sehr an die­ses ni­cken­de wei­ße Haupt ge­wöhnt, um dar­auf zu ach­ten. Sie stieg ge­mäch­lich die Trep­pen hin­an und frag­te beim Ein­tre­ten in das Wohn­zim­mer statt je­den Gru­ßes streng, ob das Es­sen an­ge­rich­tet sei. »Frei­lich«, sag­te Herr Herz und ver­such­te mit zwei Fin­gern die Wan­ge sei­ner Toch­ter zu tät­scheln, die Wan­ge aber ent­zog sich ihm, und so fuh­ren die bei­den Fin­ger zärt­lich im Lee­ren hin und her.

Das Ge­mach trug noch al­lent­hal­ben das Ge­prä­ge sei­ner frü­he­ren Her­rin. Über­all stan­den wun­der­li­che, nutz­lo­se Sä­chel­chen um­her, die sich um ein­sa­me alte Frau­en­zim­mer an­zu­sam­meln pfle­gen: un­be­greif­li­che Un­ge­heu­er aus Wol­le und Sei­de, bun­te Por­zel­lan­fi­gür­chen, ganz zweck­lo­se Kör­be aus Schmel­zen, ver­wit­ter­te Pa­pier­blu­men, die viel­leicht einst je­man­den ge­schmückt oder an ir­gend et­was er­in­nert hat­ten; jetzt stan­den sie ab­ge­schmackt und nichts­sa­gend da und wuss­ten nicht, warum sie auf der Welt sei­en; ver­staubt und un­be­ach­tet wa­ren sie, tot – wie ihre Her­rin.

Vie­le brei­te, schwer­fäl­li­ge Mö­bel aus Ma­ha­go­ni­holz, mit ei­nem Über­zug von schwarz und ro­tem Wol­len­stoff, be­eng­ten das Ge­mach. Ein Da­guer­reo­typ, den Schus­ter­meis­ter Herz dar­stel­lend, hing über der Kom­mo­de; man konn­te dar­auf je­doch nur den großen wei­ßen Hals­kra­gen un­ter­schei­den. Auf der Kom­mo­de stand die Fa­mi­li­en­bi­blio­thek: sechs Bän­de Zschok­kes No­vel­len, Ar­enths An­dachts­buch, Schil­lers Ge­dich­te und drei Jahr­gän­ge ei­ner il­lus­trier­ten Zeit­schrift. Un­ter man­chen Re­li­qui­en aus der Zeit des Fräu­lein Ina lag auch ein klei­ner wei­ßer At­las­schuh, an der Spit­ze mit ei­ner Ro­sen­knos­pe ge­schmückt. Er war das ein­zi­ge, was Rosa von ih­rer Mut­ter ge­erbt hat­te.

Ne­ben dem Wohn­ge­mach be­fand sich das Spei­se­zim­mer, ein schma­les Recht­eck; sechs Rohr­stüh­le, ein runder Ei­chen­tisch, ein Schrank mit Gla­stü­ren und ein großes Buf­fet aus Birn­holz füll­ten den Raum, in dem Herr Herz und sei­ne Toch­ter sich zum Mit­tags­mahl nie­der­setz­ten.

Herr Herz schöpf­te die Sup­pe vor und zer­leg­te sehr ge­wandt den Bra­ten, da­bei war er eif­rig um die Un­ter­hal­tung be­müht. »Heu­te«, sag­te er und leg­te Rosa ein Stück Bra­ten auf den Tel­ler, »wäh­rend ich drau­ßen im Hof Un­ter­richt er­teil­te, sah ich eine ver­deck­te Kut­sche den Weg hin­ab­fah­ren. Du hast wohl nichts ge­hört?«

»Nein. Je­mand vom Lan­de?« be­merk­te Rosa.

Herr Herz schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf: »Um die­se Zeit! Weiß es Gott! Ich muss spä­ter zu Klappe­kahl hin­über, der wird es wis­sen.«

Rosa war schweig­sam. Ihr Va­ter be­merk­te das wohl und frag­te nach der Ver­an­las­sung, aber Rosa er­wi­der­te, es sei nichts; sie däch­te über die Kut­sche nach. »Ja, merk­wür­dig!« plau­der­te Herr Herz fort. »Wie ich aus der Schu­le kom­me, be­geg­net mir La­nin.« Herr Herz schau­te sei­ne Toch­ter er­war­tungs­voll an, als müss­te die­se Nach­richt Ein­druck auf sie ma­chen; Rosa je­doch be­merk­te nur tro­cken: »So! Sprach er von sei­ner dum­men Toch­ter?«

»Dum­men Toch­ter! Rosa, wie du sprichst!« Herr Herz lach­te, als wäre das ein gu­ter Witz ge­we­sen. »Nein«, fuhr er dann fort, »er teil­te mir aber mit, dass nächs­tens ein jun­ger Mensch, ein Ver­wand­ter von ihm, in das Ge­schäft kommt.«

»Noch ei­ner? Hat er denn mit dem Ko­rin­then-Kon­rad nicht ge­nug?«

»Mit die­sem hat es sei­ne Be­wandt­nis. Der jun­ge Herr scheint ein we­nig wild ge­we­sen zu sein…«

»Ah, was hat er ge­tan?«

»Gott, in der Ju­gend, da kommt man­ches vor! Ge­nug, er soll hier ge­bes­sert wer­den. Als ich vor­hin dort am Fens­ter stand, dach­te ich dar­über nach, ob La­nin bei der gan­zen Ge­schich­te nicht et­was für sei­ne Toch­ter im Sinn hat, für die Sal­ly.«

»Die!« rief Rosa und lach­te, weil je­dem jun­gen Mäd­chen je­der Hei­rats­plan au­ßer ih­rem ei­ge­nen lä­cher­lich er­scheint. »Du ver­gisst, Va­ter, dass Sal­ly schielt.«

»Pah!« mein­te Herr Herz, »ich habe man­che Schön­heit ge­kannt, die schiel­te. Vie­le lie­ben das so­gar.«

»Es wäre ein Glück für die arme Sal­ly; aber ich zweifle…« sag­te Rosa und hob die Ta­fel auf. Wäh­rend sie vor­an in das Wohn­ge­mach schritt, wand­te sie sich in der Türe um und frag­te mit ei­nem gleich­gül­ti­gen Zu­cken der Au­gen­brau­en: »Va­ter! Wie soll denn die­ser neue Ko­rin­then-Kon­rad hei­ßen?«

»Am­bro­si­us Tel­le­r­at. Er ist ein Bru­der­sohn von ihr – der La­nin. Die Frau La­nin ist eine ge­bo­re­ne Tel­le­r­at, wie du weißt.«

»Ach ja!«

Als Va­ter und Toch­ter im Wohn­ge­mach auf den brei­ten Ses­seln ne­ben­ein­an­der sa­ßen, be­merk­te Rosa nach­denk­lich: »Ich glau­be nicht, dass die­ser – Am­bro­si­us sie nimmt.« – »Ja, ja«, er­wi­der­te Herr Herz dar­auf, ohne dass es schi­en, als däch­te er sich et­was da­bei. Be­quem rück­te er sei­nen Kopf auf der Leh­ne des Ses­sels zu­recht und schloss die Au­gen zu sei­nem Nach­mit­tags­schlum­mer. Die Son­ne ba­de­te das klei­ne Ge­sicht des al­ten Man­nes in gel­bem Feu­er, ent­zün­de­te in den grei­sen Au­gen­brau­en leuch­ten­de Pünkt­chen und wärm­te die ein­ge­fal­le­nen Wan­gen, dass sie zu glü­hen be­gan­nen wie die Wan­gen ei­nes schla­fen­den Kin­des. Die Flie­gen trie­ben im Ge­mach ihr lau­tes We­sen und stie­ßen är­ger­lich sum­mend ge­gen die Fens­ter­schei­ben. Lan­ge Staub­säu­len zo­gen ihre trü­ben Bän­der durch das Zim­mer.

Rosa lag in ih­rem Ses­sel zu­rück­ge­lehnt da, ganz über­deckt von ste­ti­gen Licht­fun­ken, die der Son­nen­strahl in ih­rem Haar, ih­ren Au­gen­brau­en und Wim­pern er­weck­te. Die Au­gen halb ge­schlos­sen, träum­te sie ih­ren alt­ge­wohn­ten Traum.

Er war mit ihr her­an­ge­wach­sen. Je­den Mor­gen er­wach­te er mit ihr, um ihr neu­ge­stärkt zu fol­gen. Er ging mit ihr in die Schu­le, misch­te sich in al­les, was sie vor­nahm. In der Nacht kam er oft, mit dem selt­sa­men Nar­ren­tand un­se­rer Träu­me an­ge­tan. Er war im­mer zur Hand! Wo­von er sprach? Das ist das schwer zu lö­sen­de Ge­heim­nis lie­ben­der Her­zen, die nie ge­liebt, op­fer­mu­ti­ger See­len, die nie ein Op­fer ge­bracht ha­ben. Ei­nes nur wie­der­hol­te er im­mer wie­der: »Bald, bald muss et­was ge­sche­hen, muss et­was er­lebt wer­den. Bald, sonst ver­säumst du’s.«

Nach­dem Rosa eine Wei­le ih­rem treu­en Ge­fähr­ten zu­ge­hört hat­te, seufz­te sie, er­hob sich und er­griff Hut und Man­tel, um aus­zu­gehn.

Drittes Kapitel

Die Stra­ße war leer, kein Luft­hauch reg­te sich. Gerü­che von Fleisch und Ge­mü­se ström­ten aus den ge­öff­ne­ten Fens­tern. Pa­pier­fet­zen und alte Schuh­soh­len la­gen auf dem Pflas­ter und sonn­ten sich.

Rosa ging zum Markt­platz hin­ab. Die Hän­de in die Ta­schen ih­res Man­tels ge­steckt, wieg­te sie sich läs­sig hin und her und blick­te auf die Häu­ser und in die Fens­ter, mit der gleich­gül­ti­gen Zer­streut­heit, die wir ge­wohn­ten Din­gen ent­ge­gen­zu­tra­gen pfle­gen, wenn un­se­re Bli­cke an ih­nen haf­ten, ohne sie zu se­hen.

Am Aus­gang der Stra­ße und Ein­gang des Markt­plat­zes lag das Ge­schäft »Fir­ma La­nin und –«, Ver­kauf von Ko­lo­ni­al­wa­ren je­der Art. Das Ge­schäft La­nin war von größ­ter Wich­tig­keit für das Städt­chen; lan­ge schon war es die Haupt­quel­le für die Be­dürf­nis­se der Haus­hal­tung, und meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen hat­ten den Na­men La­nin zu­gleich mit den Wor­ten Zu­cker, Ro­si­nen und so wei­ter aus­spre­chen ge­lernt. Herr La­nin saß im Rat, wie sein Va­ter und Groß­va­ter vor ihm dort ge­ses­sen. Herr La­nin spiel­te eine be­deu­ten­de Rol­le bei der Feu­er­wehr, der Ar­men­pfle­ge und Spar­kas­se. Herr La­nin war eine so große Per­sön­lich­keit, dass die be­schei­de­neren Bür­ger der Stadt nicht zu pro­tes­tie­ren wag­ten, wenn die Fir­ma ih­nen dop­pel­te Rech­nun­gen mach­te oder schim­me­li­gen Käse ver­ab­folg­te. »Fir­ma La­nin und –« stand über der Türe. Die­ses »und« war eine Hul­di­gung für die Toch­ter der Fir­ma, für Fräu­lein Sal­ly. Der künf­ti­ge Schwie­ger­sohn soll­te Kom­pa­gnon wer­den; das war si­cher; so leg­te die gan­ze Stadt die­ses »und –« aus; bis Fräu­lein Sal­ly aber ihre Wahl ge­trof­fen, muss­te das »und –« al­lein ste­hen blei­ben und war­ten.

Die Fir­ma war sich ih­res Wer­tes viel zu sehr be­wusst, um auf äu­ße­ren Glanz et­was zu ge­ben; die­ser­halb war das Ge­schäfts­lo­kal ein en­ges, fins­te­res, un­rein­li­ches Zim­mer. Das ab­ge­rie­be­ne, von der Son­ne ge­bleich­te Schild vor der Türe zeig­te einen ent­setz­li­chen Ne­ger, der einen wei­ßen Zucker­hut in den Ar­men hielt.

Rosa öff­ne­te die nied­ri­ge Gla­stü­re, die in das Lan­in­sche Ver­kaufs­lo­kal führ­te, und setz­te da­bei eine hei­se­re Glo­cke in Be­we­gung. Ein star­ker Ge­ruch von Oran­gen, Fisch, feuch­tem Stroh schlug ihr ent­ge­gen. Fäs­ser und Kis­ten türm­ten sich bis zur De­cke auf; schwarz an­ge­stri­che­ne Holz­leis­ten lie­fen an den Wän­den hin und tru­gen mäch­ti­ge Pa­ke­te, in blau­es, gel­bes, grau­es Pa­pier gehüllt, halb von Däm­me­rung und Staub ver­bor­gen. Hin­ter dem La­den­tisch stand Kon­rad Lurch, der Die­ner der Fir­ma. Sein lan­ges, sehr schma­les Ge­sicht war über und über mit Som­mer­spros­sen be­deckt. Sei­ne Au­gen hat­ten die mat­te, gelb­li­che Far­be des Ge­sich­tes und schie­nen mit die­sem in­ein­an­der­ge­flos­sen. Er trug einen wei­ten Rock von glän­zen­dem Som­mer­stoff, wie schwar­zes Pack­pa­pier, und rot­gel­be Bein­klei­der, die in der Far­be mit dem Pa­pier Ähn­lich­keit hat­ten, in das man Stea­rin­ker­zen packt – acht auf ein Pfund.

»Ah, Fräu­lein Rosa!« sag­te er lei­se, als Rosa ein­trat.

»Gu­ten Tag, Herr Lurch«, er­wi­der­te sie. »Wie geht es Ih­nen? Ist Sal­ly zu Hau­se?«

Lurch blick­te nicht auf und kau­te an ei­nem Bind­fa­den, der von der an der De­cke be­fes­tig­ten Rol­le nie­der­hing. »Gu­ten Tag, Fräu­lein Rosa«, sag­te er, »mir geht es gut; ich hof­fe, Ih­nen gleich­falls, Fräu­lein Rosa? Was Fräu­lein Sal­ly be­trifft, so war sie die gan­ze Zeit über hier. Sie se­hen noch dort auf der Reis­kis­te das Buch, in dem sie las. Plötz­lich ging sie hin­aus; warum, weiß ich Ih­nen nicht zu sa­gen; ich ver­mu­te, sie wird gleich wie­der hier sein.«

»Also Sie mei­nen, ich soll hier war­ten? Wie?«

»Ja, Fräu­lein Rosa, das wird das bes­te sein. Sie set­zen sich un­ter­des­sen viel­leicht dort auf die He­ring­ston­ne?«

»Ich dan­ke, wenn Sie kei­nen bes­se­ren Platz ha­ben. Ich sit­ze nicht gern auf He­ring­ston­nen.«

»Ja so! Na­tür­lich! Es ist auch nicht an­ge­nehm, ob­gleich das ein sel­te­ner Ar­ti­kel ist! Schot­ti­sche Fett- oder Kö­nigs-He­rin­ge. Aber dort die Licht­kis­te? Sie ist viel­leicht nicht ganz rein? Neh­men Sie mein Ta­schen­tuch und set­zen Sie sich dar­auf.«

Lurch bot Rosa ein ganz klein zu­sam­men­ge­ball­tes Tuch an. Sie lehn­te es je­doch mit dem schril­len, kur­z­en La­chen sieb­zehn­jäh­ri­ger Mäd­chen ab und setz­te sich auf die Licht­kis­te.

»Soll­ten Sie nicht ei­ni­ge Ko­rin­then neh­men, Fräu­lein Rosa?« be­gann Lurch nach ei­ner Pau­se.

»Nein, ich mag mir nicht im­mer von Ih­nen Ko­rin­then schen­ken las­sen.«

»Oh! Fräu­lein Rosa – Ko­rin­then, Ko­rin­then –« Lurch war sicht­lich ver­le­gen. »Ko­rin­then sind doch nur ganz klei­ne Ro­si­nen.«

»Das macht nichts«, ver­setz­te Rosa ener­gisch; dann füg­te sie sanf­ter hin­zu: »Herr Lurch! Ge­stat­ten Sie es nicht, dass wir Sie Ko­rin­then-Kon­rad nen­nen?«

»Ge­wiss, Fräu­lein Rosa! Wenn der Name Ih­nen ge­fällt; ich hof­fe, er ist kei­ne Ver­höh­nung mei­nes Be­ru­fes; ich den­ke, er ist es nicht?«

»Durchaus nicht! Nur der Ko­rin­then we­gen, wis­sen Sie.«

»Oh, dann – warum nicht?« Ja, Lurch schi­en der Name so­gar zu ge­fal­len, denn ein öli­ges Lä­cheln zeig­te sich auf sei­nem Ge­sich­te.

End­lich trat Sal­ly La­nin durch eine Hin­ter­tü­re des La­dens ein.

»Ach Rosa! Lie­bes Herz! Du bist es!« rief sie in al­ler­liebs­ter Freu­de aus, hüpf­te auf Rosa zu, küss­te sie auf die Lip­pen, setz­te sich mit ei­ner flin­ken, schmieg­sa­men Be­weg­lich­keit auf die Kis­te und schlang ih­ren Arm um Ro­sas Tail­le. »Wie gut, dass du kamst!«

Sal­ly La­nin trau­er­te um einen ge­lieb­ten On­kel und trug da­her ein schwar­zes Kleid und eine schwar­ze Hals­krau­se. Auf den Schul­ter­blät­tern sa­ßen zwei wei­ße Kalk­fle­cken, und auch sonst war an dem Klei­de viel von dem Staub der Kis­ten hän­gen ge­blie­ben, was dem Gan­zen ein et­was schä­bi­ges Aus­se­hen ver­lieh. Ei­gent­lich hübsch war Fräu­lein La­nin nicht; ei­ni­ge klei­ne Feh­ler stör­ten den Ein­druck des Ge­sich­tes; so schiel­ten die schö­nen, va­nil­le­brau­nen Pu­pil­len der Au­gen ein we­nig, und die Nase war oft an der Spit­ze rot.

Fräu­lein La­nin leg­te ihr Köpf­chen auf die Schul­ter ih­rer Freun­din und seufz­te: »Liebs­te Rosa! Ich habe dir viel zu er­zäh­len.«

»Wirk­lich? Er­zähl doch!« dräng­te Rosa mit großer Teil­nah­me. »Ich habe wohl da­von ge­hört – aber…«

»Ja, ja –« sag­te Sal­ly be­wegt. Dann rief sie träu­me­risch: »Lie­ber Lurch!«

»Fräu­lein Sal­ly!« er­wi­der­te die­ser.

»Lie­ber Lurch! Ge­ben Sie auf einen Au­gen­blick die Büch­se mit den trock­nen Pflau­men her.«

»Ja, Fräu­lein Sal­ly. Es ist je­doch nicht viel mehr dar­in.«

»Die trock­nen Pflau­men, Lurch«, wie­der­hol­te Sal­ly be­stimmt.

»Ge­wiss, Fräu­lein Sal­ly; warum auch nicht? Hier!« Und er hielt ihr eine hohe Büch­se hin.

»Ja Rosa, du hast von uns ge­hört«, be­gann Fräu­lein Sal­ly, ohne die Büch­se an­zu­se­hen, in die sie ihre Hand tief ver­senk­te.

»Der Va­ter sprach von euch, ich hör­te aber nicht recht hin. Was ist es denn?« frag­te Rosa.

Sal­ly brach­te jetzt eine Pflau­me zum Vor­schein, be­trach­te­te sie und er­wi­der­te dann: »Ein zwei­ter jun­ger Mensch kommt ins Ge­schäft.« Dann steck­te sie die Pflau­me in den Mund.

»Ein Ver­wand­ter von dir?«

»Lie­ber Lurch«, un­ter­brach Sal­ly ihre Freun­din, »stel­len Sie die Büch­se her und ge­hen Sie ein we­nig in den Hin­ter­grund. Ich habe mit mei­ner Freun­din zu spre­chen.«

Lurch ge­horch­te und rief aus der Dun­kel­heit kläg­lich her­vor: »Ist es so weit ge­nug, Fräu­lein Sal­ly?« – »Ja, Lurch! Ich dan­ke. Siehst du, Rosa«, nahm sie das Ge­spräch wie­der auf, »er ist ein schlech­ter jun­ger Mensch.«

»Du meinst na­tür­lich den Neu­en«, schal­te­te Rosa ein.

»Ja, der Neue. Er hat Schul­den ge­macht. Er liebt eine Zi­geu­ne­rin, oder Kun­strei­te­rin, ich weiß es noch nicht ge­nau. Nun wird der arme jun­ge Mensch von der Ge­lieb­ten ge­trennt und soll ver­ges­sen, soll sich bes­sern und das Ge­schäft er­ler­nen. Sehr wüst soll er sein. Ob er sich bes­sern wird? Gott gebe es!«

»Wie alt ist er denn?«

»Zwan­zig Jah­re, sehr jung, nicht wahr? Die Per­son, die ihn ver­führt hat, weißt du, muss kei­ne gute sein, und er ver­gisst sie wohl.«

»Wer kann das wis­sen!« mein­te Rosa mit ei­nem sehr ver­stän­di­gen Ge­sicht. »Die Frau­en von der Büh­ne be­stri­cken die Män­ner ganz selt­sam.« Fräu­lein La­nin woll­te das nicht wahr­ha­ben und schüt­tel­te ih­ren Kopf mit den vie­len Löck­chen, denn zwei Pflau­men in ih­rem Mun­de hin­der­ten sie am spre­chen. »Weißt du noch«, sag­te Rosa, »in dem Ro­man ›An­na-Lie­se, die Män­ner­has­se­rin‹ ist’s auch eine Tän­ze­rin, die den jun­gen Golo un­glück­lich macht.« Fräu­lein Sal­ly schluck­te hef­tig und brei­te­te die Arme aus; sie woll­te et­was sehr Wich­ti­ges vor­brin­gen. »Und«, fuhr Rosa eif­rig fort, »wenn er ein Wüst­ling ist, dann wird das Le­ben hier ihm fade er­schei­nen.«

»Nein, mein Herz«, be­gann Sal­ly, so­bald die Pflau­men es ge­stat­te­ten. »Nein, nein!« Und sich plötz­lich un­ter­bre­chend, rief sie: »Lie­ber Lurch, kön­nen Sie et­was hö­ren?«

»Ein we­nig, Fräu­lein Sal­ly«, ver­lau­te­te die freund­li­che Stim­me aus der Ecke. »Ich kann es nicht leug­nen; ab und zu höre ich doch ei­ni­ges.«

»Dann hal­ten Sie sich die Ohren zu. Sei­en Sie so gut, ja?« – »Ohne wei­te­res, Fräu­lein Sal­ly. Nur fürch­te ich, wenn je­mand käme und woll­te et­was kau­fen, so wür­de ich’s nicht hö­ren.«

»Sei­en Sie un­be­sorgt! Ich wer­fe Sie dann mit ei­nem Pflau­men­kern.«

»Dan­ke, Fräu­lein Sal­ly. So, jetzt höre ich nichts mehr.«

»Nun denn«, nahm Sal­ly ihre Er­ör­te­rung wie­der auf. »Du be­denkst nicht, lie­be Rosa, dass das Fa­mi­li­en­le­ben, die Ge­sell­schaft des Papa und dann, weißt du, der Um­gang mit ge­bil­de­ten, fein­füh­len­den Mäd­chen ihm gut­tun wird.«

»Meinst du?« warf Rosa zer­streut hin.

»Ge­wiss! So et­was ver­fehlt nie sei­nen Ein­druck auf Män­ner­her­zen. Er sieht gut aus, sehr gut.« –

»So; braun?«

»Ja, gold­brau­nes Haar in Lo­cken; große Au­gen.« Sal­ly be­schrieb mit dem Fin­ger einen Kreis um ihr hal­b­es Ge­sicht.

»In drei Ta­gen, den­ke ich, wird er hier sein. Dann lege ich die Trau­er ab; es sind schon vol­le sechs Mo­na­te her, dass der arme On­kel starb. Papa sprach von ei­nem Tanz­abend. Du ver­stehst, um ihn zu zer­streu­en. Am­bro­si­us heißt er.«

»So hör­te ich«, er­wi­der­te Rosa und er­hob sich, »be­glei­test du mich viel­leicht?«

Nein, Sal­ly moch­te nicht spa­zie­ren­ge­hen, sie muss­te einen Ro­man zu Ende le­sen, eine sehr span­nen­de Er­zäh­lung: »Em­mas Schmerz«. Sie fürch­te­te, ihre Hel­din ste­he im Be­griff, sich das Le­ben zu neh­men. So – dann woll­te Rosa al­lein ge­hen; es war zu warm im Zim­mer. Sie küss­ten sich und stan­den noch einen Au­gen­blick bei­ein­an­der, die­ses und je­nes zu er­ör­tern. Eine rote abend­li­che Son­ne drang durch die trü­ben Fens­ter­schei­ben, blitz­te auf den Blech­büch­sen, er­weck­te in den Fla­schen und Glä­sern bun­te Lich­ter, schlüpf­te in die Ecken und Lö­cher, um far­bi­ge Punk­te auf die stau­bi­gen Pa­pie­re zu streu­en, such­te Lurch in sei­nem ent­le­ge­nen Win­kel auf und mal­te einen großen blau und ro­ten Fleck auf sei­ne blei­che Stirn.

»Auf Wie­der­se­hen!«

»Auf Wie­der­se­hen, mein Herz« – dann lach­ten sie, wie jun­ge Mäd­chen bei Ab­schied und Wie­der­se­hen es zu tun pfle­gen – und Rosa ging hin­aus.

Die drücken­de Schwü­le war vor­über, und die Stra­ßen be­leb­ten sich. Alte Her­ren mit breit­ran­di­gen Stroh­hü­ten stan­den mit­ten auf dem Markt­platz und dis­pu­tier­ten laut mit­ein­an­der. Aus den Fens­tern beug­ten sich Mäg­de, um Tep­pi­che aus­zu­stäu­ben. Auf den Trep­pen sa­ßen Frau­en ohne Hut und strick­ten. In lan­gen Rei­hen zo­gen die Gym­na­sias­ten, Arm in Arm, die Gas­se ent­lang. Über all dem stand ein blass­blau­er Him­mel von schma­len, ro­sen­ro­ten Wol­ken durch­zo­gen. – Leicht und fröh­lich ging Rosa da­hin. Sie grüß­te die Vor­über­ge­hen­den mit ver­bind­li­chem Kopf­ni­cken und lä­chel­te da­bei ihr stets be­rei­tes, aus­ge­las­se­nes Lä­cheln. Das Ge­fühl, dass der Som­mer­abend auch ihr, wie al­lem rings um sie, gut ließ, stimm­te sie hei­ter.

»Ich habe die Ehre!« Klappe­kahl war es. Er zog vor Rosa sei­nen ho­hen Stroh­hut und blieb ste­hen. »Schö­nes Wet­ter! Wie geht es dem Papa?« Ein sü­ßes Lä­cheln, das er ganz be­son­ders für Da­men be­reit­hielt, um­spiel­te sei­nen lan­gen Mund. Er trug einen wei­ßen Som­mer­an­zug, eine rote Nel­ke im Knopf­loch und ein Stöck­chen, mit dem er nach­läs­sig an sei­ne Bei­ne schlug.

»Ich dan­ke«, er­wi­der­te Rosa, »ich ließ ihn beim Nach­mit­tags­schlaf.«

»So, so! Und die Toch­ter treibt sich der­weil ein we­nig her­um. Ha – ha – jun­ges Blut. Sie wer­den aber mit je­dem Tage hüb­scher, Ro­set­te.« Ne­ckend leg­te er sei­ne Hand auf den Arm des Mäd­chens. »Ohne Scherz! Ich sag­te noch ges­tern zu mei­ner Toch­ter: ›Ro­set­te Herz ist zu hübsch für un­ser Nest; die ge­hört in eine Welt­stadt.‹ Auf Ehre, das sag­te ich.« Rosa er­rö­te­te und mein­te, sie käme gern in eine große Stadt. Der Apo­the­ker glaub­te das wohl; er nick­te, drück­te Rosa die Hand und ging wei­ter, um zwei Schrit­te da­von den Dr. Hol­te an­zu­hal­ten und mit dem Kop­fe nach Rosa hin­deu­tend zu sa­gen: »Ein hüb­sches Mäd­chen, Dok­tor, was? Aber ko­kett, ich sage Ih­nen, wenn die in eine große Stadt kommt – ich ste­he für nichts! Gu­ten Abend, Dok­tor!«

Vor Stei­nings Kon­di­to­rei saß Her­weg mit ei­ni­gen Ka­me­ra­den, sorg­sam hin­ter ma­ge­ren Ole­an­der­bü­schen ver­bor­gen. Als er Rosa er­blick­te, grüß­te er, und sie nick­te ernst zum grü­nen Laub­git­ter hin­ein. Kaum aber war sie wei­ter­ge­gan­gen, als sie Her­wegs schwe­ren Schritt hin­ter sich ver­nahm. Sie wuss­te, so muss­te es sein; so war es je­den Abend. Treu­lich folg­te er ihr lan­ge Stun­den, zu­wei­len eine Schwen­kung ma­chend, um ihr zu be­geg­nen und sie im­mer wie­der zu grü­ßen. Das war der Aus­druck sei­ner Lie­be.

Am mor­schen Ge­län­der des Flus­sufers mach­te Rosa Halt. Her­weg kam her­an und lehn­te ne­ben ihr. Ein ste­tes Ge­mur­mel sand­te der Fluss em­por. Im Stru­del, den das Was­ser hier bil­de­te, schwam­men be­weg­li­che Licht­fet­zen. Ein fla­ches, gel­bes Land dehn­te sich auf dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Ufer aus. Gro­ße Sand­gru­ben la­gen voll ro­ten Lich­tes, und hin­ter der Wel­len­li­nie der nied­ri­gen Sand­hü­gel ging die Son­ne groß und rot un­ter.

»Das ist schön, Rosa, nicht?« rief Her­weg und deu­te­te zur Son­ne hin­über. Rosa nick­te, die Bli­cke nach­denk­lich in den Glanz ver­lo­ren. »Schau­en Sie dort das Feld!« fuhr Her­weg fort. »Es ist ganz rot. So rot habe ich’s noch nie ge­se­hen.«

In der Tat! Ein grel­les Pur­pur­licht ba­de­te das Land. Es schi­en zu be­ben und zu fla­ckern. Dann ward es blas­ser und er­losch. Die Son­ne war hin­ter den Hü­geln ver­schwun­den. Ein mil­de­res Schei­nen klomm den Him­mel hin­an, ein blas­ses, ge­wäs­ser­tes Gold, wie an al­ten Meß­ge­wän­dern. Eine Schar win­zi­ger Wölk­chen flat­ter­te in ei­nem fast wei­ßen Him­mel, vie­le ro­si­ge Schlei­er, klei­ne Flü­gel, eine Schar aus­ge­las­se­ner Che­ru­bim. Wei­ter oben schi­en der Him­mel un­er­meß­lich hoch und veil­chen­blau. Schwei­gend stan­den die bei­den Kin­der vor die­sem Far­ben­wun­der. »Rosa«, frag­te Her­weg end­lich lei­se, in sei­nen gu­ten Au­gen stand ein wei­cher, zärt­li­cher Glanz. »Rosa! Wa­rum sa­gen Sie nichts? Ge­fällt es Ih­nen nicht?«

»Doch«, mein­te Rosa ernst.

»Nicht wahr?« be­gann Her­weg wie­der und griff nach Ro­sas Hand, »so et­was… Sie wis­sen, Rosa, wenn ich so et­was sehe, bin ich wie be­k­neipt!«

»Las­sen Sie, Koll­hardt«, sag­te Rosa; dann setz­te sie ver­stän­dig hin­zu: »Es war sehr poe­tisch.«

Her­weg emp­fand das wohl. Er küss­te Ro­sas Hand, als hät­te sie das Schau­spiel ge­schaf­fen, und flüs­ter­te: »Rosa! Ich bin Ih­nen wirk­lich gut.« Rosa muss­te er­rö­ten, und es trieb sie nach Hau­se.

Im Wohn­zim­mer war noch im­mer die be­drücken­de Glut der Mit­tags­stun­den ein­ge­schlos­sen. Rosa öff­ne­te das Fens­ter und lehn­te sich hin­aus, um in das lang­sa­me Herab­däm­mern auf die Häu­ser­gie­bel hin­ein­zu­ge­hen. Sie fühl­te sich er­regt, er­war­tungs­voll und den­noch miss­ge­launt. Er war schön ge­we­sen, der große, leuch­ten­de Abend­him­mel, das selt­sam stil­le Ver­glü­hen. Ge­wiss, sehr schön! Und doch – was war es? Soll­te sie das glück­lich ma­chen? Konn­te das et­was an der Nüch­tern­heit ih­res Le­bens än­dern? Son­nen­un­ter­gang – Gott ja, sehr gut; aber wenn sie es recht be­dach­te, füg­te er nichts zum Le­ben hin­zu. – Her­weg hat­te ihr ge­fal­len, der gute Jun­ge! Wie er sie an­ge­blickt, wie stür­misch er ihr die Hand ge­küsst hat­te: »Rosa, ich bin Ih­nen wirk­lich gut«, das klang rüh­rend.

Die Stra­ße un­ten war schon ganz in das Hell­dun­kel der Som­mer­nacht gehüllt. Ve­rein­zel­te Spa­zier­gän­ger schrit­ten lang­sam über das Pflas­ter, den Hut in der Hand, ein Lied träl­lernd oder eine Wei­se vor sich hin­pfei­fend. Wa­ren es zwei oder mehr, so klan­gen ab­ge­ris­se­ne Un­ter­hal­tun­gen zu Rosa em­por – über das Wet­ter – Bruch­tei­le ei­ner Er­zäh­lung. ru­hi­ge, gleich­mä­ßig be­rich­ten­de Stim­men. Aus den ge­öff­ne­ten Fens­tern schol­len Lau­te: ein Schel­ten – La­chen – Gäh­nen – Teller­ge­klap­per – ein ver­nehm­li­ches »Gute Nacht«.

Das gan­ze in­ners­te Haus­le­ben drang in die Som­mer­nacht hin­aus und ließ sich un­ter dem Stern­him­mel eben­so be­hag­lich ge­hen wie un­ter der nied­ri­gen Zim­mer­de­cke. Hin und wie­der ra­schel­te ein nie­der­fal­len­der Tau­trop­fen im Laub, und die feuch­ten Blät­ter be­gan­nen stark und wohl­tu­end zu duf­ten.

Wei­ter die Stra­ße hin­ab, vor der Kir­che, tra­ten die Bäu­me dich­ter zu­sam­men, und un­ter ih­ren Äs­ten war es ganz fins­ter, den­noch ver­moch­te Rosa von ih­rem Fens­ter aus hie und da ein wei­ßes Mäd­chen­kleid zu er­spä­hen, oder eine bren­nen­de Zi­gar­re leuch­te­te wie ein ro­ter Stern. Hel­les Mäd­chen­la­chen er­scholl, hohe aus­ge­las­se­ne No­ten in die Stil­le ru­fend. So man­che Dienst­magd moch­te sich dort mit ih­rem Schatz der lau­en Nacht freu­en. Rosa nahm In­ter­es­se dar­an. Jene Bäu­me schie­nen et­was Ge­heim­nis­vol­les, Sü­ßes und Lus­ti­ges zu ber­gen, et­was, das sie in ihr ar­mes Le­ben her­über­wünsch­te, et­was von je­nem Ge­fühl­vol­len, das der schö­ne Abend sie er­seh­nen ließ. Ach Gott, ja – et­was…

Im Ne­ben­zim­mer reg­te es sich. Das war Ag­nes Stock­mai­er. Sie wird so­gleich in das Zim­mer tre­ten und die Lam­pe brin­gen. Die Lam­pe mit ih­rem blau und wei­ßen Por­zel­lan­fuß wird, wie je­den Abend, dort auf der ro­ten Tisch­de­cke ste­hen und ih­ren gel­ben Licht­kreis auf die Zim­mer­de­cke wer­fen. Ja, und der Va­ter wird heim­kom­men und von Klappe­kahl, La­nin und dem Dok­tor er­zäh­len; und sie, Rosa, wird ver­stimmt und un­freund­lich ge­gen ih­ren Va­ter sein – und wie­der ist ein Tag ih­res Le­bens ver­lo­ren. Das muss­te ge­än­dert wer­den! – Gut, mor­gen woll­te sie Her­weg sa­gen, er sol­le sie un­ten am Fluss um neun Uhr abends er­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­